Der Mann ohne Eigenschaften. Band Fünf - Robert Musil - E-Book

Der Mann ohne Eigenschaften. Band Fünf E-Book

Robert Musil

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Beschreibung

Wir schreiben das Jahr 1913, und die Wiener High Society ist entschlossen, das siebzigjährige Jubiläum der Thronbesteigung von Kaiser Franz Josef angemessen zu feiern. Doch während die Aristokratie versucht, aus dem Zusammenbruch der österreichisch-ungarischen Monarchie etwas Glänzendes zu retten, gibt es in der gewöhnlichen Wiener Welt erste Anzeichen einer ernsthaften Rebellion. Inmitten dieses sozialen Labyrinths befindet sich Ulrich: jung, reich, Ex-Soldat, Verführer und Wissenschaftler. Unfähig, sich vorzumachen, dass das Sammelsurium an Eigenschaften und Werten, das ihm seine Welt verliehen hat, so etwas wie einen angeborenen “Charakter” darstellt, ist er tatsächlich ein Mann “ohne Eigenschaften”, ein brillanter, distanzierter Beobachter der sich drehenden, rasenden Gesellschaft um ihn herum. Ulrich selbst weiß nur, dass er allen seinen Eigenschaften gegenüber seltsam gleichgültig ist. Das Fehlen eines tiefen Wesens und die Zweideutigkeit als allgemeine Lebenseinstellung sind seine Hauptmerkmale. Bekannt geworden ist das Buch vor allem durch das Motiv der inzestuösen Geschwisterliebe, die sich zwischen Ulrich und seiner Schwester Agathe im späteren Verlauf der Geschichte zunächst zaghaft entwickelt und durch welche beide letztlich hoffen, ein anderes mystisches Leben verwirklichen zu können. Wir lernen außerdem den Mörder und Vergewaltiger Moosbrugger kennen, der für den Mord an einer Prostituierten verurteilt wird. Weitere Protagonisten sind Ulrichs Geliebte Bonadea und Clarisse, die neurotische Frau seines Freundes Walter, deren Weigerung, sich mit der alltäglichen Existenz abzufinden, in den Wahnsinn führt. “Der Mann ohne Eigenschaften” von Robert Musil ist teils Satire, teils visionäres Epos, teils intellektuelle Tour de Force – ein Werk von unermesslicher Bedeutung. Mit der Ausgabe des apebook Verlags wird der Versuch unternommen, auf Grundlage der Textanordnung durch den späteren Herausgeber Adolf Frisé und bei gleichzeitiger Streichung allzu stichpunktartiger und loser assoziativer Notizen in den entsprechenden Entwürfen, Studien und Fragmenten Musils, eine möglichst stringente Lesefassung des unvollendeten Romans anzubieten, bei der alle Kapitel vorhanden sind. Zwar kann man auch dadurch nicht über einen bloß skizzierten Schluss des Romans hinauskommen, aber es gelingt auf diese Weise doch, sozusagen einen möglichen roten Faden der Erzählführung erkennbar werden zu lassen. Dies ist der fünfte von insgesamt fünf Bänden.

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Seitenzahl: 735

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Robert Musil

 

Der Mann ohne Eigenschaften

 

 

Roman

 

 

 

Überarbeitete Neuausgabe

in fünf Bänden

 

 

 

Band Fünf

 

mit ursprünglich unveröffentlichten Fortsetzungen

aus dem Nachlass

DER MANN OHNE EIGENSCHAFTEN wurde zuerst in drei Bänden veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Berlin 1930 (Bd. 1) u. 1933 (Bd. 2) sowie Lausanne 1943 (Bd. 3).

Diese Ausgabe in fünf Bänden wurde aufbereitet und herausgegeben von

© apebook Verlag, Essen (Germany)

www.apebook.de

1. Auflage 2022

 

V 1.0

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.d-nb.de abrufbar.

 

 

Band Fünf

ISBN 978-3-96130-508-7

 

Buchgestaltung: SKRIPTART, www.skriptart.de

 

 

Books made in Germany with

 

 

 

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Robert Musil

DER MANN OHNE EIGENSCHAFTEN

 

BAND EINS | BAND ZWEI | BAND DREI | BAND VIER | BAND FÜNF

 

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Inhaltsverzeichnis

Der Mann ohne Eigenschaften. Band Fünf

Impressum

Vierter Teil

Aus dem Nachlass

1

General von Stumm läßt eine Bombe fallen Weltfriedenskongreß.

2

Beschreibung einer kakanischen Stadt.

3

Agathe findet Ulrichs Tagebuch.

4

Große Veränderungen.

5

Agathe stößt zu ihrem Mißvergnügen auf einen geschichtlichen Abriß der Gefühlspsychologie.

6

Die Referate D und L.

7

Naive Beschreibung, wie sich ein Gefühl bildet.

8

Fühlen und Verhalten. Die Unsicherheit des Gefühls.

9

Zurück zur Wirklichkeit. Oder Der Tugut singt.

10

Die Wirklichkeit und die Ekstase.

11

Ulrich und die zwei Welten des Gefühls.

12

Nachtgespräch.

13

Unterhaltungen mit Schmeißer.

14

Für und In.

15

Warum die Menschen nicht gut, schön und wahrhaftig sind, sondern es lieber sein wollen.

16

Schmeißer und Meingast.

17

Warum Ulrich unpolitisch ist.

18

Agathe bei Lindner.

19

Träumen.

20

Zu viel Süße oder Die drei Schwestern.

21

Schuß als Heilmittel gegen Selbstmordideen.

22

Beim Rechtsanwalt.

23

Hermaphrodit.

24

Peter und Agathe.

25

Krisis und Entscheidung.

26

Moosbrugger im Irrenhaus. Eine Kartenpartie.

27

Clarisse und Friedenthal.

28

Die Reise ins Paradies.

29

Nach dem Besuch bei Moosbrugger.

30

Clarisse besucht Walter im »Atelier«.

31

Walter bei Ulrich.

32

Waldszcne. Ulrich und Clarisse.

33

Werden eines Tatmenschen.

34

Werden eines Tatmenschen. Fortsetzung.

35

Ulrich hört Musik.

36

Gerda.

37

Clarisse verführt Ulrich.

38

Ulrich bereitet die Entführung Moosbruggers vor.

39

Walter ruft Ulrich an. Clarisse verstört.

40

Rachels Reue.

41

Clarisse bei Rachel.

42

Moosbrugger und Rachel.

43

Generaldirektor Fischel.

44

Politisch unverläßlich. Was auch mitbedeutend sein soll.

45

Leo Fischel interveniert bei Diotima.

46

Clarisse läßt müde ab. Im Sanatorium.

47

Auf nach Siena!

48

Clarisse in Rom.

49

Im Bereich eines Tatmenschen gibt es auch Selbstmord oder Mord.

50

Die Insel der Gesundheit.

51

Die Insel der Gesundheit. Die Unsicherkeit.

52

Abrechnung Walters mit Ulrich.

53

Generaldirektor Fischel. Begegnung im Zug.

54

Gartenfest.

55

Der Grieche.

56

Clarisse in Venedig.

57

Nach der Internierung. Clarisse als geknickter Prometheus.

58

Gerdas Rückkehr.

59

Eine Einschaltung über Kakanien. Der Herd des Weltkriegs ist auch der Geburtsort des Dichters Feuermaul.

60

Der Tischler.

61

Studie zur Schluß-Sitzung und anschließendem Ulrich-Agathe.

62

Die Utopie der induktiven Gesinnung oder des gegebenen sozialen Zustands.

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Zu guter Letzt

Vierter Teil

 

Aus dem Nachlass

1

 

General von Stumm läßt eine Bombe fallen Weltfriedenskongreß.

 

Ein Soldat darf sich durch nichts abschrecken lassen, und so gelang es General Stumm von Bordwehr als dem einzigen, zu Ulrich und Agathe vorzudringen; vielleicht war er aber auch der einzige, dem sie es nicht ganz unmöglich gemacht hatten, da denn auch Weltflüchtlinge vorsehen können, daß ihnen aller vierzehn Tage die Post nachkommt. Und als er sie jetzt durch seinen Eintritt in der Fortsetzung ihres Gesprächs störte, rief er befriedigt aus: »Leicht ist es nicht gewesen, alle Hindernisse des Vorfelds zu überwinden und in die Hauptstellung einzudringen!« küßte Agathe ritterlich die Hand und wandte sich besonders an sie mit den Worten: »Ich werde ein berühmter Mann sein, bloß weil ich Sie gesehen habe! Alle Welt fragt, welches Ereignis die Unzertrennlichen verschlungen habe, verlangt nach Ihnen, und ich bin gewissermaßen der Beauftragte der Gesellschaft, ja des Vaterlands, die Ursache Ihres Verschwindens zu entdecken! Ich bitte, mich damit zu entschuldigen, falls ich zudringlich erscheinen sollte!«

Agathe hieß ihn willkommen, wie es sich gehört; aber weder sie noch ihr Bruder vermochten sogleich, ihre Geistesabwesenheit vor ihrem Besucher zu verbergen, der als die verkörperte Schwäche und Unvollständigkeit ihrer Träume vor ihnen stand; und als General Stumm wieder von Agathe zurückgetreten war, setzte eine merkwürdige Stille ein. Agathe stand an der einen Langseite des Tisches, Ulrich an der anderen, und der General, wie ein von plötzlicher Windstille befallenes Segelschiff, ungefähr in der Mitte des Wegs zwischen ihnen beiden. Ulrich war im Begriff, seinem Besucher entgegen zu gehn, kam aber nicht von der Stelle. Stumm bemerkte jetzt, daß er wirklich gestört habe, und überlegte, wie er die Lage retten könnte. Auf allen drei Gesichtern lag der verzerrte Ansatz eines freundlichen Lächelns. Diese steife Stille dauerte kaum den Teil eines Augenblicks; doch gerade da fiel Stumms Blick auf das kleine Pferdchen aus Papiermasse, das vereinsamt wie ein Monument zwischen ihnen allen in der Mitte des leeren Tisches stand.

