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In 'Der Mann mit der Pranke' von Fritz Zeckendorf, wird die Geschichte von einem mysteriösen Mann erzählt, der sich in einer kleinen Stadt niederlässt und die Bewohner mit seinem außergewöhnlichen Talent fasziniert. Der Autor verwendet einen eleganten und beschreibenden Stil, der es dem Leser ermöglicht, in die Welt des Protagonisten einzutauchen und seine Gedanken und Handlungen zu verstehen. Mit subtilen Andeutungen und überraschenden Wendungen schafft Zeckendorf eine fesselnde Atmosphäre, die den Leser bis zur letzten Seite in Atem hält. Das Buch lässt sich in den Bereich der modernen Literatur einordnen und zeigt Zeckendorfs Talent, komplexe Charaktere und Handlungsstränge zu entwickeln. Fritz Zeckendorf, ein bekannter Schriftsteller mit einem Hintergrund in der Psychologie, interessiert sich für die menschliche Natur und die unergründlichen Abgründe der Psyche. Seine tiefe Beobachtungsgabe und sein einfühlsamer Schreibstil ermöglichen es ihm, fesselnde Geschichten zu kreieren, die den Leser zum Nachdenken anregen und emotional berühren. 'Der Mann mit der Pranke' spiegelt Zeckendorfs Interesse an der Darstellung der menschlichen Seele und seiner Fähigkeit wider, komplexe Charaktere und emotionale Konflikte auf eindringliche Weise darzustellen. Für Leser, die von raffinierten Erzählungen und psychologisch tiefgründigen Charakterstudien fasziniert sind, ist 'Der Mann mit der Pranke' von Fritz Zeckendorf ein absolutes Muss. Mit seiner meisterhaften Erzählkunst und seinem tiefen Verständnis für die menschliche Natur entführt uns der Autor in eine Welt voller Geheimnisse und unerwarteter Enthüllungen, die noch lange nach dem Lesen im Gedächtnis bleiben.
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Seitenzahl: 368
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Books
Über den Toreingang des Hauses in der Kantstraße zog sich ein langes, blaues Glasschild mit kräftigen, hohen Buchstaben: »Leihhaus Förster«. Die junge, hübsche, wenn auch nicht elegant gekleidete Frau ging mit krampfhafter Gleichgültigkeit auf der anderen Straßenseite auf und ab. Zweimal, dreimal. Ein viertes Mal. Bis sie mit plötzlichem Entschluß den Fahrdamm überquerte und unter dem blauen Schild durch die Haustür schlüpfte. An der schmalen Treppe, aufsteigend wie sie, die Aufschrift »Zum Leihhaus 1. Etage« über schräg liegendem Pfeil, der nach oben wies. Die junge Frau horchte einen Augenblick, ob niemand herunterkäme und rannte dann die Stufen hinauf, als befürchtete sie, gerade hier hundert Bekannte zu treffen. Sie ging von der Ansbacher Straße immer bis hierher, nur um ja niemandem zu begegnen. Im Vorzimmer des Leihhauses blieb sie aufatmend stehen. Lugte durch die Glastür in den Geschäftsraum.
Eine Arbeiterfrau stand an der linoleumbedeckten Theke und breitete Wäsche aus. Handtücher, Deckenbezüge, Laken. Ein älterer, hagerer Mann prüfte mit sachkundigen Fingern den Wert der Ware. Die Hand schon auf der Klinke, zögerte noch die junge Frau. Sie war aufgeregt wie das erste Mal, als sie diesen Weg hatte gehen müssen. Sie hörte Schritte auf der Treppe, ein Ruck – auch sie stand an der Theke. Der Hagere hinter dem Ladentisch zählte der Arbeiterfrau einige Silberstücke hin. Das magere, verkümmerte Fräulein, das seit zwanzig Jahren am selben Schreibtisch beim selben Fenster saß, fragte mit gleichgültiger Stimme nach Namen und Adresse und schrieb den Pfandschein. Herr Förster wandte sich geschäftsmäßig der neuen Kundin zu:
»Bitte?«
Die junge Frau kramte hastig und verlegen in ihrer Handtasche, Herr Förster wartete geduldig. Er nahm das kleine Lederschächtelchen, das ihm hingereicht wurde, öffnete es und betrachtete sorgfältig den Brillantring auf der Samtunterlage. Ging mit Ring und Lupe zum Fenster und untersuchte die Güte des Steines. Legte den Ring auf die Goldwaage. Alles ohne Worte.
»Zweihundert«, sagte er endlich.
Die junge Frau würgte. Sie rechnete für sich. Die Miete, das Bürofräulein, das Dienstmädchen – –
»Ich brauche zweihundertfünfzig.«
Er warf den Ring noch einmal in die Waagschale.
»Höchstens zweihundertzwanzig.«
»Ich muß zweihundertfünfzig haben«, bat sie, »Sie wissen doch, daß ich nichts verfallen lasse. In zwei Wochen – –«
»Geht wirklich nicht, meine Dame.«
Ein goldenes Armband löste sich vom schmalen Gelenk und wanderte über den Ladentisch auf die Waage. Kleine Messinggewichte klapperten metallisch.
»Noch dreißig.«
Der schmale Frauenkopf nickte. Das verkümmerte Fräulein füllte schon von selbst den Pfandschein aus:
»Frau Doktor – – Lena – – Kröning. Nicht? Ansbacher Straße – ja?«
»Vierzehn. Sie wissen schon meinen Namen, Fräulein?« Die junge Frau lächelte schwach. »Schrecklich, schrecklich.«
Der Pfandleiher schob Pfandschein und Geld hin und sagte mitleidig:
»Doch nicht so schlimm. Wenn Sie wüßten, wer hier alles herkommt, und was man alles herbringt. Man braucht Geld und leiht sich welches aus. Daß man ein Pfand zur Sicherheit gibt, ist doch keine Schande.«
»Nein, nein. Und doch. Es ist schon schrecklich.«
»Wird auch wieder besser werden.«
Die Glastür klappte. Ein eleganter Herr trat ein. Lena Kröning stopfte mit abgewandtem Gesicht das Geld in die Handtasche. Sie fühlte, daß es unsinnig war, dieses Verbergen. Mitglieder der größten Gemeinde der Welt, der Gemeinde der Geldlosen, brauchten sich nicht voreinander zu schämen. Dennoch. Nur hinaus. Sie vergaß sogar in der Eile zu grüßen.
