Der Mann mit der kleinen Nase - Steven van Deiwuen - E-Book

Der Mann mit der kleinen Nase E-Book

Steven van Deiwuen

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Beschreibung

Werner Marenke gerät in Verdacht, ein altes Ehepaar bestialisch ermordet zu haben. Die Polizei ist von seiner Schuld überzeugt. Erst mit Hilfe seiner Anwältin kann er Licht ins Dunkel bringen. Dabei stellt er mehr und mehr fest, wie tief der eigentliche Täter in sein Leben eingedrungen ist. Als ein zweites Ehepaar ermordet wird, muss Marenke untertauchen. Als dann endlich scheinbar seine Unschuld bewiesen werden kann, gerät er in massive Lebensgefahr.

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Seitenzahl: 317

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Das Gesetz also und die Vollziehung desselben, die Strafe, sind wesentlich auf die Zukunft gerichtet, nicht auf die Vergangenheit. Dies unterscheidet Strafe von Rache, welche letztere lediglich durch das Geschehene, also das Vergangene als solches, motiviert ist. Alle Vergeltung des Unrechts durch Zufügung eines Schmerzes ohne Zweck für die Zukunft ist Rache und kann keinen anderen Zweck haben, als durch den Anblick des fremden Leidens, welches man selbst verursacht hat, sich über das selbst erlittene zu trösten. Solches ist Bosheit und Grausamkeit und ethisch nicht zu rechtfertigen.

Die Welt als Wille und Vorstellung l, 4, 62

(Arthur Schopenhauer)

Dieses Buch widme ich Silvia, meiner

ersten und einzigen Ehefrau.

Es wurde am Tag unserer Hochzeit

fertiggestellt.

Rechtschreib- und

Zeichensetzungsfehler entspringen

meiner künstlerischen Freiheit und

dienen der Kontrolle der

Aufmerksamkeit der Leserinnen und

Leser

Inhaltsverzeichnis

Akt: Schuld und Verhängnis

Szene 1: Sprachlos

Szene 2: Ahnungslos

Szene 3: Belanglos

Szene 4: Grundlos

Szene 5: Schuldlos

Szene 6: Hilflos

Szene 7: Gefühllos

Akt: Wut und Verzweiflung

Szene 1: Rechtlos

Szene 2: Respektlos

Szene 3: Gedankenlos

Szene 4: Ziellos

Szene 5: Rastlos

Szene 6: Planlos

Szene 7: Geschmacklos

Szene 8: Hoffnungslos

Szene 9: Furchtlos

Szene 10: Bewegungslos

Akt: Angst und Verdammnis

Szene 1: Aussichtslos

Szene 2: Regungslos

Szene 3: Lautlos

Szene 4: Perspektivlos

Szene 5: Beispiellos

Szene 6: Leblos

Szene 7: Brotlos

Szene 8: Orientierungslos

Szene 9: Seelenlos

Akt: Hass und Verachtung

Szene 1: Ruhelos

Szene 2: Glücklos

Szene 3: Verständnislos

Szene 4: Maßlos

Szene 5: Uferlos

Szene 6: Bodenlos

Szene 7: Sinnlos

Szene 8: Endlos

1. Akt: Schuld und Verhängnis

Schuld:

bestimmtes Verhalten, bestimmte Tat, womit jemand gegen Werte, Normen verstößt; begangenes Unrecht, sittliches Versagen, strafbare Verfehlung

Verhängnis:

etwas Unheilvolles (das wie von einer höheren Macht verhängt ist), dem jemand nicht entgehen kann

Szene 1: Sprachlos

Werner Marenke betätigte den Klingelknopf neben dem Schild mit dem Namen Kleinhagen in der Kopernikusstrasse. Es war das mittlere Schild der linken Reihe. In dem unscheinbaren, aber durchaus gepflegt wirkenden Haus, lebten insgesamt sechs Parteien. Das Ehepaar Kleinhagen hatte die linke Wohnung in der ersten Etage. Marenke wartete auf das Summen oder Klacken des Türöffners. Eine Gegensprechanlage gab es nicht. Aber alles blieb still. Er klingelte erneut.

Die Kleinhagens waren heute früh sein zweiter Termin. Bereits beim ersten hatte er wenig Erfolg und wurde noch nicht einmal in die Wohnung gelassen.

Es wäre für sein Wochenergebnis fatal, wenn er auch bei den Kleinhagens keine erfolgreiche Beratung durchführen könnte. Denn die drei Nachmittagstermine waren bereits abgesagt und konnten damit nicht zur Erfüllung seiner Quote für diese Woche beitragen. Auch auf das zweite Klingeln wurde nicht geöffnet.

Manchmal war auch die Klingel oder der Türöffner defekt. Er könnte versuchen, bei den Nachbarn zu klingeln.

Schließlich wollte er den Kleinhagens ja nichts Böses antun. So drückte er einen Klingelknopf nach dem anderen, in der Hoffnung, dass ihm einer die Haustür öffnen würde. Dann konnte man ja weitersehen.

Aber nichts geschah und Marenke setzte auf die letzte ihm verbliebene Chance. Er rüttelte an der Haustür, und tatsächlich, das Schloss war nicht richtig eingerastet, sodass sich die Tür öffnen ließ und Marenke ins Haus gelangte. Das war (ist) die halbe Miete, dachte er sich. Aber mehr auch nicht. Wenn die Kleinhagens nicht zu Hause waren oder ihm die Tür zu ihrer Wohnung nicht öffnen wollten, dann nützte ihm die offene Haustür gar nichts.

Marenke schloss die Haustür, indem er sie ins Schloss drückte. Hinter der Tür befand sich ein in dem Terrazzoboden eingelassener Fußabtreter, auf dem er sich brav seine Schuhsohlen reinigte.

Ein weiterer, entsprechend kleinerer Vertreter dieser Gattung befand sich unmittelbar vor der ersten Treppenstufe. Marenke strich auch hier, fast automatisch, dafür aber eher provisorisch, mit seinen Schuhen darüber.

Das Treppengeländer war ein einfaches, in Weiß lackiertes Eisengeländer, mit einem dunkelbraunen Handlauf aus Holz. Sechzehn Stufen und einen Treppenabsatz später stand Werner Marenke im ersten Stock des Hauses, vor der Wohnung, deren Klingelschild den Namen Kleinhagen trug. Genau genommen Ernst und Helga Kleinhagen. Automatisch drückte er auf den Klingelknopf.

