Der Mann ohne Eigenschaften. Band Zwei - Robert Musil - E-Book

Der Mann ohne Eigenschaften. Band Zwei E-Book

Robert Musil

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Beschreibung

Wir schreiben das Jahr 1913, und die Wiener High Society ist entschlossen, das siebzigjährige Jubiläum der Thronbesteigung von Kaiser Franz Josef angemessen zu feiern. Doch während die Aristokratie versucht, aus dem Zusammenbruch der österreichisch-ungarischen Monarchie etwas Glänzendes zu retten, gibt es in der gewöhnlichen Wiener Welt erste Anzeichen einer ernsthaften Rebellion. Inmitten dieses sozialen Labyrinths befindet sich Ulrich: jung, reich, Ex-Soldat, Verführer und Wissenschaftler. Unfähig, sich vorzumachen, dass das Sammelsurium an Eigenschaften und Werten, das ihm seine Welt verliehen hat, so etwas wie einen angeborenen “Charakter” darstellt, ist er tatsächlich ein Mann “ohne Eigenschaften”, ein brillanter, distanzierter Beobachter der sich drehenden, rasenden Gesellschaft um ihn herum. Ulrich selbst weiß nur, dass er allen seinen Eigenschaften gegenüber seltsam gleichgültig ist. Das Fehlen eines tiefen Wesens und die Zweideutigkeit als allgemeine Lebenseinstellung sind seine Hauptmerkmale. Bekannt geworden ist das Buch vor allem durch das Motiv der inzestuösen Geschwisterliebe, die sich zwischen Ulrich und seiner Schwester Agathe im späteren Verlauf der Geschichte zunächst zaghaft entwickelt und durch welche beide letztlich hoffen, ein anderes mystisches Leben verwirklichen zu können. Wir lernen außerdem den Mörder und Vergewaltiger Moosbrugger kennen, der für den Mord an einer Prostituierten verurteilt wird. Weitere Protagonisten sind Ulrichs Geliebte Bonadea und Clarisse, die neurotische Frau seines Freundes Walter, deren Weigerung, sich mit der alltäglichen Existenz abzufinden, in den Wahnsinn führt. “Der Mann ohne Eigenschaften” von Robert Musil ist teils Satire, teils visionäres Epos, teils intellektuelle Tour de Force – ein Werk von unermesslicher Bedeutung. Mit der Ausgabe des apebook Verlags wird der Versuch unternommen, auf Grundlage der Textanordnung durch den späteren Herausgeber Adolf Frisé und bei gleichzeitiger Streichung allzu stichpunktartiger und loser assoziativer Notizen in den entsprechenden Entwürfen, Studien und Fragmenten Musils, eine möglichst stringente Lesefassung des unvollendeten Romans anzubieten, bei der alle Kapitel vorhanden sind. Zwar kann man auch dadurch nicht über einen bloß skizzierten Schluss des Romans hinauskommen, aber es gelingt auf diese Weise doch, sozusagen einen möglichen roten Faden der Erzählführung erkennbar werden zu lassen. Dies ist der zweite von insgesamt fünf Bänden.

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Seitenzahl: 1236

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Robert Musil

 

Der Mann ohne Eigenschaften

 

 

Roman

 

 

 

Überarbeitete Neuausgabe

in fünf Bänden

 

 

 

Band Zwei

DER MANN OHNE EIGENSCHAFTEN wurde zuerst in drei Bänden veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Berlin 1930 (Bd. 1) u. 1933 (Bd. 2) sowie Lausanne 1943 (Bd. 3).

Diese Ausgabe in fünf Bänden wurde aufbereitet und herausgegeben von

© apebook Verlag, Essen (Germany)

www.apebook.de

1. Auflage 2022

 

V 1.0

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.d-nb.de abrufbar.

 

 

Band Zwei

ISBN 978-3-96130-505-6

 

Buchgestaltung: SKRIPTART, www.skriptart.de

 

 

Books made in Germany with

 

 

 

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Robert Musil

DER MANN OHNE EIGENSCHAFTEN

 

BAND EINS | BAND ZWEI | BAND DREI | BAND VIER | BAND FÜNF

 

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Inhaltsverzeichnis

Der Mann ohne Eigenschaften. Band Zwei

Impressum

Zweiter Teil

Seinesgleichen geschieht

1

Berührung der Wirklichkeit. Ungeachtet des Fehlens von Eigenschaften benimmt sich Ulrich tatkräftig und feurig.

2

Die wahre Erfindung der Parallelaktion durch Graf Leinsdorf.

3

Die Parallelaktion steht in Gestalt einer einflußreichen Dame von unbeschreiblicher geistiger Anmut bereit, Ulrich zu verschlingen.

4

Erste Einmischung eines großen Mannes.

5

Besitz und Bildung; Diotimas Freundschaft mit Graf Leinsdorf und das Amt, berühmte Gäste in Einheit mit der Seele zu bringen.

6

Leiden einer verheirateten Seele.

7

Die Vereinigung von Seele und Wirtschaft. Der Mann, der das kann, will den Barockzauber alter österreichischer Kultur genießen. Der Parallelaktion wird dadurch eine Idee geboren.

8

Wesen und Inhalt einer großen Idee.

9

Ein Kapitel, das jeder überschlagen kann, der von der Beschäftigung mit Gedanken keine besondere Meinung hat.

10

Erklärung und Unterbrechungen eines normalen Bewußtseinszustandes.

11

Ulrich hört Stimmen.

12

Wem gibst du recht?

13

Die vergessene, überaus wichtige Geschichte mit der Gattin eines Majors.

14

Bruch mit Bonadea.

15

Ein heißer Strahl und erkaltete Wände.

16

Direktor Leo Fischel und das Prinzip des unzureichenden Grundes.

17

Dank des genannten Prinzips besteht die Parallelaktion greifbar, ehe man weiß, was sie ist.

18

Ein Publizist bereitet Graf Leinsdorf durch die Erfindung »Österreichisches Jahr« große Unannehmlichkeiten; Se. Erlaucht verlangt heftig nach Ulrich.

19

Clarisse und ihre Dämonen.

20

Ein Mann ohne Eigenschaften besteht aus Eigenschaften ohne Mann.

21

Ein Mann mit allen Eigenschaften, aber sie sind ihm gleichgültig. Ein Fürst des Geistes wird verhaftet, und die Parallelaktion erhält ihren Ehrensekretär.

22

Rachel und Diotima.

23

Die große Sitzung.

24

Erste Begegnung Ulrichs mit dem großen Mann. In der Weltgeschichte geschieht nichts Unvernünftiges, aber Diotima stellt die Behauptung auf, das wahre Österreich sei die ganze Welt.

25

Fortgang und Schluß der großen Sitzung. Ulrich findet an Rachel Wohlgefallen. Rachel an Soliman. Die Parallelaktion erhält eine feste Organisation.

26

Schweigende Begegnung zweier Berggipfel.

27

Ideale und Moral sind das beste Mittel, um das große Loch zu füllen, das man Seele nennt.

28

Was alle getrennt sind, ist Arnheim in einer Person.

29

Die drei Ursachen von Arnheims Berühmtheit und das Geheimnis des Ganzen.

30

Beginnende Gegensätze zwischen alter und neuer Diplomatie.

31

Weitere Entwicklung. Sektionschef Tuzzi beschließt, sich über die Person Arnheims Klarheit zu verschaffen.

32

Das Haus Fischel.

33

Sektionschef Tuzzi stellt eine Lücke im Betrieb seines Ministeriums fest.

34

Man führt Moosbrugger in ein neues Gefängnis.

35

Ulrich zeigt sich im Gespräch mit Walter und Clarisse reaktionär.

36

Soliman und Arnheim.

37

Lebhafte Arbeit in den Ausschüssen der Parallelaktion. Clarisse schreibt an Se. Erlaucht und schlägt ein Nietzsche-Jahr vor.

38

Großer Aufschwung. Diotima macht sonderbare Erfahrungen mit dem Wesen großer Ideen.

39

Die Parallelaktion erregt Bedenken. In der Geschichte der Menschheit gibt es aber kein freiwilliges Zurück.

40

Moosbrugger denkt nach.

41

Ausflug ins logisch-sittliche Reich.

42

Das Ideal der drei Abhandlungen oder die Utopie des exakten Lebens.

43

Auch die Erde, namentlich aber Ulrich, huldigt der Utopie des Essayismus.

44

Bonadea hat eine Vision.

45

General Stumm von Bordwehr besucht Diotima.

46

Aus den Gesprächen Arnheims und Diotimas.

47

Zwischen Ulrich und Arnheim ist einiges nicht in Ordnung.

48

Diotima und Ulrich.

49

Eine Abschweifung: Müssen Menschen mit ihrem Körper übereinstimmen?

50

Diotima und Ulrich. Fortsetzung.

51

Clarisse besucht Ulrich, um ihm eine Geschichte zu erzählen.