*
Draußen war Frühling. Ganz, ganz zarte hellgrüne Blättchen sproßten in froher Dichte aus dem schwarzen Geäst der Bäume und schimmerten fast durchsichtig gegen das Licht. Lena eilte befreit die schnurgerade Kantstraße entlang, Richtung Zoologischer Garten. Das Bewußtsein, das Geld in der Tasche zu haben, beruhigte sie, die Sorge um den Monatsersten war wieder einmal gebannt. Und diese besondere, beglückende Stimmung des Frühlingsanfangs machte einen trotz allem wieder froh und leicht. Sie bog ab, nach dem Kurfürstendamm zu. Dort fühlte man noch etwas mehr vom Frühling. Die vier Baumreihen der breiten Prachtstraße, die Vorgärten mit Sträuchern und rundgeschnittenen Mandelbäumen, die schon kleine, rosafarbene Blüten zeigten, das war doch wenigstens etwas im endlosen, steinernen Gebirge der großen Stadt. Vor einer der vielen Konditoreien blieb Lena Kröning stehen. Es standen schon Tische und Stühle draußen. Vereinzelte Gäste räkelten sich und ließen sich die Sonne ins Gesicht scheinen. Um diese Zeit, zehn Uhr vormittags, war der Kurfürstendamm noch verhältnismäßig still. Nicht zu viel Autos, wenig Fußgänger. Jetzt eine Stunde in der frischen Luft sitzen, ein Stückchen Kuchen essen. Ob man es sich leisten soll? Ist vielleicht eine Verschwendung. Mein Gott, einmal! Wie oft kam denn das schon vor? Als Belohnung für den schrecklichen Gang, der immer ihre Aufgabe war. Ein Rechtsanwalt konnte doch nicht ins Leihhaus gehen. Überhaupt Hugo! Im Schaufenster der Konditorei lockte ein großer, gelber Baumkuchen und buntgeputzte Torten, die runden Tische glänzten schneeweiß und verführerisch. Lena gab der Versuchung nach, aber wie ein kleines Provinzfrauchen, das nicht gewohnt ist, allein ein Lokal zu betreten, schritt sie auf den ersten besten Tisch zu. Natürlich zu dem am wenigsten angenehmen, an dem man ohne Rückendeckung saß und von allen Seiten beobachtet wurde. Schon stand das Servierfräulein mit blendend weißem Schürzchen und gekrauster Stirnhaube da und wartete auf die Bestellung.
»Eine Käsetorte, bitte.«
»Mit Sahne?«
Gott, selbstverständlich mit Sahne. Nein, doch nicht. Oder doch? Es war ja schon wunderbar, hier zu sitzen.
»Bitte ohne.«
Und dieses Sich-Versagen der süßen, schaumigen Schlagsahne war eine ganz, ganz kleine Heldentat der Sparsamkeit.
Lena öffnete den blauen, vorjährigen Mantel, den sie selbst mit billiger Kunstseide neu gefüttert hatte, badete Gesicht und Hals in der lauen Märzwärme. Ein hauchschwacher Wind rieselte beglückend über den Nacken. Einige Damen saßen ohne Hüte. Durch das Beispiel ermutigt, setzte Lena den einfachen Hut aus Wollfilz ab, und wie mit einem Schlage war der ganze Kopf verwandelt. Blondes Haar von kostbarer Reinheit der Tönung schmiegte sich glatt und locker, von einer einzigen Welle unterbrochen, an die schmale Kopfform, in tiefem Knoten ebenmäßig auslaufend. Das zärtliche Oval des feinporigen Gesichts schimmerte in mattem, natürlichem Glanz, eine fein und weichgeschnittene Nase mit empfindsamen Flügeln stand zwischen bernsteinfarbenen Augen über einem liebenswürdigen, etwas kindlichen Mund. Es war eines der seltenen Gesichter, deren Schönheit gewinnt, je länger man sie betrachtet, und die nicht nur mit den Augen, sondern weit mehr mit dem Herzen genossen und eingeschlürft sein wollen. Die Scheinwerfer musternder Blicke umspielten Lena, und sie beugte sich etwas tiefer über den saftigen, frischen Kuchen.
Ein mächtiger, schwarzer Wagen fuhr vor, ein Herr in mittleren Jahren, kaum über mittelgroß, aber breit und massig gebaut, entstieg ihm. Der Herr blieb im Mittelgang stehen und fragte mit heiserer, harter Stimme eine der Kellnerinnen:
»Telefonzelle?«
Lena blickte peinlich berührt auf. Der kurze, befehlende Ton tat im Ohr weh. Ein sekundenkurzes, unabsichtliches Streifen aus steingrauen Augen flog über sie hin, ein blitzschneller Blick, der ihr so unangenehm war, daß sie sich abwandte. Der Herr verschwand hinter ihr im Innenraum des Lokals.
Gut, daß er sich nicht hinsetzt. Wie merkwürdig, daß man so im Augenblick von Abneigung gegen einen Menschen erfaßt werden konnte. Lena schob wieder kleine Bissen der Torte, wie um den Genuß zu verlängern, zwischen die weißen Zähne. Das war schon hübsch, so in der Sonne sitzen zu dürfen, ein wenig zu naschen und nicht beunruhigt zu sein von Miete und Mädchenlohn und Telefonrechnung. Vielleicht nächstes Jahr. Hugo wird es schon schaffen, einmal mußte sich doch die Praxis heben.
Mitten im Essen, ganz plötzlich, beschlich sie Beunruhigung. Dieses Gefühl, daß sie von hinten angestarrt wurde. Sie spürte es in den Haaren, im Nacken, den Rücken entlang. Das ist dieser Mensch, wußte sie, und getraute sich nicht, den Kopf zu wenden. Nicht drum kümmern, beruhigte sie sich. Was ist schon dabei, wenn ein Mann eine Frau ansieht. Wenn man sich daran stoßen wollte, durfte man in Berlin nicht über die Straße gehen. Deshalb sich diese schöne Stunde verderben lassen, lächerlich!
Der Herr, der nach dem Verlassen der Telefonzelle einige Augenblicke in der Tür der Konditorei stehengeblieben war, ging mit festem Schritt zu einem vorn seitlich gelegenen Tisch und setzte sich so, daß er Lena sehen und beobachten konnte. Es war offenbar, daß er um ihretwillen diesen Platz gewählt hatte. Und seine Augen hefteten sich diesmal unentwegt auf die junge Frau. Er saß breit und dunkel, mit steilem Oberkörper, ein Sitzriese, der jetzt größer schien, als er im Stehen wirklich war. Etwas Finsteres, Bedrohliches lag um die ganze Gestalt, die durch den amerikanischen Schnitt des Anzugs noch klobig verbreitert war, und Lena hatte das Gefühl, daß der Himmel von seiner Bläue eingebüßt hätte und die Luft dichter und schwerer geworden wäre. Sie drehte sich ungehalten nach der anderen Seite, um seinen Augen zu entgehen. Eine Zeitung lag neben ihr auf dem Stuhl. Lena verschanzte sich hinter dem Blatt. Nun wird der aufdringliche Beobachter doch hoffentlich bemerken, falls er sich Hoffnung auf ein Abenteuer gemacht haben sollte, daß seine Bemühungen vergeblich sind.
Der Herr benahm sich wirklich ein wenig auffällig. Er berührte kaum, was ihm die Kellnerin hingestellt hatte, er las keine Zeitung, keiner der Anwesenden, nicht das Leben auf der Straße interessierte ihn, Sonnenschein, Frühlingsluft, knospende Bäume schienen keinerlei Gefühle in ihm auszulösen. Und selbst die Bewegung, mit der er seinen runden, steifen Hut neben sich legte, war rein mechanisch. Einzig und allein schien für ihn ein Mensch auf der Welt da zu sein: die blonde Frau, Lena Kröning. Auch daß sie sich so offensichtlich von ihm abwandte und sich hinter der Zeitung verbarg, hinderte ihn nicht, seine grauen, undurchsichtigen Augen, die sich etwas geöffnet hatten, unablässig in die Richtung ihres Kopfes zu lenken, wie jemand, der von einem ungeheuren Erstaunen gebannt ist.