Die Hacken zusammenziehend, wies er mit der flachen Hand feierlich darauf und rief erleichtert aus: »Aber was ist denn das?! Ich gewahre in diesem Hause den großen Tiergötzen, das heilige Tier, das angebetete Idol der Reiterei?!«

Bei dieser Bemerkung Stumms löste sich auch Ulrichs Befangenheit, und nun auf ihn zueilend, sich aber doch auch an seine Schwester wendend, versicherte er lebhaft: »Es ist zwar ein Wagenpferd, aber im übrigen hast du es wunderbar erraten! Wir sprechen nämlich wirklich gerade von Idolen und ihrer Entstehung. Und nun sage einmal: Was liebt man, welchen Teil, welche Umformung und Verklärung liebt man, wenn man seinen Nächsten liebt, ohne ihn zu kennen? Inwiefern ist die Liebe also abhängig von der Welt und Wirklichkeit, und inwiefern verhält es sich umgekehrt?«

Stumm von Bordwehr hatte seinen Blick fragend auf Agathe gerichtet.

»Ulrich spricht von diesem kleinen Ding hier« versicherte sie etwas betreten und wies auf das Konditorpferdchen. »Er hat früher einmal eine Leidenschaft dafür gehabt.«

»Das ist aber hoffentlich schon recht lange her« äußerte sich Stumm verwundert. »Denn wenn ich nicht irre, ist es doch eine Bonbonniere!?«

»Das ist keine Bonbonniere!« beschwor ihn Ulrich, der von der lästerlichen Lust gepackt wurde, sich mit ihm darüber zu unterhalten. »Freund Stumm! Wenn du dich in ein Sattelzeug verliebst, das dir zu teuer ist, oder in eine Uniform oder in ein Paar Reitstiefel, die du in einer Auslage siehst: was liebst du da?«

»Du redest schamlos! So etwas liebe ich nicht!« verwahrte sich der General.

»Leugne nicht!« versetzte Ulrich. »Es gibt Leute, die Tag und Nacht von einem Kleiderstoff oder einem Reisekoffer träumen können, den sie in einer Auslage gesehen haben; und ein wenig davon hat jeder schon kennen gelernt; und auch dir ist es zumindest mit deiner ersten Leutnantsuniform so ergangen! Und da wirst du wohl zugeben, daß dieser Stoff oder Koffer unbrauchbar sein kann und daß man auch gar nicht in der Lage zu sein braucht, ihn wirklich begehren zu können: also ist keine Erfahrung leichter zu machen als die, daß man etwas liebt, ehe man es kennt und ohne es zu kennen. Darf ich dich übrigens daran erinnern, daß du Diotima gleich auf den ersten Blick geliebt hast?!«

Diesmal blickte der General pfiffig auf. Agathe hatte ihm mittlerweile Platz angeboten und hatte ihn auch mit einer Zigarre versorgt, weil ihr Bruder seiner Pflicht vergaß; er war von blauen Wölkchen umsäumt und sagte unschuldig: »Sie ist seither ein Lehrbuch der Liebe geworden, und Lehrbücher habe ich schon auf der Schule nicht so recht geliebt. Aber ich bewundere und achte diese Frau noch immer« fügte er mit einer würdigen Gelassenheit hinzu, die neu an ihm war.

Ulrich beachtete sie leider nicht gleich. »Alles das sind Idole« fuhr er fort, seine an Stumm gerichteten Fragen zu entwickeln. »Und nun siehst du deren Entstehung. Die in unsere Natur gelegten Triebe brauchen nur ein Mindestmaß an äußerer Begründung und Rechtfertigung; sie sind ungeheure Maschinen, die sich durch einen kleinen Schalter in Bewegung setzen lassen. Sie statten dafür den Gegenstand, dem sie gelten, aber auch nur so weit mit Vorstellungen aus, die einer Prüfung standhalten könnten, als es etwa dem Flackern von Licht und Schatten im Schein einer Notbeleuchtung entspricht –«

»Halt!« bat Stumm aus der Dampfwolke. »Was ist ›Gegenstand‹? Sprichst du jetzt wieder von den Stiefeln und dem Koffer?«

»Ich spreche von der Leidenschaft. Von der Sehnsucht nach Diotima gerade so wie von der nach der verbotenen Zigarette. Ich möchte dir deutlich machen, daß jedes affektive Verhältnis zuerst durch vorläufige Wahrnehmungen und Vorstellungen angebahnt wird, die der Wirklichkeit angehören; daß es sogleich aber auch selbst Wahrnehmungen und Vorstellungen hervorruft, die es in seiner Weise ausstattet. Kurz, der Affekt rückt sich den Gegenstand zurecht, wie er ihn braucht, ja erschafft ihn, so daß er schließlich einem Gegenstand gilt, der, auf solche Art zustandegekommen, nicht mehr zu erkennen wäre. Aber er ist ja auch nicht für die Erkenntnis bestimmt, sondern eben für eine Leidenschaft! Dieser aus der Leidenschaft entstehende und in ihr schwebende Gegenstand« schloß Ulrich nun, zum Anfang zurückkehrend »ist natürlich etwas anderes als der Gegenstand, an den sie sich äußerlich heftet und nach dem sie greifen kann, und das gilt also auch von der Liebe. Ich liebe ›dich‹, ist eine Verwechslung; denn ›dich‹, diese Person, von der die Leidenschaft hervorgerufen wird und die man mit Armen greifen kann, glaubt man zu lieben, und die von der Leidenschaft hervorgerufene Person, dieses wildreligiöse Gebilde, liebt man wirklich, aber sie ist eine andere.«

»Wenn man dich hört,« unterbrach Agathe ihren Bruder mit einem Vorwurf, der ihre innere Teilnahme verriet »so sollte man meinen, daß man die wirkliche Person nicht wirklich liebt und eine unwirkliche wirklich –!«

»Genau das habe ich sagen wollen, und ähnliches habe ich auch schon von dir gehört.«

»Aber in Wirklichkeit sind die beiden schließlich doch eins!«

»Das ist ja gerade die Hauptverwicklung, daß die der Liebe vorschwebende Person in jeder äußeren Beziehung von der wirklichen Person vertreten werden muß, ja mit ihr eins ist. Dadurch kommt es zu allen den Verwechslungen, die dem einfachen Geschäft der Liebe etwas so anregend Gespenstisches verleihen!«

»Vielleicht wird aber auch die wirkliche Person erst in der Liebe ganz wirklich? Vielleicht ist sie vorher nicht vollständig?!«

»Aber der Stiefel oder Reisekoffer, von dem man träumt, ist in Wirklichkeit doch kein anderer als der, den man auch kaufen könnte!«

»Vielleicht entsteht auch der Reisekoffer erst zu Ende, wenn man ihn liebt!«

»Mit einem Wort, man kommt zu der Frage, was wirklich sei. Die alte Frage der Liebe!« rief Ulrich ungeduldig und doch befriedigt aus.

»Ach, lassen wir den Reisekoffer!« Es war zum Erstaunen der beiden die Stimme des Generals, die ihr Scheingefecht unterbrach. Stumm hatte behaglich ein Bein über das andere gezwängt, was ihm, wenn es einmal gelungen war, große Sicherheit verlieh. »Bleiben wir bei der Person« fuhr er fort und lobte Ulrich: »Du hast bis jetzt manches wieder hervorragend schön gesagt! Die Menschen glauben ja immer, daß nichts einfacher ist, als einander zu lieben, und dann muß man ihnen jeden Tag vorhalten: ›Verehrteste, das ist nicht so einfach, wie bei der Äpfelfrau!‹« Höflich wandte er sich zur Erklärung dieses mehr militärischen als zivilen Ausdrucks an Agathe: »Die Äpfelfrau, Gnädigste, zitiert man bei uns, wenn einer sich etwas leichter vorstellt, als es ist. In der Höheren Mathematik, zum Beispiel, wenn beim abgekürzten Dividieren einer gleich so stark abkürzt, daß er, mir nichts, dir nichts, bei einem falschen Resultat ist! Dann hält man ihm die Äpfelfrau vor, und das wird dann halt auch sonst angewendet, wo ein gewöhnlicher Mensch bloß sagen möchte: das ist nicht so einfach!« Nun wandte er sich wieder an Ulrich und fuhr fort: »Deine Wissenschaft von den zwei Personen interessiert mich deshalb so sehr, weil auch ich den Leuten allemal sage, daß man den Menschen nur in zwei Teilen lieben kann: in der Theorie, oder wie du sagst, als vorschwebende Person, soll man ihn meinetwegen lieben; aber in der Praxis muß man streng, und schließlich auch hart, mit ihm verfahren! So ist es zwischen Mann und Frau, und so ist es überhaupt im Leben! Die Pazifisten zum Beispiel, mit ihrer Liebe ohne Schuhsohlen, ahnen davon nicht das mindeste, und ein Leutnant versteht zehnmal mehr von der Liebe als diese Dilettanten!«

Stumm von Bordwehr machte durch seinen Ernst, durch die Abgewogenheit seiner Rede, nicht zuletzt sogar durch die Kühnheit, mit der er, trotz Agathes Gegenwart, die Frau zum Gehorchen verurteilt hatte, den Eindruck eines Mannes, mit dem sich Wichtiges ereignet hat und der sich nicht ohne Erfolg bemüht hat, es zu bemeistern. Aber Ulrich hatte das noch immer nicht erfaßt und schlug vor: »Entscheide also du, welcher Person eine Liebe in Wahrheit gilt und welche Person bloß der Figurant ist!«

