Der Mann mit der Seehundmaske - Dörte Stolle - E-Book

Der Mann mit der Seehundmaske E-Book

Dörte Stolle

0,0

Beschreibung

Dr. Gustav Weiss ist an die Uniklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Elbstadt gegangen. Er will sich habilitieren. Neben der wissenschaftlichen Arbeit leitet er das therapeutische Team als Oberarzt. Zu seinen Patienten zählen Maria, Rainer und Tanja. Sie sind ganz offensichtlich Missbrauchsopfer eines Täters aus den höchsten Gesellschaftskreisen von Elbstadt und präsentieren sich ihm völlig verstört, allem Anschein nach komplex traumatisiert. Parallel zu den Bemühungen von Dr. Weiss um therapeutischen Zugang zu den Kindern, beginnt eine Jagd nach dem vermeintlichen Täter - dem Mann mit der Seehundsmaske. Nach dem ersten Roman „Dann fressen sie die Raben“ ermitteln Kinderpsychiater Dr. Weiss und Kriminalkommissar Jan Siemen in ihrem zweiten Fall. Die Autorin Dörte Stolle, langjährige ehemalige Chefärztin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie in Schleswig, taucht mit ihrem zweiten Kriminalroman erneut tief in die Welt der Kinder- und Jugendpsychiatrie und ihrer Schnittstellen mit Jugendämtern, Gerichten und Polizei ein. Zuvor von Dörte Stolle veröffentlicht: Dann fressen sie die Raben ISBN 978-3-8834-8167-3

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 346

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Vorwort

Neun Jahre nach Erscheinen des ersten Kriminalromans von Dörte Stolle „Dann fressen sie die Raben“ veröffentlichen wir mit diesem Buch ihren zweiten und letzten Krimi, gewissermaßen eine Fortsetzung und gleichzeitig ein Abschluss. Neun Jahre nach „den Raben“ bedeutet sechs Jahre nach dem für uns damals völlig überraschenden und immer noch schwer fassbaren Tod von Dörte, unserer Frau, Partnerin und Mutter.

Kurz nach Erscheinen „der Raben“ hatte sich Dörte erneut an ihren Schreibtisch gesetzt, eine Fortsetzung sollte her. Ein Lektor sollte diesmal engagiert werden, „Der Mann mit der Seehundmaske“ sollte das Zeug haben, eine noch etwas breitere Leserschaft für die Verbindung Kinder- und Jugendpsychiatrie und Kriminalroman zu interessieren. Mit der ihr eigenen Geduld setzte sie sich, kaum waren Hund und Pferde versorgt, täglich zwei bis drei Stunden an den Rechner und ließ den vorliegenden Text entstehen. Die plötzliche Erkrankung riss sie aus dem ersten Durchgang der Korrekturarbeiten, und so konnte „Der Mann mit der Seehundmaske“ nicht mehr abschließend von ihr überarbeitet werden.

Wir haben uns entschieden, keinerlei Änderungen vorzunehmen.

Bei Frau Pudzich bedanken wir uns herzlich im Namen der Autorin für die erste Durchsicht und die intensiven Korrekturvorschläge. Diese wurden von ihr noch vor ihrem Tod eingearbeitet.

In Erinnerung an Dörte Stolle: „Der Mann mit der Seehundmaske“

Wolfram & Martin Stolle

Schleswig und Hamburg, Frühjahr 2016

1

Oberarzt Gustav Weiss blickt auf ihre Hände. Blutverkrustete Mädchenhände, auch am rechten Ärmel ihres Pullovers, Blutflecken.

Er wendet sich ab und sieht auf den Einweisungsschein.

Maria Schmidt, geboren 9.November 1993.

Jugendliche versuchte, ihren Vater zu erschlagen, nach Streit um ein Bild.

Gerade fünfzehn geworden, seufzt er; lehnt sich zurück und beginnt mit seinen Fragen.

»Maria, magst du mir von dem Bild erzählen?«

Keine Antwort. Maria hockt auf dem Stuhl, die Beine hoch gezogen, den Kopf auf die Knie gepresst.

Du bist jetzt hier, in der Kinder-und Jugendpsychiatrie der Uni.« Er unterdrückt die Regung, eine Hand auf ihre Schulter zu legen. »In Elbstadt«, fügt er hinzu.

Sie bewegt sich nicht.

Sitzt er einem Mädchen gegenüber, das sich nur noch an sich selbst festhalten kann? Oder kocht sie vor Wut und versucht, ihren inneren Geysir unter Verschluss zu halten?

Plötzlich verändert sie die Haltung, zeigt ihr blasses Gesicht und flüstert: »Auf dem Bild ist Comet.«

Erleichtert rückt er näher und fragt wie beiläufig: »Wer ist Comet?«

Ihre Schultern zittern. Er hört ein kurzes Aufschluchzen, dann hebt sie langsam den Kopf, blickt an ihm vorbei und bittet: »Kann ich was trinken?«

Sie ignoriert seine Frage aber sie redet.

»Da kommt Schwester Irmhild«, sagt er. »Sie wird dir etwas zu trinken bringen.«

Im Stationsbüro sitzt Thomas Grund, Heilpädagoge und Stationsleiter. Den Telefonhörer hat er zwischen Ohr und Schulter geklemmt, mit der rechten Hand macht er sich Notizen und mit der linken wühlt er in einem Leitzordner. »Moment«, ruft er jetzt, »unser Oberarzt kommt gerade, möchten Sie ihn selbst sprechen?«

Gustav Weiss lässt sich seufzend auf den Stuhl fallen. Was geht in Maria vor? Ist sie eine von diesen gewaltbereiten Wilden, die vor nichts zurückschrecken? Oder hat er gerade ein verzweifeltes Mädchen aufgenommen, das in seiner Angst zum Hammer griff?

Als Erstes muss er ihre Familie kennenlernen. Er steht auf, um am zweiten Telefon einen Termin abzusprechen. Doch noch, während er sich erhebt, zupft ihn Thomas energisch am Ärmel, zieht ihn zurück auf den Stuhl und streckt den Telefonhörer vor sein Gesicht. »Wer?«, fragt er mürrisch. Thomas verschließt die Telefonmuschel mit der Hand und flüstert: »Staatsanwalt Flecht, wegen Maria.«

Gustav stützt sich mit beiden Ellbogen auf den Schreibtisch und hört die monoton singende Stimme Flechts. »Nur zur Begutachtung«, wiederholt er, »hm, zur Strafreife und Schuldfähigkeit soll ich mich äußern; ja, sie muss geschlossen untergebracht werden. Nein, nicht wegen der Gefahr, zu entweichen, ich halte sie für suizidal. Wann ...?« Gustav hält den Hörer in der Hand und blickt empört in die Muschel. »Der hat aufgelegt. Wir sähen uns bei einer Bilderauktion.«

Thomas grinst ihn an. »Der Chef war gerade hier, mal wieder in höchster Eile. Du möchtest morgen Abend an dieser Benefizveranstaltung im Kongresszentrum teilnehmen. Dort soll auch ein Bild von Maria versteigert werden.«

