Der Mann ohne Eigenschaften. Band Vier - Robert Musil - E-Book

Der Mann ohne Eigenschaften. Band Vier E-Book

Robert Musil

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Beschreibung

Wir schreiben das Jahr 1913, und die Wiener High Society ist entschlossen, das siebzigjährige Jubiläum der Thronbesteigung von Kaiser Franz Josef angemessen zu feiern. Doch während die Aristokratie versucht, aus dem Zusammenbruch der österreichisch-ungarischen Monarchie etwas Glänzendes zu retten, gibt es in der gewöhnlichen Wiener Welt erste Anzeichen einer ernsthaften Rebellion. Inmitten dieses sozialen Labyrinths befindet sich Ulrich: jung, reich, Ex-Soldat, Verführer und Wissenschaftler. Unfähig, sich vorzumachen, dass das Sammelsurium an Eigenschaften und Werten, das ihm seine Welt verliehen hat, so etwas wie einen angeborenen “Charakter” darstellt, ist er tatsächlich ein Mann “ohne Eigenschaften”, ein brillanter, distanzierter Beobachter der sich drehenden, rasenden Gesellschaft um ihn herum. Ulrich selbst weiß nur, dass er allen seinen Eigenschaften gegenüber seltsam gleichgültig ist. Das Fehlen eines tiefen Wesens und die Zweideutigkeit als allgemeine Lebenseinstellung sind seine Hauptmerkmale. Bekannt geworden ist das Buch vor allem durch das Motiv der inzestuösen Geschwisterliebe, die sich zwischen Ulrich und seiner Schwester Agathe im späteren Verlauf der Geschichte zunächst zaghaft entwickelt und durch welche beide letztlich hoffen, ein anderes mystisches Leben verwirklichen zu können. Wir lernen außerdem den Mörder und Vergewaltiger Moosbrugger kennen, der für den Mord an einer Prostituierten verurteilt wird. Weitere Protagonisten sind Ulrichs Geliebte Bonadea und Clarisse, die neurotische Frau seines Freundes Walter, deren Weigerung, sich mit der alltäglichen Existenz abzufinden, in den Wahnsinn führt. “Der Mann ohne Eigenschaften” von Robert Musil ist teils Satire, teils visionäres Epos, teils intellektuelle Tour de Force – ein Werk von unermesslicher Bedeutung. Mit der Ausgabe des apebook Verlags wird der Versuch unternommen, auf Grundlage der Textanordnung durch den späteren Herausgeber Adolf Frisé und bei gleichzeitiger Streichung allzu stichpunktartiger und loser assoziativer Notizen in den entsprechenden Entwürfen, Studien und Fragmenten Musils, eine möglichst stringente Lesefassung des unvollendeten Romans anzubieten, bei der alle Kapitel vorhanden sind. Zwar kann man auch dadurch nicht über einen bloß skizzierten Schluss des Romans hinauskommen, aber es gelingt auf diese Weise doch, sozusagen einen möglichen roten Faden der Erzählführung erkennbar werden zu lassen. Dies ist der vierte von insgesamt fünf Bänden.

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Seitenzahl: 383

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Robert Musil

 

Der Mann ohne Eigenschaften

 

 

Roman

 

 

 

Überarbeitete Neuausgabe

in fünf Bänden

 

 

 

Band Vier

 

mit ursprünglich unveröffentlichten Fortsetzungen

aus dem Nachlass

DER MANN OHNE EIGENSCHAFTEN wurde zuerst in drei Bänden veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Berlin 1930 (Bd. 1) u. 1933 (Bd. 2) sowie Lausanne 1943 (Bd. 3).

Diese Ausgabe in fünf Bänden wurde aufbereitet und herausgegeben von

© apebook Verlag, Essen (Germany)

www.apebook.de

1. Auflage 2022

 

V 1.0

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.d-nb.de abrufbar.

 

 

Band Vier

ISBN 978-3-96130-507-0

 

Buchgestaltung: SKRIPTART, www.skriptart.de

 

 

Books made in Germany with

 

 

 

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Robert Musil

DER MANN OHNE EIGENSCHAFTEN

 

BAND EINS | BAND ZWEI | BAND DREI | BAND VIER | BAND FÜNF

 

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Inhaltsverzeichnis

Der Mann ohne Eigenschaften. Band Vier

Impressum

Fortsetzung des dritten Teils

Aus dem Nachlass

1

Nach der Begegnung.

2

Der Tugut.

3

Die Geschwister am nächsten Morgen.

4

Auf der Himmelsleiter in eine fremde Wohnung.

5

Der Tugut und der Tunichtgut. Aber auch Agathe.

6

Eine gewaltige Aussprache.

7

Beginn einer Reihe wundersamer Erlebnisse.

8

Mondstrahlen bei Tage.

9

Wandel unter Menschen.

10

Eine auf das Bedeutende gerichtete Gesinnung und beginnendes Gespräch darüber.

11

General von Stumm über die Genialität.

12

Genialität als Frage.

13

Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.

14

Gespräche über Liebe.

15

Schwierigkeiten, wo sie nicht gesucht werden.

16

Es ist nicht einfach zu lieben.

17

Atemzüge eines Sommertags.

18

Das Sternbild der Geschwister oder Die Ungetrennten und Nichtvereinten.

19

Sonderaufgabe eines Gartengitters.

20

Die Sonne scheint auf Gerechte und Ungerechte.

21

Versuche, ein Scheusal zu lieben.

22

Nachdenken.

23

Frühspaziergang.

24

General von Stumm und Clarisse.

25

Laubumkränzter Waffenstillstand zwischen Walter und Clarisse.

26

Ein Blatt Papier. Ulrichs Tagebuch.

27

Eine Eintragung. Entwurf zur Utopie des motivierten Lebens.

28

Das Ende der Eintragung. Lebende Gedanken.

Eine kleine Bitte

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Zu guter Letzt

Fortsetzung des dritten Teils

 

Aus dem Nachlass

1

 

Nach der Begegnung.

 

Der Mann, der am Grab des Dichters in Agathes Leben getreten war, Professor August Lindner, sah, talwärts steigend, Bilder der Rettung vor sich.

Hätte sie ihm beim Abschied nachgeblickt, so wäre ihr der stocksteif den steinigen Weg hinabtänzelnde Gang dieses Mannes aufgefallen, denn es war ein eigenartig heiterer, stolzer, und doch ängstlicher Gang. Lindner trug seinen Hut in der Hand und strich sich zuweilen übers Haar; so wohlig frei war ihm zumute geworden.