Am Tisch hinter Lena saßen zwei junge Damen, und Lena hörte die eine sagen:
»Sieh doch nur diesen Menschen dort vorn an. Zum Graulen. Dem möchte ich auch nicht in der Nacht im Wald begegnen.«
Unwillkürlich schielte Lena einige Male hinter ihrem Zeitungsblatt zu ihrem hartnäckigen Gegenüber, das wie eine Statue in unveränderter Starrheit verharrte. Auf dem anscheinend gutbürgerlichen Körper, der einem anständig, doch keineswegs elegant gekleideten Kaufmann gehören mochte, saß ein unverhältnismäßig mächtiger Cäsarenkopf von harten, zerklüfteten Zügen. Ein schwarz und kraus bewaldetes Schädeldach übertürmte eine wulstige Stirn, die, in zwei bauchige Erker gespalten, über den Augen hing. Die Brauen waren stark und an den Enden, einem Schnurrbart gleich, nach außen gedreht, das eine Auge von beschwertem Lid verdeckt, so daß sein Blick eigentlich nur aus der anderen Lidspalte zu kommen schien. Weiß Gott, kein hübscher, noch weniger ein sympathischer Kopf. Das einzig Schöne in diesem Gesicht war der klar gezeichnete Mund, der in den Winkeln fast von weiblicher Zartheit war und sich zuweilen über einem kräftigen, blendend weißen Gebiß öffnete. Aber der Eindruck der Weichheit wurde gleich wieder verwischt von dem breiten, gewalttätigen Kinn.
Der Mann war Lena unheimlich. Sie wollte unter allen Umständen vermeiden, vor ihm wegzugehen, weil sie überzeugt war, daß er ihr nachkommen würde. Er wird doch nicht ewig sitzenbleiben, sein Wagen wartete ja noch auf der Straße. Schließlich haben die meisten Männer um diese Zeit irgendeine Beschäftigung, und dieser da sah eigentlich nicht wie ein Nichtstuer aus. Aber konnte man in Berlin wissen?! Ebensogut konnte der Mann ein Verbrecher sein. Man hörte jetzt von so verwegenen Überfällen. Am hellichten Tag, auf den belebtesten Straßen. Lächerlich! Weshalb sollte er sich dazu gerade sie ausgesucht haben? Sie sah nicht danach aus, als ob bei ihr reiche Beute zu holen wäre. Es war nur so ungewöhnlich, wie sich der Mann benahm. War ja nicht das erste Mal, daß sie Männern auffiel und der eine oder andere sich ihr zu nähern suchte, aber sie benahmen sich doch anders. Zumindest machten sie ein verbindliches, liebenswürdiges Gesicht, setzten ein Lächeln auf. Dieser Mensch hatte eine steinerne Miene. Ein Granitblock, dessen harte Züge für ewig unveränderlich vom Meißel einer rohen Faust herausgeschlagen waren. Ach, ein Provinzler, der ungeschickt ist, suchte sie sich einzureden, gafft, weil er's nicht besser versteht. Ein Herr aus Kyritz an der Knatter, der ein Abenteuerchen sucht. Es war dumm, sich beunruhigen zu lassen. Sie legte ungeduldig die Zeitung hin und blickte mit trotzigem Gesicht auf den »Provinzler«. Der rührte sich nicht, blickte nur mit so unbeschreiblichem Ausdruck, als wanderten seine Augen wie gewichtlose Kugeln durch die Luft bis zu ihr herüber und senkten sich in ihre Augenhöhlen bis in ihr Gehirn. Angst überfiel sie wieder. Sie rief nach der Kellnerin, um zu zahlen. Was wird er jetzt machen? Es war wie ein kleines, aufregendes Duell. Auch er rief die Kellnerin. Ohne Worte, nur mit einem Wink des Fingers. Und das Mädchen – war es Zufall oder war es der stärkere Einfluß des Mannes? – eilte zuerst zu dem Tisch des Herrn. Lenas Plan, rasch zu zahlen und aus dem Lokal zu eilen, war vereitelt. Sie war wütend und kampfbereit. Er soll nur versuchen, sie anzusprechen. Dann kann er sich beglückwünschen. Widerlicher Kerl! Fast herausfordernd, mit herabgezogenen Mundwinkeln schaute sie ihm beim Zahlen zu. Die Hände fielen ihr auf, diese ungeheuren Hände mit den langen, knochigen Fingern, deren Kuppen von den breiten Nägeln wie mit Schildern bewehrt waren. Dabei waren die Hände schneeweiß, nur an der Wurzel von schwarzen Haaren gedunkelt. Pranken, drängte es sich Lena auf, und Angst beschlich sie wieder. Gefahr ging von den Tatzen aus. Wie entgeht man diesem Menschen mit den fürchterlichen Händen? Aufstehen, wegrennen? Oder sitzenbleiben, warten? Sie mußte zu Hause das Mittagbrot bereiten, Hugo wird ungehalten sein, wenn sie zu spät kommt. Am besten wäre es, sich gleich hier einen Wagen zu nehmen. Das kostet wieder eine Mark. So konnte man nicht mit dem Geld herumwerfen. Und der große, schwarze Wagen, der ihr jetzt düster und geheimnisvoll erschien, würde ihr auch nachfahren, sie nicht loslassen. Das Servierfräulein näherte sich höflich:
»Gnädige Frau wollte zahlen? Eine Käsetorte ... fünfundfünfzig.«
Sie legte, noch immer überlegend, das Geld auf den Tisch. Und ganz plötzlich sprang sie auf, nahm den Hut in die Hand, ohne ihn aufzusetzen, riß die Handtasche an sich und ging, so schnell sie konnte, hinaus auf die Straße. Mit einem raschen Seitenblick erhaschte sie gerade noch, daß auch der Man sich von seinem Sitz erhob. Sie lief fast den Kurfürstendamm entlang. Der Atem ging ihr rascher. Bei der Joachimsthaler Straße blickte sie sich verstohlen um. Zehn Schritte hinter ihr ihr Verfolger, breit, dunkel, mit ausgreifenden Schritten. Sie bog um die Ecke, dann wieder hinein in die Kantstraße, rasch, immer rascher. Die Beine schmerzten ihr vom schnellen Gehen. Bei der Gedächtniskirche mußte sie warten, sie kam nicht über den Damm. Jetzt muß er mich einholen, jetzt wird er mich ansprechen. Sie zitterte vor Furcht. Wovor? Sie wußte es nicht. Der Verkehrsschutzmann hob den Arm hinüber. Um die Kirche herum in die Tauentzienstraße. Im Gehen stülpte sie den Hut auf den Kopf. Sie fühlte, daß er schief saß. Die Tauentzienstraße entlang. Hier waren schon viele Menschen. Vielleicht konnte man im Gedränge entwischen. Sie warf einen Blick in die Spiegelscheibe eines Schaufensters. Dicht hinter sich sah sie den schwarzen Schatten. Was will denn der Mensch? Sieht er denn nicht, daß ich Angst habe. Gott sei Dank, das Kaufhaus. Sie zwängte sich zwischen anderen in die Drehtür. Im großen Warenhaus mit seinen Gängen und Treppen und Fahrstühlen konnte man verschwinden. Sie wurde etwas ruhiger. Sie wandte den Kopf. Der Mann kam hier nicht so schnell vorwärts, er war einige Schritte zurückgeblieben. Lena drängte sich zum Fahrstuhl. Vor der Nase des Mannes zog der Fahrstuhlführer die Tür zu.