Die Kinder- und Jugendpsychiatrische Universitätsklinik ist ein dreigeschossiges, rot verklinkertes Gebäude. Die Suchtabteilung liegt lang gestreckt zwischen dem Haupthaus und der Tagesklinik. Ein wenig ähnelt sie einer aufgepeppten Behelfsbaracke. Flachdach, weiße Isolierverschalung, gesicherte Fenster. Eine fünf Meter hohe Kiefer markiert den Eingang. Der Hof mit Fußballtor, montiertem Basketballkorb und fest installierter Tischtennisplatte wird von einem zwei Meter hohen Zaun umschlossen. Die Haustür hat zwei Flügel, damit auch Krankenbetten hindurchpassen, und ist in der Regel verschlossen. Für Besucher gibt es eine Rufanlage, nachts mit Videokamera. Eine Schleuse verhindert Patientengedrängel und andere unliebsame Dinge wie Drogenschmuggel. Dahinter liegt ein kleiner Aufenthaltsraum, und dann betritt man den langen Flur. Die Station J3 hat zwölf Plätze. Schwerpunkt ist die Behandlung junger Drogenabhängiger. Im Gegensatz zu den grell-bunten Lebensgeschichten der Patienten ist die J3 einfach nur hell. Weiße Wände und Decken, hellgrün und gelb gestrichene Türen, ockerfarbiger Linoleumboden. Während die Nase des Eintretenden vom Kaffeeduft verwöhnt wird, müssen sich die Ohren auf plötzlich anschwellende Lärmpegel einstellen. Einige Jugendliche sind davon überzeugt, Kommunikation unter 100 Dezibel bringe nichts.

Auf der rechten Seite des Flures liegen die Patientenzimmer, auf der linken die Funktionsräume: Schwesternbüro, Therapieraum, Arztzimmer. Da das Weihnachtsfest naht, hängen über einigen Türen Tannenzweige, an denen Strohsterne und Engelchen baumeln.

Im dritten Zimmer, links vom Flur, arbeitet Gustav. Marias Großmutter ist gekommen und sitzt ihm gegenüber. Ella Schmidt ist eine kleine, graue, schlicht gekleidete Frau zwischen sechzig und siebzig Jahren. Sie würde nicht auffallen, wäre da nicht dieser Gesichtstic. Ohne jeden Anlass, gewissermaßen automatisch, zuckt ein Mundwinkel nach oben, rasch hintereinander. Der Rest des Gesichts verhält sich, als sei nichts gewesen.

»Wir sind eine ganz normale Familie«, beteuert sie.

Gustav legt seine Fingerspitzen aneinander, senkt den Kopf und nimmt sich vor, an diesem nervösen Grimassieren vorbei zu sehen. Als er wieder aufblickt, hüstelt sie. Offensichtlich fühlt sie sich verpflichtet, ihm Erklärungen anzubieten.

»Ich war im Treppenhaus, als es passierte.«

»Sie hörten von draußen den Streit?«

»Ich wollte sehen, ob die Post schon da war«, erklärt sie.

»Was bekamen Sie mit, ist Ihnen der Anlass ...?«

Plötzlich bleibt der Mundwinkel von Frau Schmidt eine Weile hoch gezerrt stehen. Er unterbricht seine Frage, um ihr Gelegenheit zu geben, ihr Gesicht wieder in Ordnung zu bringen. Es ist, als gehöre dieser Mundwinkel irgendeinem Kobold, der in ihrem Gesicht sein Unwesen treibt. Gustav hat Mühe, seine Augen zu disziplinieren. Offensichtlich wollen sie nur eines, hemmungslos auf die Darbietungen dieses Kobolds starren. Er senkt den Kopf und versucht, seine Schreibutensilien zu betrachten. Dieser hüpfende, jagende Gesichtsmuskel ist für ihn so ansteckend, dass er aufpassen muss, seine Mimik vor ähnlichen Sprüngen zu bewahren. Auch Stotterer und Menschen, die jedes zweite Wort mit ‚ääm‘ verbinden, sind für ihn eine besondere Herausforderung. Verführt ihn fehlgeleitete Empathie oder kindlicher Nachahmungstrieb? Er bemüht sich, diesem wilden Mundwinkel mit unbefangenem Blick zu begegnen.

»Der Anlass war dieses Bild«, sagt sie. »Ich habe es mitgebracht. Es zeigt, dass Maria gern reitet.« Gustav löst es aus dem braunen Umschlag, um es zu betrachten.

Ein Mädchen im Reitdress steht vor einem Pferd. Beide sind von der Seite zu sehen. Die Reiterin streckt eine lange Karotte, die sie zwischen den Zähnen hält, dem Pferdemaul entgegen.

Jetzt neigt er sich über die Buntstiftzeichnung und lässt seine Augen prüfend über das Bild wandern. Das Mädchen hat etwas Rundes unter dem rechten Fuß. Zertritt es einen Apfel oder gar einen Kopf?

Das Bild zeigt entschieden mehr, als dass Maria gern reitet. Kurz entschlossen legt er es in eine Umlaufmappe. Er will später mit seinen Teamkollegen darüber reden. »Danke«, sagt er. »Dürfen wir es behalten, solange Maria hier ist?« Sie nickt.

»Erzählen Sie bitte etwas zur Entwicklung ihrer Enkelin«, bittet er.

»Maria ist begabt, sie kann gut reiten«, erwidert sie knapp. Gustav bemüht sich, sie mit freundlichem, ruhigen Blick zu weiteren Sätzen zu ermuntern.

»Im Grundschulalter war sie etwas distanzlos, und so mit zehn fing sie an, nörgelig zu essen«, fällt ihr ein.

Missbrauch, denkt Gustav. Distanzlosigkeit und Essstörung könnten Symptome dafür sein. Aber ein Blick in das wild zuckende Gesicht hindert ihn daran, gezielt weiter zu fragen.

»Meine Enkelkinder sind temperamentvoll«, fährt Frau Schmidt fort. »Also Streit ist nichts Besonderes bei uns.«

»Aber diesmal war es anders als sonst?«

»Ja, Rainer schrie.«

»Kommt das selten vor?« Sie nickt. »Rainer ist der Vernünftigste. Er hatte den Hammer auf den Tisch gelegt, weil er basteln wollte.«

»Sie hörten also schon draußen, dass dieser Streit eine andere Qualität hatte.«

Frau Schmidt rutscht auf dem Stuhl nach vorn, beugt sich zu ihrer Tasche, holt eine Packung Papiertaschentücher heraus, schnäuzt sich und erst jetzt, nachdem er sich an den Gesichtstic gewöhnt hat, fallen ihm ihre müden Augen auf.

»Möchten Sie etwas trinken? Wasser oder Kaffee?«, fragt er fürsorglich.

»Gern Wasser.«

Er steht auf und geht zum Waschbecken. Während er das Wasser ablaufen lässt, um es frisch und kühl ins Glas zu füllen, berichtet sie seinem Rücken: »Marias Mutter verließ die Familie, als Rainer ein Jahr alt war. Ich versuche, sie zu ersetzen.«

Gustav stellt ihr das Wasserglas hin, und als sie danach greift, trudeln Taschentuchkrümel aus ihrer Hand zum Boden. Sie sieht das weiße Häuflein nicht, das wie großflockige Asche neben ihren Schuhen ruht; denn das, was sie in Gedanken mit den Händen zerbröselte, hat ihr Großhirn noch nicht unter Kontrolle: Schwelbrände flackern in sämtlichen Windungen. Der Arzt soll davon nichts wissen und den Rauch, den Maria freiließ, darf er auf keinen Fall riechen. Der Mundwinkel jagt bis zum Augenlid, angefeuert von ihrer verzweifelten Konzentration.