»Das war mir zu hoch« versicherte Stumm ruhig, zog Atem aus der Zigarre und fügte gelassen hinzu: »Ich habe mich gefreut, wieder zu hören, wie schön du sprichst; aber im ganzen sprichst du doch so, daß man sich fragen möchte, ob es denn wirklich deine einzige Beschäftigung ist. Ich muß gestehn, daß ich erwartet habe, dich nach deinem Verschwinden bei, weiß Gott, wichtigeren Geschäften anzutreffen!«

»Stumm, das ist wichtig!« rief Ulrich aus. »Denn die Weltgeschichte ist mindestens zur Hälfte eine Liebesgeschichte! Natürlich mußt du alle Arten der Liebe zusammennehmen!«

Der General nickte widerstrebend. »Das mag schon so sein.« Er verschanzte sich hinter das Geschäft, eine neue Zigarre zu beschneiden und anzuzünden, und knurrte: »Aber dann ist die andere Hälfte eine Geschichte des Zorns. Und man soll den Zorn nicht geringschätzen! Ich bin seit einiger Zeit ein Spezialist der Liebe und weiß das!«

Jetzt verstand Ulrich endlich, daß sein Freund sich verändert habe, und bat ihn neugierig, zu erzählen, was ihm widerfahren sei.

Stumm von Bordwehr sah ihn eine Weile an, ohne zu antworten, dann sah er Agathe an, und endlich erwiderte er, so daß nicht recht zu unterscheiden war, ob es gereizt oder genußvoll verzögert geschehe: »Oh, es wird dir vielleicht kaum der Rede wert erscheinen im Vergleich mit deinen Beschäftigungen. Bloß das eine ist geschehen: Die Parallelaktion hat ein Ziel gefunden!«

Diese Nachricht von etwas, dem so viel Anteilnahme geschenkt worden war, wenn auch keine echte, hätte selbst einen unaufgelockerten Zustand der Abgeschlossenheit durchschlagen müssen, und als Stumm seine Wirkung sah, war er mit dem Geschick versöhnt und fand seine alte, arglose Mitteilungsfreude für längere Zeit wieder. »Wenn du es vorziehst, kann ich ebenso gut auch sagen: Die Parallelaktion hat ein Ende gefunden!« bot er entgegenkommend an.

Ganz nebenbei war das geschehen: »Wir haben uns alle schon so daran gewöhnt gehabt, daß nichts geschieht, aber immer etwas geschehen soll« erzählte Stumm. »Und da hat auf einmal jemand anstatt eines neuen Vorschlags die Nachricht gebracht, daß heuer im Herbst ein Welt-Friedens-Kongreß tagen wird, und noch dazu hier bei uns!«

»Das ist sonderbar!« meinte Ulrich.

»Wieso sonderbar? Wir haben doch nicht das geringste davon gewußt!«

»Das meine ich ja gerade.«

»Also da hast du ja auch nicht ganz unrecht« pflichtete ihm Stumm von Bordwehr bei. »Es wird jetzt sogar behauptet, daß es eine vom Ausland lancierte Nachricht gewesen sein soll. Der Leinsdorf und Tuzzi haben geradezu vermutet, daß es sich um eine russische Intrige gegen unsere vaterländische Aktion handeln könnte, wenn nicht am Ende gar um eine reichsdeutsche. Denn du mußt bedenken, daß wir doch erst in vier Jahren fertig zu sein brauchen, so daß es ganz gut möglich wäre, daß man uns in etwas hineinhetzen will, das wir gar nicht beabsichtigen. Die Versionen gehen darüber auseinander; aber die Wahrheit hat sich nicht mehr feststellen lassen, obwohl wir natürlich sofort überall hingeschrieben haben, um etwas Näheres zu erfahren. Merkwürdigerweise hat man auch schon überall von diesem pazifistischen Kongreß – gewußt ich versichere dir: in der ganzen Welt! Und bei Privaten gerade so wie in Redaktionen und Staatskanzleien! – doch hat man angenommen, oder es ist eben ausgesprengt worden, daß er von uns ausgeht und zu unserer großen Weltaktion gehört, und ist bloß verwundert gewesen, weil von uns auf keinerlei Anfragen und Rückfragen eine vernünftige Antwort gekommen ist. Vielleicht hat sich jemand einen Jux mit uns gemacht; der Tuzzi hat uns ein paar von diesen Einladungen zum Friedenskongreß unauffällig verschaffen können: die Unterschriften waren zwar recht naiv nachgemacht, aber das Briefpapier und der Stil sind wirklich wie echt gewesen! Natürlich haben wir uns dann auch an die Polizei gewandt, und die hat rasch herausgefunden, daß die ganze Ausführung auf einen Ursprung hierzulande zurückweist, und dabei ist auch herausgekommen, daß es wirklich solche Leute hier gibt, die einen Weltfriedenskongreß im Herbst einberufen möchten – weil da nämlich eine Frau, die einen pazifistischen Roman geschrieben hat, ich weiß nicht wie viel Jahre alt wird oder, falls sie schon gestorben sein sollte, alt geworden wäre: Aber diese Leute haben mit der Ausstreuung, die uns betroffen hat, wie sich bald herausgestellt hat, nachweisbar nicht das geringste zu tun; und auf diese Weise ist der Ursprung also im Dunkel geblieben« meinte Stumm verzichtend, aber mit der Befriedigung, die jede gut zu Ende gebrachte Erzählung gewährt. Die anstrengende Darlegung der Schwierigkeiten hatte sein Gesicht mit Schatten überzogen, doch jetzt brach die Sonne seines Lächelns durch diese Ratlosigkeit hindurch, und mit einem so unbefangenen wie treuherzigen Zug von Verachtung fügte er noch hinzu: »Das Merkwürdigste ist ja, daß alle Welt einverstanden gewesen ist mit so einem Kongreß oder daß wenigstens keiner hat nein sagen wollen! Und jetzt frage ich dich: was bleibt einem da übrig; besonders wenn man schon vorausgesagt hat, daß man etwas unternehmen wird, was der ganzen Welt ein Vorbild sein soll, und immer die Parole der Tat ausgegeben hat?! Wir haben einfach vierzehn Tage wie die Wilden arbeiten müssen, damit das wenigstens hinterdrein so ausschaut, wie es sozusagen unter anderen Umständen im vorhinein ausgeschaut hätte. Und so haben wir uns der organisatorischen Überlegenheit der Preußen – vorausgesetzt, daß es überhaupt die Preußen gewesen sind! – eben gewachsen gezeigt. Wir nennen es jetzt eine Vorfeier. Den politischen Teil behält dabei die Regierung im Auge, und wir von der Aktion bearbeiten mehr das Festliche und Kulturmenschliche, weil das für ein Ministerium einfach zu belastend ist –«

»Aber eine sonderbare Geschichte bleibt es immerhin!« versicherte jetzt Ulrich ernst, obwohl er über diesen Ausgang lachen mußte.

»Halt ein historischer Zufall« sagte der General zufrieden. »Solche Mystifikationen sind schon oft von Wichtigkeit gewesen.«

»Und Diotima?« erkundigte sich Ulrich vorsichtig.

»Ja, die hat freilich Amor und Psyche schleunigst beiseite stellen müssen und entwirft jetzt zusammen mit einem Maler den Trachtenfestzug. ›Die Stämme Österreichs und Ungarns huldigen dem inneren und äußeren Frieden‹ wird er heißen« berichtete Stumm und wandte sich nun flehend an Agathe, als er bemerkte, daß auch sie die Lippen zum Lächeln verzog. »Ich beschwöre Sie, Gnädigste, wenden Sie nichts dagegen ein und gestatten Sie auch ihm keinen Einwand!« bat er. »Denn der Trachtenfestzug und wahrscheinlich eine Militärparade sind das einzige, was bis jetzt von den Feierlichkeiten feststeht. Es werden die Tiroler Standschützen über die Ringstraße marschieren, denn die geben mit ihren grünen Hosenträgern, den Hahnenfedern und den langen Bärten immer ein malerisches Bild ab; und dann sollen auch noch die Biere und Weine der Monarchie den Bieren und Weinen der übrigen Welt huldigen. Aber schon da besteht zum Beispiel noch keine Einigung darüber, ob nur die österreichisch-ungarischen Biere und Weine denen der übrigen Welt huldigen sollen, damit der liebenswürdige österreichische Charakter umso gastlicher hervorkommt, als man auf eine Gegenhuldigung verzichtet; oder ob auch die ausländischen Biere und Weine mitmarschieren dürfen, damit sie den unsrigen huldigen, und ob sie dafür Zoll zahlen müssen oder nicht. Jedenfalls ist das eine sicher, daß es bei uns einen Festzug ohne Menschen, die in altdeutschen Kostümen auf Faßwagen und Bierpferden sitzen, nicht geben kann und noch nie gegeben hat; und ich kann mir bloß nicht vorstellen, wie das im Mittelalter selbst gewesen ist, als die altdeutschen Kostüme noch nicht alt gewesen sind, und nicht einmal älter ausgeschaut haben als heutzutage ein Smoking!?«

Nachdem diese Frage zur Genüge gewürdigt worden war, stellte Ulrich aber eine bedenklichere: »Ich möchte wissen, was unsere nichtdeutschen Nationen zu dem Ganzen sagen werden!«

»Das ist einfach: sie werden mitmarschieren!« versicherte Stumm vergnügt. »Denn wenn sie es nicht tun, so kommandieren wir ein böhmisches Dragonerregiment in den Festzug und machen Hussitenkrieger aus ihm, und ein Ulanenregiment ziehen wir als die polnischen Türkenbefreier Wiens an.«

»Und was sagt Leinsdorf zu diesen Plänen?« fragte Ulrich zögernd.