»Besetzt.«
Lena hätte lachen mögen, am liebsten hätte sie ihrem Verfolger wie ein kleines Mädchen eine Nase gedreht. Aber das Lachen erstarb ihr auf den Lippen, ein so todernstes Gesicht sah durch die Glasscheibe herein. Der Fahrstuhl setzte sich in Bewegung. Die Pranke erhob sich und zog ehrerbietig grüßend den Hut.
Entkommen, jubelte es in Lena in kindlicher Freude. Im vierten Stock stieg sie aus, richtete sich vor einem Spiegel den Hut, ging einige Gänge kreuz und quer und stieg endlich auf der anderen Seite des großen Warenhauses, bei jedem Stockwerk vorsichtig nach allen Seiten spähend, die Treppe wieder hinab. Der Mann mit der Pranke – unwillkürlich hatte sich dieser Name bei ihr festgesetzt – hatte ihre Spur verloren. Durch einen Seitenausgang schlüpfte sie hinaus in die Ansbacher Straße. Hier wohnte sie. Ihre Augen wanderten die Straße hinauf, hinab. Niemand. Nur noch ein paar Häuser. Sie lächelte über sich selbst. War das eine Aufregung gewesen. Und vermutlich wegen nichts. Gott weiß, was für ein harmloser Mensch das gewesen ist, »der Mann mit der Pranke«. Sie öffnete das Haustor.
Hinter ihr, von ihr unbemerkt, glitt lautlos wie eine dahinsegelnde Wolke das große schwarze Auto vorüber.
*
»Frau Möllenhoff ist bei Herrn Doktor«, sagte das Dienstmädchen Walli und half Lena aus dem Mantel. »Frau Doktor möchten doch hineinkommen.«
Möllenhoffs waren mit Krönings befreundet, das heißt, Richard Möllenhoff war Hugos bester Freund, noch von der Schulbank her. Die beiden Frauen verstanden sich weniger gut. Die gefühlvolle, ruhige Lena und die quirlige, pikante Susi waren zu große Gegensätze. Immerhin, man duzte sich, verkehrte miteinander, doch mehr den Männern zuliebe.
Lena öffnete die Tür zum Zimmer Hugos, küßte ihren auffallend hübschen, großen Mann und reichte Susi die Hand.
»Hast du heute keinen Termin gehabt?«
»Termin? Ach, du liebe Güte! Ich kenne keine Parteien mehr.«
Susi war schon im Weggehen. Sie sprach sehr rasch und lebhaft:
»Gut, daß ich dich noch treffe. Ich kam gerade vorbei und wollte euch für morgen abend zu uns bitten. Es kommen ein paar interessante Menschen. Ein ehemaliger Staatssekretär, der Direktor der Lenk-Werke, Dr. Lehnhoff vom Balla-Konzern, der bolivianische Konsul, sogar ein Gesandter von – warte nur – – ach, ich weiß nicht mehr – von irgend so einem exotischen Ländchen, das nur auf den ganz großen Landkarten drauf ist. Aber Gesandter klingt hübsch.«
»Wo nimmst du nur die vielen Menschen her?«
»Gott, man muß sich Beziehungen schaffen. Ricki ist mit seiner Stellung nicht zufrieden, die Leute zahlen so schlecht. Und ohne persönliche Verbindungen ist doch in Berlin nichts zu machen.«
»Sehr richtig«, sagte Dr. Kröning, »das ist ja das, was ich Lena täglich predige. Ohne Verbindungen ist in Berlin nichts zu wollen. Ich seh's doch an mir. Da kann man der beste Rechtsanwalt der Welt sein, wenn man nicht geschoben und protegiert wird, kommt kein Hund in die Sprechstunde. Das Schild unten lockt höchstens Versicherungsagenten und Vertreter für Staubsauger. Und die paar Armensachen – –«
Da war man ja glücklich bei Hugos Steckenpferd angelangt. »Beziehungen« und »Verbindungen«. Lena hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten. Susi zog mit dem Lippenstift den karminroten Mund nach und rückte das flotte Hütchen auf dem schwarzen Bubenkopf zurecht.
»Also ihr kommt doch? Kann euch nichts schaden, ein paar Menschen kennenzulernen. Es gibt nur kaltes Büffet, ganz zwanglos. Um acht, ja? Übrigens, Lena, kannst du mir Walli für morgen abend leihen? Danke, sehr lieb von dir. Auf Wiedersehen.«
Husch und draußen. Lena sah ihren Mann an und nahm seine Hand zwischen die ihrigen.
»Ich möchte nicht gehen, Liebster.«
»Das habe ich gewußt. Damit wir nur ja niemanden kennenlernen. Wir sperren uns luftdicht ab und wundern uns dann, wenn das Wartezimmer der stillste Raum von ganz Berlin ist.«
»Ich weiß nicht, wie Susi das macht.«
»Weil sie eine geschickte Person ist. Sie versteht es, Menschen ins Haus zu ziehen, zu repräsentieren, ein bißchen was herzumachen. Du wirst sehen, sie schafft es. Sie wird so lange bohren, bis Richard seine neue Stellung hat.«
Woher soll ich denn die Menschen nehmen, wollte sie entgegnen, soll ich mich auf der Straße ansprechen lassen? Aber sie schluckte die Antwort hinunter. Es hatte so wenig Zweck über diese Dinge zu sprechen. Sie war eben kein Mensch wie Susi. Sie konnte nicht jemanden, den sie irgendwo einmal zufällig kennenlernte und der ihr gleichgültig, vielleicht sogar unangenehm war, gleich einladen, nur weil er Geld hatte oder irgendeine einflußreiche Stellung bekleidete. Sie konnte nicht mit jedem gleich freundschaftlich tun, den sie einmal irgendwo drei Minuten gesprochen hatte. »Ach mein lieber Herr X. Y., das ist ja reizend – –« Sie konnte es eben nicht. Sie hatte andere Dinge getan, die Susi vermutlich nicht konnte. Das vergaß Hugo. Daß es der junge, verwöhnte Burschenschafter, als er nach dem Tode seines Vaters mitten im Studium mittellos zurückblieb, nur ihr zu verdanken hatte, daß er das kostspielige Studium, die langen Referendarjahre ohne Sorgen durchhalten konnte, daß ihr kleines Vermögen draufging, daß sie sich sorgte und Entbehrungen auf sich nahm und ihm alles so zart und liebevoll gab, daß ihm nicht der Hauch einer Demütigung das Nehmen erschwerte – war das gar nichts? Wenn man das alles nur hätte sagen können! Opfer bringen, Sorgen besänftigen, ins Leihhaus laufen und den letzten Schmuck versetzen, das konnte sie. Diese Betriebsamkeit, Bekanntschaften suchen, Besuche machen, überall dabei sein, dahin laufen, dorthin laufen – war ihr nicht gegeben. Sie hatte auch so gar nicht das Bedürfnis nach fremden Menschen, die ihr nur Scheu und Verwirrung einjagten.
»Geh doch allein, Liebster, dein Smoking ist sehr gut – –«
»Ach, du hast nichts anzuziehen. Hätte ich mir eigentlich denken können. Es ist ja immer dasselbe.«
»Ich habe doch wirklich nichts.«
Lena hätte es nichts ausgemacht, auch in einem einfachen Kleidchen zu Möllenhoffs zu gehen. Aber sie wußte, wie Hugo war. Es entging ihr nicht, wie jede elegante Frau seine Blicke auf sich zog. Und wenn er morgen neben ihr die Frauen sieht – dieses Vergleichen war schrecklich.