Aus der Wohnung ertönte ein harmonischer, vierfach abgestufter Gong. Er erinnerte Marenke an seine Schulzeit. Der Gong zur großen Pause klang damals sehr ähnlich. Aus der Wohnung der Kleinhagens drang kein Mucks. Marenke wollte soeben ein zweites Mal klingeln, da fiel sein Blick auf die rechte Seite der Wohnungstür, oder vielmehr auf den Spalt, der sich zwischen Tür und Rahmen auftat. Offenkundig war auch die Wohnungstür der Kleinhagens nicht richtig geschlossen und ließ sich einfach aufdrücken. Marenke hatte ein komisches Gefühl, als er die Tür weiter öffnete. War das alles richtig, was er hier machte (tat)?

Am Ende bekäme er noch Ärger wegen Einbruch oder Hausfriedensbruch. Auf der anderen Seite war er aber auch offiziell mit ihnen verabredet...

„Hallo?“ rief er in die Wohnung. „Jemand zu Hause?“

Es kam aber keine Antwort. Er betrat die Wohnung und schloss die Tür hinter sich. Vielleicht hätte er besser gehen sollen, aber jetzt wollte er zumindest wissen, ob hier irgendetwas vorgefallen war. Der vordere Teil der Diele wurde von einer großen Wandgarderobe aus Holz beherrscht. Neben den diversen Vorrichtungen zum Aufhängen eines Kleiderbügels verfügte die Garderobe über ein kleines Schränkchen mit einer dunkelgrünen Polsterauflage und einem großen Spiegel. Rechts und links von der Garderobe befand sich jeweils eine verschlossene Tür. Zwei weitere Türen, ebenfalls geschlossen, waren im hinteren Teil der Diele auf der Kopf- und auf der Längsseite zu sehen. An den Wänden hingen mehrere gerahmte Fotos in den unterschiedlichsten Größen, wahrscheinlich alles Familienfotos.

Gegenüber der Garderobe befand sich die letzte Tür, die aber im Gegensatz zu den anderen Türen geöffnet war. Durch den (Im) Spiegel konnte Marenke den Rücken eines Mannes sehen, der wohl an einer Art Tisch saß. „Herr Kleinhagen?“

Marenke betrat den Raum, der sich als ein großes Wohnzimmer herausstellen sollte. „Herr Kleinhagen, mein Name ist Marenke von der GUBES. Wir haben einen Termin.“

Der Angesprochene, der an einem kleinen Sekretär gegenüber der Tür saß, antwortete nicht. Als Marenke näherkam, erkannte er, dass der Mann an den Stuhl gefesselt war. „Um Himmels Willen, Herr Kleinhagen!“ Voller Entsetzen ging Marenke schnell zu dem Sekretär, um eine Sekunde später laut aufzuschreien. „Was ist das denn?“ Der etwa achtzigjährige Mann war nicht nur an den Stuhl gefesselt. Aus seinen Ohren ragten jeweils die hinteren Enden eines Kugelschreibers heraus. Aus den Ohren floss Blut, welches schon leicht angetrocknet war.

Die toten Augen starrten ins Leere, zeugten aber noch von der Angst, die der Mann in seinen letzten Lebensmomenten gehabt haben musste. Die Kehle war auf einer Breite von ca. fünfzehn Zentimetern durchgeschnitten. Der Unterkiefer war nach unten geklappt. Der Mann war über und über mit Blut besudelt. Doch damit nicht genug: Vor ihm auf dem Schreibtisch lag ein leeres Blatt Papier und darauf ein Gegenstand, der sich bei näherem Hinsehen als Zunge, vermutlich seine eigene, herausstellte. Keine Frage, der Mann war auf bestialische Weise ermordet worden. Marenke hatte Schwierigkeiten, die Fassung zu bewahren. Fast hätte er sich übergeben müssen. So etwas hatte er, außer in irgendwelchen Horrorfilmen, noch nie gesehen.

Er war für einen kurzen Moment vollkommen orientierungslos und wusste nicht, was er machen (tun) sollte. Als er dann wieder einigermaßen klar denken konnte, ging ihm nur ein Gedanke durch den Kopf: „Frau Kleinhagen! Was war mit Frau Kleinhagen?“ Er befürchtete das Schlimmste und musste zur Verifizierung die gesamte Wohnung durchsuchen. Und obwohl ihm schon jetzt schlecht wurde, beim Gedanken an den Zustand, in dem er die Frau vorfinden würde, machte er sich systematisch auf die Suche. Zimmer für Zimmer.

Das Wohnzimmer bestand neben dem Sekretär im Wesentlichen aus einer Polstergruppe im rechten Teil und einer großen Eichenschrankwand auf der linken Seite, mit einem Vitrinenteil, einem kleinen Bücherregal und einem geschlossenen Schrank. Auf dem Holzfußboden lagen diverse Brücken und Teppiche.

In einer Ecke, gegenüber der Polstergarnitur, stand ein großer, alter Röhrenfernseher. Auf dem Sofa lagen eine Decke und eine Reihe von Kissen. Alles ordentlich aufgeräumt. Tischdecke und Obstschale zierten den Couchtisch aus Glas. Im ganzen Wohnzimmer konnte man kein einziges Staubkorn entdecken.

Marenke ging zurück in die Diele und atmete erst mal tief durch. Er musste die Polizei rufen, das war klar. Aber zuerst wollte er die Ehefrau des Ermordeten finden. Vielleicht konnte er ihr ja noch helfen. Die Tür neben dem Wohnzimmer führte ins Schlafzimmer. Keine Spur von Frau Kleinhagen.

Aber auch hier, alles blitzblank und aufgeräumt, die Betten gemacht und die Decken wie mit einer Reißschiene glattgezogen. Die Luft im Schlafzimmer war kühl und frisch. Hinter der Tür, an der Stirnseite der Diele, befand sich ein kleines Gäste-WC. Wie nicht anders zu erwarten, blitzsauber geputzt. Daneben ging es in die Küche. Aber auch hier war keine Frau Kleinhagen. Die Spüle aus Edelstahl war leer und blinkte wie am ersten Tag, die Herdplatten waren vorschriftsmäßig abgedeckt. Das Küchenfenster stand auf Kipp.