Stumm stellte das übergelegte Bein neben das andere und wurde ernst. »Der ist allerdings nicht gerade entzückt« gab er zu und erzählte, daß Graf Leinsdorf niemals das Wort »Festzug« in Gebrauch nehme, sondern auf das halsstarrigste daran festhalte, »die Demonstration« zu sagen. »Wahrscheinlich liegen ihm noch die Demonstrationen im Sinn, die er erlebt hat« meinte Ulrich, und Stumm pflichtete ihm bei: »Er hat schon des öfteren zu mir gesagt,« berichtete er »wer das Volk auf die Straße führt, lädt damit eine große Verantwortung auf sich, Herr General! Genau so, als ob ich etwas dafür oder dagegen tun könnte! Dazu müßtest du aber freilich auch wissen, daß wir seit einiger Zeit ziemlich oft beisammen sind, er und ich –«

Stumm setzte aus, als wolle er Zeit für eine Frage lassen, als aber weder Agathe noch Ulrich diese stellten, fuhr er vorsichtig fort: »Es ist Seiner Erlaucht nämlich noch eine Demonstration widerfahren. Auf einer Reise, in B..., ist er in jüngster Zeit sowohl von den Tschechen als auch von den Deutschen beinahe verprügelt worden.«

»Aber warum denn?« rief Agathe teilnehmend aus, und auch Ulrich zeigte seine Neugierde.

»Weil er als Friedensstifter bekannt ist!« verkündete Stumm. »Die Friedens- und Menschenliebe ist nämlich in Wirklichkeit nicht so einfach –«

»Wie bei der Äpfelfrau!« fiel Agathe lachend ein.

»Eigentlich habe ich sagen wollen, wie bei einer Bonbonniere« verbesserte sie Stumm und fügte diesem bedächtigen Tadel für Ulrich noch die Anerkennung für Leinsdorf hinzu: »Trotzdem wird ein Mann wie er, wenn es einmal beschlossen ist, das Amt, das ihm zufällt, voll und ganz ausfüllen!«

»Welches Amt denn?« fragte nun Ulrich.

»Jedes!« versicherte der General. »Er wird auf der Festtribüne neben dem Kaiser sitzen, natürlich nur in dem Fall, daß sich Seine Majestät auf eine Festtribüne setzt; und außerdem entwirft er die Huldigungsadresse unserer Völker, die er dem Allerhöchsten Herrn überreichen wird. Wenn das aber vorläufig selbst alles sein sollte, so bin ich überzeugt, daß es das nicht bleiben wird; denn wenn er keine andern Sorgen hat, so macht er sich sofort welche: eine so tatkräftige Natur ist er! Jetzt möchte er übrigens dich sprechen« ließ Stumm versuchsweise einfließen.

Ulrich schien es zu überhören, war aber aufmerksam geworden. »Leinsdorf ›fällt‹ doch kein Amt ›zu‹?!« fragte er mißtrauisch. »Seit er lebt, ist er immer der Knopf auf der Fahnenstange gewesen!«

»Ja –« meinte General Stumm mit Vorbehalt. »Ich will eigentlich auch nichts gesagt haben; er bleibt natürlich immer ein hoher Herr. Aber schau, da hat mich zum Beispiel der Tuzzi unlängst beiseite genommen und hat vertraulich zu mir gesagt: ›Herr General! Wenn mich in einer finsteren Gasse ein Mann anstreift, so trete ich zur Seite; wenn er mich aber in der gleichen Lage freundlich fragt, wieviel Uhr es ist, dann greife ich nicht nur nach der Uhr, sondern taste auch nach der Pistole!‹ Was sagst du dazu?«

»Was sollte ich dazu sagen? Ich verstehe den Zusammenhang nicht!«

»Das ist eben jetzt die Vorsicht der Regierung« erklärte Stumm. »Sie denkt bei einem Weltfriedenskongreß an alle Möglichkeiten, während der Leinsdorf schließlich doch immer seine eigenen Ideen hat.«

Ulrich begriff plötzlich. »Also mit einem Wort: Leinsdorf soll jetzt von der Spitze verdrängt werden, weil man Angst vor ihm hat?!«

Darauf erwiderte der General nicht unmittelbar. »Er läßt dich durch mich bitten, daß du die guten Beziehungen zu deiner Kusine Tuzzi wieder aufnehmen sollst, damit man erfährt, was vorgeht: Ich sage es gerade heraus, er hat es natürlich zurückhaltender ausgedrückt« berichtete Stumm. Und nach kurzem Zaudern fügte er entschuldigend hinzu: »Sie sagen ihm halt nicht alles! Aber schließlich ist das eben die Gewohnheit der Ministerien: wir sagen uns doch untereinander auch nicht alles!«

»In welchen Beziehungen ist denn mein Bruder eigentlich zu unserer Kusine gestanden?« fragte jetzt Agathe.

Ahnungslos versicherte Stumm, in der freundlichen Täuschung befangen, daß er gefällig scherze: »Er ist eine geheime Liebe von ihr!« und fügte nun gleich auch ermunternd für Ulrich hinzu: »Ich weiß ja nicht, was zwischen euch vorgefallen ist, aber sie bedauert es sicher! Sie sagt, du bist ein so unentbehrlich schlechter Patriot, daß du allen Feinden des Vaterlands großartig gefallen müßtest, die sich schließlich bei uns ja wohlfühlen sollen. Das ist doch eigentlich nett von ihr? Nur den ersten Schritt kann sie natürlich nicht tun, nachdem du dich so eigensinnig zurückgezogen hast!«

Der Abschied wurde von da an etwas einsilbig, und es bedrückte Stumm sehr, nachdem er im Zenit gestanden, glanzlos untergehen zu sollen.

So erfuhren Ulrich und Agathe schließlich etwas, das ihre Züge wieder erheiterte und auch das Antlitz des Generals freundlich rötete. »Den Feuermaul sind wir los!« berichtete er, zufrieden damit, daß es ihm noch rechtzeitig eingefallen sei, und er fügte voll Verachtung für die Menschenliebe des Dichters hinzu: »Das hat jetzt ohnehin keinen Sinn mehr!« Auch der »ekelerregende« Beschluß aus der letzten Sitzung, daß man niemand zwingen dürfe, für fremde Ideen zu sterben, wogegen es jeder für seine eigenen tun solle, auch dieser von Grund aus friedenstiftende Beschluß war, wie sich nun zeigte, gemeinsam mit allem, was der Vergangenheit angehörte, gefallen und auf des Generals Einspruch nicht einmal mehr zu Protokoll genommen worden. »Eine Zeitschrift, die ihn abgedruckt hat, haben wir unterdrückt; solches übertriebene Gerede glaubt ja doch kein Mensch mehr!« ergänzte Stumm diese Mitteilung, was angesichts der Vorbereitungen zu einem pazifistischen Kongreß nicht ganz klar anmutete. Agathe nahm denn auch die jungen Leute ein wenig in Schutz, und selbst Ulrich erinnerte schließlich seinen Freund daran, daß Feuermaul doch nicht an dem Zwischenfall schuld gewesen sei. Da machte Stumm aber keine Schwierigkeiten und gab zu, daß Feuermaul, den er im Haus seiner Schutzherrin kennengelernt habe, ein reizender Mensch sei. »So voll Anteilnahme für alles! Und wirklich geradezu aus freien Stücken gut!« rief er anerkennend aus.

»Aber dann wäre er doch durchaus eine schätzenswerte Bereicherung für diesen Kongreß!« warf Ulrich abermals ein.

Aber Stumm, der sich inzwischen ernstlich zum Gehen angeschickt hatte, schüttelte lebhaft den Kopf. »Nein! Ich kann es nicht so kurz ausdrücken, worauf es ankommt« sagte er entschlossen. »Aber der Kongreß soll nicht übertrieben sein!«

2

Beschreibung einer kakanischen Stadt.

Variante zu: General von Stumm läßt eine Bombe fallen

(Aus einem Entwurf)

 

Wirklich, während Ulrich und Agathe hinter geschlossenen Kristallplatten lebten — durchaus nicht unwirklich und ohne Ausblick auf die Welt, wohl aber in einem ungewöhnlichen, eindeutigen Licht, badete diese Welt jeden Morgen in dem hundertfältigen Licht eines neuen Tags. Jeden Morgen erwachten Städte und Dörfer, und wo immer sie es tun, geschieht es, weiß Gott, immer auf die gleiche Weise; aber mit dem gleichen Recht auf Dasein, das ein Riesendampfer ausdrückt, der zwischen zwei Kontinenten unterwegs ist, fliegen kleine Vögel von einem Ast zum andern. Und so geschieht alles in der Welt sowohl gleichförmig und vereinfacht als auch auf unzählige Weisen nutzlos abgewandelt und in einer hilflosen und seligen Fülle, die an die herrlichen und beschränkten Bilderbücher der Kinderzeit erinnert. Ulrich und Agathe fühlten denn auch beide ihr Buch der Welt aufgeschlagen, denn B , . . war keine andere Stadt als jene, wo sie sich wiedergefunden hatten, nachdem ihr Vater dort gelebt hatte und gestorben war.

»Und gerade in B . . . hat es dazu kommen müssen!« wiederholte der General bedeutsam.

»Du bist doch auch einmal dort in Garnison gewesen« sagte Ulrich.

»Und der Dichter Feuermaul ist dort geboren« fügte Agathe hinzu.