»Ich verstehe es nicht. Möllenhoff verdient doch auch keine Reichtümer, und Susi ist immer reizend angezogen.«
Susi, immer Susi. Gut, ja, sie versteht's eben besser. Sie versteht es nicht einmal besser, es ist ja gar nicht wahr. Richard hat doch immerhin eine auskömmliche Stellung. Und der neue Anzug Hugos vor zwei Monaten – als Rechtsanwalt muß man anständig gekleidet gehen, damit einem die Leute nicht schon an der Nasenspitze den Hungerleider ansehen – dafür hätte sie drei hübsche Kleider haben können. Nur sagen konnte man es eben nicht. Alle diese Dinge konnte man nicht sagen. Schon schlimm genug, daß man sie dachte. Sie öffnete die Handtasche und legte das Geld auf den Tisch.
»Hast du's doch bekommen?«
»Das Armband mußte noch dazu.«
Kröning nahm sie in die Arme.
»Du bist ja doch mein guter, kleiner Tolpatsch!«
Also das anerkannte er wenigstens. – Susi hätte das nicht so ohne weiteres getan, ohne Vorwurf, ohne ein Wort des Aufhebens, das wußte sie. Sie lehnte sich an ihn.
»Geh doch morgen allein, mein Guter, tu mir die Liebe – –«
»Na schön«, sagte er gönnerisch und hätschelte ihr den blonden, feinen Kopf, »wenn es dir so unangenehm ist – –«
Jetzt war alles wieder gut, und sie mußte ihm ihr Abenteuer erzählen, wie dieser schreckliche Mensch sie angestarrt und verfolgt hat, wie sie vor ihm durch die Tauentzienstraße gerast ist und ihm doch im Kaufhaus ein Schnippchen geschlagen hat.
»Siehst du, da hätte ich dir vielleicht eine Verbindung schaffen können. Das ist sicher ein reicher Mann gewesen. Ein Auto, sage ich dir, so was habe ich noch nicht gesehen. Hätte ich mich ansprechen lassen sollen?«
»Dummheit. Aber du bist natürlich ungeschickt. Mir kann man ja nichts erzählen. Wenn man nicht will, und wenn man eine Dame ist und sich richtig benimmt – –«
»Liebster! Glaubst du vielleicht, ich habe mit ihm kokettiert?«
»Nein, ich denke nicht daran. Du hättest den Mann nur gar nicht bemerken dürfen. Luft, einfach Luft. Und die richtige Miene aufgesetzt, gleichgültig, abweisend – du bist eben ungeschickt. Du bist mein kleiner Tolpatsch.«
Nun konnte sie schon wieder nicht sprechen. Das war ja doch ein Vorwurf, wenn auch ein zarter, liebevoller. Nun hätte es auch keinen Zweck gehabt, Hugo zu erklären, wie der Mann ausgesehen, was für ungeheure Hände er gehabt hat, und daß sie sich vor diesem schrecklichen, steinernen Gesicht und diesen grauenhaften Pranken gefürchtet hat. Hugo hätte das alles nicht verstanden. Sich vor jemandem fürchten, weil er eine große Handschuhnummer hat. Am hellichten Tag, auf dem Kurfürstendamm, wo Tausende von Menschen gehen und an jeder Ecke ein Schutzmann steht. Es war ja wahrscheinlich lächerlich. Und sie hat sich auch eigentlich gar nicht gefürchtet, daß diese Hände sie erwürgen oder ihr sonst etwas tun würden. Es war etwas anderes, was man nicht so sagen konnte. Es war vielleicht so, wie Kinder sich in der Dunkelheit ängstigen, weil sie voll ist mit Dingen, die man nicht kennt, mit wilden, phantastischen Möglichkeiten. Und wenn man dann Kinder fragt, wovor sie sich fürchten, wissen sie es auch nicht. Man fürchtet sich eben. Bis tief ins Herz hinein.
Die Ehe der Krönings war eine Liebesheirat gewesen. Zumindest von Lenas Seite. Sie hatte um Mann und Ehe gekämpft, Opfer über Opfer gebracht, ihr bescheidenes Vermögen hingegeben, die Jahre ihrer umworbenen Jugend bedenkenlos hinstreichen lassen und nahm jetzt alle Sorgen, Enge der Verhältnisse und Launen des erfolglosen Mannes ohne Klage auf sich. Auch ohne viel Nachdenken eigentlich. So selbstverständlich war es, daß man alles gemeinsam trug, Leid und Freud teilte, daß es ihr nie beifiel, zu vergleichen, Schuld des Mannes zu suchen oder sich im felsenfesten Vertrauen, daß er ja doch tüchtig sei und es allmählich schon schaffen werde, beirren zu lassen.
Auch bei Hugo war es durchaus Liebe, die ihn diese Verbindung hatte eingehen lassen. Nur mischte sich in dieses Gefühl bei ihm noch Dankbarkeit, die bei selbstloseren Naturen der festeste Kitt ist. Aber Selbstlosigkeit war nicht die stärkste Seite seines Wesens. Von Kindesbeinen verzärtelt, als junger Mann von den Frauen verwöhnt, wurde in ihm eine natürliche Anlage zur Selbstsucht großgezogen, die seine Dankbarkeit, uneingestanden zwar, doch immerhin als Last empfinden ließ. Als junger Anwalt, gut aussehend, gesellschaftlich begabt – man hätte Chancen, wenn man frei wäre – es gab so viel reiche Mädchen – aber selbstverständlich – Ehrenpflicht – natürlich auch Liebe – immerhin – nicht jeder heiratet gleich deshalb. Nie wurde derartiges ausgesprochen. War vielleicht auch nur undeutlich gefühlt, aber ein so empfindsames Instrument, wie Lena es war, reagierte auf die leiseste Schwingung. Es fehlte jetzt zuweilen ihrer Verknüpftheit jene vollkommene Sicherheit, die für eine Frau ihres Schlages das festeste Band war. Sie tröstete sich, wenn erst die Verhältnisse besser würden, Hugo richtig zu tun bekäme. Doch dieser Trost war nicht ganz echt. Tiefer, unter der Decke des Bewußtseins, regten sich dunkle Flügel der Angst, daß er ihr dann noch eher entgleiten könnte. Es gab Frauen, die seinen weltmännischen Neigungen, seinem Bedürfnis nach gesellschaftlicher Geltung mehr entsprechen mochten. Susis, die ein großes Haus machen konnten, Gesellschaften geben, denen das alles im Blut lag. Nicht Eifersucht war das, sondern eine leise, wie von einem fernen Beben hervorgerufene Unruhe, jene nicht faßbare Mißstimmung, die aus nichts und wegen nichts entsteht. Die der Tod der zärtlichen Innigkeit ist und das Herz einer Frau leichter fremdem Einfluß öffnet.
Und dieser Einfluß ging von dem merkwürdigen Mann aus, von dem Mann mit der Pranke, wie sie ihn in Gedanken nannte, und der tagelang wie ein Schreckbild durch ihre Gedanken huschte.