52

Der Ausschuß zur Fassung eines leitenden Beschlusses in bezug auf das Siebzigjährige Regierungsjubiläum Sr. Majestät beginnt zu tagen.

53

Das In-den-Bart-Lächeln der Wissenschaft oder Erste ausführliche Begegnung mit dem Bösen.

54

Leo Fischels Tochter Gerda.

55

Das 4. Jahrhundert v. Chr. gegen das Jahr 1797. Ulrich erhält abermals einen Brief seines Vaters.

56

General Stumm von Bordwehr betrachtet Besuche bei Diotima als eine schöne Abwechslung in den dienstlichen Obliegenheiten.

57

Graf Leinsdorf zeigt sich zurückhaltend.

58

Arnheim als Freund der Journalisten.

59

Verwandlungen Diotimas.

60

Soliman liebt.

61

Man lernt General Stumm kennen, der überraschend auf dem Konzil erscheint.

62

Graf Leinsdorf äußert sich über Realpolitik. Ulrich gründet Vereine.

63

Clarisse verlangt ein Ulrich-Jahr.

64

Seinesgleichen geschieht oder warum erfindet man nicht Geschichte?

65

Behauptung, daß auch das gewöhnliche Leben von utopischer Natur ist.

66

General Stumms Bemühung, Ordnung in den Zivilverstand zu bringen.

67

Der Königskaufmann und die Interessenfusion Seele-Geschäft. Auch: Alle Wege zum Geist gehen von der Seele aus, aber keiner führt zurück.

68

Moosbrugger tanzt.

69

Die Verbindung mit großen Dingen.

70

Man muß mit seiner Zeit gehn.

71

Die Entthronung der Ideokratie.

72

Spekulation in Geist à la baisse und à la hausse.

73

Aus den Lebensregeln reicher Leute.

74

Dem Zivilverstand ist auch auf dem Weg der Körperkultur schwer beizukommen.

75

Diotimas Nächte.

76

Der Großschriftsteller, Rückansicht.

77

Der Großschriftsteller, Vorderansicht.

78

Clarissens geheimnisvolle Kräfte und Aufgaben.

79

Aus einem Staat, der an einem Sprachfehler zugrundegegangen ist.

80

Von der Halbklugheit und ihrer fruchtbaren anderen Hälfte; von der Ähnlichkeit zweier Zeitalter, von dem liebenswerten Wesen Tante Janes und dem Unfug, den man neue Zeit nennt.

81

General Stumm dringt in die Staatsbibliothek ein und sammelt Erfahrungen über Bibliothekare, Bibliotheksdiener und geistige Ordnung.

82

Die feindlichen Verwandten.

83

Kampf und Liebe im Hause Fischel.

84

Die Versuchung.

85

Rachel und Soliman auf dem Kriegspfad.

86

Hohe Liebende haben nichts zu lachen.

87

Glaubt der moderne Mensch an Gott oder an den Chef der Weltfirma? Arnheims Unentschlossenheit.

88

Graf Leinsdorf erzielt einen unerwarteten politischen Erfolg.

89

Die unerlösten Nationen und General Stamms Gedanken über die Wortgruppe Erlösen.

90

Bonadea, Kakanien; Systeme des Glücks und Gleichgewichts.

91

Moosbruggers Auflösung und Aufbewahrung.

92

Es gibt für Juristen keine halbverrückten Menschen.

93

Arnheim versetzt seinen Vater Samuel unter die Götter und faßt den Beschluß, sich Ulrichs zu bemächtigen. Soliman möchte über seinen königlichen Vater Näheres erfahren.

94

Ulrich unterhält sich mit Hans Sepp und Gerda in der Mischsprache des Grenzgebiets zwischen Über- und Untervernunft.

95

Die Verhältnisse spitzen sich zu. Arnheim ist sehr huldvoll zu General Stumm. Diotima trifft Anstalten, sich ins Grenzenlose zu begeben. Ulrich phantasiert von der Möglichkeit, so zu leben, wie man liest.

96

Die Spitze deiner Brust ist wie ein Mohnblatt.

97

Die beiden Bäume des Lebens und die Forderung eines Generalsekretariats der Genauigkeit und Seele.

98

Rachels schwarzer Tag.

99

So töte ihn doch!

100

Kontermine und Verführung.

101

Die Parallelaktion erregt Aufruhr.

102

Die Aussprache.

103

Heimweg.

104

Die Umkehrung.

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Zweiter Teil

Seinesgleichen geschieht

1

 

Berührung der Wirklichkeit. Ungeachtet des Fehlens von Eigenschaften benimmt sich Ulrich tatkräftig und feurig.

 

Daß Ulrich sich wirklich entschloß, dem Grafen Stallburg seine Aufwartung zu machen, hatte unter verschiedenen Gründen nicht zuletzt den, daß er neugierig geworden war.

Graf Stallburg amtierte in der kaiserlichen und königlichen Hofburg, und der Kaiser und König von Kakanien war ein sagenhafter alter Herr. Seither sind ja viele Bücher über ihn geschrieben worden, und man weiß genau, was er getan, verhindert oder unterlassen hat, aber damals, im letzten Jahrzehnt von seinem und Kakaniens Leben, gerieten jüngere Menschen, die mit dem Stand der Wissenschaften und Künste vertraut waren, manchmal in Zweifel, ob es ihn überhaupt gebe. Die Zahl der Bilder, die man von ihm sah, war fast ebenso groß wie die Einwohnerzahl seiner Reiche; an seinem Geburtstag wurde ebensoviel gegessen und getrunken wie an dem des Erlösers, auf den Bergen flammten die Feuer, und die Stimmen von Millionen Menschen versicherten, daß sie ihn wie einen Vater liebten; endlich war ein zu seinen Ehren klingendes Lied das einzige Gebilde der Dichtkunst und Musik, von dem jeder Kakanier eine Zeile kannte: aber diese Popularität und Publizität war so über-überzeugend, daß es mit dem Glauben an ihn leicht ebenso hätte bestellt sein können wie mit Sternen, die man sieht, obgleich es sie seit Tausenden von Jahren nicht mehr gibt.

Das erste, was nun geschah, als Ulrich zur kaiserlichen Hofburg fuhr, war, daß der Wagen, der ihn dahin bringen sollte, schon im äußeren Burghof anhielt, und es begehrte der Kutscher abgelohnt zu werden, indem er behauptete, daß er zwar durchfahren, aber im inneren Hof nicht stehenbleiben dürfe. Ulrich ärgerte sich über den Kutscher, den er für einen Schwindler oder einen Hasenfuß hielt, und suchte ihn anzutreiben; aber er verblieb ohnmächtig gegenüber dessen ängstlicher Weigerung, und plötzlich fühlte er in ihr die Ausstrahlung einer Gewalt, die mächtiger war als er. Als er den inneren Hof betrat, fielen ihm darauf die zahlreichen roten, blauen, weißen und gelben Röcke, Hosen und Helmbüsche sehr in die Augen, die dort steif in der Sonne standen wie Vögel auf einer Sandbank. Er hatte bis dahin »Die Majestät« für eine bedeutungslose Redewendung gehalten, die man eben noch beibehalten hat, geradeso wie man ein Atheist sein kann und doch »Grüß Gott« sagt; nun aber strich sein Blick an hohen Mauern empor, und er sah eine Insel grau, abgeschlossen und bewaffnet daliegen, an der die Schnelligkeit der Stadt ahnungslos vorbeischoß.

Er wurde, nachdem er sein Begehren angemeldet hatte, über Treppen und Gänge, durch Zimmer und Säle geführt. Obgleich er sehr gut gekleidet war, fühlte er sich dabei von jedem Blick, dem er begegnete, vollkommen richtig eingeschätzt. Kein Mensch schien hier daran zu denken, geistige Vornehmheit mit wirklicher zu verwechseln, und es verblieb Ulrich keine andere Genugtuung als die durch ironischen Protest und bürgerliche Kritik. Er stellte fest, daß er durch ein großes Gehäuse mit wenig Inhalt gehe; die Säle waren fast unmöbliert, aber dieser leere Geschmack hatte nicht die Bitterkeit eines großen Stils; er kam an einer lockeren Folge einzelner Gardisten und Diener vorbei, die einen mehr unbeholfenen als prunkvollen Schutz bildeten, den ein halbes Dutzend gut bezahlter und ausgebildeter Detektive wirkungsvoller besorgt hätte; und vollends die wie Bankboten grau bekleidete und bekappte Dienerart, die sich zwischen den Lakaien und Garden umtrieb, ließ ihn an einen Rechtsanwalt oder Zahnarzt denken, der Büro und Privatwohnung nicht genügend trennt. »Man fühlt deutlich hindurch,« dachte er, »wie das als Pracht dereinst biedermeierische Menschen eingeschüchtert haben mag, aber heute hält es nicht einmal den Vergleich mit der Schönheit und Annehmlichkeit eines Hotels aus und gibt sich darum recht schlau als vornehme Zurückhaltung und Steifheit.«