»Richtigl« rief Ulrich aus. »Hinter dem Theater! Von daher hat er wahrscheinlich seinen Ehrgeiz, ein Dichter zu sein. Erinnerst du dich noch an dieses Theater? Es muß in den achtziger oder neunziger Jahren einen Baumeister gegeben haben, der in den meisten größeren Städten solche Theaterschatullen hinsetzte, die um und um mit Zierformen und Statuenzierrat beschlagen waren. Und Feuermaul ist richtig in dieser Spinn- und Webstadt auf die Welt gekommen: als Sohn eines wohlhabenden Tuchkommissionärs. Ich erinnere mich, daß diese Zwischenhändler aus mir unbekannten Gründen mehr verdienten als die Fabrikanten selbst; und die Feuermauls gehörten schon zu den reichsten Leuten in B . . ., ehe der Vater in Ungarn mit Salpeter oder weiß Gott welcher Mordproduktion ein noch größeres neues Leben begann: Du bist doch gekommen, um dich bei mir nach Feuermaul zu erkundigen?« fragte Ulrich.

»Eigentlich nicht« erwiderte sein Freund. »Ich habe erhoben, daß sein Vater große Pulverlieferungen für das Kriegsministerium hat. Damit ist ja der Menschengüte seines Sohnes im vorhinein ein Zügel angelegt. Der Beschluß bleibt Episode, dafür stehe ich dir gut.«

Aber Ulrich hörte nicht. Es war ihm ein langentbehrter Genuß, sich in einer ganz alltäglichen Weise reden zu hören; und scheinbar ging es Agathe auch so. »Dieses alte B ... ist übrigens eine üble Stadt« fing er von neuem an. »In der Mitte liegt auf einem Berg eine alte häßliche Festung, deren Kasematten von der Mitte des 18. bis zu der des 19. Jahrhunderts als Staatsgefängnis gedient haben und berüchtigt waren, und die ganze Stadt ist stolz darauf!«

»Der Lachberg (Spielberg, Gnadenberg)« bestätigte der General höflich.

»Ein netter Lach-Berg!« rief Agathe aus und ärgerte sich über ihr Bedürfnis nach Gewöhnlichkeit, als Stumm das Wortspiel geistvoll fand und ihr versicherte, daß er zwei Jahre in B . . . garnisoniert habe, ohne auf diesen Zusammenhang gekommen zu sein.

»Das wahre B ... ist natürlich die Fabrikstadt, die Tuch- und Garnstadt« fuhr Ulrich fort und wandte sich an Agathe. »Was sind das doch große, schmale, schmutzige Häuserschachteln mit unzähligen Fensterlöchern, Gäßchen, die nur aus Hof mauern und Eisentoren bestebn, Straßen, die sich breit, ausgefahren und trostlos krümmen!« Ein paarmal hatte er nach dem Tod des Vaters dieses Viertel durchstreift. Er sah die hohen Schornsteine wieder, an denen die schmutzigen Fahnen des Reichs hingen, und dann verlor sich seine Erinnerung unvermittelt ins Land, das auch wirklich unvermittelt hinter den Fabrikmauern begann, mit schwerer, fetter, fruchtbarer Erde, die im Frühling schwarzbraun aufbrach, niedrigen, langen, längs der Straße liegenden Dörfern und Häusern, die nicht nur in schreienden Farben angestrichen waren, sondern in solchen, die mit unverständlicher Stimme schrien. Es war ein demütiges und doch fremd-geheimnisvolles Bauernland, aus dem die Industrie (die städtische Geschäftigkeit) ihre Arbeiter und Arbeiterinnen sog, weil es eingeengt zwischen ausgedehnten Zuckerrübenplantagen des Großgrundbesitzes dalag, der ihm nicht die nötigste Wohlhabenheit übrig gelassen hatte. Jeden Morgen riefen die Fabriksirenen aus diesen Dörfern Scharen von Bauern in die Stadt und verstreuten sie zwar des Abends wieder über das Land, aber mit den Jahren blieben doch immer mehr dieser tschechischen, von dem öligen Wollstaub der Fabriken an Gesicht und Fingern dunkel häutigen Landleute in der Stadt zurück und machten das dort schon vorhandene slawische Kleinbürgertum kräftig wachsen.

Daraus ergaben sich schwierige Verhältnisse, denn die Stadt war deutsch. Sie lag sogar in einer deutschen Sprachinsel, wenn auch auf deren äußersten Spitze, und wußte sich seit dem 13. Jahrhundert in die stolzen Erinnerungen deutscher Geschichte verflochten. Man konnte in ihren deutschen Schulen lernen, daß hierorts schon der Türkenprediger Kapristan wider die Hussiten gepredigt habe, zu einer Zeit, wo gute Österreicher noch in Neapel geboren werden konnten; daß die Erb-Verbrüderung zwischen den Häusern Habsburg und Ungarn, die 1364 den Grund zur österreichisch-ungarischen Monarchie gelegt hat, nirgends anders abgeschlossen sei, als hier; daß die Schweden im ... ? Krieg diese tapfere Stadt einen ganzen Sommer lang belagert hatten, ohne sie erobern zu können, und noch weniger hatten das die Preußen im Siebenjährigen Krieg vermocht. Natürlich war dadurch die Stadt ebenso auch in die stolzen hussitischen Erinnerungen der Tschechen verflochten und in die selbständigen geschichtlichen der Ungarn, möglicherweise sogar auch in die der Neapolitaner, Schweden und Preußen, und es fehlte in den nichtdeutschen Schulen der Stadt keineswegs an Hinweisen darauf, daß diese Stadt nicht deutsch sei: »und daß die Deutschen ein Diebsvolk seien, das sich sogar fremde Vergangenheiten aneigne.« Es war merkwürdig, daß es nicht gehindert wurde, aber so gehörte es zur weisen Mäßigung Kakaniens. Es gab dort viele solche Städte, und alle sahen sie auch ähnlich aus. Am höchsten Punkt thronte ein Gefängnis, am zweithöchsten eine Bischofsresidenz, und ringsherum, gut auf die Stadt verteilt, fanden sich ungefähr noch zehn Klöster und Kasernen. War das geordnet, was man auch »die Staatsnotwendigkeiten« nannte,so überspannte man im übrigen die Einheitlichkeit und Einigkeit nicht, denn Kakanien war von einem in großen historischen Erfahrungen erworbenen Mißtrauen gegen alles Entweder-Oder beseelt und hatte immer eine Ahnung davon, daß es noch viel mehr Gegensätze in der Welt gebe, an denen es schließlich zugrundegegangen ist. Sein Regierungsgrundsatz war das Sowohl-als-auch oder noch lieber mit weisester Mäßigung das Weder-noch. Man vertrat in Kakanien also darum die Auffassung, daß es nicht vorsichtig sei, wenn die einfachen Leute, die es nicht nötig haben, zuviel lernen, und man legte auch keinen Wert darauf, daß es ihnen wirtschaftlich unbescheiden gut gehe. Man gab gern denen, die schon viel hatten, weil es da keine Gefahr mehr mit sich bringt, und setzte voraus, wenn in den anderen etwas Tüchtiges stecke, werde es sich selbst zeigen, denn Widerstände sind geeignet Männer zu erziehn.

Und so bewahrheitete es sich auch: unter den Gegnern wurden Männer erzogen, und die Deutschen bekamen, weil Besitz und Bildung in B... deutsch waren, mit Staatshilfe immer mehr Besitz und Bildung. Wenn man durch die Straßen in B ... ging, konnte man das daran erkennen, daß die erhalten gebliebenen schönen baulichen Zeugnisse der Vergangenheit, von denen es einige gab, zum Stolz der wohlhabenden Bürger zwischen vielen Zeugnissen der Neuzeit standen, die sich nicht bloß damit begnügten, gotisch, Renaissance oder barock zu sein, sondern von der Möglichkeit Gebrauch machten, alles zugleich zu haben. Unter den großen Städten Kakaniens war B .,. eine der reichsten und drückte das auch baulich aus, so daß selbst die Umgebung, dort wo sie waldig und romantisch war, die roten Türmchen, schieferblauen Zackendächer und schießschartenähnlichen Mauernkränze wohlhabender Villen abbekam. »Und welche Umgebung!« dachte und sagte Ulrich, heimat-feindlich angehaucht. Dieses B.., lag in der Gabel zweier Flüsse, aber das war eine sehr weite und lockere Gabel, und die Flüsse waren auch nicht so recht Flüsse, sondern an manchen Stellen waren es breite gemäßigte Bäche, und wieder an anderen waren es stehende Wasser, die dennoch insgeheim flössen. Auch die Landschaft war ja nicht einfach» sondern bestand, sah man von dem zuerst bedachten Bauernland ab, noch aus drei weiteren Teilen. Auf der einen Seite eine weite, sich sehnsüchtig öffnende Ebene, die an manchen Abenden von zarten Silber- und Orangefarben überhaucht war; auf der anderen buschiges, wipfliges, treudeutsches Waldhügelland (aber gerade das war nicht die deutsche Seite), von nahem Grün in fernes Blau führend; auf der dritten eine heroische, nazarenisch karge Landschaft von fast großartiger Eintönigkeit, mit graugrünen, von Schafen beweideten Hügelkuppen und braunen Ackerbreiten, die etwas wie das murmelnde Singen des Tischgebets der Bauern über sich hatten, das aus niedrigen Fenstern dringt.