Der Mann mit der Pranke war eines Tages wieder da. Nach knapp einer Woche. Lena verließ gerade ein Geschäft, in dem sie Einkäufe besorgt hatte, da stand er auf der anderen Straßenseite, breit, dunkel, den runden, steifen Hut auf dem mächtigen Kopf und wartete. Lena zuckte zusammen, als sie seiner ansichtig wurde. Wegrennen, dachte sie und blieb wie angewurzelt stehen. Der Mann grüßte höflich, sie erwiderte den Gruß nicht. Nach Hause rennen! Nein, dann erfuhr er ihre Adresse und konnte ihr zu jeder Stunde auflauern. Aber wenn er jetzt herüberkommt und sie anspricht! Sie begann wieder zu laufen, die Straßen kreuz und quer, ganz sinnlos denselben Weg wieder zurückgehend oder unvermutet die Richtung ändernd, auch plötzlich an irgendeiner Ecke stehenbleibend. Er folgte unentwegt, blieb indes auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Blieb sie stehen, blieb er auch stehen. Manchmal hatte es den Anschein, als wollte er herüberkommen. Jetzt, jetzt! Lena schlug das Herz bis zum Hals hinauf. Er besann sich, und kam doch nicht. Machte keinen Versuch, sich ihr zu nähern. Hatte er Angst? Was bezweckte er? Eine gute Viertelstunde, die Stunden zu währen schien, ging die Jagd durch die Straßen. Dann war der Verfolger plötzlich verschwunden. Wie vom Erdboden weggewischt. Wird ihm vielleicht zu dumm oder zu langweilig geworden sein. Um so besser. Lena atmete auf. War doch eine Dummheit gewesen, sich so zu fürchten.
Zwei Tage später traf sie ihn wieder. Sie hatte in der Motzstraße bei Möllenhoffs einen kurzen Besuch gemacht, weil Susi krank zu Bett lag. Wie sie in der Dämmerung aus dem Haus trat, erkannte sie den breitschultrigen, eckigen Umriß des Verfolgers ein Haus weiter vor einem Schaufenster. Als ob er auf sie gewartet hätte. Lena rannte auf die andere Seite. Ein Autobus hielt gerade, sie sprang hinauf, obwohl er in die entgegengesetzte Richtung fuhr, als sie sie nehmen mußte. Sie warf einen Blick zurück. Ob er sie überhaupt beachtet hatte?
Der Mann stand still, sah dem davonfahrenden Wagen nach und zog den Hut. Also hatte er sie doch bemerkt. War das Zufall? Natürlich. Nichts als Zufall. Das geschah einem in Berlin fortwährend, daß man jemandem monatelang nicht begegnete und dann an einem Tage dreimal. Weshalb sollte der Mann in der Motzstraße nicht etwas zu tun gehabt haben? Das war doch nicht so etwas Ungewöhnliches. Ob er sich jetzt einen Wagen nimmt und nachfährt? Lena spähte in jedes Auto, das hinter dem Autobus kam, suchte mit den Augen nach dem großen, schwarzen Auto, das genau so düster aussah wie sein Herr.
Von jetzt ab wiederholte sich auf sonderbare Weise immer das gleiche Spiel. Jeden zweiten Tag, zuweilen auch mehrere Tage hintereinander, tauchte unerwartet und überraschend die massige Gestalt des geheimnisvollen Fremden auf, immer an einer anderen Stelle. Einmal bei einem Spaziergang, den Lena irgendwo im Tiergarten oder im Grunewald unternahm, einmal mitten in ihren Besorgungen, geduldig wartend, bis sie das Geschäft verließ, ein andermal vor einem Theater, das sie mit Bekannten besuchte. Der Mann ließ kein Auge von ihr, folgte ihr in gemessener Entfernung und grüßte unauffällig bei geeigneter Gelegenheit, ohne je wieder den Versuch einer Annäherung zu wiederholen. Verschwand wieder ebenso plötzlich, wie er erschienen war. Anfangs glaubte noch Lena an die Zufälligkeit dieser Begegnungen und ihre Angst schwand. Es schien doch alles harmlos. Vielleicht gefiel sie diesem finsteren Menschen, dessen Gesicht nie von einem Lächeln, nie von einem verbindlichen Ausdruck erhellt und verschönt wurde. Ein wenig schmeichelte ihr sogar die Hartnäckigkeit dieses stummen, fernen Verehrers, dessen Gruß sie nie erwiderte und dem sie nie einen Blick der Aufmunterung schenkte. Aber nach dem vierten, fünften, sechsten Male setzte sich in ihr die Überzeugung fest, daß ihm aus irgendwelchen verborgenen Quellen Nachrichten über ihr Tun und Lassen zufließen mußten. Es fiel ihr auf, daß sie ihn niemals traf, wenn sie sich in Begleitung Hugos befand, und daß sie ihn niemals in ihrer Straße oder vor ihrem Hause erblickte. Die Angst kehrte wieder. Sie fühlte sich beobachtet. Aber wo waren die Augen, die jeden ihrer Schritte überwachten? Sie begann ohne jeden Grund mehrmals am Tage zum Fenster zu rennen und hinter den Fenstern die Straße mit ihren Augen auf und ab zu streifen. Wenn sie das Haus verließ, sah sie sich jedesmal sorgfältig um, ob nicht irgend jemand da sei, um sich an ihre Fersen zu heften. Mitten in jedem Gang, den sie unternahm, blieb sie hin und wieder stehen, und achtete scharf auf die Vorübergehenden, ob nicht ein auffallendes Gesicht dazwischen sei. Kriminalromane fielen ihr ein, in denen Detektive oder Verbrecher in immer wechselnden Masken und Verkleidungen hinter ihrem Opfer her waren. Drohte ihr eine Gefahr? Bei ihr war nichts zu rauben. Entführung? Kinder, junge Mädchen wurden manchmal entführt. Das las man in der Zeitung. Aber eine Frau von siebenundzwanzig Jahren – –
Man muß es Hugo sagen. Er lachte nur.
»Gar nichts, Kind. Der Mann wird hier irgendwo in der Nähe wohnen. So etwas passiert jedem Menschen, jeden Tag. Man achtet nur nicht darauf. Wenn du übrigens den Kerl wieder triffst und Angst hast, daß er dich belästigt, läßt du ihn einfach vom nächsten Schutzmann feststellen. Dann wird das große Geheimnis gleich gelöst sein. Erledigt.«
Der Mann belästigt doch gar nicht. Was tut er eigentlich? Gar nichts. Er geht auf der anderen Seite der Straße in derselben Richtung wie sie.
Ein einziges Mal geschah es, daß Hugo dabei war, als sie die unverkennbaren, breiten Schultern wieder im Gewühl der Straße auftauchen sah. Sie preßte krampfhaft die Finger in Hugos Arm.
»Da – da ist er.«
Hugo wandte sich blitzschnell um.
»Wo?«
»Da, da! Dort hinten – jetzt –«
»Wo denn?«
»Er ist fort.«
War er überhaupt dagewesen? Oder litt sie schon an Wahnvorstellungen.