»Wie wenig Menschen« sprach er zu sich selbst »haben eine wahrhaft mitfühlende Seele!« Er malte sich eine Seele aus, die sich ganz in den Mitmenschen hineinzuversetzen vermöchte, seine verborgensten Schmerzen mitleiden und sich in seine tiefe Schwäche hinablassen könnte: »Welche Aussicht ist das!« rief er sich zu. »Welch eine wunderbare Nähe göttlichen Erbarmens, welcher Trost und welcher Feiertag!« Sodann fiel ihm aber ein, wie wenig Menschen es gebe, die ihrem Nebenmenschen auch nur aufmerksam zuzuhören vermöchten; denn er gehörte zu den Gutgesinnten, die vom Hundertsten ins Hundertstel kommen, ohne einen Unterschied daran zu finden. »Wie wenig ernst gemeint sind zum Beispiel die gewöhnlichen Fragen nach unserem Wohlergehen« dachte er. »Man braucht bloß einmal ausführlich zu antworten, wie einem wirklich ums Herz ist, und sieht sich bald genug einem gelangweilten und geistesabwesenden Blick gegenüber!«

Nun, er hatte sich dieses Fehlers nicht schuldig gemacht! Nach seinen Grundsätzen war, den Schwachen zu schützen, die notwendige und besondere Gesundheitslehre des Starken, der ohne solche wohltuende Selbstbeschränkung allzu leicht der Roheit verfällt; und auch die Bildung bedurfte des Liebeswerks gegen die ihr einwohnenden Gefahren. »Wer uns bedeuten will, was ›universelle Bildung‹ sei« – bestätigte er sich nun durch innerlichen Zuruf, von einem plötzlich gegen seinen pädagogischen Fachgenossen Hagauer geschleuderten Blitz köstlich erfrischt – »dem sollte wahrhaftig zuerst geraten werden: erfahre, wie dem anderen zumute ist! Durch Mitleid wissend, es bedeutet tausendmal mehr, als durch Bücher wissend sein!« Anscheinend war es eine alte Meinungsverschiedenheit, was er da einerseits an dem liberalen Begriff der Bildung, andererseits an der Gattin seines Amtsbruders ausließ, denn Lindners Brillen blickten wie zwei Schilde eines doppelgewaltigen Kämpfers in die Runde. In Agathes Gegenwart war er befangen gewesen; wenn sie ihn dagegen jetzt gesehen hätte, wäre er ihr wie ein Offizier vorgekommen, aber wie ein Offizier einer keineswegs leichtsinnigen Truppe. Denn eine wahrhaft männliche Seele ist hilfsbereit, und sie ist hilfsbereit, weil sie männlich ist. Er warf die Frage auf, ob er angesichts der schönen Frau richtig gehandelt habe, und erwiderte sich: »Es wäre falsch, wenn die stolze Forderung der Unterordnung unter das Gesetz denen überlassen bliebe, die zu schwach dafür sind; und es wäre ein entmutigender Anblick, wenn bloß geistlose Pedanten die Hüter und Bildner der Sitte sein dürften; darum ist den Lebendigen und Starken die Pflicht auferlegt, aus ihrem Kraft- und Gesundheitsinstinkt nach Zucht und Grenze zu verlangen: sie müssen die Schwachen stützen, die Gedankenlosen rütteln und die Zügellosen anhalten!« Er hatte den Eindruck, es getan zu haben.

So wie die fromme Seele der Heilsarmee sich der Uniform und militärischer Gebräuche bedient, hatte Lindner gewisse soldatische Gedankenformen in seinen Dienst genommen, ja er scheute nicht einmal vor Zugeständnissen an den »Machtmenschen« Nietzsches zurück, der dem bürgerlichen Geiste jener Zeit noch ein Stein des Anstoßes, Lindner aber auch ein Wetzstein war. Er pflegte von Nietzsche zu sagen, man könne nicht behaupten, daß er ein schlechter Mensch gewesen wäre, wohl aber seien seine Lehren übertrieben und lebensfremd, und der Grund liege darin, daß er das Mitleid verwerfe; denn so habe er nicht die wunderbare Gegengabe des Schwachen erkannt, daß dieser den Starken zart mache! Und seine eigenen Erfahrungen dem nun entgegensetzend, dachte er voll froher Absicht: »Die wahrhaft großen Menschen huldigen keineswegs einem öden Ichkultus, sondern sie erzeugen in den anderen das Gefühl ihrer Erhabenheit dadurch, daß sie sich zu ihnen hinabbeugen, ja, wenn es sein muß, für sie opfern!« Er blickte einem jungen Liebespaar, das, sehr verschlungen, herauf- und ihm entgegenkam, siegesgewiß und mit freundlichem Tadel, der zur Tugend ermuntern sollte, in die Augen. Es war aber ein recht ordinäres Liebespaar, und der junge Strolch, der seinen männlichen Teil bildete, kniff die Augenlider zusammen, als er diesen Blick erwiderte, streckte unvermittelt die Zunge heraus und sagte: »Bäh!« Lindner, der auf diese Verhöhnung und gemeine Drohung nicht vorbereitet war, erschrak: aber er tat, als bemerke er sie nicht. Er liebte die Tatkraft, und sein Blick suchte nach einem Schutzmann, der in der Nähe sein sollte, die öffentliche Sicherheit der Ehre zu gewährleisten; aber sein Fuß stieß dabei an einen Stein, die hastige Bewegung des Stolperns scheuchte einen Schwarm Sperlinge auf, der sich an Gottes Tisch über einem Haufen Pferdemist gütlich getan hatte, das Aufschwirren der Spatzen warnte Lindner und ließ ihn im letzten Augenblick, ehe er schmählich stürzte, mit einer tänzerisch bemäntelten Bewegung über das Doppelhindernis hinweghüpfen. Er blickte nicht zurück, und nach einer Weile war er sehr zufrieden mit sich. »Fest wie ein Diamant und zart wie eine Mutter muß man sein!« dachte er mit einer alten Definition aus dem siebzehnten Jahrhundert.

Er hätte, da er auch die Tugend der Bescheidenheit schätzte, zu keiner andern Zeit etwas Ähnliches in Ansehung seiner selbst behauptet, aber solche Erregung des Blutes ging von Agathe aus! Hinwieder bildete es den negativen Pol seiner Gefühle, daß dieses himmlisch zarte Weib, das er in Tränen gefunden hatte, wie der Engel die Magd im Tau – oh, er wollte sich nicht überheben, aber wie doch Nachgiebigkeit gegen Poesie gleich überheblich macht! – er fuhr darum strenger fort: daß diese unselige Frau im Begriffe stand, ein in die Hand Gottes abgelegtes Gelübde zu brechen; denn als das sah er ihr Begehren nach Ehescheidung an. Er hatte es ihr leider nicht mit der erforderlichen Entschiedenheit von Angesicht zu Angesicht – Gott, welche Nähe nun wieder in diesen Worten! – er hatte es ihr also leider nicht entschieden genug vorgestellt; er entsann sich bloß, im allgemeinen von zu lockeren Sitten und den Schutzmitteln gegen sie gesprochen zu haben. Der Name Gottes war übrigens dabei gewiß nicht über seine Lippen gekommen, es wäre denn als inhaltslose Redensart; und die Ungezwungenheit, der unbefangene, man mochte geradezu sagen, der respektlose Ernst, womit ihn Agathe gefragt hatte, ob er an Gott glaube, verletzte ihn selbst noch in der Erinnerung. Denn der wahrhaft Fromme gestattet sich nicht, einfach einem Einfall zu folgen und in roher Unverhülltheit an Gott zu denken. Ja, in dem Augenblick, wo sich Lindner dieser Zumutung entsann, verabscheute er Agathe, als wäre er auf eine Schlange getreten. Er faßte den Beschluß, sollte er je in die Lage kommen, seine Ermahnungen bei ihr zu wiederholen, durchaus nur die kräftige Vernunft walten zu lassen, die den irdischen Angelegenheiten angemessen und deshalb auf der Welt sei, weil nicht jeder ungezogene Mensch mit seinen längst entschiedenen Verwirrungen Gott bemühen dürfe; und darum begann er sich ihrer auch gleich jetzt zu bedienen, und es fiel ihm manches Wort ein, das einer Strauchelnden zu sagen wäre. Zum Beispiel, daß die Ehe keine Privatangelegenheit, sondern eine öffentliche Einrichtung sei; daß sie die erhabene Aufgabe habe, das Verantwortlichkeits- und Mitgefühl zu entfalten, und die ein Volk stählende Aufgabe, den Menschen auch im Ertragen von harten Schwierigkeiten zu üben; ja vielleicht, wenngleich es nur mit größtem Taktgefühl anzubringen wäre, daß sie gerade bei längerer Dauer auch den besten Schutz gegen das Übermaß der Begierde darstelle. Er hatte vom Menschen vielleicht nicht mit Unrecht die Vorstellung eines Sackes voll Teufel, der fest zugebunden werden müsse, und den Bund sah er in unerschütterlichen Grundsätzen. Wie dieser teilnahmsvolle Mann, dessen körperliches Teil, außer in der Länge, in keiner Richtung überschüssig geraten war, die Überzeugung erlangt hatte, daß man sich auf Schritt und Tritt bezähmen müsse, das war freilich ein Rätsel, das sich erst dann leicht löste, wenn man den Vorteil kannte. Als er schon am Fuß der Hügel angelangt war, kreuzte ein Zug Soldaten seine Bahn, und er sah mit zärtlicher Rührung auf die verschwitzten jungen Männer, die ihre Kappen in die Nacken geschoben hatten und mit ihren von Ermüdung abgestumpften Gesichtern wie ein Zug verstaubter Raupen aussahen. Sein Abscheu vor dem Leichtsinn, womit Agathe die Frage der Ehescheidung behandelt hatte, wurde bei diesem Anblick träumerisch durch eine Freude daran gemildert, daß solches seinem freigeistigen Fachgenossen Hagauer widerfahren solle, und diese Regung war immerhin geeignet, ihn wieder an das unentbehrliche Mißtrauen gegen die menschliche Natur zu erinnern. Er nahm sich also vor, Agathe – sollte sich die Gelegenheit dazu wirklich und ohne sein Verschulden noch einmal darbieten – unnachsichtig vor Augen zu führen, daß die ichsüchtigen Kräfte letzten Endes doch nur zerstörend wirken, und daß sie ihre persönliche Verzagtheit, mochte sie noch so groß sein, der sittlichen Erkenntnis unterzuordnen habe, daß der wahre Prüfstein des Lebens erst das Zusammenleben ist.