Hinten auf der rechten Seite standen eine Eckbank, ein Küchentisch und zwei Stühle, auf dem Tisch ein Becher mit einem Rest Kaffee, daneben aufgeschlagen die Tageszeitung von heute.

Die Szene machte den Eindruck, als hätte jemand hier alles stehen und liegen gelassen und fluchtartig den Raum verlassen. Aber wo war Frau Kleinhagen? Es blieb noch ein Raum übrig. Direkt gegenüber der Wohnungstür neben der Garderobe. Es musste das Badezimmer sein. Marenke war auf alles gefasst, als er die Tür öffnete und das Bad betrat.

Was er dann sah, verursachte bei ihm dann aber doch eine tiefe Fassungslosigkeit. In der Badewanne lag eine alte Frau, vermutlich Frau Kleinhagen. Der Kopf war merkwürdig zur Seite gedreht. Die Seite des Kopfes, die man sah, war stark deformiert und blutüberströmt. Auf ihrer Brust lag ein schwerer Hammer und in ihrem Mund steckte ein Putzlappen. Die Augen waren vor Entsetzen und Angst weit aufgerissen. Was war hier passiert?

Marenke agierte immer noch wie in Trance. Vermutlich stand er unter Schock. Jetzt, da er auch die Frau gefunden hatte und ihr nicht mehr helfen konnte, nahm er sein Handy und alarmierte die Polizei.

Nachdem er kurz Namen und Anschrift angegeben hatte, beendete er das Telefonat und setzte sich auf die kleine Garderobenbank, um auf das Eintreffen der Polizei zu warten. Er wähnte sich als wichtigen Zeugen ohne zu ahnen, was in Zukunft noch alles auf ihn zukommen würde. In seiner Jackentasche hatte er einen Flachmann, gefüllt mit Schnaps.

Den konnte er jetzt gut gebrauchen. Er öffnete die kleine Metallflasche und nahm einen tiefen Schluck. Da hörte er auch schon, wie sich von weitem die Polizei mit eingeschaltetem Martinshorn näherte. Kurz darauf war die Wohnung überfüllt mit Ärzten, Sanitätern und Kriminalbeamten.

„Wenn Sie hier alles durchsuchen, dann werden Sie bestimmt auch die Terminbestätigung finden.“ Marenke erklärte einem der Kriminalbeamten gerade, warum er just zu diesem Zeitpunkt hier in der Wohnung war.

„Die werden von uns automatisch verschickt. Mit Foto des Beraters...also in diesem Fall von mir.“ Marenke war nassgeschwitzt, so sehr regte ihn die ganze Szenerie auf. Überall liefen sie jetzt mit ihren weißen Schutzanzügen herum und machten hunderte von Fotos.

„Herr Marenke,“ sagte einer der Beamten „wir haben jetzt ihre Personalien aufgenommen. Bitte kommen Sie doch morgen um 10 Uhr aufs Polizeipräsidium. Dann können wir Ihre Aussage zu Protokoll nehmen.“ Marenke drehte sich um.

„Und wo ist dieses Präsidium? Ich war da noch nie.“

„Martinstraße, Ecke Wilhelmplatz.“

„In Ordnung, ich werde da sein.“ Marenke sprach nur noch sehr leise und verließ dann die Wohnung der Kleinhagens und das Haus, ständig darüber nachdenkend, wer wohl zu einer solchen Tat in der Lage war und was einen Menschen – wenn man das so nennen kann – zu einem solchen Gemetzel treibt. Vermutlich würde er das nie herausbekommen.

Szene 2: Ahnungslos

Am nächsten Tag hatte er keine Termine. Das war sein Wunsch, als er den Beraterjob aufgenommen hatte. Er wollte, falls möglich, den Freitag immer frei haben. Dann konnte er sich von der aufreibenden Beratertätigkeit angemessen erholen. Das war vor ein paar Jahren noch anders. Damals war Werner Marenke leitender Entwicklungsingenieur mit einer 60-Stunden-Woche bei der ADA – Analog and Digital Adventures.

Die ADA war ein Unternehmen aus der Unterhaltungselektronik, das sich auf Nischenprodukte im Zusammenwirken von analoger und digitaler Musikwiedergabe und -speicherung spezialisiert hatte.

Das Spezialgebiet von Marenke war dabei die Laserabtastung von analogen Schallplatten. Als sich dann 2010 der aktuelle Geschäftsführer verabschiedete, rechnete Marenke sich gute Chancen auf dessen Nachfolge aus. Es kam allerdings ganz anders. Die Gesellschafter bevorzugten einen neuen Geschäftsführer von außerhalb des Unternehmens. Frisches Blut nannten sie das.

Das frische Blut machte dann auch noch Marenkes Abteilung, die es als überflüssige Spielwiese für unverbesserliche Nostalgiker ansah, dicht und degradierte ihn auf einen Posten im Bereich Dokumentation und Unternehmensgeschichte. Damit war Marenke von einem auf den anderen Tag von jeglicher technischen Entwicklung abgeschnitten. Später hatte er dann durch Zufall erfahren, dass dieses Mobbing auf einen Gesellschafter zurückging, dem Marenkes indirekte Bewerbung um den Posten des Geschäftsführers unangemessen erschien, weil Marenke lediglich ein Studium an einer Fachhochschule absolviert hatte.

Marenke war damals Anfang fünfzig und hatte noch einige Karriereziele vor sich. Natürlich hätte er kündigen und zu einem anderen Unternehmen wechseln können. Aber die Spezialisierung der ADA und sein noch spezielleres Forschungsgebiet grenzten diese Möglichkeit extrem ein. Er war in seinem Job durchaus erfolgreich gewesen, aber das konnte eben auch nur innerhalb seiner Firma gewürdigt werden. Auch auf sein Privatleben hatte diese berufliche Veränderung Auswirkungen.