Und das Sonderbare war, daß ihre Angst ganz anderer Art war, als man sie vor einem Verbrecher empfindet. Ihr Instinkt sagte ihr, daß nur die Bewunderung dieses Mannes, die magische Anziehung, die sie aus irgendeinem Grunde auf ihn ausübte, ihn auf ihre Spuren hetzte. Wie man etwas, das man nicht sehen will, immer wieder wie unter einem Zwang betrachten muß, so suchte sie bald schon ihren Verfolger, wenn sie vermeinte, ihm begegnen zu müssen. Und wenn ihn eine Reihe von Tagen nicht über ihren Weg führte, so erfüllte es sie mit etwas wie Enttäuschung. Die Gefahr, von der sie sich umschwebt glaubte, begann ihren unerklärlichen Zauber zu üben. Zu Hugo sprach sie nie wieder über den Menschen. Dieses Abenteuer wurde ihr Geheimnis. Und sie mußte sich eingestehen, daß sie zuweilen neugierig war und um ihr Leben gern gewußt hätte, wer und wie dieser Mann war. Nur nicht so im Dunkeln tappen. Etwas erfahren durch ihn oder durch andere, dann hätte man Ruhe gehabt. So häßlich und furchterregend sie ihn fand, spielte sie in Gedanken mit der Vorstellung, seine Bekanntschaft zu machen. Sie wußte, daß ein einziger freundlicher Augenaufschlag ihn sofort an ihre Seite bringen würde, aber jedesmal verließ sie der Mut, wenn sich die Gelegenheit bot. Wenn er mich ansprechen würde, dachte sie manchmal, wenn –
Das war schon ein Wunsch.
*
Und eines Tages – Lena befand sich gerade auf dem Heimweg – ging der vage, uneingestandene Wunsch in Erfüllung. Es war schon tief im April. Frühe Wärme brachte Gewitterschwüle. Unter einem bleischweren Himmel jagten vor stoßend einsetzendem Sturm bauschige Wolkensegel. Mit einem heulenden Pfiff brach Wind in die überraschten Straßen. Sonnendächer wurden vor den Geschäften eilig hochgekurbelt, heimtückisch rollten Hüte vor lächerlich stolpernden Verfolgern. Ein rasendes Flattern riß an den Baumkronen, griff tobend in Kleider und Mäntel, in die Vorhänge offener Fenster. Im Nu verdoppelte die Straße ihr Tempo.
Lena kämpfte mit Wind und Staub, der ihr entgegenwirbelte. Schwere Tropfen fielen. Ein Blitz zuckte auf, Donner knallte hinterdrein. Regen, mit Hagel vermischt, stürzte, prasselte ohne Übergang mit solchem Ungestüm herab, als wäre das ungeheure Gefäß des Himmels mit einem Schlag über der Stadt geborsten. Mit raschen Sprüngen rettete sich Lena in die Nische der nächsten Haustür. Der Bürgersteig war von Menschen leergefegt. Kaum ein Wagen, schmutzspritzend und gleitend, auf dem überspülten Asphalt. Ein Mann überquerte den Damm, ruhig, ohne Hast, als wäre das schönste Wetter. Unbekümmert um den Hagel, der ihm das Gesicht peitschte. Regen troff vom wasserdichten Mantel, der Rand des runden Hutes war weiß von Hagelkörnern. Der Mann hielt gerade Richtung auf das Tor, unter dem Lena stand. Die junge Frau hatte ihn schon in der Mitte der Straße bemerkt und starrte ihm wie einer unentrinnbaren Erscheinung entgegen. Der Mann – – der Mann mit der Pranke. Er kam dunkel, breit, gedrungen wie eine Lokomotive, auf sie zu. Der Wunsch, der Wunsch ging in Erfüllung. Nun war es kein Wunsch mehr, sondern heißer Schrecken, der lähmend in die Glieder schlug. Bevor sich noch ein Gedanke in Lenas Angst drängte, war der Mann schon vor ihr, sah sie das graue, große Gesicht einen Schritt weit vor dem ihren, griff die mächtige Hand grüßend nach dem Hut. Die harte, heisere Stimme, die Lena schon einmal gehört hatte, sagte:
»Gnädige Frau, – –«
Weiter kam der Breite nicht. Ein so entsetzter Blick traf ihn, daß es ihm den Satz in die Kehle zurückstieß. Und einen Augenblick lang standen sich Mann und Frau wortlos gegenüber. Mit Aufbietung aller Kraft ächzte Lena drei Worte heraus:
»Ich – will – nicht.«
Mit einem Satz sprang sie an ihm vorbei und raste in den strömenden Regen hinaus. Aber ihr Verfolger schien einen unabänderlichen Entschluß gefaßt zu haben, wie jemand, dem die Geduld gerissen ist und der auf Biegen oder Brechen sein Ziel erreichen will. Er ging ihr nach und hatte sie kaum zwei Häuser weiter mit langen, schweren Schritten eingeholt. Sie ging rascher. Er hielt mit. Sie hörte den heiseren Klang dicht neben ihrem Ohr:
»Gnädige Frau – – weshalb haben Sie Angst – – hören Sie mich nur an –«
Die rauhe Stimme färbte sich bettelnd und demütig:
»Ich bitte – – ein Wort – – ich will ja – –«
Lena blieb mit einem Ruck stehen, so daß ihr hartnäckiger Begleiter über sie hinausschoß. Er drehte sich sofort um. Bevor er wieder ein Wort sagen konnte, schrie sie ihn fast an:
»Sie irren sich. Bemerken Sie denn nicht – –«
Und rannte in entgegengesetzter Richtung wieder zurück, ihrer Wohnung zu. Als hätte er Besinnung und Verstand verloren, folgte ihr der Mann durch die menschenleere Straße. Die harten, kalten Hagelkörner brannten sie an Gesicht und Hals. Mein Gott, war denn die Gegend plötzlich ausgestorben? Lärm schlagen! Einen Schutzmann rufen, so wie Hugo gesagt hatte! Sie sah sich hilfesuchend um. Keine Menschenseele. Die Stimme war wieder neben ihr, unglücklich und eindringlich:
»Verstehen Sie denn nicht – – ich will nur – –«
Der Mensch war wahnsinnig. Nur über die Straße und dann drei Häuser – – sie begann zu rennen. Endlich, ihr Haus. Ehe sich die Haustür öffnete, blickte sie sich noch einmal atemlos um. Kaum zehn Meter hinter ihr kam ihr Verfolger. Die Tür gab nach, sie stürmte die Treppe hinauf. Hinter ihr klopften Schritte auf den Stufen. Noch ein Stockwerk. Sie riß am Klingelzug, halb irrsinnig vor Angst. Kommt denn niemand öffnen! Sie drosch mit den Fäusten gegen die Füllung. Das Bürofräulein schloß die Tür auf. Hinter Lena stand ein breiter, dunkler Schatten. Lena stürzte grußlos an dem erstaunten jungen Mädchen vorbei in die Wohnung. Die Klinke zum Wohnzimmer in der Hand, hörte sie von der Eingangstür, befehlend und hart wie damals in der Konditorei:
»Ist Herr Rechtsanwalt – –?«
Sie riß im Zimmer den Hut herunter und warf den Mantel ab. Sie mußte sich hinsetzen, ihre Knie zitterten. Was war das? Was will dieser Mensch bei Hugo? Ein Verbrecher, ein Erpresser? Oder nur eine unerhörte Frechheit, die nicht einmal vor der Wohnungstür haltmacht. Sie muß zu Hugo hinein, damit er diesen Menschen hinauswirft. Sie schlotterte am ganzen Körper. Nur nicht diesen Mann sehen. Hugo ist ja Rechtsanwalt und groß und stark. Er wird den Kerl schon richtig anfassen. Sie schlich zur Zimmertür und preßte das Ohr gegen das kühle Holz. Sie erwartete Lärm oder irgend etwas. Draußen war es still.