Aber ob sich die Gelegenheit dazu noch einmal darbieten werde, war offenbar erst der Punkt, wohin die geistigen Kräfte Lindners so angeregt drängten. »Es gibt viele Menschen mit edlen Eigenschaften, die bloß noch nicht in einer unerschütterlichen Überzeugung gesammelt sind« gedachte er Agathe zu sagen; aber wie sollte er es tun, wenn er sie nicht wiedersähe; und doch widerstritt der Gedanke, daß sie ihn aufsuchen könnte, allen seinen Vorstellungen von zarter und unberührter Weiblichkeit. »Man müßte es ihr denn mit aller Entschiedenheit sogleich vor Augen halten!« nahm er sich vor, und weil er nun einmal diesen Vorsatz gefaßt hatte, zweifelte er auch nicht mehr daran, daß sie wirklich kommen werde. Er ermahnte sich lebhaft, die Gründe, die sie zu ihrer Entschuldigung anführen sollte, selbstlos mit ihr zu durchleben, ehe er sie von ihren Irrtümern überzeuge. Mit unbeirrbarer Geduld wollte er sie ins Herz treffen, und nachdem er sich auch das vorgestellt hatte, senkte sich ein edles Gefühl brüderlicher Achtsamkeit und Fürsorge in sein eigenes Herz, eine geschwisterliche Weihe, von der er bemerkte, daß sie überhaupt auf den Beziehungen ruhen sollte, die die Geschlechter zueinander unterhalten. »Die wenigsten Männer« rief er erbaut aus »haben eine Ahnung davon, welches tiefe Bedürfnis edle weibliche Wesen nach dem Edel-Mann haben, der schlicht mit dem Menschen in der Frau verkehrt, ohne durch geschlechtliche Gefallsucht gleich gestört zu werden!« Es mußten ihm diese Gedanken Flügel geliehen haben, denn er wußte nicht, wie er zu der Endstelle der elektrischen Straßenbahn gelangt sei, stand aber plötzlich vor ihr und nahm, ehe er einstieg, die Brille ab, um sie von dem Dunst zu reinigen, mit dem sie die erhitzenden inneren Vorgänge beschlagen hatten. Dann schwang er sich in eine Ecke, blickte in dem leeren Wagen um sich, machte das Fahrgeld bereit, sah dem Schaffner ins Gesicht und fühlte sich ganz auf dem Posten, in der bewundernswerten Gemeinschaftseinrichtung, die man Städtische Straßenbahn nennt, die Rückreise anzutreten. Durch ein wohliges Gähnen strömte er die Müdigkeit des Spaziergangs aus, um sich für neue Pflichten zu straffen, und faßte die erstaunlichen Abschweifungen, denen er sich ergeben hatte, in dem Satz zusammen: »Sich selbst zu vergessen, ist doch dem Menschen das Gesündeste, was es gibt!«

2

 

Der Tugut.

 

Es gibt gegen die unberechenbaren Regungen eines leidenschaftlichen Herzens nur ein verläßliches Mittel: streng bis ins letzte eingehaltene Planmäßigkeit; und ihr, die er beizeiten erworben hatte, verdankte Lindner sowohl die Erfolge seines Lebens als auch den Glauben, von Natur ein leidenschaftsstarker und schwer zu disziplinierender Mann gewesen zu sein. Er stand des Morgens früh auf, Sommer und Winter um die gleiche Stunde, und wusch sich an einem kleinen eisernen Waschtisch Gesicht, Hals, Hände und ein Siebentel seines Körpers, jeden Tag natürlich ein anderes, worauf er den übrigen Körper mit einem nassen Handtuch abrieb, so daß das Bad, dieser zeitraubende und wollüstige Vorgang, auf einen Abend aller zwei Wochen beschränkt werden konnte. Es lag darin ein kluger Sieg über die Materie; und wer je Gelegenheit gehabt hat, die unzureichenden Waschgelegenheiten und unbequemen Betten zu betrachten, mit denen sich historisch gewordene Persönlichkeiten begnügt haben, der wird sich kaum der Mutmaßung entschlagen können, daß zwischen eisernen Betten und eisernen Männern ein Zusammenhang bestehen müsse, wenn wir ihn auch nicht übertreiben wollen, da wir sonst gleich auf Nägelbetten schlafen dürften. Hier war dem Nachdenken also überdies eine vermittelnde Aufgabe gestellt, und nachdem sich Lindner im Widerschein anregender Beispiele gewaschen hatte, nützte er denn auch das Abtrocknen nur mit Maß dazu aus, dem Körper durch geschickte Benutzung des Handtuches einige Bewegung zu geben. Ist es doch eine verhängnisvolle Verwechslung, die Gesundheit auf den tierischen Teil des Menschen zu gründen, geistiger und sittlicher Adel sind es vielmehr, woraus die körperliche Widerstandsfähigkeit hervorgeht; und wenn das auch nicht immer auf den einzelnen zutrifft, so trifft es dafür umso sicherer im großen zu, denn die Kraft eines Volkes ist die Folge des rechten Geistes, und nicht gilt es umgekehrt. Lindner hatte darum seinen Abreibungen auch eine besondere und sorgfältige Ausbildung angedeihen lassen, die es vermied, mit rücksichtslosem Zugreifen den üblichen männlichen Götzendienst zu treiben, dafür aber die ganze Persönlichkeit beteiligte, indem er die Bewegungen seines Körpers mit schönen inneren Aufgaben verband. Er verabscheute besonders die halsbrecherische Anbetung der Schneidigkeit, die, von außen kommend, nun auch schon in seinem Vaterland manchem als Ideal vorschwebte; und sich von ihr abzuwenden, gehörte ganz und gar zu seinen Morgenübungen. Er ersetzte sie bei diesen mit großer Umsicht durch ein staatsmännischeres Verhalten im turnerischen Gebrauch seiner Gliedmaßen und verband Anspannung der Willenskraft mit rechtzeitiger Nachgiebigkeit, Schmerzüberwindung mit verständiger Menschlichkeit, und wenn er als abschließende Mutübung etwa über einen umgelegten Stuhl sprang, so geschah es mit ebenso viel Zurückhaltung wie Selbstvertrauen. Eine solche Entfaltung des ganzen Reichtums an menschlichen Anlagen machte ihm seine Leibesübungen, seit er sie vor einigen Jahren aufgenommen hatte, zu wahren Tugendübungen.