Vor dem Wechsel der Geschäftsführung lebte Marenke mit seiner Frau Sandy und zwei erwachsenen Kindern in einem kleinen Haus am Stadtrand von Bornstadt, einer mittelgroßen Kreisstadt zwischen Harz und Weserbergland. Mit dem Auto war er in knapp dreißig Minuten im Büro. Staus gab es auf der Strecke eher selten. Er versuchte auch so oft wie möglich pünktlich Feierabend zu machen, damit er auch Zeit mit seiner Familie verbringen konnte. Es war ein unaufgeregtes Leben in der Neubausiedlung. Einmal die Woche wurde im Sommer der Rasen gemäht, mit den Nachbarn hatte man sich reihum zum Grillen eingeladen und auf den routinemäßigen Geburtstagsfeiern tauschte man sich über den aktuellen Stand des Studiums der Kinder aus.

Beruflich gab es keine Berührungspunkte. Die nächste Etappe in Marenkes Leben sollte eigentlich die Geschäftsführung und privat das Leben als Großvater werden. Den Platz für ein neues Klettergerüst und den Sandkasten hatte er im Garten schon lange geplant.

Beruflich war er mittlerweile gescheitert, privat konnte er nur noch hoffen. Sandy, seine Frau, drängte ihn zum Wechsel der Stelle.

Nur um sie zu beruhigen, schrieb er halbherzig Bewerbungen. Wohl wissend, dass er damit so keinen Erfolg haben konnte. Am Ende hatte er seinen Frust im beruflichen Alltag und seine Frau wurde immer unzufriedener, weil seine Bewerbungen nichts einbrachten. Marenke machte nach Feierabend immer öfter einen Umweg über seine Stammkneipe, bevor er ins gutbürgerliche Eheleben zurückkehrte. All das blieb natürlich nicht ohne Folgen für Job und Familie. Sandy zog sich mehr und mehr von ihm zurück, übte aber gleichzeitig immer stärkeren Druck auf ihn aus. Eigentlich war sie ja der Typ Frau, der in ihren hausfraulichen Pflichten aufging und mit den Nachbarinnen Ableger und Kuchenrezepte austauschte. Sie hatte zwar eine Ausbildung, war aber beruflich nie besonders ambitioniert, eher ein Versorgungsfall. Am Ende stellte sie dann alles Bisherige in Frage und drohte offen mit der Zerstörung seines privaten Glücks. Mit ein wenig mehr Feingefühl hätte sie gemerkt, dass er schon lange ganz weit weg war von dieser Scheinrealität. Es war ihm aber auch egal. Letztendlich hatte er resigniert. Resigniert vor den, aus seiner Sicht irreparablen, Unzulänglichkeiten in seinem Job, resigniert vor einer lieblosen und ihn grundlos verachtenden und nicht mehr unterstützenden Ehefrau, resigniert vor dem kleinbürgerlichen Spießerleben, welches einst sein Ideal war.

Der Job wurde jeden Tag unerträglicher und so war es eine Erleichterung für Marenke, als man ihn per Änderungskündigung auf eine halbe Stelle reduzierte. Feuern konnten sie ihn nicht. Dafür war er schon zu lange in der Firma. Natürlich hätte er dagegen klagen können, aber letztendlich fehlten ihm dazu nicht nur der Wille, sondern auch der Mut und die Kraft.

Es war wesentlich leichter, die zweite Tageshälfte in der Kneipe, statt im Büro zu verbringen. Aber auch das funktionierte nur noch so lange, wie der Dispo genug hergab und der Kneipenwirt sich auf Monatsdeckel einließ. Dass Sandy mittlerweile die Scheidung eingereicht hatte, erfuhr er erst durch ein Schreiben ihres Anwalts.

Mit ihr gesprochen hatte er schon lange nicht mehr. Ob die Kinder davon wussten, konnte er auch nicht sagen. In den wenigen wachen Momenten in den letzten zwei Jahren, hatte er sporadisch mit ihnen telefoniert.

Letztes Jahr Weihnachten hatte man nochmal einen auf glückliche Familie gemacht. Da waren beide Kinder mal für ein paar Tage zu Hause. Marenke erinnerte sich zwar an diese Zeit, wusste aber nicht mehr, ob es schöne Tage waren oder nicht.

Für die Scheidung stimmte er allem zu, was von der Seite seiner Frau gefordert wurde. Er war nun mal von Natur aus kein Kämpfer. Aber viel gab es auch nicht zu regeln. Sandy wollte unbedingt, dass das Haus verkauft wurde. Aber das war aufgrund von Marenkes finanzieller Situation sowieso unumgänglich.

Unterhalt hätte er nur theoretisch zahlen müssen. Da er aber selbst durch seine Halbtagsstelle nur einen bescheidenen Verdienst hatte und seine Frau als mittlerweile freiberuflich tätige Dolmetscherin auch über ein einigermaßen normales Einkommen verfügte, war dies hinfällig. Der Verkauf des Hauses gestaltete sich naturgemäß etwas schwierig, da Marenke, im Gegensatz zu seiner Frau, die Priorität auf den Verkaufspreis und nicht auf den Verkaufszeitpunkt setzte. Immerhin blieben am Ende für jeden der beiden nach dem Verkauf und dem Ablösen der Restschulden bei der Bank noch ungefähr 25.000 Euro übrig.

Dieser Betrag sollte gleichsam das Startkapital für den neuen Abschnitt im Leben von Werner Marenke sein. Ein Lebensabschnitt, der ihm viel abverlangte. Alles musste von vorne beginnen. Sein Job, seine Wohnsituation, seine sozialen Beziehungen, ja eigentlich sein ganzes Leben. Und das mit Mitte fünfzig. Besonders schmerzhaft an der Angelegenheit war, dass seine Kinder ihn für die Entwicklung verantwortlich machten. Für die neue Lebenssituation ihrer armen Mutter ebenso, wie für den Verlust eines Teils ihrer Kindheit, durch den zwangsläufigen Verkauf ihres Elternhauses. Vielleicht hatten sie ja sogar Recht damit. Eine kleine bescheidene Wohnung hatte er zum Glück schnell gefunden. Die Kaution konnte er bar bezahlen und seine Verdienstbescheinigungen konnte er leicht manipulieren, sodass er nach außen immer noch einen gut bezahlten Vollzeitjob hatte. Die nötigsten Möbelstücke konnte er aus dem Haus übernehmen, da Sandy keinen Wert daraufgelegt hatte. Sie wollte lediglich den riesigen Flachbildfernseher und einen Designerledersessel und das große Sofa.