*
Das kleine Bürofräulein nahm mit unfreundlichem Gesicht die Namenskarte des Besuchers ab. Sein Ton und seine Geste paßten ihr nicht, sie war an die demütigen Mandanten der Armensachen gewöhnt. Absichtlich langsam ging sie ins Sprechzimmer. Doktor Kröning drehte erstaunt die große, weiße Visitenkarte, auf der ohne Vornamen, ohne Adresse, ohne Berufsangabe nur ein kurzer Name stand: Gontard. Gontard? – War wohl nicht möglich. Gott weiß, wie viele Gontards in Berlin herumliefen.
»Sagen Sie, Fräulein, sieht der Herr wie ein Bankier aus?«
Das Bürofräulein zog eine schnippische Nase.
»Bankier? Eher sieht er aus, als ob er Wechsel gefälscht hätte.«
»Deshalb könnte er Bankier sein. Ich lasse bitten.« Das Fräulein lachte pflichtschuldig. Für alle Fälle setzte sich Kröning in Positur und erhob sich gleich wieder beim Eintritt des Gemeldeten.
»Herr Bankier – – Gontard?«
Der Angeredete nickte kurz und nahm, ohne eine Einladung abzuwarten, dem Rechtsanwalt gegenüber Platz. Kröning geriet einen Augenblick außer Fassung. Wenn der Schah von Persien mit seinem gesamten Hofstaat bei ihm eingetreten wäre, hätte es auf ihn nicht mehr Eindruck machen können als der Besuch des breitschultrigen, untersetzten Herrn, der ihm mit steinernem Antlitz gegenübersaß, als kennte er die Wirkung seiner Erscheinung. Gontard – Franz Gontard – Präsident der Depositenbank – das war einer der ungekrönten Fürsten des Geldes, einer der Mächtigen, denen ungezählte Millionen sagenhafte Gewalt verliehen. Und der Geheimnisvollste von allen, den niemand kannte. Gefürchtetster und waghalsigster Spekulant auf allen Börsen Europas, dem man nachsagte, daß er das Geld rieche. Aufgestiegen aus unbekannten Tiefen, umhüllt von einem Nebel abenteuerlicher Anekdoten. Und dieser Gontard saß hier im einfachen Sprechzimmer eines unbekannten kleinen Anwalts. Es war unfaßbar, Kröning vergaß zu fragen, was ihm die Ehre verschaffe. Und Bankier Gontard ließ sich Zeit. Unter halbverhängten Augen, von denen das eine kaum sichtbar im schmalen Schlitz war, prüfte er: hübscher Junge, Repräsentant, Durchschnittsanwalt.
»Brauche einen Syndikus, einige Stunden täglich, manchmal mehr«, sagte er knapp und heiser. »Haben Sie Lust?«
»Aber Herr Präsident –«
»Nur Gontard.«
»Wie Sie wünschen«, antwortete Kröning mit verbindlicher Verbeugung. »Natürlich wäre es mir eine Ehre –«
»Also ja. Wir bezahlen diese Stellung mit fünfzehnhundert monatlich.«
Kröning hatte sich gesammelt. Man kam zu ihm, man wollte ihn haben, hatte von ihm gehört. Vielleicht war mehr herauszuholen.
»Sie wollen bedenken, Herr Gontard, daß ich meine Praxis werde einschränken müssen und einen großen Ausfall erleide – –«
»Also nein.«
Es war gräßlich mit diesem Menschen. Er ließ einen keinen Satz zu Ende sprechen. Und Kröning hörte sich gern reden. Es machte ihm Vergnügen, die Sätze zu bauen, sie literarisch zu formen. Aber jetzt war er schon verwirrt.
»Sie mißverstehen mich, Herr Gontard. Natürlich wäre es mir ein Vergnügen, in Ihrem Unternehmen – nur möchte ich den Verlust, der mir durch meine Tätigkeit bei Ihnen – Sie begreifen –«
Huschte über das Granitgesicht ein Lächeln? Man konnte es nicht deuten.
»Sie versteuern dreihundert Mark monatlich. Armenpraxis. Bin im Bild. Bleibt bei fünfzehnhundert. Menschen muß man an der Nase ansehen, ob man mit ihnen handeln kann.«
Gegen diesen Gegner kam Hugo nicht auf. Und schließlich – fünfzehnhundert Mark – das verdiente er jetzt nicht einmal in einem Vierteljahr.
»Bitte, Herr Gontard. Es reizt mich so sehr, unter Ihnen zu arbeiten, daß ich Ihre Bedingungen annehme. Übrigens – darf ich fragen, welcher Empfehlung ich Ihren Besuch verdanke?«
Gontard überhörte die Frage. Hatte er nicht gehört, wollte er nicht hören? Er hatte eine so selbstherrliche Art, das Gespräch nach seinem Gutdünken zu führen, daß der junge Anwalt nicht wagte, die Frage zu wiederholen. Obwohl er brennend neugierig war, wieso dieser Diktator, dem die größten und berühmtesten Juristen mit Vergnügen zu Diensten gestanden hätten, gerade auf ihn verfallen war. Vielleicht eine einflußreiche Fürsprache? Aber von welcher Seite?
Gontard hatte sich erhoben.
»Morgen um zehn. Melden sich bei meiner Sekretärin, Herr Doktor.«
Dieser anmaßende Ton! Wie der mit einem umsprang. Nun gerade nicht. Kröning tat wichtig.
»Morgen um zehn?« Er blätterte im Terminkalender. »Wird schwer gehen. Da habe ich eine wichtige Sache – vielleicht um elf, wenn es recht ist.«
Bei den letzten Worten war er schon unsicher. Er hatte einen Blick aufgefangen, der ihm unbehaglich war. Ein schnelles Aufblitzen, wie Feuer an der Pistolenmündung nach dem Schuß. Der Schuß ging scharf ins Ohr.
»Um zehn.«
Kröning streckte endgültig die Waffen.
»Dann muß ich wohl einen Vertreter beauftragen, obwohl – –«
Er brach schon von selbst ab. Er hatte die Empfindung, daß ihm gar nicht zugehört wurde. Gontard stand auf, auch der Anwalt erhob sich. Ein Nicken, das kaum ein Gruß war. Kein Händedruck. Der breite Rücken schob sich durch die Türe, ehe sich Kröning noch recht bewußt war, daß sein Besucher schon ging. Er eilte ihm nach und machte eine unbemerkte Verbeugung. Das Fräulein machte ein lächerlich hochmütiges Gesicht hinter Gontard her.
»Habe ich recht gehabt?«
»Sie sind eine dumme Gans«, antwortete Kröning wütend und schlug die Tür des Sprechzimmers hinter sich zu.
So ein Benehmen war ja noch nicht dagewesen. Diese knappe, grobe Art, die einem fortwährend ins Wort fiel und einen duckte. Das war keine Ungezogenheit, das war bewußte Absicht. Natürlich, ein so großer Herr kann sich das für sein Geld erlauben. Gott behüte, daß er ein freundliches Wort gesagt hätte, er hätte daran ersticken können. Na, herzlichen Glückwunsch zu dem neuen Chef, der nur im Telegrammstil redete. Doch geradezu läppisch! Damit konnte er vielleicht anderen imponieren. Das wird ja ein Vergnügen werden, bei dem angestellt zu sein. Aber ein geriebener Hund, was wahr ist, ist wahr. Wie er informiert war. Bis in den Steuerzettel hinein. Ach was, ein taktloser Kerl. Einem die Armenpraxis unter die Nase zu reiben! An Zartgefühl wird er nicht sterben, die Todesursache ist ausgeschlossen.