»Wir sind eine normale Familie«, wiederholt sie. »Mein Sohn arbeitet als Wachmann bei der Bundeswehr, die Kinder besuchen das Gymnasium. Ich durfte meinen Sohn besuchen. Er wird Maria verzeihen. Es war ein Versehen.«

»Ja«, sagt er und schwenkt die Hände resignierend nach außen. Es ist das Familiengeheimnis, das in ihrem Gesicht herumtobt. Auch wenn es noch so zerrt, sie wird es festhalten. Er muss mehr über Maria erfahren und bittet darum, mit ihrem Bruder und ihrer Kunstlehrerin sprechen zu dürfen.

»Sie wünschen ein Gespräch?«

»Danke, Rainer, dass Sie gekommen sind.« Der Junge ist erst vierzehn, und er hat ihn spontan gesiezt.

Marias jüngerer Bruder wirkt eher wie ihr älterer Beschützer, wenig lebendig, blass, überangepasst. Gustav schätzt ihn auf 1,80 m, die gesamte Länge straff. Fehlt nur, dass er die Hacken zusammenschlägt. Sein blondes Haar ist kurz geschnitten, die Frisur so korrekt wie die Kleidung: weißes Hemd, darüber ein dunkelblauer Pullover, schwarze Jeans und Schnürschuhe. Vor ihm steht ein Vierzehnjähriger, der, wenn er nicht so verbohrt gucken würde, an eine griechische Knabenstatue denken ließe. Ein Adoleszent ohne Pickel, ohne lange Haare, ohne heruntergezogene Miesepeter-Lippen, ohne Schluff-Klamotten und höchstwahrscheinlich auch ohne Protestgerede.

Schön, denkt Gustav, lehnt sich zurück und atmet zufrieden ein. Mal wirklich was anderes. Das Spektrum der Pubertät ist weit wie der Himmel über der Nordsee. Er weist einladend auf den freien Stuhl. »Sie waren in der Nähe, als Maria mit ihrem Vater in Streit geriet. Bitte ...«

»Meine Aussage dazu liegt bei der Polizei«, unterbricht Rainer mit unbewegtem Gesicht und setzt sich mit eckigen Bewegungen auf den Stuhl. Immerhin verweist er mich nicht auf ein Aktenzeichen, tröstet sich Gustav und wiederholt: »Bitte helfen Sie mir, Ihre Schwester ein wenig kennenzulernen. Ihre Großmutter hob zum Beispiel Marias Temperament hervor.«

»Maria ist lebhaft.«

»War sie das immer?«

Rainer blickt einen Moment zur Zimmerdecke, als kämen von dort die Erinnerungen gemeinsamer Kindheit.

»Nein, erst seitdem sie reitet.« Jetzt starrt Rainer auf das Waschbecken.

»Möchten Sie etwas trinken?«

»Nein«, sagt er und reibt seine Hände.

»Wollen Sie sich kurz die Hände waschen?«

Rainer geht wortlos zum Waschbecken und wäscht sich ausdauernd die Hände. Gustav beschließt, das Thema zu wechseln.

»Ihr Vater dagegen ist von ruhigem Temperament?«

»Mein Vater ist spontan,« sagt er mit dem Rücken zu ihm gewandt, weiter mit Waschen beschäftigt.

Gustav zieht interessiert die Augenbrauen hoch. »Der Unterschied zwischen lebhaft und spontan?«

»Lebhaft ist etwas Nettes, eben meine Schwester. Spontan ist chaotisch.«

Rainer kommt zurück, setzt sich und hält den Rücken betont gerade ohne Anlehnung.

Während er seine rosigen, feuchten Hände auf dem Schoß faltet, beginnt Gustav, mit seinen zu arbeiten. Er greift zum Kugelschreiber, legt ihn wieder hin, streicht über die Stirn und bleibt mit Zeigefinger und Daumen an der Nasenwurzel hängen.

»Würden Sie Ihren Vater einen Chaoten nennen?«

Rainer verengt seine Augenlider, zieht leise die Luft durch die Zähne und sieht ihn mit der Eindringlichkeit einer Überprüfung an. Gustav streicht über seine Wangen, als spüre er diesen Blick wie das Wandern einer Fliege auf dem Gesicht.

»Spontan, bezogen auf meinen Vater, bedeutet, dass er nicht erfolgreich ist.«

Ziemlich geschraubt, als wäre er ein sechzigjähriger Geschäftsmann, der über die Leistungsfähigkeit eines Untergebenen sinniert, denkt Gustav und sagt: »Als Wachmann wird er wenig Spielraum haben.« Rainer hebt kurz seine Schultern, dann blickt er auf seine Fingernägel.

Seltsam, wundert sich Gustav. Dieser Vierzehnjährige bringt mich dazu, einen Unbekannten zu verteidigen.

»Unsere Großmutter regelt alles. Er bekommt nichts auf die Reihe. Sie verwaltet unseren Förderfond.« Gustav sieht ihn fragend an. Rainer blickt zurück.

»Worin wird Maria gefördert?« fragt er und versucht, ein unbeteiligtes Gesicht zu machen, obwohl er mittlerweile heftig neugierig geworden ist.

»Maria in Kunst und im Reitsport und ich im Schwimmen.« Rainer betrachtet seine Hände und entschließt sich zu einer Ergänzung. »Unsere Mutter ist weggegangen, als wir klein waren, deshalb bekommen wir Geld aus unserem Erbe. Ihr Vater, unser Großvater, war vermögend.«

Dieser Vierzehnjährige wirkt derart trocken, dass es schon fast etwas Tröstliches hat, sich ihn als wassertriefenden Schwimmer vorzustellen. Leistungsschwimmer, Kraulstil, schätzt Gustav.

Als würde Rainer seine abschweifenden Gedanken lesen und nicht gut heißen, steht er auf, spült noch einmal seine Hände ab und teilt dem Oberarzt mit, dass er jetzt noch kurz zu seiner Schwester möchte.

Gustav nickt, blickt dem muskulösen Rücken nach und registriert mit einer gewissen Genugtuung Schuppen auf den ausladenden Schultern.

Dann lehnt er sich zurück, verschränkte die Arme hinter dem Nacken und streckt die Beine weit von sich. Eine Oma mit Tic, ein Bruder mit Waschzwang und ein Mädchen mit Mordgelüsten. Das Geheimnis dieser Familie scheint kochend heiß zu sein. Plötzlich hat er das wild zuckende Gesicht der Großmutter vor Augen und für einen Moment das Gefühl, sich den Dampf des Schmidtschen Vulkans aus dem Blickfeld wedeln zu müssen. Er steht auf, geht zum Fenster und öffnet einen Flügel. Marias Vater würde er gern kennenlernen. Unauffällig kann der gar nicht sein. Er beschließt, den behandelnden Kollegen nach einem Termin zu fragen.