Für ihn blieben auf jeden Fall ein Bett, ein Kleiderschrank, zwei drei Bücherregale, Tisch und Stühle und natürlich die Musikanlage. Eine kleine Küche war in der neuen Wohnung eingebaut.

Den Halbtagsjob bei seiner alten Firma hatte er mittlerweile komplett geschmissen. Eines Tages – die Nacht vorher hatte er wieder mal deutlich zu viel getrunken – wurde er schlafend an seinem Schreibtisch im Souterrain des Geschäftsgebäudes vom Personalchef aufgefunden. Nachdem dieser ihm noch recht freundlich, aber doch verbindlich, zu verstehen gegeben hatte, dass das tunlichst nicht noch mal vorkommen sollte, rastete Marenke in einer, für ihn vollkommen unüblichen Art, aus, beschimpfte den Personalchef als Arschloch und SS-Schergen, der Spaß daran hätte, die Angestellten zu drangsalieren und zu quälen. Den obersten Chef titulierte er als Despoten und schwachsinnigen Diktator, der sich sein Resthirn aus seinem kleinen Pimmelchen wixen würde. Mit solchen Kleingeistern könne er nicht weiter zusammenarbeiten und er, Marenke, würde auf die ganze ADA scheißen. Mit diesen Worten verließ er das Büro und kehrte auch nie mehr dorthin zurück.

In den nächsten Wochen verbrachte er daraufhin häufiger komplette Tage in seiner Stammkneipe. Genügend Bargeld hatte er ja noch aus dem Hausverkauf übrig. Seine Wohnung sah entsprechend aus. Die Möbel waren mehr oder weniger provisorisch abgestellt. Klamotten, Bücher, Geschirr etc. waren größtenteils noch in Kartons oder Säcken. Für den Umzug hatte er einen kleinen Transporter gemietet und ein paar Jungs von der Straße für kleines Geld dazu gebracht, den Wagen zu be- und entladen. Es hingen weder Bilder an der Wand, noch war die Waschmaschine angeschlossen.

Lediglich Fernseher, Anlage und Internet funktionierten inmitten eines fast undurchdringlichen Kabelchaos. Marenke war am Ende oder genau genommen, kurz davor. Kein Job, die Familie kaputt, dem Alkohol verfallen und nur noch eine sehr überschaubare Menge an Geld. Er stand vor dem Scherbenhaufen seines Lebens und hatte nicht zum ersten Mal darüber nachgedacht, der ganzen Scheiße ein Ende zu setzen. Doch dann passierte etwas, das sollte seinem Leben eine entscheidende Wendung geben und ihn zumindest kurzfristig wieder auf einen geraden und lebensbejahenden Weg führen.

Werner Marenke lebte in einer kleinen Zweizimmerwohnung, in einem Haus mit insgesamt fünfzehn Wohneinheiten. Je drei Wohnungen befanden sich auf jeder Etage, in dem Haus im Stadtteil Markfelden. Hier gab es, im Gegensatz zu anderen Vierteln der Stadt, noch einigermaßen preiswerte Wohnungen. Warum dies so war, konnte man schnell erkennen, wenn man sich in dem Stadtteil ein wenig umschaute. Zwischen Schlachthof und Güterbahnhof gelegen, war Markfeldens Straßenbild geprägt von grauen, meist ungepflegten Mehrfamilienhäusern.

Es gab eine Art Einkaufszentrum, welches entstanden war, als man den stadtplanerischen Versuch gemacht hatte, Markfeldens Attraktivität zu steigern. Nachdem aber keine vernünftige Verkehrsinfrastruktur zustande kam, scheiterte dieser Versuch kläglich und das Einkaufszentrum verkam zu einer Ansammlung von Discountmärkten und Billigläden. Ein Drittel der Verkaufsflächen stand permanent leer. Die nächste Straßenbahnhaltestelle war ca. zwanzig Minuten entfernt. Fußläufig! Dreimal täglich pendelte ein Bus zwischen dem Einkaufszentrum und der Straßenbahn.

Wer nicht gut zu Fuß oder zu Fahrrad war und kein Auto besaß, der war in Markfelden eingesperrt. Der Weg zwischen Siedlung und Einkaufszentrum war die einzige tägliche Abwechslung.

Die Bevölkerung in Markfelden bestand fast ausschließlich aus alten Menschen, Arbeitslosen und Ausländern mit nur ganz geringen Deutschkenntnissen, also aus all den Randgruppen der Gesellschaft, die über nur geringe finanzielle Mittel verfügten. Hier kannte man sich gegenseitig kaum und es fragte auch niemand, woher man kam und wohin man ging. Ein Leben in Isolation, dass vielen hier ganz lieb war, weil es unkompliziert war und keine großen Anforderungen an einen persönlich stellte. Vorausgesetzt, man hatte in ausreichendem Maße resigniert.

Marenke kannte keinen der anderen Bewohner in seinem Haus. Einmal war ihm aus der Nachbarwohnung ein Mann entgegengekommen, dessen Abstammung vermutlich im tiefsten Afrika zu suchen war. Ein kurzer Blickkontakt, ein stummes Nicken, das war alles an Kommunikation.

Wahrscheinlich hatte er auch den einen oder anderen Nachbarn schon mal beim Einkaufen im Supermarkt gesehen, ohne zu wissen, wer es war. Es war ihm aber auch egal.

Eines Tages kam Marenke gerade vom Einkaufen zurück und stieg die Treppe hoch in den dritten Stock zu seiner Wohnung. Der Aufzug war mal wieder defekt. Nach dem letzten Treppenabsatz sah er vor sich einen alten Mann, der sich unter lautem Keuchen und mit mehreren Plastiktüten bepackt, Schritt für Schritt nach oben quälte. Und so eigenbrötlerisch Marenke auch war, hier musste er eingreifen.

„Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“ sprach er den alten Mann von hinten an.