Als er aber beim Grafen Stallburg eintrat, empfing ihn Se. Exzellenz in einem großen hohlen Prisma von bester Proportion, in dessen Mitte der unscheinbare, kahlköpfige Mann, leicht vorgeneigt und oranghaft geknickt in den Beinen, in einer Weise vor ihm stand, wie eine hohe Hofcharge aus vornehmer Familie unmöglich durch sich selbst aussehen konnte, sondern nur in Nachahmung von irgend etwas. Die Schultern hingen ihm vor, und die Lippe herunter; er glich einem alten Amtsdiener oder einem braven Rechnungsbeamten. Und plötzlich bestand kein Zweifel mehr, an wen er erinnerte; Graf Stallburg wurde durchsichtig, und Ulrich begriff, daß ein Mann, der seit siebzig Jahren der Allerhöchste Mittelpunkt höchster Macht ist, eine gewisse Genugtuung darin finden muß, hinter sich selbst zurückzutreten und dreinzuschaun wie der subalternste seiner Untertanen, wonach es einfach zu gutem Benehmen in der Nähe dieser Allerhöchsten Person und zur selbstverständlichen Form der Diskretion wird, nicht persönlicher auszusehen als sie. Dies scheint der Sinn dessen gewesen zu sein, daß sich die Könige so gern auch die ersten Diener ihres Staates nannten, und mit einem raschen Blick überzeugte sich Ulrich, daß Se. Exzellenz wirklich jenen eisgrauen, kurzen, am Kinn ausrasierten Backenbart trug, den alle Amtsdiener und Eisenbahnportiers in Kakanien besaßen. Man hatte geglaubt, daß sie in ihrem Aussehen ihrem Kaiser und Könige nachstrebten, aber das tiefere Bedürfnis beruht in solchen Fällen auf Gegenseitigkeit.

Ulrich hatte Zeit, sich das zu überlegen, weil er eine Weile warten mußte, ehe Se. Exzellenz ihn ansprach. Der schauspielerische Verkleidungs- und Verwandlungsurtrieb, der zu den Lüsten des Lebens gehört, bot sich ihm ohne den geringsten Beigeschmack, ja wohl ganz ohne Ahnung von Schauspielerei dar; so stark, daß ihm die bürgerliche Gepflogenheit, Theater zu baun und aus dem Schauspiel eine Kunst zu machen, die man stundenweise mietet, neben dieser unbewußten dauernden Kunst der Selbstdarstellung als etwas ganz und gar Unnatürliches, Spätes und Entzweigespaltenes vorkam. Und als Se. Exzellenz endlich eine Lippe von der anderen gehoben hatte und zu ihm sagte: »Ihr lieber Vater . . .« und schon steckenblieb, in der Stimme aber doch etwas lag, was die bemerkenswert schönen gelblichen Hände wahrnehmen machte und etwas wie eine gespannte Moralität rings um die ganze Erscheinung, fand Ulrich das reizend und beging einen Fehler, den geistige Menschen leicht begehn. Denn Se. Exzellenz fragte ihn dann, was er sei, und sagte: »So, sehr interessant, an welcher Schule?« als Ulrich Mathematiker geantwortet hatte; und als Ulrich versicherte, daß er mit Schule nichts zu tun habe, sagte Se. Exzellenz: »So, sehr interessant, ich verstehe, Wissenschaft, Universität.« Und das kam Ulrich so vertraut und ordentlich genau so vor, wie man sich ein feines Konversationsstück vorstellt, daß er sich unversehens benahm, als sei er hier zu Hause, und seinen Gedanken folgte, statt dem gesellschaftlichen Gebot der Lage. Es fiel ihm plötzlich Moosbrugger ein. Hier war die Macht der Begnadigung ja in der Nähe, und nichts erschien ihm einfacher als der Versuch, ob man von ihr Gebrauch machen könnte. »Exzellenz,« fragte er »darf ich mich bei dieser günstigen Gelegenheit für einen Mann verwenden, der mit Unrecht zum Tod verurteilt worden ist?«

Bei dieser Frage riß Exzellenz Stallburg die Augen auf.

»Einen Lustmörder, allerdings,« gestand Ulrich zu, aber in diesem Augenblick sah er selbst ein, daß er sich unmöglich benahm. »Ein geisteskranker natürlich« suchte er sich rasch zu verbessern, und »Exzellenz wissen, daß unsere Gesetzgebung aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts in diesem Punkt rückständig ist«, hätte er beinahe hinzugefügt, aber er mußte schlucken und saß fest. Es war eine Entgleisung, diesem Mann eine Erörterung zuzumuten, wie sie Leute, denen an geistigen Umtrieben gelegen ist, oft ganz zwecklos auf sich nehmen. So ein paar Worte, richtig eingestreut, können fruchtbar wie lockere Gartenerde sein, aber an diesem Ort wirkten sie wie ein Häuflein Erde, das einer versehentlich an den Schuhen ins Zimmer getragen hat. Aber nun, da Graf Stallburg seine Verlegenheit bemerkte, bewies er ihm wahrhaft großes Wohlwollen. »Ja, ja, ich erinnere mich,« sagte er, nachdem Ulrich den Namen genannt hatte, mit einiger Überwindung »und Sie sagen also, daß das ein Geisteskranker sei, und möchten diesem Menschen helfen?«

»Er kann nichts dafür.«

»Ja, das sind immer besonders unangenehme Fälle.« Graf Stallburg schien sehr unter ihren Schwierigkeiten zu leiden. Er sah Ulrich hoffnungslos an und fragte ihn, als sei doch nichts anderes zu erwarten, ob Moosbrugger schon endgültig abgeurteilt sei. Ulrich mußte verneinen. »Ach, nun sehen Sie,« fuhr er erleichtert fort »dann hat es ja noch Zeit«, und er begann von »Papa« zu sprechen, den Fall Moosbrugger in freundlicher Unklarheit zurücklassend.

Ulrich war durch seine Entgleisung einen Augenblick geistesungegenwärtig geworden, aber merkwürdigerweise hatte dieser Fehler auf Exzellenz keinen schlechten Eindruck gemacht. Graf Stallburg war zwar anfangs beinahe sprachlos gewesen, so als ob man in seiner Gegenwart den Rock ausgezogen hätte; dann aber kam ihm diese Unmittelbarkeit an einem so gut empfohlenen Mann tatkräftig und feurig vor, und er war froh, diese zwei Worte gefunden zu haben, denn er war des Willens, sich einen guten Eindruck zu bilden. Er schrieb sie (»Wir dürfen hoffen, einen tatkräftigen und feurigen Helfer gefunden zu haben«) sogleich in das Einführungsschreiben, das er an die Hauptperson der großen vaterländischen Aktion aufsetzte. Als Ulrich einige Augenblicke später dieses Schreiben empfing, kam er sich wie ein Kind vor, das man verabschiedet, indem man ihm ein Stückchen Schokolade ins Händchen preßt. Er hielt nun etwas zwischen den Fingern und nahm Weisungen für einen weiteren Besuch entgegen, die ebensogut ein Auftrag wie eine Bitte sein konnten, ohne daß sich eine Gelegenheit bot, Einspruch dagegen zu erheben. »Das ist ja ein Mißverständnis, ich habe doch nicht im mindesten die Absicht gehabt –« hätte er sagen mögen; aber da war er schon auf dem Weg, zurück durch die großen Gänge und Säle. Er blieb plötzlich stehen und dachte: »Das hat mich ja wie einen Kork gehoben und irgendwo abgesetzt, wohin ich gar nicht wollte!« Er betrachtete neugierig die hinterlistige Einfachheit der Einrichtung. Er durfte sich ruhig sagen, sie mache auch jetzt keinen Eindruck auf ihn; das war bloß eine nicht weggeräumte Welt. Aber welche starke, sonderbare Eigenschaft hatte sie ihn doch fühlen lassen? Zum Teufel, man konnte es kaum anders ausdrücken; sie war einfach überraschend wirklich.

2

 

Die wahre Erfindung der Parallelaktion durch Graf Leinsdorf.