Soviel wäre im Fluge aber auch gegen den Ungeist vergänglicher Selbstbehauptung zu sagen, der sich, unter dem Schlagwort der Körperpflege, des an sich gesunden Gedankens des Sports bemächtigt hat, Zusätzliches indes noch gegen die besondere weibliche Form dieses Ungeistes als Schönheitspflege. Lindner schmeichelte sich, zu den wenigen zu gehören, die Licht und Schatten auch da richtig zu verteilen wüßten, und so, wie er bereit war, dem Zeitgeist allenthalben einen unverderbten Kern zu entnehmen, anerkannte er auch die sittliche Verpflichtung, so gesund und wohlgefällig zu erscheinen wie nur möglich. Er selbst pflegte sorgfältig jeden Morgen Bart und Haar, hielt seine Nägel kurz und peinlich sauber, nahm etwas Brillantine aufs Haupt und etwas schützende Salbe auf die tagsüber viel erduldenden Füße; wer dagegen möchte leugnen, daß es ein Zuviel an dem Körper gewidmeter Aufmerksamkeit ist, womit eine weltliche Frau ihren Tag verbringt? Sollte es aber wirklich nicht anders sein können – er kam Frauen gerne zart entgegen, zumal wenn sich unter ihnen auch die von hochmögenden Männern befinden konnten – als daß Badewässer und Gesichtsbäder, Salben und Packungen, Hand- und Fußkünsteleien, Knetmeister und Haarkünstler einander in kaum unterbrochener Folge ablösen, so empfahl er als Gegengewicht solcher einseitigen Körperpflege den von ihm in öffentlicher Rede geprägten Begriff der inneren Schönheitspflege, oder kurz Innenpflege. Möge uns beispielsweise die Reinigung an die innere Reinheit mahnen, die Salbung an die Pflichten gegen die Seele, die Massage an die Hand des Schicksals, worin wir uns befinden, und die Feilung der Fußspitzen daran, daß wir auch im noch tiefer Verborgenen ein schöner Anblick sein sollen. So übertrug er sein Bild auf die Frauen, überließ es ihnen aber selbst, die Einzelheiten den Bedürfnissen ihres Geschlechts anzupassen.

Freilich hätte es geschehen können, daß ein Unvorbereiteter durch den Anblick, den Lindner beim Schönheits- und Gesundheitsdienst, vollends aber während des Waschens und Abtrocknens darbot, zum Lachen gereizt würde: denn seine Bewegungen riefen, bloß körperlich betrachtet, die Vorstellung eines sich vielfach wendenden Schwanenhalses hervor, der außerdem nicht aus Rundung, sondern aus dem spitzen Element von Knie und Ellbogen bestand; die von der Brille befreiten, kurzsichtigen Augen blickten märtyrerhaft in die Weite, als ob man ihren Blick nahe beim Auge abgeschnitten hätte, und unter dem Bart warfen sich die weichen Lippen im Schmerz der Anstrengung auf. Wer aber geistig zu sehen verstand, der konnte wohl das Schauspiel erleben, äußere und innere Kräfte in reiflich überlegter gegenseitiger Hervorbringung zu sehn; und wenn Lindner dabei an die armen Frauen dachte, die Stunden im Bade- und Ankleidezimmer verbringen und die Phantasie einseitig durch Leibeskultus erhitzen, so konnte er sich selten des Gedankens erwehren, wie gut es ihnen täte, wenn sie einmal ihm zusehen könnten. Harmlos und rein begrüßen sie die moderne Körperpflege und machen sie mit, weil sie in ihrer Unkenntnis nicht ahnen, daß solche große dem tierischen Teil gewidmete Aufmerksamkeit allzu leicht Ansprüche in diesem weckt, die das Leben zerstören können, wenn man sie nicht in strenge Dienstbarkeit nimmt!

Überhaupt verwandelte Lindner schlechthin alles, womit er in Berührung kam, in eine sittliche Forderung; und ob er sich in Kleidern befand oder nicht, war jede Stunde des Tages bis zum Eintritt traumlosen Schlafs von einem wichtigen Inhalt ausgefüllt, dem sie ein für allemal vorbehalten blieb. Er schlief sieben Stunden: seine Lehrverpflichtung, die das Ministerium mit Rücksicht auf seine wohlgelittene schriftstellerische Tätigkeit eingeschränkt hatte, forderte drei bis fünf Stunden des Tages von ihm, in denen schon die Vorlesung über Pädagogik inbegriffen war, die er wöchentlich zweimal an der Universität abhielt; fünf zusammenhängende Stunden – das sind fast zwanzigtausend Stunden in einem Jahrzehnt! – waren dem Lesen vorbehalten; zweieinhalb Stunden dienten der ohne Stockung aus dem inneren Gestein seiner Persönlichkeit wie eine klare Quelle fließenden Niederschrift seiner eigenen Arbeiten; die Mahlzeiten beanspruchten täglich eine Stunde für sich; eine Stunde war dem Spaziergang gewidmet und zugleich der Erbauung an großen Fach- und Lebensfragen, während eine andere dem beruflich bedingten Ortswechsel und zugleich dem gewidmet blieb, was Lindner das kleine Nachdenken nannte, der Sammlung des Geistes auf den Gehalt der eben vergangenen und der kommenden Beschäftigung; andere Zeitstücke hinwieder waren, teils ein für allemal, teils im Rahmen der Woche wechselnd, für An- und Auskleiden, Turnen, Briefe, Wirtschaftsangelegenheiten, Behörden und nützliche Geselligkeit vorgesehen. Auch ist es natürlich, daß die Ausführung dieses Lebensplans nicht nur nach seinen großen und strengen Linien erfolgte, sondern noch allerhand Besonderheiten mit sich brachte, wie den Sonntag mit seinen nicht alltäglichen Pflichten, den größeren Überlandspaziergang, der alle vierzehn Tage stattfand, oder das Vollbad, und daß sie auch tägliche Doppeltätigkeiten enthielt, die noch nicht erwähnt werden konnten und zu denen beispielsweise der Umgang Lindners mit seinem Sohn während der Mahlzeiten gehörte, oder beim raschen Ankleiden die Übung des Charakters in der geduldigen Überwindung von unvorhergesehenen Schwierigkeiten.