„Vielen Dank, junger Mann!“ Der Alte blieb stehen und stellte seine Plastiktüten auf die Treppe. „Wissen Sie,“ er schaute Marenke tief in die Augen. „Der Aufzug ist kaputt. Ich bin 86 Jahre alt und habe schweres Rheuma. Da ist der Weg in den vierten Stock sehr anstrengend.“

„Ja, klar,“ antwortete Marenke. „Ich verstehe. Warten Sie, ich trage Ihnen die Taschen nach oben.“ Er stellte seine eigenen Einkäufe ab und trug dann die Tüten des alten Mannes in den vierten Stock. Der Alte kam langsam hinterher.

„Vielen Dank! Es gibt doch noch hilfsbereite Menschen auf dieser Welt. Wissen Sie, ich habe sonst keinen mehr, mit dem ich reden kann oder der sich um mich kümmert.“ Er schloss die Wohnungstür auf, nahm seine Einkäufe und verschwand in der Wohnung.

Marenke konnte noch einen kurzen Blick in die scheinbar ziemlich verwahrloste Wohnung erhaschen und auch der muffige Gestank, der durch die Tür ins Treppenhaus drang, ließ nichts Gutes vermuten. Marenke (Er) war ziemlich entsetzt und nahm sich vor, den alten Mann mal zu besuchen, damit er nicht so einsam war. Es blieb bei dem Vorsatz.

Denn die nächsten Tage verbrachte Marenke mal wieder in der Kneipe im Einkaufszentrum. Den alten Mann hatte er mittlerweile wieder vergessen. Ungefähr drei Wochen später hörte er im Treppenhaus vor seiner Wohnung ein lautes Scheppern. Neugierig, wie er war, schaute er durch seinen Türspion. Er sah zwei Männer, die einen Blechsarg die Treppe hochtrugen. Scheinbar war der Aufzug erneut defekt. Er öffnete die Tür und lauschte. Der Blechsarg war jetzt wohl in der vierten Etage angekommen. Er hörte Stimmen, konnte aber nichts verstehen.

Ein paar Minuten später konnte er hören, wie die beiden Männer mit dem Blechsarg die Treppe wieder runterkamen. Schnell lehnte er die Wohnungstür an, um nicht gesehen zu werden. Als die beiden mit dem Sarg weg waren, sah Marenke durch den Spion den Hausmeister mit Werkzeugkasten von oben kommen. Marenke kannte ihn aus der Kneipe. Er öffnete die Tür und sprach ihn an.

„Was ist denn passiert?“ fragte Marenke.

„Ach“, sagte der Hausmeister. „Der alte Hinrichs von oben ist gestorben. Lag wohl schon `ne Weile tot in seiner Bude.“ Und schon war er wieder verschwunden.

Marenke erinnerte sich an den alten Mann, dem er vor ein paar Wochen die Taschen die Treppe hochgetragen hatte. Jetzt war er tot. Und keiner hatte es mitbekommen. Er war schockiert und ihm wurde klar, dass er so wie dieser alte Mann auf keinen Fall enden wollte. Und eigentlich musste doch niemand in dieser Einsamkeit und Hilflosigkeit sein Dasein fristen. Er wusste zwar noch nicht wie, aber er wollte unbedingt mit dazu beitragen. Dass er dafür an seinen eigenen Lebensumständen zuallererst grundsätzlich etwas ändern musste, das wurde ihm von Minute zu Minute klarer.

Aber er wollte es und vielleicht hatte er ja in seinem Leben noch eine Chance. Er wusste genau, er brauchte ein Ziel, Struktur und vor allem Kraft.

Das Ziel hatte er sich eben selbst gegeben. Die Struktur in Form eines Jobs war sowieso unumgänglich, weil sein Geld nicht mehr viel länger als drei Monate reichen würde, und die Kraft würde er schon aufbringen, wenn er erst mal die Sauferei drangeben würde. Seit langem war es ihm nicht mehr so klar gewesen, was er zu tun hatte, wie in diesem Moment.

Am nächsten Morgen verließ Marenke schon sehr früh seine Wohnung in Markfelden. Nicht etwa, um der erste Gast in der Kneipe am Einkaufscenter zu sein. Nein, sein Ziel war die Bushaltestelle, von wo aus er in wenigen Minuten zur Straßenbahnhaltestelle zu fahren gedachte. Es war kühl und neblig. Und um diese Zeit war hier eigentlich nie irgendwer unterwegs. Entsprechend leer war der Bus, als er an der Haltestelle ankam. Außer zwei Männern, die wohl von der Nachtschicht vom Schlachthof kamen, war kein Fahrgast darin.

Marenke löste beim Fahrer einen Fahrschein und setzte sich unmittelbar an die Hintertür. Der Bus fuhr los, vorbei an einer Reihe von Siedlungshäusern und dem Einkaufszentrum. Die nächste Haltestelle fuhr er gar nicht erst an, weil dort weder jemand auf den Bus wartete noch ein Fahrgast im Bus auf den Halteknopf gedrückt hatte.

Auch die zweite Haltestelle am Güterbahnhof wurde ohne Halt passiert.

Ein paar Minuten später war die Straßenbahnstation erreicht und der Bus hielt wenige Meter von der wartenden Bahn entfernt. Hier war für ihn Endstation und die beiden Männer und Marenke stiegen aus, um direkt gegenüber die Straßenbahn zu betreten.

Nach wenigen Minuten setzte diese sich in Richtung Stadt in Bewegung. Nur eine Viertelstunde später verließ Marenke die Straßenbahn. Er überquerte die Straße, die an der Haltestelle vorbeiführte, und blieb vor einem großen Gebäude stehen.

Es war jetzt kurz nach acht Uhr.

Marenke rückte seinen Hemdkragen zurecht und strich sich zwei-, dreimal durch sein Haar. Noch einmal räusperte er sich und betrat dann wild entschlossen die Räumlichkeiten der Agentur für Arbeit.

Als Marenke das Gebäude zwei Stunden später wieder verließ, war er tatsächlich im Besitz von Adresse und Telefonnummer zweier Unternehmen, bei denen er sich um eine Stelle bewerben konnte und wollte. Die eine Firma stellte elektronische Bauteile für die automatische Steuerung von Hochregallagern her und suchte einen Vertriebsingenieur. Es handelte sich überwiegend um eine Reisetätigkeit, was Marenke durchaus entgegenkam. So musste er nur wenig Zeit in seiner Wohnung in Markfelden verbringen.

Der Haken waren allerdings die notwendigen englischen Sprachkenntnisse. Hier musste er dringend dran arbeiten.