Sein Blick bleibt an dem Dach der Erwachsenenpsychiatrie hängen. Zwei Tauben hocken auf einem Balkon des dritten Stocks. In Abwandlung des Sprichworts vom Spatzen und den Tauben scheinen die Schmidts lieber ein Problem in der Hand zu haben als einen Psychiater auf dem Dach. Für diese Familie könnte schon der Gedanke unerträglich sein, sich professionelle Hilfe zu holen.

Nachdenklich geht er zurück zum Schreibtisch und greift zur Akte der Staatsanwaltschaft mit dem Zeichen: JS 111-08. Er überfliegt die polizeiliche Schilderung des Tathergangs.

Maria und ihr Vater hatten gegen fünfzehn Uhr in der Küche gesessen. Sie habe ein Bild fertiggestellt und mit ihrem Namen und Datum versehen. Der Vater habe das Bild kommentiert. Darüber sei Maria in Wut geraten. Sie habe zum Hammer gegriffen, der zufällig vor ihr lag und auf ihn eingeschlagen.

Sollte das Bild der Schlüssel zu Marias Problem sein? Er möchte die Meinung seiner Kollegen hören, zieht die Schreibtischschublade auf, greift die Umlaufmappe mit der Zeichnung und macht sich auf den Weg zum Schwesternbüro.

»Gut, dass du kommst!« Rudolf Hinterhuber, Stationsarzt der Suchtstation J3, zieht den Telefonhörer vom Ohr und presst seine Hand auf die Muschel. »Marias Kunstlehrerin, Frau Steffen. Sie könnte Morgen kommen.« Gustav nickt, wirft einen kurzen Blick auf den Tischkalender und nimmt den Hörer entgegen. »Ja, um neun Uhr, danke, dass Sie so schnell Zeit finden.«

»Kaffee?«, Thomas Grund sieht seinen Oberarzt fragend an und schiebt vorsorglich einen Stapel Papier zur Seite. Gustav legt den Hörer zurück, zieht einen Stuhl an den Tisch und fragt sich zum hundertsten Mal, warum dieser Stationsleiter und Heilpädagoge nie schlechte Laune hat.

Er reicht ihm das Bild. »Was würdest du dazu sagen?«

Thomas schiebt ihm die Tasse hin. Sein Gesicht strahlt in liebenswürdiger Nettigkeit bis dicht an die Ohren. »Mädchen und Pferd.«

»Und?«

»Und eine Karotte. Ein Motto des Lebens, füttern und gefüttert werden.«

Diese strahlende Arglosigkeit ist sein Geheimnis, denkt Gustav. So etwas richtig quälend Kompliziertes gibt es bei ihm nicht.

Thomas hat die Gestalt eines Handballspielers und das Gesicht für den Sonntagabend-Spielfilm im ZDF. Der Bilderbuch-Schwiegersohn! Allein seine Anwesenheit auf der Station lässt Wut verpuffen. In ihm finden die Patienten nicht den Vater, Lehrer, Polizisten, eben nicht die »Scheiß-Autorität«, die bekämpft werden muss.

Rudolf ist neugierig geworden und beugt sich zum Bild. »Von wem ist denn das?«

»Egal«, antwortet Gustav. »Sag nur, was du siehst.«

Rudolf hält die Buntstiftzeichnung ans Licht, grinst und legt sie zurück auf den Tisch.

»Das Mädchen bietet dem Pferd eine Karotte und der Gaul gibt einen Penis zurück.«

»Na, na«, murmelt Thomas kopfschüttelnd, »das klingt fast nach Psychiatrie!«

»Du bist mitten drin!«, gluckst Rudolf amüsiert.

Sollte Thomas Recht haben, fragt sich Gustav. Interpretieren wir zu viel?

Evita Cantor unterbricht seine Überlegungen. Sie weht in den Raum, wirft einen Aktenordner schwungvoll auf den Tisch und das Bild segelt unter den Tisch. »Ich brauche unbedingt einen Kaffee!«, bittet sie unter zartem Stöhnen.

»Frau Diplompsychologin geben sich heute teamnah«, murmelt Rudolf.

»Was soll denn das schon wieder?«, fragt Evita vorwurfsvoll und taucht mit hochrotem Kopf und Bild in der Hand auf. »Sogar eine Sitzgelegenheit muss ich mir selbst besorgen«, klagt sie, zieht sich den Hocker heran, stöhnt, diesmal in dumpfen Untertönen und betrachtet das Bild.

»Wer hat das gemacht?« Gustav reicht ihr eine Tasse Kaffee und sagt: »Erzähl einfach nur, was du da siehst.« Während sie mit der rechten Hand die Tasse zum Mund balanciert und mit vorsichtigen Schlucken das heiße Getränk in den Körper schickt, betrachtet sie das Bild.

»Besser wäre schon, etwas über den Künstler zu wissen«, richtet sie an ihn. Er nickt und schweigt. »Ich schätze, es war ein Mädchen. Also für Mädchen ist das Pferd ein archetypisches Symbol. Das Pferd verkörpert das Triebhafte und hier offensichtlich die männliche Sexualität. Wenn das Mädchen nach der Fütterung des Pferdes, also nach seiner Besänftigung, dieses besteigt und reitet, dann ...«, sie lächelt verschmitzt Rudolf an, »beherrscht es den Mann.«

Zufrieden mit sich, wirft sie einen vom psychologischen Tiefsinn verzauberten Blick anmutig zur Decke, als sähe sie einem Sektkorken nach. Sie hat alle Aufmerksamkeit, und während Thomas ein bewunderndes »Ups«, in den Raum schickt, Gustav versonnen in sich hinein lächelt, hat Rudolf seinen Widerspruch formuliert: »Emanzipation oder Wiederbelebung der Amazonen kann man nun wirklich nicht aus diesem Bild ....«

Die Tür wird aufgerissen. Irmhild Stein schnauft in den Raum. »Wer war denn dieser junge Besucher, der eben unsere Station verließ?« Sie wartet keine Antwort ab, sondern zischt Gustav entgegen: »‚Ich bring ihn um, ich bring ihn um!‘, das hat er ausgestoßen.« Ihre Stimme klingt so bedrohlich und warnend, als sei sie ganz sicher, das Ergebnis des eben Gehörten morgen als Schlagzeile zu lesen.

»Nun setze dich erstmal,« bittet Thomas beschwichtigend und schiebt seiner Stellvertreterin einen Stuhl hin. »Das wird Marias Bruder gewesen sein.«

Irmhild ist klein, mollig mit lebhaften, dunklen Augen und ständiger Geschäftigkeit, eine Art geballte Glucke. »Hab ich euch gestört?«, fragt sie, blickt mit kurzen schnellen Kopfdrehungen in die Runde und legt ihre Hand auf Gustavs Arm. Irmhild ist sowohl Glucke als auch eine Anfasserin.