Also ließe sich zwar rühmen, daß diese traulich-kakanische Gegend, in deren Mitte die Stadt B... lag, sowohl bergig als auch eben, nicht weniger waldig als sonnig und ebenso heldisch wie demütiggroßartig war, aber es fehlte doch wohl überall daran ein wenig, so daß sie im Ganzen weder so noch so war. Es ließ sich denn auch niemals entscheiden, ob die Bewohner dieser Stadt sie schön oder häßlich fanden. Sagte man zu einem von ihnen, B... sei häßlich, so antwortete er bestimmt: »Aber schaun Sie, der rote Berg, er ist doch ganz hübsch, und gar der gelbe Berg... und die schwarzen Felder ... !« Und schon wenn er diese sinnlichen Namen aufzählte, mußte man zugeben, daß sich die Landschaft wohl hören lassen könne. Sagte man aber, sie sei schön, so lachte ein gebildeter B.. .'r und erzählte, daß er soeben von der Schweiz zurückkäme oder aus den Pyrenäen, und daß B ... ein armes Nest sei, das nicht einmal den Vergleich mit Bukarest aushalte. Aber auch das war ja nur kakanisch, dieses Zwielicht des Gefühls, worin sie ihr Dasein aufnahmen, diese Unruhe einer zu früh herabgesunkenen Ruhe, in der sie sich geborgen und begraben fühlten. Sagt man es so: diesen Menschen war alles zugleich Unlust und Lust, so bemerkt man wohl, wie vorweg-heutig es war, denn der sanfteste aller Staaten stürmte in manchem seiner Zeit heimlich voraus. Die Menschen, die B ... bewohnten, lebten von der Erzeugung von Tuchen und Garnen, von der Erzeugung und dem Handel aller Dinge, die von Menschen gebraucht werden, die Tuche undGarne erzeugen oder verkaufen, und schließlich der Erzeugung und Behandlung von Rechtsstreitigkeiten, Krankheiten, Kenntnissen, Vergnügungen und dergleichen!, was zu- den Bedürfnissen einer großen Stadt gehört. Und alle wohlhabenden unter ihnen hatten die Eigenschaft, daß es in der Welt keinen schönen und berühmten Ort gab, wo einer, der aus dieser Stadt stammte, nicht einen antraf, der auch aus dieser Stadt stammte, und wenn sie wieder zu Hause waren, hatte das zur Folge, daß sie alle ebensoviel von der Weite in sich trugen wie von der ungeheuerlichen Überzeugung, daß alle Größe schließlich doch nur nach B . . . führt.

Ein solcher Zustand, der von der Erzeugung von Tuchen und Garnen, von Fleiß, Sparsamkeit, einem städtischen Theater, den Konzerten durchreisender Berühmtheiten, von Bällen und Einladungen kommt, wird nicht mit den gleichen Mitteln überwunden. Vielleicht hätte das dem Kampf um die Staatsmacht einer aufsässigen Arbeiterschaft gelingen können oder dem Kampf gegen eine Oberschicht oder einem imperialistischen Kampf um den Weltmarkt, wie ihn andere Nationen führten, kurz nicht dem Verdienen nach Verdienst, sondern einem Rest tierischen Erbeutens, worin sich die Lebenswärme wach hält. In Kakanien aber wurde wohl viel Geld unrecht verdient, aber erbeutet durfte nichts werden, und selbst wenn in diesem Staat Verbrechen erlaubt gewesen wären, so hätte man streng darauf geachtet, daß sie nur von obrigkeitlich zugelassenen Verbrechern begangen werden. Das gab allen solchen Städten wie B ... das Aussehen eines großen Saals mit einer niedrigen Decke. Ein Kranz von Pulvertürmen umgab jede größere Stadt, in denen die Armee ihre Schießvorräte aufbewahrte, groß genug, bei einem Blitzschlag ein ganzes Stadtviertel in Trümmer zu legen: aber bei jedem Pulverturm war durch eine Schildwache und einen schwarzgelben Schlagbaum dafür vorgesorgt, daß den Bürgern kein Unheil geschehe. Und die Polizei war mit Säbeln ausgerüstet, die so lang waren wie die der Offiziere und bis an die Erde reichten, niemand wußte mehr warum, es sei denn aus Mäßigung, denn mit einer Hand mußte die Polizei immer ihren Säbel festhalten, damit er ihr nicht zwischen die Beine komme, und konnte nur mit der anderen nach Missetätern fahnden. Niemand wußte auch, warum in wachsenden Städten, auf Baugründen, die Zukunft hatten, vom Staat weit vorausblickend Militärspitäler, Monturdepots und Garnisonsbäckereien errichtet wurden, deren ummauerte Riesenrechtecke später die Entwicklung störten. Keinesfalls durfte das für Militarismus gehalten werden, dessen man das alte Kakanien leichtfertig beschuldigt hat; es war nur Lebensweisheit und Vorsicht, sei es sozusagen schon ihrem Wesen nach in Ordnung: denn Ordnung kann gar nicht anders als in Ordnung sein, während das von jedem anderen staatlichen Verhalten ewig unsicher bleibt. Diese Ordnung war dem Franzisko Josephinischen Zeitalter in Kakanien zur Natur, ja fast schon zur Landschaft geworden, und ganz bestimmt hätten dort bei längerer Andauer der stillen Friedenszeit auch noch die Geistlichen lange Säbel bekommen, da nach den Richtern, Fischinspektoren, Finanzräten und Postbeamten schon die Universitätsinspektoren welche hatten, und wäre nicht eine Weltveränderung zu ganz anderen Auffassungen dazwischengekommen, so hätte sich der Säbel vielleicht in Kakanien zu einer geistigen Waffe entwickelt. — (Geglaubt hat man, das geschieht aus Eifersucht auf Deutschland. Und die fremden Staaten haben geglaubt, aus Militarisierung.)

Als die Unterhaltung, teils im Meinungsaustausch, teils in Erinnerungen, die sie stumm begleiteten, so weit gekommen war, schaltete General Stumm ein: »Das hat übrigens-der Leinsdorf schon gesagt, daß nämlich die Priester eigentlich Säbel bdsommen müßten, beim nächsten Konkordat und zum Zeichen, daß auch sie ein Amt im Staat bekleiden. Er hat es dann mit der weniger paradoxen Bemerkung eingeschränkt, daß auch kleine Degen genügen möchten, mit Perlmutter- und Goldgriff, weißt du, wie sie früher die Beamten getragen haben.«

»Ist das dein Ernst?«

»Seiner« gab der General zur Antwort. »Er hat mir gezeigt, daß im Dreißigjährigen Krieg in Böhmen die Priester in vergoldeten Meßgewändern geritten sind, die unterhalb aus Leder waren, also richtige Meß-Kürasse. Er ist halt sehr geärgert über die allgemeine Staatsfeindlichkeit und hat sich erinnert, daß in einer seiner Schloßkapellen noch so ein Gewand aufbewahrt ist. Schau, du weißt doch, daß er immer davon redet, wie die Verfassung vom Jahre 61 dem Besitz und der Bildung bei uns die Führung gegeben hat und daß daraus eine große Enttäuschung geworden ist —«

»Wie bist du eigentlich zu ihm gekommen?« unterbrach ihn Ulrich lächelnd.

»Gott, das hat sich so gefügt, wie er von seinen böhmischen Gütern zurückgekehrt ist« meinte Stumm, ohne darauf näher einzugehen. »Überdies hat er dich dreimal zu sich bitten lassen, ohne daß du hingegangen bist. ,Sie sind doch sein Freund, warum kommt er nicht, wenn ich ihn rufe?' Und mir ist nichts anderes übriggeblieben als ihm anzubieten: ,Wenn Sie mir etwas anzuvertrauen wünschen, werde ich es ihm ausrichten!'«

Stumm machte eine Pause.

»Und was —?« fragte Ulrich.

»Nun du weißt, daß es nie ganz einfach zu verstehen ist, was er meint. Zuerst hat er mir von der Französischen Revolution erzählt. Die Französische Revolution hat bekanntlich vielen Adligen die Köpfe abgeschlagen, und das findet er merkwürdigerweise richtig, obgleich er in B ... beinahe mit Steinen beworfen worden wäre. Denn er sagt, das Ancien Regime hat seine Fehler gehabt und ciie Französische Revolution ihre wahren Gedanken. Aber was ist schließlich aus aller Anstrengung entstanden? das fragt er sich. Und da sagte er Folgendes: Heute ist zum Beispiel die Post besser und schneller, aber früher, solange die Post noch langsam war, hat man bessere Briefe geschrieben. Oder: Heute ist die Kleidung praktischer und weniger lächerlich, aber früher, wo sie noch eine Maskerade war, hat man entschieden besseres Material darauf verwendet. Und er gibt zu, daß er für größere Fahrten selbst ein Automobil benutzt, weil es schneller und bequemer ist als ein Pferdefuhrwerk, aber er behauptet, daß diese Federbüchse auf vier Rädern dem Fahren die wahre Vornehmheit genommen hat. Und alles das ist komisch, mein ich, aber es ist wahr. Hast du nicht selbst einmal gesagt, beim menschlichen Fortschritt rutscht immer ein Bein zurück, wenn das andere vorrutscht? Unwillkürlich hat heute jeder von uns etwas gegen den Fortschritt. Und der Leinsdorf hat zu mir gesagt: ,Herr General, früher haben unsere jungen Leute von Pferden und Hunden gesprochen, und heute sprechen die Fabrikantensöhne von Pferdestärken und Chassis. So hat der Liberalismus seit der Verfassung von 61 den Adel auf die Seite geschoben, aber alles ist voll neuer Korruption, und wenn wider Erwarten doch einmal die Soziale Pf vo'ution kommen wird, so wird sie den Fabrikantensöhnen den Kopf abschlagen, aber besser wird es auch nicht werden!' Man hat den Eindruck, es kocht etwas in ihm über! Bei einem andern möcht man ja vielleicht meinen, er weiß nicht, was er will.«

»Aber vorderhand sind wir doch erst bei der Nationalen Revolution? Weißt du, was er will?« fragte Ulrich.