Die zweite Firma befasste sich mit dem Vertrieb von Notruf- und anderen Sicherheitslösungen für private Haushalte und suchte einen Außendienstmitarbeiter.

Das klingt nach leichter Beratungstätigkeit bei freier Zeiteinteilung, dachte sich Marenke. Auf der Rückfahrt in seine Wohnung dachte er darüber nach, wie er sich wohl entscheiden würde, wenn beide Unternehmen ihn haben wollten.

Er hatte natürlich vor dem Einstieg in die Straßenbahn vollkommen vergessen, dass der nächste Bus in Markfelden erst in zwei Stunden fahren würde. So hatte er noch einen Fußweg von einer knappen halben Stunde vor sich und konnte noch eine Weile über Sinn und Zweck eines neuen Jobs grübeln. Er kam zu keiner Erkenntnis. Die Vorstellung, in Zukunft etwas vollkommen anderes zu machen als in seinem letzten Job, machte ihn zunehmend nervös. Dennoch führte er noch am selben Tag zwei Telefonate mit den in Frage kommenden Unternehmen und anschließend waren die Weichen gestellt für eine Arbeitsstelle, die für Marenke gleichsam Erfüllung und der blanke Horror werden sollte.

Szene 3: Belanglos

„Nächster Halt: Wilhelmplatz.“ Die monotone Ansage der Haltestelle der Straßenbahn brachte Marenke schlagartig in die Realität zurück. Er war viel zu früh dran. Es war gerade eben kurz nach acht. Aber später wäre in Markfelden der Bus nicht mehr gefahren und mit seinem ollen Passat, den er sich für den neuen Job zugelegt hatte, wollte er nur die nötigsten Strecken fahren. Wer weiß, wie lange der noch halten würde. Er hatte sich überlegt, dass es der Polizei eigentlich egal sein müsste, wann er käme. Er hatte die ganze Fahrt hierhin darüber nachgedacht, was die ihn wohl fragen würden und was er antworten musste. Er hatte noch nie als Zeuge ausgesagt und war auch sonst noch nie von der Polizei vernommen worden. Die einzige Berührung mit der Justiz hatte er im Rahmen seiner Scheidung. Aber das war alles nur ein formaler Akt gewesen.

Nachdem er die Straßenbahn verlassen hatte, brauchte Marenke ein paar Augenblicke, um sich zu orientieren. Was hatte der Beamte gesagt? Martinstraße? Richtig, das große aber eher unscheinbare Gebäude drüben auf der Ecke musste das Polizeipräsidium sein. Von weitem glaubte er auch den Bundesadler auf einem Messingschild erkannt zu haben. Für die Uhrzeit herrschte hier durchaus ein reger Betrieb von Autos, Fahrrädern und Fußgängern. Es war ein ganz normaler Freitagvormittag und auf dem Wilhelmplatz war Markt. Obst, Gemüse, Käse, Fisch und jede Menge Gerümpel. Marenke ging an der Rückseite von einigen Marktständen vorbei, in Richtung des Polizeipräsidiums. Er musste unwillkürlich an das gestern Erlebte denken und er war froh, dass er nicht den Job der Polizei hatte und dieses schreckliche Verbrechen aufdecken musste. Gestern war er, nachdem er den Tatort verlassen hatte, mit seinem Wagen sofort zurück in seine Wohnung gefahren. Zum Glück hatte er keine weiteren Termine mehr gehabt. Er wäre wohl kaum zu einer seriösen Beratung fähig gewesen. Nachdem er seine Wohnungstür geöffnet hatte, musste er eingestehen, dass der Kontrast zu der perfekt aufgeräumten und sauberen Wohnung des toten Ehepaars größer kaum sein konnte.

Er hatte noch immer Umzugskartons rumstehen, die darauf warteten, ausgeräumt zu werden. Aber zumindest für die Bücher musste er unbedingt noch ein Regal aufbauen In der Küche stapelte sich wie immer schmutziges Geschirr und in der ganzen Wohnung standen leere Flaschen. Bier, Wein, Schnaps. Der Geruch war entsprechend. Marenke öffnete sofort die Balkontür, um zumindest einen Hauch frische Luft in die Wohnung zu lassen. Er musste unbedingt aufräumen, dachte er sich. Aber diesen Vorsatz hatte er schon seit drei Monaten. Damals hatte er seinen neuen Job begonnen und sich geschworen, dass ab jetzt alles anders würde. Aber Arbeitstage waren anstrengend. Das war er nicht mehr gewohnt. Umso schöner war es, am Abend einfach nur vor dem Fernseher abzuhängen, eine Fertigpizza zu essen und ein paar Bier zu trinken. Das Wochenende konnte er genießen, indem er laut Musik hörte, im Internet surfte und die eine oder andere Flasche leerte. Musik war für Marenke besonders wichtig. Trotz aller Unordnung, die beiden Plattenlaufwerke waren penibel justiert aufgebaut, die Lautsprecher optimal positioniert und alle notwendigen Kabel waren sauber verlegt. Für das Geld, das er in Geräte und Platten bereits investiert hatte, kauften andere ein Auto. Die hatten dann aber auch nur eine billige Surroundanlage für wenige hundert Euro. Das war bei ihm genau umgekehrt. Sein Passat hatte mit zwei Jahren TÜV mal eben 750 Euro gekostet. Sonntags musste er sich dann immer noch ein bisschen auf die neue Arbeitswoche vorbereiten, und schon war wieder Montag.

Marenke konnte und wollte sich die Situation schönreden. Aufräumen könnte er immer noch, wenn er sich im Job eingewöhnt und etabliert hätte. Und die Bücher im Karton hatte er eh schon gelesen. Wenn er dann das nächste Mal in der Nähe von IKEA wäre, dann könnte er ein Regal kaufen. Und das Bier und den Wodka hatte er sich verdient. Ein bisschen Belohnung für seine Arbeit musste schon sein und die Kollegen machten das bestimmt auch nicht viel anders. Heute Nachmittag könnte er ja vielleicht noch mal in die Kneipe am Einkaufszentrum gehen. Da war er schon seit Wochen nicht mehr gewesen. Wer weiß, ob man ihn dort überhaupt noch kannte?