»Ja!«, sind sich die Kollegen einig. »Ja«, wiederholt sie, jedoch die Zurechtweisung stört sie nicht im Geringsten. »Stellt euch vor«, sprudelt sie weiter, »ich hatte gerade vor mich hingeflucht: - Ich bring dich um -, aber natürlich harmlos,« jetzt löst sie ihre Hand von Gustavs Arm und legt sie auf Thomas Unterarm. »Der Personal-Controller Lose streicht uns die Stellen der Krankenpflegeschüler! Ich hätte den Kerl umbringen mögen! Und dieser Junge sagt genau das, aber mit einem Hass! Also ...«

»Den Dienstplan müsst ihr allein regeln«, unterbricht Evita sie energisch. »Schwester Irmhild, bitte einen Satz zu diesem Bild.«

»Einen Satz«, wiederholt sie artig und betrachtet nachdenklich das Blatt. Dann blickt sie entschlossen in die Runde und versucht, so kompetent auszusehen, wie sie sich Evita vorstellt. »Das könnte eine Magersüchtige gezeichnet haben. Sie füttert ein Großmaul und dafür schenkt ihr das Pferd das Stockbrüstchen.«

Ihre Kollegen starren sie an, als würde sie gleich anfangen zu wiehern.

»Dann müssen es eben doch zwei Sätze sein«, folgert sie. »Also für Psychiatriemitarbeiter: Gib anderen dein Essen und du behältst eine Figur wie ein Stock, also ohne jegliche Wölbungen.« Triumphierend blickt sie in die Runde; und ihre Wölbungen zittern im Eifer. »Darf ich raten, von wem das Bild ist?« Das war keine Frage. Das ist die Einleitung des Beifalls, denn jetzt ist sie der Mittelpunkt, sogar Evita schenkt ihr Aufmerksamkeit. »Wer wiegt in dicken Winterklamotten etwas mehr als mein Kater? That‘s Maria!« Die Kollegen stimmen ihr lachend zu.

Maria ist seit vierundzwanzig Stunden auf der J3.

Sie redet, aber nur über Allgemeines, über Schule, Wetter oder Pferde. Am liebsten über Pferde. Zwei Ärzte behaupten, sie könnten helfen. Ein Langer, der was von Pferden versteht und ein Kurzer, der wie eins aussieht. Natürlich wäre es logisch, das Entsetzliche in Worte zu sperren. Aber sie kann nicht. Sie hat Angst. Angst, dass es immer so weiter geht.

Nein, nicht darüber sprechen. Noch schafft sie es gerade eben, sich anzupassen, nicht aufzufallen. Nur ihrem Bruder war sie eine Erklärung schuldig. Sie hat ihm drei Sätze gesagt. Sachlich, wie eine Mitteilung. Jetzt kann sie nicht schlafen, mag nicht essen, wagt keinem in die Augen zu sehen.

Maria rennt mit gesenktem Kopf den Flur hoch und runter. Die Angst treibt sie vor sich her, wie der Wind die Herbstblätter.

Bisher ist Hendrik der einzige Patient, den sie nett findet. Er sei in den ersten Tagen auch gerannt. Das gäbe sich. Mit ihm hat sie über Kunstunterricht geredet. Er besuchte berühmte Museen, sogar in Rom und Florenz. Seine Mutter ist reich. Aber wenn er von ihr erzählt, ist sie fast erleichtert, selbst keine zu haben. Hendrik muss ihr helfen, kurz zu verschwinden. Einen Tag oder so. Jetzt hört sie Stimmen. Es sind die Ärzte. Sie will nicht angesprochen werden, huscht in ihr Zimmer.

Rudolf Hinterhuber trottet neben Gustav zum Besprechungsraum. Er ist einen Kopf kleiner, wirkt kräftig und zusammengestaucht. Mit Vorliebe trägt er Cordhosen und über dem T-Shirt eine leichte Lodenjacke, deren grün abgesetzter Stehkragen die Verbindung von den Schultern zu einem freundlichen, offenen Gesicht übernimmt. Der Hals scheint verloren gegangen zu sein. Seine dunkelblonden Haare, die bis zur Schulter reichen und die untersetzte Figur, erinnern an einen Haflinger.

»Hendrik will nicht nach Hause«, sagt Rudolf. »Maria zeige ihm, wie man ohne Mutter die Schule auf die Reihe bekäme. Er sprach heute über seine ‚Mam‘ und dann ging es um die ‚Wunder-Frage‘.« Gustav bleibt stehen, lehnt sich gegen den Türrahmen, rutscht mit dem Rücken in Rudolfs Gesichtsfeld und stützt sich mit den Füßen ab. Jetzt ist er auf gleicher Höhe und formuliert gedankenverloren, als wäre er mit sich selbst im Zwiegespräch: »Angenommen, es würde des Nachts, während du schläfst, ein Wunder geschehen und dein Problem, das dich in die Psychiatrie gebracht hat, ist gelöst; woran würdest du am nächsten Tag merken, dass dieses Wunder geschehen ist?«

Rudolf wippt vor ihm auf den Fußspitzen. »Wenn ich am nächsten Tag meiner Mutter in die Augen sehe und sage: ‚Hi Mam, ich mag dich, aber ich komm‘ nicht zurück nach Hause, ich geh in eine Wohngruppe‘. Dann ist das Wunder geschehen.« Rudolf lehnt sich zufrieden neben Gustav an die Wand. »Immerhin kann Hendrik mir das schon sagen.«

»Aber morgen Nachmittag, zu dem Gespräch mit seiner Mutter, wäre es zu früh mit der Bestätigung dieses Wunders?«

»Ja, um 17 Uhr geht er zur Ergotherapie. Er bastelt für seine Mutter einen Blumentisch.«

»Seine Mutter«, murmelt Gustav und bläst die Luft durch seine Lippen. Eine blasse, zarte Frau, anklagend, immer ein wenig jaulig. Er erinnert sich an das erste Gespräch und hat prompt ihre Stimme im Ohr:

‚Hendrik war stets ein lieber Junge. Er kann sich gut benehmen‘, so begann sie. Und dann war er nicht wenig erstaunt, als sie artig fortfuhr, so als würde sie von den typischen Aktivitäten eines Kindes aus der Bildungsbürgerschicht erzählen:

‚Als er zehn war, bekam er einen Schulverweis, weil er einem Mädchen zwischen die Beine fasste. Mit elf wurde er im Supermarkt erwischt, als er Süßigkeiten einsteckte, mit vierzehn hatte er seine erste Gerichtsverhandlung, weil er ein Mofa entwendete, mit sechzehn musste er ohne Abschluss die Schule verlassen. Jetzt, mit siebzehn, stahl er mir Schmuck im Wert von 5000 €, versetzte ihn und verspielte das Geld. Hendrik kifft seit dem zwölften Lebensjahr. Er kotet ein, wenn er im Bett neben mir liegt.‘

»Seine Mutter!«, wiederholt Gustav kopfschüttelnd. »Der Junge beklaut sie und scheißt ihr ins Bett, weil er endlich rausgeschmissen werden will.« Mit einem Ruck richtet er sich auf, zurück in seine volle Länge von 1,95 m, öffnet die Tür zum Besprechungsraum und bietet Rudolf den Vortritt.

»Ich bewundere, wie du mit der Mutter umgehst, geduldig und wertschätzend, echt, meine volle Anerkennung.«

Evita sitzt bereits am Tisch und telefoniert. Sie ist modisch gekleidet und lächelt ihren unsichtbaren Gesprächspartner im Telefon konsequent an. Immer ist sie am Tun, auch wenn nichts zu tun ist. Evita Cantor, die Leitende Diplompsychologin. Heute trägt sie schwarze Jeans, ein dunkelgrünes Jackett, einen ausgeschnittenen, leichten Pullover, hochhackige Schuhe und Ringe. Drei an der rechten Hand und zwei an der linken.