»Die Drangsal hat nach der Geschichte in B ... versucht, ihm sagen zu lassen: jetzt müßte man sich erst recht zum Menschen bedingungslos hinreißen lassen, und der Feuermaul soll geäußert haben, besser sei es, als Österreicher des Widerstandes der Nationalitäten nicht Herr zu werden, denn als Reichsdeutscher sein Land in einen Truppenübungsplatz zu verwandeln. Darauf erwidert er nur, daß das keine Realpolitik sei. Er verlangt eine Kraftkundgebung; das heißt, natürlich soll es auch eine Liebeskundgebung sein, das war ja die ursprüngliche Idee der Parallelaktion. ,Herr General,' das waren seine Worte ,wir müssen unsere Einigkeit kundgeben; das ist weniger widerspruchsvoll, als es den Anschein hat, aber auch weniger einfach!'«

Bei dieser Mitteilung vergaß sich Ulrich und gab eine ernstere Antwort. »Sag einmal,« fragte er »kommt dir denn nie das Gerede um die Parallelaktion etwas kindlich vor?«

Stumm sah ihn erstaunt an. »Das schon« erwiderte er zögernd. »Wenn ich so mit dir spreche oder mit dem Leinsdorf, kommt es mir manchmal vor, ich rede wie ein Jüngling oder du philosophierst über die Unsterblichkeit der Maikäfer; aber das kommt doch von dem Thema? Wo es um erhabene Aufgaben geht, hat man ja nie das Gefühl, so reden zu dürfen, wie man wirklich ist!?«

Agathe lachte.

Stumm lachte mit. »Ich lache ja auch, Gnädigste!« versicherte er weltklug, doch dann kehrte in sein Gesicht wieder Wichtigkeit zurück, und er fuhr fort: »Aber streng genommen ist es gar nicht so falsch, was der erlauchtige Herr meint. Was verstehst du zum Beispiel unter Liberalismus?« — mit diesen Worten wandte er sich nun wieder an Ulrich, wartete aber keine Antwort ab, sondern fuhr neuerlich fort: »Ich meine halt so, daß man die Leute sich selbst überläßt. Und es wird dir natürlich auch aufgefallen sein, daß das jetzt aus der Mode kommt. Es ist ein Pallawatsch daraus entstanden, wie man so sagt. Aber ist es nur das? Mir kommt vor, die Leute wollen noch etwas. Sie sind nicht mit sich zufrieden. Ich ja auch; ich war früher ein liebenswürdiger Mensch. Man hat eigentlich nichts getan, aber man war mit sich zufrieden. Der Dienst war nicht schlimm, und außer Dienst hat man Ekart6 gespielt oder ist auf die Jagd gefahren, und bei dem allen war eine gewisse Kultur. Eine gewisse Einheitlichkeit. Kommt es dir nicht auch so vor? Und warum ist das heute nicht mehr so? Ich glaube, soweit ich nach mir urteilen darf, man fühlt sich zu gescheit. Will man ein Schnitzel essen, so fällt einem ein, daß es Leute gibt, die keins haben. Steigt einer einem schönen Mäderl nach, so fährt ihm plötzlich durch den Kopf, daß er eigentlich über die Beilegung irgend eines Konflikts nachzudenken hätte. Das ist eben der unleidliche Intellektualismus, den man heute niemals los wird, und darum geht es nirgends vorwärts. Und ohne es selbst zu wissen, wollen die Leute wieder etwas. Das heißt also, sie wollen nicht mehr einen komplizierten Intellekt, sie wollen nicht tausend Möglichkeiten zu leben; sie wollen mit dem zufrieden sein, was sie ohnehin tun, und dazu braucht es einfach wieder einen Glauben oder eine Überzeugung oder — also, wie soll man das bezeichnen, was sie dazu brauchen? zu dieser Frage möchte ich jetzt deine Meinung hören!«

Aber das war nur Selbstgenuß des lebhaft angeregten Stumm, denn ehe Ulrich auch nur das Gesicht verziehen konnte, kam schon seine Überraschung. »Man kann es natürlich ebensogut Glauben wie Überzeugung nennen, aber ich habe viel darüber nachgedacht und nenne es lieber: Eingeistigkeit!«

Stumm machte eine Pause, die der Einnahme des Beifalls dienen sollte, ehe er weiteren Einblick in seine Geisteswerkstatt gab, und dann mischte sich in den gewichtigen Ausdruck seines Gesichts noch ein ebensowohl überlegener als auch genußmüder. ;»Wir haben ja früher öfter über die Probleme der Ordnung gesprochen« erinnerte er seinen Freund »und brauchen uns infolgedessen heute nicht dabei aufzuhalten. Also Ordnung ist gewissermaßen ein paradoxer Begriff. Jeden anständigen Menschen verlangt es nach innerer und äußerer Ordnung, aber anderseits verträgt man auch nicht zu viel von ihr, ja eine vollkommene Ordnung wäre sozusagen der Ruin alles Fortschritts und Vergnügens. Das liegt sozusagen im Begriff der Ordnung. Und darum muß man sich sagen: was ist denn überhaupt Ordnung? Und wie kommt es denn, daß wir uns einbilden, ohne Ordnung nicht existieren zu können? Und was für eine Ordnung suchen wir denn? Eine logische, eine praktische, eine persönliche, eine allgemeine, eine Ordnung des Gefühls, eine des Geistes oder eine des Handelns? De fakto gibt es ja eine Menge Ordnungen durcheinander; die Steuern und Zölle sind eine, die Religion eine andere, das Dienstreglement eine dritte, und man wird gar nicht fertig mit dem Aufsuchen und Aufzählen. Damit habe ich mich sehr beschäftigt, wie du weißt, und ich glaube nicht, daß es auf der Welt viele Generale geben wird, die ihren Beruf so ernst nehmen, wie ich es in diesem letzten Jahr habe tun müssen. Ich habe auf meine Weise nach einer umfassenden Idee suchen helfen, aber du selbst hast schließlich verkündet, daß man zur Ordnung des Geistes ein ganzes Weltsekretariat brauchen möchte, und auf eine solche Ordnung, das wirst du selbst zugeben, kann man nicht warten! Aber anderseits darf man auch nicht deshalb jeden gewähren lassen!«

Stumm lehnte sich zurück und schöpfte Luft. Das Schwerste war jetzt gesagt, und er fühlte das Bedürfnis, sich bei Agathe für die finstere Sachlichkeit seines Benehmens zu entschuldigen, was er mit den Worten tat: »Gnädigste verzeihen schon, aber ich habe mit Ihrem Bruder eine alte und schwere Abrechnung gehabt; jetzt aber wird es auch für Damen geeigneter, denn jetzt bin ich wieder dort, wo ich gewesen bin, daß die Leute keinen komplizierten Intellekt brauchen können, sondern daß sie glauben und überzeugt sein möchten. Wenn man das nämlich analysiert, so kommt man darauf, daß es bei der Ordnung, die der Mensch anstrebt, das letzte ist, ob man sie mit der Vernunft billigen kann oder nicht; es gibt auch völlig unbegründete Ordnungen, zum Beispiel gleich, daß beim Militär, was immer behauptet wird, immer der Vorgesetzte recht hat, das heißt natürlich, so lange nicht ein noch höherer dabei ist. Wie habe ich mich, als ich ein junger Offizier war, darüber aufgehalten, daß das eine Schändung der Ideenwelt ist! Und was sehe ich heute? Heute nennt man es das Prinzip des Führers —«

»Wo hast du das her?« fragte Ulrich, den Vortrag unterbrechend, denn er hatte einen bestimmten Verdacht, daß diese Gedanken nicht nur aus einem Gespräch mit Leinsdorf geschöpft seien.

»Es verlangen doch alle nach starker Führung! Und außerdem aus dem Nietzsche naturlich und seinen Auslegern« entgegnete Stumm flink und wohlbeschlagen. »Da wird doch bereits eine doppelte Philosophie und Moral verlangt: für Führer und für Geführte! Aber wenn wir schon einmal beim Militär sind, muß ich überhaupt sagen, daß sich das Militär nicht nur an und für sich als ein Element der Ordnung bewährt, sondern daß es sich immer auch dann noch zur Verfügung stellt, wenn alle andere Ordnung versagt!«

»Die entscheidenden Dinge vollziehen sich eben über den Verstand hinweg, und die Größe des Lebens wurzelt im Irrationalen!« führte Ulrich aus und ahmte aus dem Gedächtnis seine Kusine Diotima nach.

Der General verstand es sofort, nahm es aber nicht übel. »Ja, so hat sie gesprochen, Ihre Frau Kusine, ehe sie noch die Kundgebungen der Liebe sozusagen zu sehr im besonderen suchte.« Er wandte sich mit dieser Erklärung an Agathe.

Agathe schwieg und lächelte.