 

Die wahrhaft treibende Kraft der großen patriotischen Aktion – die von nun an, der Abkürzung wegen und weil sie »das volle Gewicht eines 70jährigen segens- und sorgenreichen Jubiläums gegenüber einem bloß 30jährigen zur Geltung zu bringen« hatte, auch die Parallelaktion genannt werden soll – war aber nicht Graf Stallburg, sondern dessen Freund, Se. Erlaucht Graf Leinsdorf. In dem schönen, hochfenstrigen Arbeitszimmer dieses großen Herrn – inmitten vielfacher Schichten von Stille, Devotion, Goldtressen und Feierlichkeit des Ruhms – stand zu der Zeit, wo Ulrich seinen Besuch in der Hofburg machte, der Sekretär mit einem Buch in der Hand und las Sr. Erlaucht eine Stelle daraus vor, die zu finden er beauftragt gewesen war. Es war diesmal etwas aus Joh. Gottl. Fichte, das er in den »Reden an die deutsche Nation« aufgetrieben hatte und für sehr geeignet hielt. »Zur Befreiung von der Erbsünde der Trägheit« las er vor »und ihrem Gefolge, der Feigheit und Falschheit, bedürfen die Menschen der Vorbilder, die ihnen das Rätsel der Freiheit vorkonstruieren, wie ihnen solche in den Religionsstiftern erstanden sind. Die notwendige Verständigung über sittliche Überzeugung geschieht in der Kirche, deren Symbole nicht als Lehrstücke, sondern nur als Lehrmittel für die Verkündigung der ewigen Wahrheiten anzusehen sind.« Er hatte die Worte Trägheit, vorkonstruieren und Kirche betont, Se. Erlaucht hatte wohlwollend zugehört, ließ sich das Buch zeigen, aber schüttelte dann den Kopf. »Nein,« sagte der reichsunmittelbare Graf, »das Buch wäre schon gut, aber diese protestantische Stelle mit der Kirche geht nicht!« – Der Sekretär sah bitter drein wie ein kleiner Beamter, der sich das Konzept eines Akts zum fünftenmal vom Vorstand zurückweisen lassen muß, und wandte vorsichtig ein: »Der Eindruck Fichtes auf nationale Kreise würde aber vorzüglich sein?« – »Ich glaube,« entgegnete Se. Erlaucht »daß wir vorläufig darauf verzichten müssen.« Mit dem zuklappenden Buch klappte auch sein Gesicht zu, mit dem wortlos befehlenden Gesicht klappte auch der Sekretär zu einer ergebenen Verbeugung zusammen und nahm Fichte in Empfang, um ihn abzuservieren und nebenan in der Bibliothek zwischen allen andren philosophischen Systemen der Welt wieder einzureihen; man kocht nicht selbst, sondern läßt das durch seine Leute besorgen.

»Es bleibt also,« sagte Graf Leinsdorf »vorderhand bei den vier Punkten: Friedenskaiser, europäischer Markstein, wahres Österreich und Besitz und Bildung. Danach müssen Sie das Rundschreiben abfassen.« Se. Erlaucht hatte in diesem Augenblick einen politischen Gedanken gehabt, und in Worte gebracht bedeutete er ungefähr: Sie werden von selbst kommen! Er meinte jene Kreise seines Vaterlands, die sich weniger diesem angehören fühlten als der deutschen Nation. Sie waren ihm unangenehm. Hätte sein Sekretär ein passenderes Zitat gefunden, um ihrem Empfinden zu schmeicheln (denn dazu war Joh. Gottl. Fichte ausgewählt worden), so wäre die Stelle auch niedergeschrieben worden; aber im Augenblick, wo eine störende Einzelheit das hinderte, atmete Graf Leinsdorf befreit auf.

Se. Erlaucht war der Erfinder der großen vaterländischen Aktion. Ihm war, als die aufregende Nachricht aus Deutschland kam, zuerst das Wort Friedenskaiser eingefallen. Es hatte sich sofort damit die Vorstellung eines 88jährigen Herrschers verknüpft, eines wahren Vaters seiner Völker, und einer 70jährigen ununterbrochenen Regierung. Diese beiden Vorstellungen trugen wohl natürlich die ihm vertrauten Züge seines kaiserlichen Herrn, aber die Glorie, die auf ihnen lag, war nicht die der Majestät, sondern der stolzen Tatsache, daß sein Vaterland den ältesten und am längsten regierenden Herrscher der Welt besaß. Unverständige könnten sich nun versucht fühlen, darin bloß die Freude an einer Rarität zu erblicken (etwa wie wenn Graf Leinsdorf den Besitz der viel selteneren quergestreiften Sahara mit Wasserzeichen und einem fehlenden Zahn höher gestellt hätte als den eines Greco, was er auch in Wahrheit tat, wenngleich er beide besaß und die berühmte Bildersammlung seines Hauses nicht ganz außer acht ließ), aber sie verstehen eben nicht, welche bereichernde Kraft ein Gleichnis selbst noch vor dem größten Reichtum voraus hat. In diesem Gleichnis von dem alten Herrscher lag für Graf Leinsdorf zugleich sein Vaterland, das er liebte, und die Welt, der es ein Vorbild sein sollte. Große und schmerzliche Hoffnungen bewegten Graf Leinsdorf. Er hätte nicht sagen können: war es mehr Schmerz über sein Vaterland, das er nicht ganz den Ehrenplatz »in der Familie der Völker« einnehmen sah, der ihm gebührte, oder war, was ihn bewegte, Eifersucht auf Preußen, das Österreich von diesem Platz hinabgestoßen hatte (im Jahre 1866, durch Heim-Tücke!), oder erfüllten ihn einfach Stolz auf den Adel eines alten Staats und das Verlangen, ihn vorbildlich zu beweisen; denn die Völker Europas trieben nach seiner Meinung alle im Strudel einer materialistischen Demokratie dahin, und es schwebte ihm ein erhabenes Symbol vor, das ihnen zugleich Mahnung und Zeichen der Einkehr sein sollte. Es war ihm klar, daß etwas geschehen müsse, was Österreich allen voranstellen sollte, damit diese »glanzvolle Lebenskundgebung Österreichs« für die ganze Welt »ein Markstein« sei, somit ihr diene, ihr eigenes wahres Wesen wiederzufinden, und daß dies alles mit dem Besitz eines 88jährigen Friedenskaisers verknüpft war. Mehr oder Genaueres wußte Graf Leinsdorf in der Tat noch nicht. Aber es war sicher, daß ihn ein großer Gedanke ergriffen hatte. Nicht nur entflammte dieser seine Leidenschaft – wogegen ein streng und verantwortlich erzogener Christ immerhin hätte mißtrauisch bleiben müssen –, sondern mit heller Evidenz ergoß sich dieser Gedanke unmittelbar in so erhabene und strahlende Vorstellungen wie die des Herrschers, des Vaterlands und des Weltglücks. Und was diesem Gedanken noch an Dunkel anhaftete, vermochte Se. Erlaucht nicht zu beunruhigen. Se. Erlaucht kannte sehr wohl die theologische Lehre von der contemplatio in caligine divina, der Beschauung im göttlichen Dunkel, das in sich unendlich klar ist, aber für den menschlichen Intellekt Blendung und Finsternis; und im übrigen war es seine Lebensüberzeugung, daß ein Mann, der Großes tut, gewöhnlich nicht weiß warum – sagt doch schon Cromwell: »Ein Mann kommt nie weiter, als wenn er nicht weiß, wohin er geht!« Graf Leinsdorf gab sich also befriedigt dem Genuß seines Gleichnisses hin, dessen Unsicherheit ihn, wie er fühlte, kräftiger erregte als Sicherheiten.

Von Gleichnissen abgesehn, hatten seine politischen Anschauungen aber eine außerordentliche Festigkeit und jene Freiheit eines großen Charakters, die nur durch die vollkommene Abwesenheit von Zweifeln ermöglicht wird. Er war als Majoratsherr Mitglied des Herrenhauses, aber weder politisch aktiv, noch bekleidete er ein Amt am Hofe oder im Staate; er war »nichts als Patriot«. Aber gerade dadurch und durch seinen unabhängigen Reichtum war er zum Mittelpunkt aller anderen Patrioten geworden, die mit Besorgnis die Entwicklung des Reichs und der Menschheit verfolgten. Die ethische Verpflichtung, nicht ein gleichgültiger Zuschauer zu sein, sondern der Entwicklung »von oben helfend die Hand zu bieten«, durchdrang sein Leben. Er war vom »Volk« überzeugt, daß es »gut« sei; da nicht nur seine vielen Beamten, Angestellten und Diener von ihm abhingen, sondern in ihrem wirtschaftlichen Bestehen zahllose Menschen, hatte er es nie anders kennengelernt, ausgenommen die Sonn- und Feiertage, wo es als freundlich buntes Gewimmel aus den Kulissen quillt wie ein Opernchor. Was nicht zu dieser Vorstellung stimmte, führte er deshalb auf »hetzerische Elemente« zurück; es war für ihn das Werk verantwortungsloser, unreifer und sensationssüchtiger Individuen. Religiös und feudal erzogen, niemals im Verkehr mit bürgerlichen Menschen dem Widerspruch ausgesetzt, nicht unbelesen, aber durch die Nachwirkung der geistlichen Pädagogik, die seine Jugend behütet hatte, zeitlebens gehindert, in einem Buch etwas anderes zu erkennen als Übereinstimmung oder irrende Abweichung von seinen eigenen Grundsätzen, kannte er das Weltbild zeitgemäßer Menschen nur aus den Parlaments- und Zeitungskämpfen; und da er genug Wissen besaß, um die vielen Oberflächlichkeiten in diesen zu erkennen, wurde er täglich in seinem Vorurteil bestärkt, daß die wahre, tiefer verstandene bürgerliche Welt nichts anderes sei, als was er selbst meine. Überhaupt war der Zusatz »der wahre« zu politischen Gesinnungen eine seiner Hilfen, um sich in einer von Gott geschaffenen, aber ihn zu oft verleugnenden Welt zurechtzufinden. Er war fest überzeugt, daß sogar der wahre Sozialismus mit seiner Auffassung übereinstimme; ja es war von Anfang an seine persönlichste Idee, die er sogar sich selbst noch teilweise verbarg, eine Brücke zu schlagen, auf der die Sozialisten in sein Lager marschieren sollten. Es ist ja klar, daß den Armen zu helfen eine ritterliche Aufgabe ist und daß für den wahren Hochadel eigentlich kein so großer Unterschied zwischen einem bürgerlichen Fabrikanten und seinem Arbeiter bestehen kann; »wir alle sind ja im Innersten Sozialisten« war ein Lieblingsausspruch von ihm und hieß ungefähr so viel und nicht mehr, wie daß es im Jenseits keine sozialen Unterschiede gibt. In der Welt hielt er sie aber für notwendige Tatsachen und erwartete von der Arbeiterschaft, wenn man ihr bloß in den Fragen des materiellen Wohlbefindens entgegenkomme, daß sie von unvernünftigen, in sie hineingetragenen Schlagworten abstehn und die natürliche Weltordnung einsehn werde, wo jeder in dem ihm bestimmten Kreis Pflicht und Gedeihen findet. Der wahre Adelige erschien ihm darum so wichtig wie der wahre Handwerker, und die Lösung der politischen und wirtschaftlichen Fragen lief für ihn eigentlich auf eine harmonische Vision hinaus, die er Vaterland nannte.