Über eine automatische Drehtür gelangte Marenke schließlich ins Foyer des Polizeipräsidiums. Hatte der Beamte ihm gestern eine Visitenkarte gegeben oder eine Zimmernummer genannt? Nein, nicht einmal einen Namen wusste er. Wie sollte er jetzt den richtigen Ansprechpartner finden? Vielleicht könnte er dem Mann in der Empfangsloge erklären, worum es ging.

„Guten Tag“, begann er seine Ausführungen. „Mein Name ist Werner Marenke. Ich war gestern in der Wohnung dieses alten Ehepaars und soll hier eine Aussage machen.“ Der Pförtner schaute gelangweilt in das unrasierte Gesicht von Marenke.

„Einbruch oder Mord?“ fragte er. Marenke vermutete Mord und sagte dies auch deutlich. Der Pförtner musterte Marenke erneut und griff dann zum Telefon.

„Empfang, Briegel. Ich hab hier einen, der will ne Aussage machen zu `nem Mord an irgendeinem Ehepaar. Haben wir da was?...Ja, in Ordnung...Wiederhören!“ Er legte den Hörer auf (das Telefon). „Sie müssen in den vierten Stock. Zweites Kommissariat. Der Aufzug ist da hinten. Wenn Sie oben sind, sehen Sie rechts eine große Glastür. Da müssen Sie dann klingeln.“

Marenke bedankte sich und ging in Richtung des Aufzugs. Er wurde unerklärlich nervös, als er den Knopf mit der Nummer 4 drückte. Wenige Sekunden später öffnete sich die Aufzugtür und er war in der vierten Etage. Die angekündigte Glastür war nicht zu übersehen. Als erstes versuchte Marenke die Tür zu öffnen, ohne vorher zu klingeln. Als das nicht funktionierte, betätigte er den Klingelknopf links neben der Tür. Kurz darauf öffnete ihm eine junge Frau in Jeans und T-Shirt mit einem leeren Pistolenholster um den Bauch die Tür. Sie war etwas blass und schaute auch eher schlecht gelaunt aus ihren graublauen Augen auf den in der Tür stehenden Mann. Ansonsten war sie aber nicht unattraktiv, mit ihrer schlanken, sportlichen Figur und den blonden, halblangen Haaren, die aber nicht wirklich einer Frisur folgen wollten. Marenke, der nicht ahnte, dass er mit dieser Frau noch diverse eher unvergnügliche Stunden würde verbringen müssen, stellte sich erneut vor und erläuterte sein Anliegen.

„Ach ja, Herr Marenke. Sie sind aber früh dran. Kommen Sie bitte mit.“

Marenke folgte der jungen Frau durch einen langen, mit grauem Teppichboden ausgelegten, Flur, bis fast ans Ende. Dort öffnete Sie eine Tür und sagte:

„Bitte, nehmen Sie doch schon mal Platz. Wir werden uns gleich um Sie kümmern.“

Mit diesen Worten ließ die junge Beamtin Marenke allein. Der Raum war bis auf einen Tisch und drei Stühle leer. Der Tür gegenüber befand sich ein verspiegeltes Fenster. Marenke setzte sich auf den einzelnen Stuhl an der rechten Seite des Tischs. Es dauerte ungefähr zwei Minuten, dann betrat die Beamtin von eben in Begleitung eines deutlich älteren Kollegen den Raum. Der Mann ergriff sofort das Wort.

„Ich bin Kriminalhauptkommissar Manfred Berndes, das ist meine Kollegin Kriminaloberkommissarin Babette De Vries.“ Der Kommissar strahlte, nicht allein durch seine Stimme, eine gewisse Autorität aus. Er war zwar nicht besonders groß, dafür aber sehr kräftig gebaut. Ein sportlicher Typ. Außerhalb seiner Halbglatze wucherten noch ein paar eher graue Locken um den großen und kantigen Schädel. Er hatte einen Dreitagebart im Gesicht. Das war ja aktuell sehr modern. Sein Blick war kalt und stechend, hatte irgendwas Berechnendes. Wahrscheinlich auch, um seine übergeordnete Stellung zu betonen, trug er einen dunkelgrauen Anzug, darunter ein weißes Hemd, allerdings ohne Krawatte. Insgesamt strahlte er aus, dass man sich mit ihm besser nicht anlegen sollte und dass er bestimmen würde, was jetzt hier passieren sollte.

„Herr Marenke, vielen Dank, dass Sie gekommen sind. Bevor wir beginnen, muss ich Ihnen mitteilen, dass wir Sie hier als Verdächtigen und nicht als Zeugen vernehmen werden. Wenn Sie also einen Anwalt hinzuziehen wollen, dann können Sie das jetzt tun. Wir warten dann so lange.“

Das war ein Schlag ins Kontor für Marenke. Damit hatte er nicht gerechnet. Er wurde verdächtigt, das alte Ehepaar umgebracht zu haben? Das war für ihn so absurd, so weit hergeholt, dass er für einen Moment sprachlos war. Er wurde leichenblass. Als er sich wieder gefangen hatte, sagte er den Beamten, dass er keinen Anwalt brauchte. Und selbst wenn, er kannte ja gar keinen.

Außerdem war er sich zu hundert Prozent sicher, dass er diesen, aus seiner Sicht hirnrissigen, Verdacht auch allein würde aus der Welt räumen können. Die beiden Polizeibeamten verließen daraufhin den Raum, um nur zwei Minuten später wiederzukommen.

„Bitte kommen Sie kurz mit. Wir müssen Ihre Fingerabdrücke nehmen.“ Marenke schaute die beiden verdutzt an. „Reine Routine“, sagte die Kommissarin und führte ihn in ein Nebenzimmer. Hier saß ein weiterer Beamter, der seine Fingerabdrücke einzeln in den Computer einscannte. Die Prozedur dauerte keine Viertelstunde. Anschließend wurde Marenke zurück in das Verhörzimmer geführt, wo er sich an den Tisch setzte und wartete.

Es vergingen weitere zehn Minuten, bis die beiden Kommissare erneut den Raum betraten und sich gegenüber von Marenke an den Tisch setzten. Kommissar Berndes blätterte willkürlich in einer Akte, während seine Kollegin das Aufnahmegerät anschaltete.