Charakterübungen solcher Art sind nicht nur möglich, sondern auch überaus nützlich, und Lindner hatte eine ursprüngliche Vorliebe für sie. »In dem Kleinen, was ich recht tue, sehe ich ein Bild von allem Großen, was in der Welt recht getan wird« stand schon bei Goethe zu lesen, und in diesem Sinn kann eine Mahlzeit so gut wie ein Schicksalsauftrag als Pflegestatt der Selbstbeherrschung und Siegesstatt über die Begehrlichkeit dienen; ja an dem allen Überlegungen unzugänglichen Widerstand eines Kragenknopfes vermag der tiefer blickende Sinn geradezu den Umgang mit Kindern zu erlernen. Lindner betrachtete natürlich Goethe keineswegs in allem als Vorbild; aber welch köstliche Demut hatte er nicht schon daraus gewonnen, daß er mit Hammerschlägen einen Nagel in die Wand zu treiben versucht hatte, einen zerrissenen Handschuh selbst zu stopfen unternahm oder eine verdorbene Klingel wieder herstellte: schlug er sich dabei auf die Finger oder stach er sich hinein, so wurde der hervorgerufene Schmerz, wenn auch nicht gleich, so doch nach einigen entsetzlichen Sekunden, von der Freude am industriösen Geist der Menschheit überwunden, der sogar in solchen geringfügigen Fertigkeiten und ihrem Erwerbe steckt, wessen sich der Gebildete heute zu seinem allgemeinen Nachteil hochmütig überhoben dünkt! Mit Behagen hatte er dann Goetheschen Geist in sich wiederauferstehen fühlen und es umso mehr genossen, als er sich über des Klassikers praktische Liebhaberei und gelegentliche Freude an besonnener Handfertigkeit dank der Verfahren eines neueren Zeitalters doch auch hinausgehoben fühlte. Lindner war überhaupt frei von Vergötzung des alten Autors, der in einer erst halb aufgeklärten, und darum die Aufklärung überschätzenden Welt gelebt hat, und nahm sich ihn mehr im liebenswürdig Kleinen zum Vorbild als im Ernsten und Großen, ganz abgesehen von der berüchtigten Sinnlichkeit des verführerischen Ministers.

Seine Verehrung war also sorgfältig abgewogen. Trotzdem machte sich seit einiger Zeit in ihr eine merkwürdige Verdrießlichkeit geltend, die Lindner oftmals zum Nachdenken reizte. Immer schon hatte er geglaubt, eine richtigere Auffassung vom Heldischen zu besitzen als Goethe. Von Scävolas, die ihre Hände ins Feuer stecken, Lukrezien, die sich durchbohren, oder Judithen, die den Bedrängern ihrer Ehre das Haupt abschlagen – »Motiven«, die Goethe jederzeit bedeutsam gefunden hätte, obzwar er sie nicht selbst behandelt hat – hielt Lindner nicht viel; ja, er war sogar trotz der Autorität der Klassiker überzeugt, daß diese Männer und Frauen, die für ihre persönlichen Überzeugungen Verbrechen begangen haben, heutigentags nicht sowohl auf den Kothurn als vielmehr in den Gerichtssaal gehörten. Er setzte ihrem Hang zu schweren Körperverletzungen eine »verinnerlichte und soziale« Auffassung des Mutes entgegen. In Gespräch und Gedanke ging er sogar so weit, eine reiflich überlegte Eintragung ins Klassenbuch darüber zu stellen, oder die verantwortliche Erwägung, wie seine Wirtschafterin wegen voreiligen Eifers zu tadeln sei, weil man dabei nicht nur seinen eigenen Leidenschaften folgen dürfe, sondern auch die Gründe des anderen berücksichtigen müsse. Und wenn er so etwas aussprach, hatte er den Eindruck, in wohlanstehendem Zivilkleid eines späteren Jahrhunderts auf das bombastische moralische Kostüm eines älteren zurückzublicken.

Der Hauch von Lächerlichkeit, der mit solchen Beispielen verbunden war, entging ihm durchaus nicht, aber er nannte ihn das Lachen des Geistespöbels; und er hatte zwei feste Gründe dafür. Er behauptete erstens nicht nur, daß sich jeder Anlaß gleich gut zur Stärkung wie zur Schwächung der menschlichen Natur benutzen lasse; sondern es erschienen ihm Anlässe kleinerer Art sogar zur Kräftigung geeigneter als die großen Gelegenheiten, denn durch die glanzvolle Ausübung der Tugend wird unwillkürlich auch die menschliche Neigung zu Überhebung und Eitelkeit gefördert, wogegen die unscheinbare alltägliche Ausübung schlechthin aus ungewürzter und reiner Tugend besteht. Zweitens aber durfte eine planvolle Bewirtschaftung des moralischen Volksguts (diesen Ausdruck liebte Lindner, neben dem soldatischen Wort »Zucht«, wegen des Bäurischen und zugleich Fabriksneuen, das an ihm ist) auch deshalb die »kleinen Gelegenheiten« nicht verschmähen, weil der gottlose, von »Liberalen und Freimaurern« aufgebrachte Glaube, daß die großen menschlichen Leistungen gleichsam aus einem Nichts hervorgehn, mochte man es auch Genie nennen, schon damals im Veralten war. Das geschärftere Licht der öffentlichen Aufmerksamkeit ließ den »Helden«, den frühere Zeit zu einer überheblichen Erscheinung gemacht hatte, bereits als einen unermüdlichen Kleinarbeiter erkennen, der sich zum Entdecker durch dauernden Lernfleiß vorbereiten, als Athlet seinen Körper so ängstlich behandeln muß wie ein Opernsänger seine Stimme, und als politischer Volkserneuerer vor unzähligen Versammlungen immer das gleiche zu wiederholen hat. Und davon hatte Goethe – der zeit seines Lebens doch ein bequemer Bürger-Aristokrat geblieben war – noch keine Ahnung gehabt, Lindner aber sah es kommen! Darum war es auch verständlich, daß er Goethens besseres Teil gegen dessen vergängliches in Schutz zu nehmen meinte, wenn er das Bedachtsam-Umgängliche, das jener in so erfreulichem Maße besaß, dem Tragischen vorzog; auch ließe sich wohl vertreten, daß es nicht unüberlegt geschah, wenn er sich aus keinem anderen Grunde, als weil er ein Pedant war, für einen von gefährlichen Leidenschaften bedrohten Menschen hielt.

Wahrhaftig ist es denn auch bald danach eine der beliebtesten menschlichen Möglichkeiten geworden, sich einem »Regime« zu unterwerfen, was mit demselben günstigen Erfolg gegen die Fettleibigkeit angewendet wird wie in der Politik und im geistigen Leben. Dabei werden Geduld, Gehorsam, Regelmäßigkeit, Gleichmut und andere sehr ordentliche Eigenschaften zu Hauptbestandteilen des Menschen im Privatzustand, während alles Ungezügelte, Gewaltsame, Süchtige und Gefährliche, dessen er, als ein Wildromantiker, doch auch nicht entbehren mag, seinen vortrefflichen Sitz im Regime hat. Wahrscheinlich ist diese merkwürdige Neigung, sich einem Regime zu unterwerfen, oder ein anstrengendes, unangenehmes und dürftiges Leben nach den Vorschriften eines Arztes, Sportlehrers oder anderen Tyrannen zu führen, obgleich man es mit ebenso gutem Mißerfolg auch unterlassen könnte, schon ein Ergebnis der Bewegung zum Arbeiter-, Krieger- und Ameisenstaat, dem sich die Welt annähert: aber da lag auch die Grenze, die zu überschreiten Lindner nicht mehr fähig war und an die sein Blick nicht mehr sehend hindrang, weil es ihm sein Goethisches Erbteil verbot.