Sie arbeitet schon seit zehn Jahren mit dem Chef, umschwirrt ihn mit unhörbaren Flügelschlägen, sieht alles, denkt an alles! Zu Gustavs Ärger gelingt es ihm nicht, ihre Nähe zum Chef einzuschätzen. Ja, er fühlt sich ihr gegenüber befangen. So viel Kompetenz! So viel Eleganz! Er ist noch nicht vertraut mit ihr. Immerhin duzen sie sich und im besten Falle wartet die Vertrautheit. Und dann gibt sie sich so teambetont. Dabei ist sie mit fünfzig die Älteste, hat viel veröffentlicht, ist ihm weit überlegen, wenn es um Statistik geht. Und er muss ständig zu ihr hingucken, weil sie nie ruhig ist. Entweder raschelt sie mit wichtigem Papier oder sie redet.

Evita legt den Telefonhörer auf die Gabel. Gustav und Rudolf setzen sich ihr gegenüber. Sie verschenkt ein kollegiales Lächeln, schiebt einige Seiten Papier in die Mitte des Tisches und beginnt:

»Ich habe Hendrik erneut getestet. Dieser jahrelange Konsum von Cannabis beeinträchtigt seine Konzentrationsfähigkeit. Seine Grundintelligenz ist gut durchschnittlich. Auf jeden Fall sollte er den Realschulabschluss schaffen.« Die positive Einschätzung der Schulperspektive richtet sie so warmherzig an Rudolf, als müsse sie ihn aufbauen und nicht Hendrik.

»Nebenbei, Maria kifft auch seit zwei Jahren! Könnte die Straftat durch Cannabis induziert sein?« Jetzt schenkt Evita Gustav einen provozierend kompetenten Blick. »Ich meine im Sinne einer psychotischen Entwicklung«, schiebt sie nach und betrachtet seine abweisend gefurchte Stirn, als lägen sie dort, die Cannabispartikel, die Marias Verhalten so einfach erklären könnten.

Gustav schweigt, und während er sie nachdenklich ansieht, unterwirft er seine bisherige diagnostische Hypothese einer erneuten Überprüfung. Evita scheint nur Leere in seinem Blick zu sehen; denn jetzt flötet sie mit nicht zu überhörender Arroganz. »Was ergab deine Überprüfung der Laborwerte?« Gustav wusste es, sie testet die Hierarchie. Sie muss den jungen Oberarzt provozieren. Mist, er hat nicht kontrolliert, ob Rudolf ein Drogenscreening veranlasste. Lass dich nicht anmachen, hämmert er sich ein. Sieh sie jetzt nicht an. Er zeigt ihr die Schulter und fragt mit einer Stimme, die väterlich wirkt: »Wie sieht es aus, Rudolf?«

Der starrt auf Evita wie ein tobsüchtiger Frosch, der ihr jeden Moment ins Gesicht springen will. Gustav kann sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Evita muss Rudolf an eine strenge Person seiner Kindheit erinnern. Warum sonst fühlt er sich so schnell von ihr provoziert? Beschwichtigend legt er seine Hand auf den Arm seines Kollegen, aber bevor er etwas Beruhigendes sagen kann, ist Rudolf aufgesprungen. Krachend lässt er seinen Stuhl auf den Boden rumpeln, greift in die Ablage, und während er die Befunde überfliegt, fragt er verärgert: »Treffen wir uns zum Austausch oder zur Belehrung? Was sind wir? Uniklinik oder Schule?« Und jetzt sieht er Evita mit der ganzen Eindringlichkeit seiner Empörung an. »Maria hat zurzeit andere Probleme zu bewältigen als ihre Kiffer-Vorgeschichte!«

»Entschuldigung«, lächelt sie und ihre Freundlichkeit hat etwas von Wartungsarbeiten. »Tetrahydrocannabinol erhöht«, knurrt er. »Also, das erklärt doch einiges«, nickt sie zufrieden.

Rudolf behielt seine schlechte Laune, Evita provozierte mit Besserwisserei und Gustav beendete die Besprechung nach einer Stunde. Jetzt sitzt er an seinem Schreibtisch.

Hat er das Team im Griff?, fragt er sich. Übernimmt er Führungsaufgaben, wie der Chef es erwartet? Rudolf bezeichnete Evitas Organisationsstil als ‚Management by Möwe‘: Sie kreise über dem Team, scheiße auf die Köpfe und kreische dabei. Er schmunzelt in sich hinein. Eine klassische Narzisstin. Ihr Streben nach Dominanz ist unerträglich, aber die Frau kann sich gut verkaufen.

Er muss sie noch lernen, die Kunst der Selbstdarstellung.

Nachdenklich streift er mit Daumen und Zeigefinger über seinen Nasenrücken und greift zur Akte der Staatsanwaltschaft. Was weiß er über Maria, und was konnte er von ihr erfahren?

Er lehnt sich zurück und blickt an die Zimmerdecke, als würde ihm von dort eine Zusammenfassung des bisher Bekannten übermittelt.

Sein Auftrag ist die Begutachtung der Fünfzehnjährigen im Hinblick auf die Straftat. Er steht auf und stellt sich ans Fenster. In der frühen Dämmerung wagt eine kleine Wolke, blass-rosa zu schimmern, der Rest des Himmels ist grau. Er wendet sich nach rechts und blickt auf die achtstöckige Erwachsenenpsychiatrie. Irgendwo dort arbeitet seine Freundin Tina. Und auf Anhieb fallen ihm viele Dinge ein, die er jetzt lieber täte. Seufzend geht er zurück zum Schreibtisch und setzt sich. Er soll zum Entwicklungsstand Marias und ihrer Strafreife Stellung nehmen und zur Frage der Schuld. Schon die Sprache, in der diese Paragrafen abgefasst sind, empfindet er als Zumutung. Mit heruntergezogener Unterlippe und leicht vorgeschobener Zunge murmelt er:

»Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer anderen schweren seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.«

Als hätte der Paragraf 20 des Strafgesetzbuches ihm wegen seines respektlosen Gebrabbels eine Kopfnuss verpasst, sackt er tief in den Stuhl und schließt die Augen.

Maria weiß sehr wohl, dass ein Streit nicht mit Gewaltanwendung zu lösen ist. Was hat sie aus der Bahn geworfen? Als sie auf ihren Vater einschlug, muss sie hochgradig erregt gewesen sein.

Was konnte er bisher über sie erfahren? Zunächst einmal hat sie Stärken: Sie ist intelligent, leistungsbereit, kreativ und begabt im Zeichnen und Malen, liebt Pferde und kann ausgezeichnet reiten. In der Gruppe auf der Station findet sie Kontakt. Den Erziehern, Krankenschwestern und auch ihm gegenüber bemüht sie sich um Unauffälligkeit. »Aber«, knurrt er und richtet sich auf, »sie ist darauf bedacht, nichts von sich preiszugeben.« Nachdenklich blättert er in der Krankenakte und bleibt bei der Aufzeichnung des Gesprächs mit der Großmutter hängen. Er sieht sie vor seinem inneren Auge, Ella Schmidt, mit dem schrecklichen Gesichtstic. Trägerin eines Familiengeheimnisses. Der Bruder Rainer, zwanghaft, überangepasst, ein älterer Herr unter zwanzig. Auch Träger eines Familiengeheimnisses.