Stumm wandte sich wieder Ulrich zu: »Ich weiß nicht, ob es zu dir der Leinsdorf vielleicht auch schon gesagt hat, jedenfalls ist es hervorragend richtig; er behauptet nämlich, daß es an einem Glauben die Hauptsache ist, daß man immer dasselbe glaubt. Das ist ungefähr das, was ich eben Eingeistigkeit nenne. ,Kann das aber das Zivil?' habe ich ihn gefragt. ,Nein,' habe ich gesagt ,das Zivil trägt jedes Jahr andere Anzüge, und alle paar Jahre finden Parlamentswahlen statt, damit es jedesmal anders wählen kann: der Geist der Eingeistigkeit ist viel eher beim Militär zu finden.'«

»Du hast also Leinsdorf überzeugt, daß ein gesteigerter Militarismus die wahre Erfüllung seiner Absichten wäre?«

»Aber Gott bewahre, ich habe kein Wort gesagt! Wir haben uns bloß geeinigt, daß wir auf den Feuermaul künftighin verzichten, weil seine Ansichten zu unbrauchbar sind. Und im übrigen hat mir der Leinsdorf eine Reihe Aufträge an dich mitgegeben —«

»Das ist überflüssig!«

»Du sollst ihm rasch eine Verbindung zu sozialen Kreisen verschaffen —«

»Der Sohn meines Gärtners ist ein eifriges Parteimitglied, mit dem kann ich dienen —!«

»Aber meinetwegen! Es muß ja ohnehin nur aus Gewissenhaftigkeit geschehn, weil er sich das einmal in dtn Kopf gesetzt hat. Das zweite ist, daß du ihn so bald wie möglich aufsuchen möchtest —«

»Ich reise nächster Tage ab!«

»Also eben gleich, wenn du wieder zurück bist —«

»Ich komme wahrscheinlich überhaupt nicht zurück!«

Stumm von Bordwehr sah Agathe an; Agathe lächelte, und er fühlte sich dadurch ermuntert. »Verrückt?« fragte er.

Agathe zuckte ungewiß die Schultern.

»Also ich fasse es noch einmal zusammen —« sagte Stumm.

»Unser Freund hat genug von der Philosophie!« unterbrach ihn Ulrich.

»Das kannst du doch von mir gewiß nicht behaupten!« verteidigte sich Stumm empört. »Wir können bloß nicht auf die Philosophie warten. Ich stehe nicht an zu behaupten, daß eine wirklich gewaltige Lebensanschauung nicht erst auf den Verstand warten darf; im Gegenteil, eine wirkliche Lebensanschauung muß geradezu gegen den Verstand gerichtet sein, sonst kommt sie nicht in die Lage, daß sie ihn sich unterwerfen kann. Und eine solche Eingeistigkeit sucht das Zivil im beständigen Wechsel, das Militär hat aber sozusagen eine dauernde Eingeistigkeit! Gnädigste —« unterbrach Stumm seinen Eifer »dürfen nicht glauben, daß ich ein Militarist bin; mir ist das Militär, ganz im Gegenteil, immer sogar ein bißl zu roh gewesen: Aber die Logik dieser Gedanken packt einen so, wie wenn man mit einem großen Hund spielt: erst beißt er im Spaß, und dann kommt er hinein und wird wild. Und ich möchte Ihrem Bruder sozusagen eine letzte Gelegenheit einräumen —«

»Und wie bringst du die Kundgebung der Kraft und Liebe damit in Zusammenhang?« fragte Ulrich.

»Gott, das habe ich inzwischen vergessen« erwiderte Stumm. »Aber natürlich sind diese nationalen Ausbrüche, die wir jetzt in unserem Vaterland erleben, irgendwie Kraftausbrüche einer unglücklichen Liebe. Und auch auf diesem Gebiet, in der Synthese von Kraft und Liebe, ist das Militär gewissermaßen vorbildlich. Irgendeine Vaterlandsliebe muß der Mensch haben, und wenn er sie nicht zum Vaterland hat, so hat er sie eben zu etwas anderem. Das braucht man also bloß einzufangen. Als Beispiel dafür fällt mir in diesem Augenblick das Wort Einjährig-Freiwilliger ein: Wer denkt daran, daß ein Einjähriger ein Freiwilliger ist: Er am allerwenigsten. Und doch war ers und ist e/s nach dem Sinn des Gesetzes. In so einem Sinn muß man die Menschen eben alle wieder zu Freiwilligen machen!«

3

 

Agathe findet Ulrichs Tagebuch.

 

Dieweil Ulrich dem Fortgehenden selbst das Geleite gab, führte Agathe, dem inneren Tadel zum Trotz, etwas aus, das sie sich blitzartig vorgenommen hatte. In einer Lade des Arbeitstisches waren ihr schon vor der Unterbrechung durch Stumm lose liegende Papiere aufgefallen, und dann ein zweites Mal in seiner Gegenwart; und zwar beidemal durch eine unterdrückte Bewegung ihres Bruders, die den Eindruck hervorgerufen hatte, er wolle sich im Gespräch auf diese Papiere berufen, könne sich aber nicht dazu entschließen, ja verwehre es sich mit Vorsatz. Ihre Vertrautheit mit ihm hatte sie das mehr erahnen als begründet erraten lassen; und auf die gleiche Weise verstand sie auch, daß sich das Verhohlene auf sie und ihn beziehen müsse. Darum öffnete sie die Lade, nachdem er kaum das Zimmer verlassen hatte, und tat dies, mochte es berechtigt sein oder nicht, in einem Gefühl, das rasche Entscheidungen fordert und moralische Bedenken nicht zuläßt. Aber die vielfach durchstrichenen, lose zusammenhängenden und nicht immer leicht zu entziffernden Aufzeichnungen, die ihr in die Hand fielen, zwangen ihrer leidenschaftlichen Neugierde alsbald ein langsames Zeitmaß auf.

»Ist Liebe ein Gefühl? Diese Frage mag im ersten Augenblick unsinnig wirken, so gewiß scheint es zu sein, daß die ganze Natur der Liebe ein Fühlen sei; umso mehr überrascht die richtige Antwort: denn das Gefühl ist wahrhaftig das wenigste an der Liebe! Bloß als solches betrachtet, ist sie – kaum so heftig und mächtig und jedenfalls weniger deutlich ausgeprägt als ein Zahnschmerz.«

Der zweite, ebenso wunderliche Vermerk lautete: »Ein Mann vermag seinen Hund und seine Frau zu lieben. Ein Kind kann einen Hund zärtlicher lieben als ein Mann seine Frau. Jemand liebt seinen Beruf, ein anderer die Politik. Am meisten lieben wir wohl allgemeine Zustände; ich meine – wenn wir sie nicht gerade hassen – jenes undurchschaubare Zusammenwirken von ihnen, das ich ›das Stallgefühl‹ nennen mag: wir sind erfreut in unserem Leben zu Hause wie ein Pferd in seinem Stall!

Aber was bedeutet es, alles dieses, das so verschieden ist, mit dem gleichen Wort ›lieben‹ zu verbinden?! Da hat sich in meinem Kopf, neben Zweifel und Spott, ein uralter Gedanke niedergelassen: Alles in der Welt ist Liebe! Liebe ist das sanfte, göttliche, von Asche verdeckte, aber unauslöschliche Wesen der Welt! Ich wüßte nicht zu sagen, was ich unter ›Wesen‹ verstehe; aber wenn ich mich ohne Sorge dem ganzen Gedanken überlasse, empfinde ich ihn mit einer merkwürdig natürlichen Gewißheit. Wenigstens für Augenblicke.«

Agathe errötete, denn die nächsten Eintragungen begannen mit ihrem Namen. »Agathe hat mir einmal Bibelstellen gezeigt; ich erinnere mich noch ungefähr an den Wortlaut und habe mir vorgenommen, ihn aufzuschreiben: ›Alles, was in der Liebe geschieht, geschieht in Gott. Denn Gott ist Liebe.‹ Und eine zweite sagte: ›Die Liebe ist von Gott, und wer Gott liebt, der ist von Gott geboren.‹ Diese beiden Stellen stehen offensichtlich miteinander in Widerspruch: das eine Mal kommt die Liebe von Gott, das andre Mal ist sie Gott selbst!

Die Versuche, das Verhältnis der ›Liebe‹ zur Welt auszudrücken, scheinen also selbst den Erleuchteten nicht wenig Schwierigkeiten zu machen; wie sollte da nicht erst der unbelehrte Verstand versagen! Daß ich sie das Wesen der Welt genannt habe, ist nichts als Ausrede gewesen: es läßt all die Wahl offen, daß ich sage, diese Feder und dieser Tintennapf, mit denen ich schreibe, beständen in Wahrheit aus Liebe oder sie täten es in Wirklichkeit. Denn wie in Wirklichkeit? Bestünden sie dann aus Liebe, oder wären sie deren Folge, ausgestaltende Erscheinung oder Andeutung? Sind sie selbst, schon sie selbst, Liebe, oder ist das erst ihre Gesamtheit? Sollen sie von Natur Liebe sein, oder ist von der Wirklichkeit einer Übernatur die Rede? Und wie verhält es sich mit dem: in Wahrheit? Ist das eine Wahrheit für den geschärfteren Verstand oder eine für den begnadeten Unverstand? Ist es die Wahrheit des Denkens oder eine unvollständige symbolische Beziehung, die erst in der um Gott versammelten Universalität der Geistesgeschehnisse ihre Bedeutung voll enthüllen wird? Was davon habe ich gesagt? Ungefähr nichts und alles!

Ebensogut hätte ich von der Liebe auch sagen können, daß sie die göttliche Vernunft, der neuplatonische Logos sei. Ebensogut anderes: Liebe ist der Schoß der Welt; der sanfte Schoß des sich selbst nicht begreifenden Geschehens. Und abermals verschieden: O Meer der Liebe, von dem nur der Ertrinkende, nicht der Darüberfahrende weiß! Alle diese hinweisenden Rufe fristen ihre Bedeutung bloß davon, daß einer so wenig Wort hält wie der andere.

Am ehrlichsten ist das Gefühl: wie winzig ist die Erde im Himmelsraum, und wie ist der Mensch, nichtiger als das kleinste Kind, auf Liebe angewiesen! Aber das ist nichts als der nackte Schrei nach ihr, und keine Spur von Antwort!