Wohl war seine Frömmigkeit von keiner Art, die sich damit nicht vertragen hätte, überließ er doch das Göttliche Gott, und auch die unverdünnte Heiligkeit den Heiligen; aber er konnte den Gedanken nicht fassen, auf seine Persönlichkeit zu verzichten, und es schwebte ihm als Ideal der Welt eine Gemeinschaft vollverantwortlicher sittlicher Persönlichkeiten vor, die als zivile Gottesstreitmacht zwar wider die Unbeständigkeit der niederen Natur kämpfe und den Alltag zum Heiligtum mache, dieses aber auch mit den großen Werken der Kunst und Wissenschaft schmücke. Hätte jemand seine Tageseinteilung nachgezählt, so wäre ihm darum auch aufgefallen, daß sie in jeder Abwandlung bloß dreiundzwanzig Stunden ergab, es fehlten also noch sechzig Minuten auf einen vollen Tag, und von diesen sechzig Minuten waren vierzig ein für allemal dem Gespräch und liebevollen Eingehn auf die Bestrebungen und die Wesensart anderer Menschen zugedacht, wozu er auch den Besuch von Kunstausstellungen, Konzerten und Vergnügungen rechnete. Er haßte diese Veranstaltungen. Sie verletzten fast jedesmal durch ihren Inhalt sein Gemüt, und nach seinen Begriffen tobte sich in diesen planlosen und überschätzten Erbauungen die berüchtigte Nervenstörung der Gegenwart aus, mit ihren überflüssigen Reizen und ihren echten Leiden, mit ihrer Unersättlichkeit und ihrer Unbeständigkeit, ihrer Neugierde und ihrem unvermeidlichen Sittenverfall. Er lächelte sogar erschüttert in seinen dünnen Bart, wenn er bei solchen Anlässen »Männlein und Weiblein« mit erhitzten Wangen der Kultur götzendienern sah. Sie wußten nicht, daß die Lebenskraft durch Einengung gesteigert wird, und nicht durch Zersplitterung. Sie litten alle unter der Angst, keine Zeit für alles zu haben, und wußten nicht, daß Zeit haben nichts anderes heißt, als keine Zeit für alles zu haben. Lindner hatte erkannt, daß die schlechte Nervenverfassung nicht von der Arbeit und ihrer Eile komme, die man in diesem Zeitalter anschuldige, sondern im Gegenteil von der Kultur und Humanität ausgehe, von den Ruhepausen, der Unterbrechung der Arbeit, den freigelassenen Minuten, wo der Mensch sich selbst leben möchte und etwas sucht, das er für schön halten könnte oder für ein Vergnügen oder für wichtig: diese Minuten sind es, aus denen die Miasmen der Ungeduld, des Unglücks und der Sinnlosigkeit aufsteigen. So empfand er, und wäre es nach ihm gegangen, das heißt, nach den Gesichten, die er in solchen Augenblicken hatte, so hätte er alle diese Kunststätten mit eisernem Besen ausgekehrt, und es hätten Feste der Arbeit und Erbauung, kurz angebunden an das tägliche Tun, die Stelle jener angeblichen Geistesereignisse eingenommen; es wäre eigentlich nichts zu tun gewesen, als von einem ganzen Zeitalter wenige Minuten täglich fortzunehmen, die ihr krankes Dasein einer falsch verstandenen Liberalität verdanken. Aber es ernsthaft und öffentlich und anders als in einigen Anspielungen zu vertreten, dazu hatte er nie die Entschiedenheit aufgebracht.

Und Lindner blickte plötzlich auf, denn er fuhr während dieser Gedankenträume ja noch immer mit der Straßenbahn, und fühlte sich gereizt und beklommen, wie es von Unentschlossenheit und Verhindertsein kommt, und hatte für einen Augenblick den verworrenen Eindruck, die ganze Zeit über an Agathe gedacht zu haben. Es geschah ihr auch die Ehre, daß ein Unwille, der arglos als Freude an Goethe begonnen hatte, nun mit ihr verschmolz, obwohl kein Grund dafür zu erkennen war. Gewohnheitsmäßig ermahnte sich darum Lindner selbst: »Widme einen Teil deiner Einsamkeit dem ruhigen Nachdenken über deinen Nächsten, zumal wenn du nicht mit ihm übereinstimmen solltest: vielleicht wirst du dann, was dich abstößt, besser verstehen und benutzen lernen und wirst seine Schwäche zu schonen und seine Tugend zu ermutigen wissen, die möglicherweise bloß eingeschüchtert ist!« flüsterte er mit stummen Lippen. Es war einer der Kernsätze, die er gegen das fragwürdige Treiben der sogenannten Kultur geprägt hatte und in denen er gewöhnlich die Gelassenheit fand, dieses zu ertragen; aber der Erfolg blieb aus, und Gerechtigkeit war offenbar nicht das, was ihm diesmal fehlte. Er zog die Uhr. Es bestätigte sich, daß er Agathe mehr Zeit geschenkt hatte, als ihm gegeben war. Aber er hätte es nicht tun können, wenn in seinem Tagesplan nicht restliche zwanzig Minuten für unvermeidliche Zeitverluste vorgesehen gewesen wären; und es zeigte sich, daß ihm von diesem Verlustkonto, diesem Notvorrat an Zeit, dessen kostbare Tropfen das vermittelnde Öl in seinem Tagwerk waren, selbst an diesem ungewöhnlichen Tag noch zehn Minuten übrig sein dürften, wenn er sein Haus betreten werde. Wuchs dadurch sein Mut? Es fiel ihm ein anderer seiner Lebenssprüche ein, schon zum zweitenmal heute: »Je unerschütterlicher die Geduld in dir wird,« sagte Lindner zu Lindner »desto sicherer wirst du den andern ins Herz treffen!« Und ins Herz zu treffen, das bereitete ihm ein Vergnügen, das auch dem Heldischen seiner Natur entsprach; daß so Getroffene niemals zurückschlagen, spielte dabei keine Rolle.

3

 

Die Geschwister am nächsten Morgen.

 