Se. Erlaucht hätte nicht anzugeben vermocht, was davon er während der Viertelstunde seit dem Abgang seines Sekretärs gedacht hatte. Vielleicht alles. Der mittelgroße, etwa sechzigjährige Mann saß reglos vor seinem Schreibtisch, die Hände im Schoß verschränkt, und wußte nicht, daß er lächelte. Er trug einen niederen Kragen, weil er Anlage zu einem Blähhals hatte, und einen Knebelbart entweder aus dem gleichen Grund oder weil er damit ein wenig an die Bilder böhmischer Aristokraten aus der Zeit Wallensteins erinnerte. Ein hohes Zimmer stand um ihn, und dieses war wieder von den großen, leeren Räumen des Vorzimmers und der Bibliothek umgeben, um welche, Schale über Schale, weitere Räume, Stille, Devotion, Feierlichkeit und der Kranz zweier geschwungenen Steintreppen sich legten; wo diese in die Einfahrt mündeten, stand in schwerem, tressenbeladenem Mantel, seinen Stab in der Hand, der große Türhüter, er sah durch das Loch des Torbogens in die helle Flüssigkeit des Tags, und die Fußgänger schwammen vorbei wie in einem Goldfischglas. An der Grenze dieser beiden Welten zogen sich die spielerischen Ranken einer Rokokofassade hoch, die unter den Kunstgelehrten nicht nur wegen ihrer Schönheit berühmt war, sondern auch weil sie höher war als breit; sie gilt heute als der erste Versuch, die Haut eines breit bequemen Landschlößchens über das auf bürgerlich beengtem Grundriß hochgeratene Gerüst des Stadthauses zu spannen, und damit als einer der wichtigsten Übergänge von der feudalen Grundherrlichkeit zum Stil der bürgerlichen Demokratie. Hier ging die Existenz der Leinsdorfs kunstbücherlich beglaubigt in den Weltgeist über. Wer das aber nicht wußte, sah so wenig davon wie der vorüberschießende Wassertropfen von der Wand seines Kanals; er bemerkte nur das weiche grauliche Torloch in der sonst festen Straße, eine überraschende, fast erregende Vertiefung, in deren Höhle das Gold der Tressen und des großen Knopfes am Türhüterstab erglänzten. Bei schönem Wetter kam dieser Türhüter vor die Einfahrt; dann stand er dort wie ein bunter, weit sichtbarer Edelstein, in eine Häuserflucht eingesprengt, die in niemandes Bewußtsein tritt, obgleich es erst ihre Wände sind, die das zahl- und namenlos vorbeitreibende Gewimmel zur Ordnung einer Straße erheben. Es ist zu wetten, daß ein großer Teil des »Volks«, über dessen Ordnung Graf Leinsdorf besorgt und unablässig wachte, mit seinem Namen, wenn er fiel, nichts als die Erinnerung an diesen Türsteher verband.

Aber Se. Erlaucht hätte darin keine Zurücksetzung erblickt; eher dürfte ihm schon der Besitz derartiger Türhüter als die »wahre Selbstlosigkeit« vorgekommen sein, die einem vornehmen Mann ansteht.

3

 

Die Parallelaktion steht in Gestalt einer einflußreichen Dame von unbeschreiblicher geistiger Anmut bereit, Ulrich zu verschlingen.

 

Diesen Grafen Leinsdorf hatte Ulrich nach dem Wunsch des Grafen Stallburg aufsuchen sollen, aber er hatte beschlossen, es nicht zu tun; dagegen nahm er sich vor, seiner »großen Kusine« den ihm von seinem Vater empfohlenen Besuch zu machen, weil ihm daran gelegen war, sie einmal mit eigenen Augen zu sehn. Er kannte sie nicht, aber er hatte schon seit einiger Zeit eine ganz besondere Abneigung gegen sie, weil es wiederholt vorkam, daß ihm Leute, die von seiner Verwandtschaft wußten und es gut mit ihm meinten, rieten: »Diese Frau müßten gerade Sie kennenlernen!« Es geschah immer mit jener besonderen Betonung des Sie, die gerade den Angeredeten als ausnehmend geeignet zum Verständnis eines solchen Juwels hervorheben will und ebensogut eine aufrichtige Schmeichelei bedeuten kann wie ein Versteck für die Überzeugung, daß man der rechte Narr für eine solche Bekanntschaft sei. Er hatte sich deshalb schon oft nach den besondren Eigenschaften dieser Frau erkundigt, aber niemals darauf befriedigende Antwort erhalten. Es hieß entweder: »Sie hat eine unbeschreibliche geistige Anmut« oder: »Sie ist unsere schönste und gescheiteste Frau«, und manche sagen einfach: »Sie ist eine ideale Frau!« – »Wie alt ist denn diese Person?« fragte Ulrich, aber niemand wußte es, und gewöhnlich war der Befragte darüber erstaunt, daß er selbst noch nicht darauf gekommen sei, sich das zu fragen. »Und wer ist denn nun eigentlich ihr Geliebter?« fragte Ulrich schließlich ungeduldig. »Ein Verhältnis?« Der nicht unerfahrene junge Mann, zu dem er so sprach, staunte. »Sie haben ganz recht. Kein Mensch käme auf diese Vermutung.« »Also eine geistige Schönheit,« sagte sich Ulrich; »eine zweite Diotima.« Und von diesem Tag an nannte er sie in Gedanken so, nach jener berühmten Dozentin der Liebe.

In Wirklichkeit hieß sie aber Ermelinda Tuzzi und in Wahrheit sogar nur Hermine. Nun ist Ermelinda zwar nicht einmal die Übersetzung von Hermine, aber sie hatte das Recht auf diesen schönen Namen doch eines Tags durch intuitive Eingebung erworben, indem er plötzlich als höhere Wahrheit vor ihrem geistigen Ohre stand, wenngleich ihr Gatte auch weiterhin Hans und nicht Giovanni hieß und trotz seines Familiennamens die italienische Sprache erst auf der Konsularakademie erlernt hatte. Gegen diesen Sektionschef Tuzzi besaß Ulrich kein geringeres Vorurteil wie gegen seine Gattin. Er war in einem Ministerium, das als Ministerium des Äußern und des Kaiserlichen Hauses noch viel feudaler war als die anderen Regierungsbüros, der einzige bürgerliche Beamte in maßgebender Stellung, leitete darin die einflußreichste Sektion, galt als die rechte Hand, gerüchtweise sogar als der Kopf seiner Minister und gehörte zu den wenigen Männern, die auf die Geschicke Europas Einfluß hatten. Wenn aber in so stolzer Umgebung ein Bürgerlicher zu solcher Stellung aufsteigt, darf man füglich einen Schluß auf Eigenschaften ziehen, die in einer vorteilhaften Weise persönliche Unentbehrlichkeit mit bescheidenem Zurücktretenkönnen vereinen müssen, und Ulrich war nicht weit davon entfernt, sich den einflußreichen Sektionschef als eine Art properen Kavalleriewachtmeister vorzustellen, der hochadelige Einjährige kommandieren muß. Dazu paßte als Ergänzung eine Lebensgefährtin, die er sich, trotz der Anpreisungen ihrer Schönheit, nicht mehr jung, ehrgeizig und mit einem bürgerlichen Korsett von Bildung dachte.