Er hatte versucht, über die Zeichnung mit ihr ins Gespräch zu kommen. Sie bot an, von Pferden zu reden, von den verschiedenen Rassen und den Vorteilen der Holsteiner gegenüber den Hannoveranern. Bereitwillig berichtete sie von besonderen Erfahrungen mit einem Trakehner. Diese Rasse sei schön, aber im Kopf unausgegoren. Er schmunzelt in sich hinein. Es hatte schon was, ausgerechnet von Maria über Temperamentsprobleme informiert zu werden. Ohne es zu wollen, war sie in Fahrt geraten. Warum Pferde?, hatte er gefragt und seinem Gesicht das wohlwollende Interesse eines über Dreißigjährigen verpasst. Die Geschichte, die sie anbot, steckt voller symbolhafter Bilder.

»Als ich acht Jahre alt war, schenkte mir mein Vater eine kleine Hündin«, erzählte sie. »Ich nannte sie Emmi. Eines Tages wurde Emmi von einem fremden Hund schlimm zugerichtet. Mein Vater half ihr nicht. Im Gegenteil, er trat nach ihr und schrie: Nichts als Ärger mit der Töle! Ich nahm Emmi mit in den Reitstall und, ob sie es glauben oder nicht, sie wurde von der Holsteiner Stute Carina adoptiert. Mit Carina gewann ich mein erstes A-Springen.«

Dann sah sie ihn mit einem Ausdruck tiefgründiger hippologischer Erkenntnisse an, schüttelte den Kopf, als sei er begriffsstutzig und sagte: »Warum Pferde?, was für eine Frage!«

Gustav steht auf und geht wieder zum Fenster. Die untergehende Sonne hat die kleine rosa Wolke zu einer großen rosa Wolke gemacht. »Weihnachtshimmel«, murmelt er und muss an ein plattdeutsches Gedicht denken, das er zusammen mit seiner Schwester so oft in dieser Jahreszeit hörte: Mudder, wat is de Himmel so rot, dat sünd de Engel, de backt dat Brot ...

»Die Engel«, murmelt er, »haben sie vergessen, auf Maria zu achten?«

2

Staatsanwalt Flecht will ihn sprechen. Ausgerechnet während dieser Benefizveranstaltung im Kongresszentrum.

Gustav sieht ihn vor seinem inneren Auge, diesen hageren Menschen. Mit dem Sektglas in der Hand, wird sich Flecht zu ihm stellen und seine juristische Einschätzung zu Maria ausbreiten. Und er wird ihm zuhören, denn er muss teilnehmen. Die Bilderauktion sei die größte, vorweihnachtliche Benefizveranstaltung Elbstadts. Sein Chef, Professor Suchtmann, wünscht Unterstützung bei der Einwerbung von Projektgeldern.

Jetzt steht er im überfüllten Bus, hängt an einem Ledergriff, eingepfercht von Leibern. An seinen Beinen kleben Kinder. In Höhe seiner Achseln spürt er kurzatmiges Schnaufen. Am Rücken bohrt ein Ellbogen und gegen seinen Hinterkopf schabt der Unterarm eines anderen hochgewachsenen Ledergriffhängers. Ein junger Mann stellt er fest, einer mit mürrischem Ausdruck, der ein Boulevardblatt so hält, dass auch er lesen muss:

‚Fünfzehnjährige wollte Vater erschlagen! Hammermädchen kam in die Psychiatrie!‘

Maria, das Hammermädchen der Boulevardpresse!

Er wendet sich ab und beugt sich zum Fenster. Ein Kind reibt mit dem Unterarm die beschlagene Scheibe frei, als hätte es seinen Wunsch nach Orientierung erraten. Regentropfen eilen wie silbrige Spaghettis vom Glas zum Blech. Einige trotzen dem Vibrieren des Busses, halten sich fest und glitzern unverdrossen rund und prall wie Weihnachtssterne. Es nieselt Weihnachten entgegen und auf dem Bürgersteig wälzt sich Mensch wie schwere Flut zu den Verpflichtungen des Schenkens.

An der nächsten Haltestelle muss er aussteigen. Er richtet sich auf und hält sogleich die Luft an. Der Kopf der dicken Kurzatmigen schlug hart gegen seine Rippen. Dann hört er ein gequetschtes Wiehern, offensichtlich wird sie vom Niesen geschüttelt. Er drückt das Kinn auf das Brustbein, sehen kann er nichts, ihre gesprayte Frisur kratzt wie Drahtgeflecht gegen Hals und Kinn. Jetzt spürt er wischende Hände direkt über seinem Gürtel. Erschrocken quetscht er sich in eine seitliche Lücke, macht sich starr und dünn wie ein Laternenpfahl. Vergebens, die Kurzatmige reibt unverdrossen auf seinem Anorak herum, als sei er ihre Küchenfliese. Zille, seufzt Gustav. Er scheint eine Stippvisite in der Linie 13 zu machen. Hatte Zille nicht vor kurzem 100 jährigen Geburtstag? Quäkendes Geschrei kappt seine kulturgeschichtlichen Überlegungen. An seinen Beinen ist Krieg ausgebrochen. Zankt sich dieser Wuselhaufen oder erstickt ein Kind? »Können Sie mal ganz kurz halten?« fragt die Wischerin und drückt ihm fünfzehn Kilogramm an die Brust. »Jana hat Asthma.« Dann verschwindet sie in die Umgebung seiner Knie und taucht mit einem kleinen Jungen auf dem Arm auf. »Jussuf kriegt auch schlecht Luft,« erklärt sie und beruhigt gleichzeitig ein fünfjähriges Mädchen, das sich etwas Raum erdrängelt hat.

Von wegen Wissenschaftler! Nirgends kann er sich aufhalten, ohne gleich in irgendeine blutwarme Gemeinschaft hineingerissen zu werden. »Ich muss gleich aussteigen«, murmelt er irritiert, das verschnodderte Kind auf steifen Armen. »Wir auch«, entgegnet sie trocken. Jana schnappt gierig nach Luft und hickst erlöst, als ihre Lungenflügel Routinebetrieb vermelden und frische, mit Sauerstoff beladene Blutkörperchen in die Wangen schicken. Tränen und Schleim wischt sie energisch in den Ärmel, dann mustert sie den Fremden.

»Wer bist du?« Mit ihrer tiefsinnigen Frage geht ein so kräftiger Ruck durch Gustavs Körper, dass der Alt-Bundespräsident seine wahre Freude gehabt hätte. Noch ein Ruck, und der Bus steht.

Vor ihm liegt das Kongresszentrum, ein grauer, hochragender Betonklotz.

Er läuft eine Treppe hoch, passiert eine kahle Terrasse, stößt die breite Glastür auf und geht zum Saal 23.