Auf diesen Mann kamen nun Ulrich und seine Schwester abermals zu sprechen, als sie sich am Morgen nach dem plötzlichen Verschwinden Agathes aus der Gesellschaft bei ihrer Kusine von neuem sahen. Tags zuvor hatte auch Ulrich bald nach ihr die streitbar angeregte Versammlung verlassen, war aber nicht mehr dazu gekommen, sie zu fragen, warum sie ihm auf und davon gegangen wäre; denn sie hatte sich eingeschlossen und entweder schon geschlafen oder mit Absicht die leise Frage des Lauschenden, ob sie noch wache, ohne Antwort gelassen. So schloß der Tag, wo sie dem wunderlichen Fremden begegnet war, ebenso launenhaft ab, wie er begonnen hatte. Auch am nächsten Tag war keine Auskunft von ihr zu erlangen. Ihre wirklichen Empfindungen kannte sie selbst nicht. Wenn sie an den bei ihr eingedrungenen Brief ihres Ehemanns dachte, den sie sich ein zweites Mal zu lesen nicht überwinden konnte, obwohl sie ihn von Zeit zu Zeit neben sich liegen sah, so erschien es ihr unglaubwürdig, daß seit seinem Empfang kaum ein Tag vergangen sein sollte; so oft hatte sie inzwischen ihren Zustand gewechselt. Manchmal dünkte sie, daß auf diesen Brief wahrhaftig das Schauerwort: Gespenster der Vergangenheit angewandt werden müßte; trotzdem fürchtete sie sich auch wirklich vor ihm. Und zuweilen erregte er in ihr bloß ein kleines Unbehagen, das auch der unverhoffte Anblick einer stehengebliebenen Uhr erregen könnte; zuweilen aber versetzte es sie in starres Nachdenken, daß die Welt, aus der er kam, den Anspruch hatte, die wirkliche für sie zu sein. Was sie innen nicht einmal leise berührte, umgab sie außen unabsehbar und hielt dort noch immer zusammen. Unwillkürlich verglich sie damit, was sich zwischen ihr und ihrem Bruder seit dem Eintreffen dieses Schreibens ereignet hatte. Das waren vor allem Gespräche, und obwohl eines von diesen sie sogar dazu gebracht hatte, an Selbstmord zu denken, war sein Inhalt vergessen, wenn auch wahrscheinlich noch auferstehensbereit und nicht verschmerzt. Es hatte also eigentlich auch wenig zu bedeuten, worüber ein Gespräch geführt wurde, und, ihr herzergreifendes jetziges Leben gegen den Brief abwägend, empfing sie den Eindruck einer tiefen, beständigen, unvergleichlichen, aber machtlosen Bewegung. Sie fühlte sich von alledem an diesem Morgen teils matt und ernüchtert, teils zärtlich und unruhig, wie es ein Fiebernder nach dem Sinken der Temperatur ist.

Es geschah darum bloß scheinbar unvermittelt, als sie mit einemmal sagte: »So teilzunehmen, daß man selbst erlebt, wie einem andren zumute ist, muß unbeschreiblich schwer sein!« Ulrich entgegnete: »Es gibt Menschen, die sich einbilden, es zu können.« Er war ungelaunt und anzüglich und hatte sie nur halb verstanden. Bei ihren Worten wich etwas zur Seite und gab einem Ärger Raum, der tags zuvor zurückgeblieben war, mochte er ihn auch verachten. Damit war diese Aussprache fürs erste zu Ende.

Der Morgen hatte einen Regentag gebracht und die Geschwister in ihrem Haus eingeschlossen. Die Blätter der Bäume glänzten öde vor den Fenstern wie nasses Linoleum; der Fahrdamm hinter den Lücken des Laubs spiegelte wie ein Gummischuh. Die Augen mochten den nassen Anblick kaum anfassen. Agathe seufzte auf und erklärte: »Die Welt erinnert heute an unsere Kinderzimmer.« Sie spielte damit auf die kahlen Oberstuben in ihres Vaters Haus an, mit denen sie beide ein verwundertes Wiedersehen gefeiert hatten. Das schien weit hergeholt zu sein; aber sie fügte hinzu: »Es ist die erste Traurigkeit des Menschen inmitten seines Spielzeugs, die immer wiederkehrt!« Unwillkürlich war die Erwartung nach dem dauernd guten Wetter der letzten Zeit wieder auf einen schönen Tag gerichtet gewesen und erfüllte nun den Sinn mit versagter Lust und ungeduldiger Schwermut. Ulrich blickte jetzt auch zum Fenster hinaus. Hinter der grauen, rinnenden Wasserwand gaukelten unausgeführte Entwürfe von Ausflügen, freies Grün und endlose Welt; und vielleicht geisterte dahinter auch der Wunsch, einmal allein zu sein und sich selbst frei nach allen Seiten zu regen, dessen süßer Schmerz die Passionsgeschichte und auch schon die Wiederauferstehung der Liebe ist. Er wandte sich, irgend etwas davon noch im Ausdruck des Gesichts und Körpers, zu seiner Schwester um, und beinahe heftig fragte er sie: »Ich gehöre wohl nicht zu den Menschen, die auf andere teilnehmend eingehen können?«

»Nein, wirklich nicht!« erwiderte sie und lächelte ihn an.

»Aber gerade, was solche Menschen sich einbilden,« fuhr er fort, denn erst jetzt hatte er verstanden, wie ernst ihre Worte gemeint waren »daß man miteinander leiden könnte, vermögen sie so wenig wie irgendwer. Sie haben höchstens die Geschicklichkeit von Krankenschwestern, daß sie erraten, was ein Bedürftiger gerne hört –«

»Also müssen sie doch wissen, was ihm wohltut« wandte Agathe ein.

»Durchaus nicht!« wiederholte Ulrich hartnäckiger. »Wahrscheinlich trösten sie überhaupt nur dadurch, daß sie reden: wer viel redet, entlädt das Leid des andern tropfenweise wie ein Regen die Elektrizität einer Wolke. Das ist die bekannte Milderung eines jeden Kummers durch das Mittel der Aussprache!«

Agathe schwieg.

»Solche Menschen wie dein neuer Freund« meinte Ulrich nun herausfordernd »wirken vielleicht auch, wie es manche Hustenmittel tun: sie beseitigen nicht den Katarrh, aber sie lindern seinen Reiz, und dann heilt er oft von selbst aus!«

Er hätte unter allen anderen Umständen die Zustimmung seiner Schwester erwarten dürfen, aber die seit gestern wunderlich gesonnene Agathe mit ihrer plötzlichen Schwäche für einen Mann, dessen Wert Ulrich bezweifelte, lächelte unnachgiebig und spielte mit ihren Fingern. Ulrich sprang auf und sagte eindringlich: »Aber ich kenne ihn doch, wenn auch nur flüchtig; ich habe ihn einigemal reden hören!«

»Du hast ihn sogar einen ›faden Esel‹ genannt« schaltete Agathe ein.

»Und warum nicht!?« verteidigte es Ulrich. »Menschen wie der wissen noch weniger als irgendwer mit einem andern zu fühlen! Sie wissen nicht einmal, was es bedeutet. Sie fühlen einfach die Schwierigkeit, die ungeheuerliche Zweifelhaftigkeit dieses Anspruches nicht!«

Da fragte Agathe: »Weshalb erscheint dir denn der Anspruch zweifelhaft?«

Nun schwieg Ulrich. Er zündete sich sogar eine Zigarette an, um zu bekräftigen, daß er darauf nicht antworten werde, hatten sie doch tags zuvor genug darüber gesprochen! Auch Agathe wußte das. Sie wollte keine neue Erklärung herausfordern. Diese Erklärungen waren so bezaubernd und so vernichtend, wie in den Himmel zu schaun, wenn darin graue, rosa und gelbe Städte aus Wolkenmarmor zu sehen sind. Sie dachte: »Wie schön wäre es, wenn er nichts sagte als: ›Ich will dich lieben wie mich selbst, und dich kann ich eher so lieben als alle anderen Frauen, weil du meine Schwester bist!‹« Und weil er es nicht sagen wollte, nahm sie eine kleine Schere und schnitt sorgfältig einen Faden ab, der irgendwo hervorragte, so, als wäre es augenblicklich auf der ganzen Welt das einzige, was ihre volle Aufmerksamkeit verdiene. Ulrich sah dem mit der gleichen Aufmerksamkeit zu. Sie war in diesem Augenblick allen seinen Sinnen verführerischer denn je gegenwärtig, und etwas von dem, was sie verbarg, erriet er, wenn auch nicht alles. Denn sie hatte indessen Zeit zu dem Beschluß: wenn Ulrich vergessen könne, daß sie den fremden Mann selbst auslache, der sich anmaßte, hier helfen zu können, solle er es jetzt auch nicht von ihr erfahren. Und außerdem hatte sie doch auch ein erwartungsvolles Vorgefühl von Lindner. Sie kannte ihn nicht. Aber daß er ihr selbstlos und überzeugt seine Hilfe anbot, mußte ihr wohl Vertrauen eingeflößt haben, denn eine frohe Tonart des Herzens, harter Posaunenklang von Wille, Zuversicht und Stolz, ihrem eigenen Zustand wohltätig entgegengesetzt, schienen sie hinter aller Komik des Falls erfrischend anzublasen. »Mögen Schwierigkeiten noch so groß sein, sie bedeuten nichts, wenn man ernstlich will!« dachte sie und wurde dabei unversehens von Reue erfaßt, so daß sie nun das Schweigen ungefähr so brach, wie eine Blume gebrochen wird, damit sich zwei Köpfe darüber beugen können, und ihrer ersten Frage die zweite hinzufügte: »Erinnerst du dich denn noch, daß du immer gesagt hast, liebe den Nächsten, ist von einer Pflicht so verschieden wie ein aus der Seligkeit kommender Wolkenbruch von einem Tropfen Zufriedenheit?«