Aber Ulrich wurde heftig überrascht. Als er ihr seine Aufwartung machte, empfing ihn Diotima mit dem nachsichtigen Lächeln der bedeutenden Frau, die weiß, daß sie auch schön ist, und den oberflächlichen Männern verzeihen muß, daß sie daran immer zuerst denken.

»Ich habe Sie schon erwartet« sagte sie, und Ulrich wußte nicht recht, war das liebenswürdig oder tadelnd. Die Hand, welche sie ihm reichte, war fett und gewichtslos.

Er hielt sie einen Augenblick zu lang fest, seine Gedanken vermochten sich nicht gleich von dieser Hand zu trennen. Wie ein dickes Blütenblatt lag sie in der seinen; die spitzen Nägel wie Flügeldecken, schienen imstande zu sein, mit ihr jeden Augenblick ins Unwahrscheinliche davonzufliegen. Die Überspanntheit der Frauenhand hatte ihn überwältigt, eines im Grunde ziemlich schamlos menschlichen Organs, das wie eine Hundeschnauze alles betastet, aber öffentlich der Sitz von Treue, Adel und Zartheit ist. Während dieser Sekunden stellte er fest, daß Diotimas Hals mehrere Wülste trug, von zartester Haut überzogen; ihr Haar war zu einem griechischen Knoten geschlungen, der starr abstand und in seiner Vollkommenheit einem Wespennest glich. Ulrich fühlte sich von etwas Feindseligem bedrängt, einer Lust, diese lächelnde Frau zu empören, aber er konnte sich der Schönheit Diotimas nicht ganz entziehen.

Auch Diotima sah ihn lange und beinahe prüfend an. Sie hatte manches von diesem Vetter gehört, das für ihr Ohr eine leichte Schattierung von privatem Skandal besaß, und außerdem war dieser Mann mit ihr verwandt. Ulrich nahm wahr, daß auch sie sich dem körperlichen Eindruck nicht ganz entziehen konnte, den er auf sie machte. Er war ihn gewohnt. Er war glatt rasiert, groß, durchgebildet und biegsam muskulös, sein Gesicht war hell und undurchsichtig; mit einem Wort, er kam sich manchmal selbst wie ein Vorurteil vor, das sich die meisten Frauen von einem eindrucksvollen noch jungen Mann bilden, und hatte bloß nicht immer die Kraft, sie rechtzeitig davon abzubringen. Diotima aber wehrte sich dagegen, indem sie ihn geistig bemitleidete. Ulrich konnte beobachten, daß sie dauernd seine Erscheinung betrachtete und offenbar nicht ungefällige Gefühle dabei hatte, während sie sich vielleicht sagte, daß die edlen Eigenschaften, die er so sinnfällig zu besitzen schien, durch ein schlechtes Leben unterdrückt sein mußten und gerettet werden konnten. Von ihrem Aussehen ging, obgleich sie nicht viel jünger als Ulrich und körperlich in aufgeschlossener Vollblüte war, geistig etwas unerschlossen Jungfräuliches aus, das einen sonderbaren Gegensatz zu ihrem Selbstbewußtsein bildete. So betrachteten sie einander noch, während sie schon sprachen.

Diotima begann damit, daß sie die Parallelaktion für eine geradezu nie wiederkehrende Gelegenheit erklärte, das zu verwirklichen, was man für das Wichtigste und Größte halte. »Wir müssen und wollen eine ganz große Idee verwirklichen. Wir haben die Gelegenheit und dürfen uns ihr nicht entziehn!«

Ulrich fragte naiv: »Denken Sie an etwas Bestimmtes?«

Nein, Diotima dachte nicht an etwas Bestimmtes. Wie hätte sie das auch tun können! Niemand, der vom Größten und Wichtigsten der Welt spricht, meint, daß es das wirklich gebe. Aber welcher sonderbaren Eigenschaft der Welt kommt das gleich? Alles läuft darauf hinaus, daß das eine größer, wichtiger oder auch schöner oder trauriger ist als das andere, also auf eine Rangordnung und einen Komparativ, und dazu gibt es nun keine Spitze und keinen Superlativ? Macht man jedoch jemand, der gerade vom Wichtigsten und Größten sprechen will, darauf aufmerksam, so faßt er das Mißtrauen, es mit einem gefühllosen und unidealistischen Menschen zu tun zu haben. So ging es Diotima, und so hatte Ulrich gesprochen.

Diotima fand, als eine Frau, deren Geist bewundert wurde, Ulrichs Einwand respektlos. Sie lächelte nach einer Weile und antwortete: »Es gibt so viel Großes und Gutes, was noch nicht verwirklicht ist, daß die Wahl nicht leicht fallen wird. Aber wir werden Ausschüsse aus allen Kreisen der Bevölkerung einsetzen, die uns behilflich sein sollen. Oder glauben Sie nicht, Herr von . . ., daß es einen ungeheuren Vorzug bedeutet, eine Nation, ja eigentlich die ganze Welt bei einer solchen Gelegenheit dazu aufrufen zu dürfen, daß sie sich inmitten eines materialistischen Treibens auf das Geistige besinne? Sie sollen nicht annehmen, daß wir etwas im längst verbrauchten Sinn Patriotisches anstreben.«

Ulrich wich mit einem Scherz aus.

Diotima lachte nicht; sie lächelte bloß. Sie war geistreiche Männer gewohnt; aber diese waren auch sonst noch etwas. Paradoxe als solche erschienen ihr unreif und erregten das Bedürfnis, ihren Verwandten auf den Ernst der Wirklichkeit hinzuweisen, welcher dem großen patriotischen Unternehmen sowohl Würde wie Verantwortung lieh. Sie sprach nun in einem anderen Ton, abschließend und eröffnend; Ulrich suchte unwillkürlich zwischen ihren Worten nach jenen schwarz-gelben Bindfäden, mit denen in den Ministerien die Aktenblätter durchschossen und aneinandergeheftet werden. Es kamen aber keineswegs nur regierungsfähige, sondern auch geistige Kennerworte aus Diotimas Mund, wie »seelenlose, bloß von Logik und Psychologie beherrschte Zeit« oder »Gegenwart und Ewigkeit«, und plötzlich war dazwischen auch von Berlin und dem »Schatz von Gefühl« die Rede, den das Österreichertum im Gegensatz zu Preußen noch bewahre.

Ulrich machte einigemal den Versuch, diese geistige Thronrede zu stören; aber augenblicklich wölkte Sakristeigeruch des hohen Bürokratismus über die Unterbrechung hin, ihre Taktlosigkeit zart verhüllend. Ulrich staunte. Er erhob sich, sein erster Besuch war offenbar zu Ende.

In diesen Augenblicken des Rückzugs behandelte ihn Diotima mit jener sanften, vorsichtshalber und ostensibel ein wenig übertriebenen Zuvorkommenheit, die sie ihrem Mann abgelernt hatte; der machte von ihr im Verkehr mit jungen Adeligen Gebrauch, die seine Untergebenen waren, aber eines Tags seine Minister sein konnten. Es lag etwas von der überheblichen Unsicherheit des Geistes gegenüber roherer Lebenskraft in der Art, wie sie ihn zum Wiederkommen aufforderte. Als er ihre milde, gewichtlose Hand wieder in der seinen hielt, sahen sie einander in die Augen. Ulrich hatte den bestimmten Eindruck, daß sie auserwählt seien, einander große Unannehmlichkeiten durch Liebe zu bereiten.

»Wahrhaftig,« dachte er »eine Hydra von Schönheit!« Er hatte die Absicht, die große vaterländische Aktion vergeblich auf sich warten zu lassen, aber sie schien in Diotima Gestalt angenommen zu haben und war bereit, ihn zu verschlingen. Es war ein halb spaßiger Eindruck; trotz seiner Jahre und Erfahrung kam er sich wie ein schädlicher kleiner Wurm vor, den ein großes Huhn aufmerksam betrachtet. »Um Gotteswillen,« dachte Ulrich »nur nicht von dieser Seelenriesin sich zu kleinen Schandtaten herausfordern lassen!« Er hatte von seinem Verhältnis zu Bonadea genug und machte sich äußerste Zurückhaltung zur Pflicht.

Beim Verlassen der Wohnung tröstete ihn ein Eindruck, den er schon beim Kommen angenehm empfunden hatte. Ein kleines Stubenmädchen mit träumerischen Augen geleitete ihn. Im Dunkel des Vorzimmers waren ihre Augen wie ein schwarzer Schmetterling gewesen, als sie zum erstenmal an ihm emporflatterten; jetzt beim Fortgehn sanken sie durch das Dunkel wie schwarze Schneeflocken. Etwas Arabisch- oder Algerisch-Jüdisches, eine Vorstellung, die er nicht deutlich in sich aufgenommen hatte, war so unbeachtet lieblich um diese Kleine, daß Ulrich auch jetzt vergaß, sich das Mädchen genau anzusehn; erst als er sich auf der Straße befand, fühlte er, daß nach Diotimas Gegenwart der Anblick dieser kleinen Person etwas ungemein Lebendiges und Erfrischendes gewesen war.