Gustav lehnt sich zurück, schließt die Augen und versucht umzuschalten. Sein Unmut seufzt durch den Kehlkopf; zu laut, wie ihm der besorgte Blick seines Chefs verrät. Professor Suchtmann sitzt neben ihm. Verlegen greift er an seine Nase. Verrät schon sein Atmen, dass er zu dieser Veranstaltung keine Lust hat? So wie Suchtmann ihn mustert, wird gleich seine Ermahnung folgen: Kollege Weiss, Sie müssen nicht hier sein, Sie dürfen. Schon vergessen? Ihr Thema! Unser Präventionsprojekt! Wir benötigen 300.000 € für die Forschung.

Gustav kommt ihm zuvor. »Wer ist dieser Herr?«, fragt er mit interessiertem Ausdruck und blickt zu dem seriös aussehenden Mann am Rednerpult.

»Bankdirektor Holm, wir brauchen den«, flüstert Suchtmann.

Holm umfasst prüfend das Mikrofon. Dann löst er die rechte Hand, zentriert die randlose Brille, streckt seinen Oberkörper, schickt ein Räuspern in die Reihe der Prominenten und beginnt mit der Begrüßung.

Dreizehn, Gustav konnte sich nicht verkneifen, mitzuzählen. Dreizehn Prominente wurden begrüßt. Und jetzt bedankt er sich bei der Senatorin für Soziales Jugend und Familie, für ihre Bereitschaft, ein Grußwort zu sprechen. Gustav schätzt Frau Schnabel auf Mitte fünfzig. Sie ist schlank, trägt einen eleganten, schwarzen Hosenanzug und wirkt trocken. Ein Satz für die Verbindlichkeit, dann folgen Zahlen.

28.200 Kinder wurden im Jahre 2007 von deutschen Jugendämtern in Obhut genommen. In 10.800 Fällen wurde Eltern die Sorge entzogen. Für Kinderschutzmaßnahmen wurden 2007 – 96,7-Millionen-Euro aufgewendet. Gustavs schüttelt den Kopf. Hat die Frau überhaupt kein Gespür? Da versenken die Bänker Milliarden und die Senatorin zitiert jetzt, vor Weihnachten, in einer Benefizveranstaltung, lächerliche Millionen, die der Steuerzahler für gefährdete Kinder aufbringt? Er schaltet ab.

Nach sieben Minuten erhält die Senatorin höflichen Beifall und Holm dankt überschwänglich. Es scheint seiner Eitelkeit gut zu tun, dass Schnabels Begrüßungsrede hölzern geriet. Und jetzt stellt er Suchtmann vor. Nur mit einem Satz, so, als wäre der Professor lediglich ein Holmsches Attribut! Seinen Vortrag: Ein Pfund Prävention wiegt mehr als ein Kilo Therapie, musste er auf zehn Minuten straffen. Mehr sei den Zuhörern nicht zuzumuten. Ein hartes Unterfangen, Geld für Forschung einzuwerben.

»Prävention für Kinder«, sagt Holm jetzt, »war noch nie so wichtig!«

»Er will in die Politik«, flüstert Suchtmann. »Ein Posten im Senat, Soziales oder Finanzen.«

»Unsere Stiftung«, Holm zupft an seiner Krawatte und reckt das Kinn in die Luft, »ich habe sie - ‚Für Kinder‘ - genannt, unsere Stiftung will das Präventionsprojekt von Herrn Professor Suchtmann finanzieren. Mit der heutigen Benefizveranstaltung sollten wir die letzte Lücke schließen!« Er schickt einen aufmunternden und zugleich ermahnenden Blick an alle diejenigen, die meinen, mit fünf Euro dabei zu sein. »Fünfzehn Bilder sehen Sie hier an den Wänden. Sie wollen von Ihnen ersteigert werden.«

Jetzt werden die Fernsehleute aktiv. Sie sind zum Arbeiten hier und nicht zum Spenden. Der Kameramann vom Dritten Programm, der als einziger seiner Kollegen ein Jackett trägt, bewegt sich so fleißig, als müsse er die Morgengymnastik nachholen. Offensichtlich will er Holms Blick einfangen, der mit Netzwerkerfahrung eines sechzigjährigen Bankdirektors und Rotariers wohlwollend über 200 Zuhörerköpfe schweift.

Holm ist eine stattliche Erscheinung. Hochgewachsen, schlank, maßgeschneiderter Anzug. Das Haar trägt er nach hinten gekämmt. Seine Stirnfalten sind tief, wie von großen Entscheidungen gezogen. Die Augen hinter der randlosen Brille wirken kühl und distanziert.

Der Kameramann schwenkt zur linken Hand, die auf dem Pult ruht, zeigt den grün schimmernden Siegelring, die Manschette des strahlend weißen Hemdes, und jetzt richtet er die Optik an die rechte Wandseite hinter dem Rednerpult und verweilt auf einem Bild.

Gustav beugt sich zur Seite, weg von der Dame mit einem Haargebilde wie ein gestutzter Forsythienstrauch. Jetzt erkennt er es. Das Bild zeigt ein Mädchen, mit roten Wangen und braunen Locken. Es lehnt sich lächelnd an den Hals eines Pferdes. Ein markantes Tier mit rotem Fell, silberner Blesse und goldener Mähne.

Holm hat sich neben das Bild gestellt.

»So wie dieses Pferd das kleine Mädchen schützt!«, ruft er in den Saal, »so werden Mittel unserer Stiftung Missbrauch an Kindern verhindern!« Er streckt sich und sein Blick gilt jetzt nur dem Bürgermeister, der in der ersten Reihe sitzt. »Die Augen«, sagt Holm bedeutungsvoll, »betrachten Sie die Augen des Pferdes! Archaische Weisheit von einem anderen Stern! Groß, dunkel, wissend scheinen sie das Kind vor Bösem zu bewahren.«

Mit manieriert wirkender Gestik streicht er sich durchs volle, graue Haar, geht zurück zum Rednerpult und steckt eine Hand betont lässig in die Tasche.

»Sie, liebe Elbstädter Bürger, werden mit den rechten Augen und rechtem Gespür die richtigen Bilder für Ihr Heim auswählen.«

Gustav versucht, den verborgenen Tiefsinn von recht und richtig zu ergrübeln. Aber auch, wenn er seine Augen schließt, erhellt sich nichts.

»Denken Sie an den guten Zweck!«, ermuntert Holm unverdrossen. Dann blickt er gönnerhaft über die Gemeinschaft der zukünftigen Spender, befeuchtet mit der Zunge selbstgefällig seine Lippen und ruft: »Schnäppchen, meine Damen und Herren! Wertvolle Bilder für besondere Bürger! Bürger, die sich sozial engagieren! Zur Herkunft der Gemälde nur einige Stichworte:

Junge Patienten aus der Kinderpsychiatrie Professor Suchtmanns, Gymnasiasten, Kunststudenten und ...«, er lächelt hintergründig, »drei Bilder schenkten uns namenhafte Künstler. Künstler, die locker 10.000 und mehr für ihr Bild erzielen könnten!« Holm reibt seine Hände und legt zwanzig zusätzliche Dezibel in seine Stimme.

»Ich garantiere Ihnen Spannung! Die Künstler haben ihre Spende an die Bedingung geknüpft, ihren Namen nicht während der Versteigerung zu nennen.«