Sie staunte über die Heftigkeit, mit der Ulrich ihr antwortete: »Die Ironie meines Zustands ist mir nicht unbekannt. Seit gestern, und wahrscheinlich immer, habe ich nichts getan, als ein Heer aufzustellen von Gründen dafür, daß diese Liebe zu diesem Nächsten nicht ein Glück sei, sondern eine ungeheuer großartige, halb unlösbare Aufgabe! Nichts könnte also begreiflicher sein, als daß du Schutz davor bei einem Menschen suchtest, der von alledem keine Ahnung hat, und ich an deiner Stelle täte es auch!«

»Aber es ist doch gar nicht wahr, daß ich es tue!« versetzte Agathe kurz.

Ulrich konnte nicht umhin, ihr einen so dankbaren wie mißtrauischen Blick zuzuwerfen: »Es stünde kaum dafür, daß man davon redete« versicherte er. »Ich habe es eigentlich auch nicht tun wollen.« Er zauderte einen Augenblick und fuhr fort: »Aber sieh, wenn man schon einen anderen lieben muß wie sich selbst, und liebt ihn noch so sehr, bleibt es doch eigentlich Betrug und Selbstbetrug, weil man einfach nicht mitfühlen kann, wie ihn der Kopf schmerzt oder der Finger. Es ist etwas völlig Unerträgliches, daß man an einem Menschen, den man liebt, nicht wirklich teilnehmen kann, und es ist etwas völlig Einfaches. So ist die Welt eingerichtet. Wir tragen unser Tierfell mit den Haaren nach innen und können es nicht ausstreifen. Und diesen Schreck in der Zärtlichkeit, diesen Alptraum der steckenbleibenden Annäherung, den erleben die regelrecht guten, die ›kurz und guten‹ Menschen nie. Was sie ihr Mitgefühl nennen, ist sogar ein Ersatz dafür, der zu verhindern hat, daß sie etwas vermissen!«

Agathe vergaß, daß sie soeben etwas gesagt hatte, das einer Lüge so ähnlich war wie keiner Lüge. Sie sah, daß in Ulrichs Worten die Enttäuschung von der Vision eines Aneinander-Teilhabens durchleuchtet war, vor der die gewöhnlichen Beweise der Liebe, Güte und Teilnahme ihre Bedeutung verloren; und sie verstand, daß er darum von der Welt öfter als von sich sprach, denn man mußte sich wohl mitsamt der Wirklichkeit ausheben wie eine Tür aus der Angel, wenn das mehr als eitel Träumerei sein sollte. In diesem Augenblick war sie weit weg von dem Mann mit dem schütteren Bart und der schüchternen Strenge, der ihr wohltun wollte. Sie vermochte es aber nicht zu sagen. Sie sah Ulrich bloß an, dann sah sie weg, ohne zu sprechen. Dann tat sie irgend etwas, dann sahen sie einander wieder an. Das Schweigen machte nach kürzester Zeit den Eindruck, daß es schon Stunden währe.

Der Traum, zwei Menschen zu sein und einer –: in Wahrheit war die Wirkung dieser Erdichtung in manchen Augenblicken der eines über die Grenzen der Nacht getretenen Traumes nicht unähnlich, und auch jetzt schwebte sie zwischen Glaube und Leugnung in einem solchen Gefühlszustand, daran die Vernunft nichts mehr zu bestellen hatte. Es war erst die unbeeinflußbare Beschaffenheit der Körper, wovon das Gefühl in die Wirklichkeit zurückgewiesen wurde. Diese Körper breiteten vor dem suchenden Blick ihr Sein, da sie einander doch liebten, zu Überraschungen und Entzückungen aus, die sich erneuten wie ein in den Strömen des Begehrens schwebendes Pfauenrad; aber sobald der Blick nicht bloß an den hundert Augen des Schauspiels hing, das die Liebe der Liebe gibt, sondern zu dem Wesen einzudringen versuchte, das dahinter dachte und fühlte, verwandelten sich diese Körper in grausame Kerker. Es fand sich wieder einer vor dem andern, wie schon so oft zuvor, und wußte nichts zu sagen, weil zu allem, was die Sehnsucht noch zu sagen oder zu wiederholen gehabt hätte, eine allzuweit hinübergebeugte Bewegung gehörte, für die es keinen Stand und Boden gab.

Und nicht lange, so wurden darüber unwillkürlich auch die körperlichen Bewegungen langsamer und erstarrten. Vor den Fenstern erfüllte noch immer der Regen die Luft mit seinem zuckenden Vorhang aus Tropfen und den einschläfernden Geräuschen, durch deren Eintönigkeit die himmelhohe Öde herabfloß. Es schien Agathe Jahrhunderte her zu sein, daß ihr Körper einsam sei; und die Zeit rann, als rinne sie mit dem Wasser vom Himmel. Im Zimmer war jetzt ein Licht wie ein ausgehöhlter Silberwürfel. Blaue, süßliche Schärpen von Rauch achtlos verbrennender Zigaretten umschlangen sie und Ulrich. Sie wußte nicht mehr, ob sie bis ins Innerste empfindlich und zärtlich sei oder ungeduldig und schlecht auf ihren Bruder zu sprechen, dessen Ausdauer sie bewunderte. Sie suchte sein Auge und fand es erstarrt wie zwei Monde in dieser unsicheren Atmosphäre schweben. Und in demselben Augenblick geschah ihr nun, was nicht aus ihrem Willen zu kommen schien, sondern von außen, daß das quellende Wasser vor den Fenstern plötzlich fleischig wurde wie eine aufgeschnittene Frucht und seine schwellende Weichheit zwischen sie und Ulrich drängte. Vielleicht schämte sie sich oder haßte sich deswegen sogar ein wenig, aber eine völlig sinnliche Ausgelassenheit – und gar nicht nur, was man Entfesseln der Sinne nennt, sondern auch, ja weit eher, ein freiwilliges und freies Ablassen der Sinne von der Welt! – begann sich ihrer zu bemächtigen; und sie konnte dem gerade noch zuvorkommen und es vor Ulrich sogar verbergen, indem sie mit der schnellsten aller Ausreden, daß sie etwas zu besorgen vergessen hätte, aufsprang und das Zimmer verließ.

4

 

Auf der Himmelsleiter in eine fremde Wohnung.

 

K