4

 

Erste Einmischung eines großen Mannes.

 

Diotima und ihr Stubenmädchen blieben nach Ulrichs Fortgang in einer leisen Angeregtheit zurück. Aber während es der kleinen schwarzen Eidechse jedesmal, wenn sie einen vornehmen Besucher hinausbegleitete, zumute war, als ob sie blitzschnell an einer großen schimmernden Mauer hinauf huschen dürfte, behandelte Diotima die Erinnerung an Ulrich mit der Gewissenhaftigkeit einer Frau, die es nicht ungern sieht, unrecht berührt zu werden, weil sie in sich die Macht sanfter Zurechtweisung fühlt. Ulrich wußte nicht, daß am gleichen Tag ein anderer Mann in ihr Leben getreten war, der sich unter ihr wie ein riesiger Aussichtsberg emporhob.

Dr. Paul Arnheim hatte ihr kurz nach seinem Eintreffen seine Aufwartung gemacht.

Er war unermeßlich reich. Sein Vater war der mächtigste Beherrscher des »eisernen Deutschland«, und sogar Sektionschef Tuzzi hatte sich zu diesem Wortspiel herbeigelassen; Tuzzis Grundsatz war, daß man im Ausdruck sparsam sein müsse und Wortspiele, wenn man ihrer auch im geistvollen Gespräch nicht ganz entbehren könne, niemals zu gut sein dürfen, weil das bürgerlich sei. Er selbst hatte seiner Gattin empfohlen, den Besuch mit Auszeichnung zu behandeln; denn wenn diese Art Leute im Deutschen Reich auch noch nicht obenauf waren und an Einfluß bei Hof nicht mit den Krupps verglichen werden konnten, so konnte dies seiner Ansicht nach immerhin morgen der Fall sein, und er fügte den Inhalt eines intimen Gerüchts hinzu, wonach dieser Sohn – der übrigens schon weit über Vierzig war – durchaus nicht bloß nach der Stellung seines Vaters strebe, sondern, auf den Zug der Zeit und seine internationalen Beziehungen gestützt, sich auf eine Reichministerschaft vorbereite. Nach der Meinung des Sektionschefs Tuzzi war dies freilich ganz und gar ausgeschlossen, außer es ginge ein Weltuntergang voran.

Er ahnte nicht, welchen Sturm er damit in der Phantasie seiner Gattin erregte. Es gehörte selbstverständlich zu den Überzeugungen ihres Kreises, »Händler« nicht allzu hoch zu schätzen, aber wie alle Menschen bürgerlicher Gesinnung, bewunderte sie Reichtum in einer Tiefe des Herzens, die von Überzeugungen ganz unabhängig ist, und die persönliche Begegnung mit einem so über die Maßen reichen Mann wirkte auf sie wie goldene Engelsfittiche, die sich zu ihr niedergelassen hatten. Ermelinda Tuzzi war seit dem Aufstieg ihres Gatten den Verkehr mit Ruhm und Reichtum wohl nicht ungewohnt; aber Ruhm, durch geistige Leistungen erworben, zerfließt merkwürdig rasch, sobald man mit seinen Trägern verkehrt, und feudaler Reichtum hat entweder die Form törichter Schulden junger Attachés oder er ist an einen überlieferten Lebensstil gebunden, ohne je das Überschäumende frei aufgehäufter Geldberge zu gewinnen und den sprühend ausgeschütteten Schauder des Goldes, mit dem große Banken oder Weltindustrien ihre Geschäfte besorgen. Das einzige, was Diotima vom Bankwesen wußte, war, daß selbst mittlere Angestellte auf Dienstreisen in der ersten Klasse fuhren, während sie immer zweiter reisen mußte, wenn sie sich nicht in Gesellschaft ihres Mannes befand, und sie hatte sich danach eine Vorstellung von dem Luxus gemacht, der die obersten Despoten eines solchen orientalischen Betriebs umgeben müsse.

Ihre kleine Zofe Rachel – es versteht sich von selbst, daß Diotima, wenn sie sie rief, diesen Namen französisch aussprach – hatte traumhafte Dinge gehört. Das mindeste, was sie zu erzählen wußte, war, daß der Nabob mit seinem eigenen Zuge angekommen sei, ein ganzes Hotel gemietet habe und einen kleinen Negersklaven mit sich führe. Die Wahrheit war wesentlich bescheidener; schon deshalb, weil Paul Arnheim sich niemals auffällig benahm. Nur der Mohrenknabe war Wirklichkeit. Ihn hatte Arnheim vor Jahren auf einer Reise im äußersten Süden Italiens aus einer Truppe von Tänzern herausgegriffen und zu sich genommen, in einer Mischung des Wunsches, sich selbst zu schmücken, mit der Anwandlung, eine Kreatur aus der Tiefe zu heben und, indem er ihr das Leben des Geistes erschloß, an ihr Gottes Werk zu tun. Er hatte aber später bald die Lust daran verloren und verwendete den Kleinen, der jetzt sechzehn Jahre alt war, nur noch als Bedienten, während er ihm vor dem vierzehnten Jahr Stendhal und Dumas zu lesen gegeben hatte. Aber obgleich die Gerüchte, die ihre Zofe nach Hause gebracht hatte, so kindlich in ihrer Übertreibung waren, daß Diotima lächeln mußte, ließ sie sich doch alles Wort für Wort wiederholen, denn sie fand es so unverdorben, wie das nur in dieser einzigen Großstadt vorkommen konnte, die »bis zur Unschuld kulturvoll« war. Und der Mohrenjunge ergriff merkwürdigerweise sogar ihre eigene Phantasie.

Sie war die älteste von den drei Töchtern eines Mittelschullehrers gewesen, der kein Vermögen besaß, so daß ihr Gatte für sie schon als gute Partie gegolten hatte, als er noch nichts als einen unbekannten bürgerlichen Vizekonsul darstellte. Sie hatte in ihrer Mädchenzeit nichts gehabt als ihren Stolz, und da dieser hinwieder nichts hatte, worauf er stolz sein konnte, war er eigentlich nur eine eingerollte Korrektheit mit ausgestreckten Taststacheln der Empfindsamkeit gewesen. Aber auch eine solche verbirgt manchmal Ehrgeiz und Träumerei und kann eine unberechenbare Kraft sein. Hatte Diotima anfangs die Aussicht auf ferne Verwicklungen in fernen Ländern gelockt, so kam bald die Enttäuschung; denn das bildete nach wenigen Jahren nur noch Freundinnen gegenüber, die sie um ihren Hauch von Exotik beneideten, einen diskret benützten Vorteil und vermochte nicht die Erkenntnis zurückzudämmen, daß in den Hauptdingen das Leben auf den Missionen das mit dem andren Gepäck von zu Hause mitgebrachte Leben bleibt. Diotimas Ehrgeiz war lange Zeit nahe daran gewesen, in der vornehmen Aussichtslosigkeit der fünften Rangklasse zu enden, ehe durch einen Zufall plötzlich der Aufstieg ihres Mannes damit begann, daß ein wohlwollender und »fortschrittlich« gesinnter Minister sich den Bürgerlichen in die Präsidialkanzlei der Zentralstelle holte. In dieser Stellung kamen nun viele Leute zu Tuzzi, die etwas von ihm wollten, und von diesem Augenblick an belebte sich auch in Diotima fast zu ihrem eigenen Erstaunen ein Schatz von Erinnerungen an »geistige Schönheit und Größe«, den sie sich angeblich im kulturvollen Elternhaus und in den Zentren der Welt, in Wahrheit aber wohl auf der höheren Töchterschule als vorzügliches Lernkind angeeignet hatte, und sie fing an, ihn vorsichtig zu verwerten. Der nüchterne, aber ungemein verläßliche Verstand ihres Mannes hatte die Aufmerksamkeit unwillkürlich auch auf sie gelenkt, und sie handelte nun vollkommen arglos wie ein feuchtes Schwämmchen, welches das wieder von sich gibt, was es ohne besondere Verwendung in sich aufgespeichert hat, indem sie, sobald sie wahrnahm, daß man ihre geistigen Vorzüge bemerkte, mit großer Freude kleine »hochgeistige« Ideen an passenden Plätzen in ihre Unterhaltung einflocht. Und allmählich, während ihr Mann weiter emporstieg, fanden sich immer mehr Leute ein, die seine Nähe suchten, und ihr Haus wurde zu einem »Salon«, der in dem Ruf stand, daß »Gesellschaft und Geist« dort einander begegneten. Jetzt, im Verkehr mit Menschen, die auf verschiedenen Gebieten etwas bedeuteten, begann Diotima auch ernstlich sich selbst zu entdecken. Ihre Korrektheit, die noch immer aufpaßte wie in der Schule, das Gelernte gut behielt und es zu einer freundlichen Einheit verknüpfte, wurde geradezu von selbst zu Geist, einfach durch Erweiterung, und das Haus Tuzzi gewann eine anerkannte Stellung.

5

 

Besitz und Bildung; Diotimas Freundschaft mit Graf Leinsdorf und das Amt, berühmte Gäste in Einheit mit der Seele zu bringen.

 

Zu einem feststehenden Begriff wurde es aber erst durch die Freundschaft Diotimas mit Sr. Erlaucht dem Grafen Leinsdorf.

Von den Körperteilen, nach denen Freundschaften benannt werden, lag der gräflich Leinsdorfsche an einem solchen Ort zwischen Kopf und Herz, daß man Diotima nicht anders als seine Busenfreundin nennen dürfte, wenn dieses Wort noch gebräuchlich wäre. Se. Erlaucht verehrte Diotimas Geist und Schönheit, ohne sich unerlaubte Absichten zu gestatten. Durch sein Wohlwollen gewann Diotimas Salon nicht nur eine unerschütterliche Stellung, sondern erfüllte, wie er sich auszudrücken pflegte, ein Amt.

Für seine Person war Se. Erlaucht der reichsunmittelbare Graf »nichts als Patriot«. Aber der Staat besteht nicht nur aus der Krone und dem Volk, dazwischen die Verwaltung, sondern es gibt in ihm außerdem noch eins: den Gedanken, die Moral, die Idee! – So religiös Se. Erlaucht war, so wenig verschloß er sich, als ein von Verantwortung durchdrungener Geist, der überdies auf seinen Gütern Fabriken betrieb, der Erkenntnis, daß sich heute der Geist in vielem der Bevormundung durch die Kirche entzogen habe. Denn er konnte sich nicht vorstellen, wie zum Beispiel eine Fabrik, eine Börsenbewegung in Getreide oder eine Zuckerkampagne nach religiösen Grundsätzen zu leiten wären, während andrerseits ohne Börse und Industrie ein moderner Großgrundbesitz rationell nicht zu denken ist; und wenn Se. Erlaucht den Vortrag seines Wirtschaftsdirektors empfing, der ihm zeigte, daß in Verbindung mit einer ausländischen Spekulantengruppe ein Geschäft besser zu machen sei als an der Seite des heimischen Grundadels, so mußte Se. Erlaucht sich in den meisten Fällen für das erste entscheiden, denn die sachlichen Zusammenhänge haben ihre eigene Vernunft, der man sich nicht einfach nach Gefühl entgegenstellen kann, wenn man als Leiter einer großen Wirtschaft die Verantwortung nicht für sich allein, sondern auch für ungezählte andere Existenzen trägt. Es gibt etwas wie ein fachliches Gewissen, das unter Umständen dem religiösen widerspricht, und Graf Leinsdorf war überzeugt, daß selbst der Kardinal Erzbischof dabei nicht anders handeln könnte als er. Freilich war Graf Leinsdorf auch jederzeit bereit, dies in öffentlicher Herrenhaussitzung zu bedauern und die Hoffnung auszusprechen, daß das Leben zu der Einfachheit, Natürlichkeit, Übernatürlichkeit, Gesundheit und Notwendigkeit der christlichen Grundsätze wieder zurückfinden werde. Das war, sobald er zu solchen Ausführungen den Mund öffnete, wie wenn man einen Kontaktstöpsel herausgezogen hätte, und er floß in einem anderen Stromkreis. Übrigens geht es den meisten Menschen so, wenn sie sich öffentlich äußern; und wenn jemand Sr. Erlaucht vorgeworfen hätte, daß er für seine Person das tue, was er in der Öffentlichkeit bekämpfe, so würde Graf Leinsdorf es mit heiliger Überzeugung als das demagogische Gerede von wieglerischen Elementen gebrandmarkt haben, die von der ausgebreiteten Verantwortlichkeit des Lebens keine Ahnung besäßen. Trotzdem erkannte er selbst, daß eine Verbindung zwischen den ewigen Wahrheiten und den Geschäften, die so viel verwickelter sind als die schöne Einfachheit der Überlieferung, eine Angelegenheit von größter Wichtigkeit darstelle, und er hatte auch erkannt, daß sie nirgends anders zu suchen sei als in der vertieften bürgerlichen Bildung; mit ihren großen Gedanken und Idealen auf den Gebieten des Rechts, der Pflicht, des Sittlichen und des Schönen reichte sie bis zu den Tageskämpfen und täglichen Widersprüchen und erschien ihm wie eine Brücke aus lebendem Pflanzengewirr. Man konnte zwar nicht so fest und sicher auf ihr fußen wie auf den Dogmen der Kirche, aber es war nicht weniger notwendig und verantwortungsvoll, und aus diesem Grunde war Graf Leinsdorf nicht nur ein religiöser, sondern auch ein leidenschaftlicher ziviler Idealist.

Diesen Überzeugungen Sr. Erlaucht entsprach in seiner Zusammensetzung der Salon Diotimas. Diotimas Gesellschaften waren berühmt dafür, daß man dort an großen Tagen auf Menschen stieß, mit denen man kein Wort wechseln konnte, weil sie in irgendeinem Fach zu bekannt waren, um mit ihnen über die letzten Neuigkeiten zu sprechen, während man den Namen des Wissensbezirks, in dem ihr Weltruhm lag, in vielen Fällen noch nie gehört hatte. Es gab da Kenzinisten und Kanisisten, es konnte vorkommen, daß ein Grammatiker des Bo auf einen Partigenforscher, ein Tokontologe auf einen Quantentheoretiker stieß, abzusehen von den Vertretern neuer Richtungen in Kunst und Dichtung, die jedes Jahr die Bezeichnung wechselten und neben ihren arrivierten Fachgenossen in beschränktem Maße dort verkehren durften. Im allgemeinen war dieser Verkehr so eingerichtet, daß alles durcheinander kam und sich harmonisch mischte; nur die jungen Geister hielt Diotima gewöhnlich durch gesonderte Einladungen abseits und seltene oder besondre Gäste verstand sie unauffällig zu bevorzugen und einzurahmen. Was das Haus Diotimas vor allen ähnlichen auszeichnete, war übrigens, wenn man so sagen darf, gerade das Laienelement; jenes Element der praktisch angewandten Ideen, das sich – um mit Diotima zu sprechen – einst um den Kern der Gotteswissenschaften als ein Volk von gläubig Schaffenden verteilte, eigentlich als eine Gemeinschaft von lauter Laienbrüdern und -schwestern, kurz gesagt, das Element der Tat; – und heute, wo die Gotteswissenschaften durch Nationalökonomie und Physik verdrängt worden sind und Diotimas Verzeichnis einzuladender Verweser des Geistes auf Erden mit der Zeit an den Catalogue of Scientific Papers der British Royal Society heranwuchs, bestanden die Laienbrüder und -schwestern dementsprechend aus Bankdirektoren, Technikern, Politikern, Ministerialräten und den Damen wie Herrn der hohen und der ihr angeschlossenen Gesellschaft. Besonders die Frauen ließ Diotima sich angelegen sein, aber sie bevorzugte dabei die »Damen« vor den »Intellektuellen«. »Das Leben ist heute viel zu sehr von Wissen belastet,« pflegte sie zu sagen »als daß wir auf die ›ungebrochene Frau‹ verzichten dürften.« Sie war überzeugt, daß nur die ungebrochene Frau noch jene Schicksalsmacht besitze, die den Intellekt mit Seinskräften zu umschlingen vermöge, was dieser ihrer Ansicht nach zu seiner Erlösung offenbar sehr nötig hatte. Diese Auffassung von der umschlingenden Frau und der Kraft des Seins wurde ihr übrigens auch von dem männlichen jungen Adel, der bei ihr verkehrte, weil es als Gepflogenheit galt und Sektionschef Tuzzi nicht unbeliebt war, hoch angerechnet; denn das unzersplitterte Sein ist nun einmal etwas für den Adel, und im besonderen war das Haus Tuzzi, wo man sich paarweise in Gespräche vertiefen durfte, ohne aufzufallen, für liebende Zusammenkünfte und lange Aussprachen, ohne daß Diotima das ahnte, noch viel beliebter als eine Kirche.

Se. Erlaucht Graf Leinsdorf umfaßte diese zwei in sich so vielfältigen Elemente, die sich bei Diotima mischten, wenn er sie nicht gerade die »wahre Vornehmheit« nannte, mit der Bezeichnung »Besitz und Bildung«; noch lieber verwandte er aber für sie jene Vorstellung »Amt«, die in seinem Denken einen bevorzugten Platz einnahm. Er vertrat die Auffassung, daß jede Leistung – nicht nur die eines Beamten, sondern ebensogut die eines Fabrikarbeiters oder eines Konzertsängers – ein Amt darstelle. »Jeder Mensch« pflegte er zu sagen »besitzt ein Amt im Staate; der Arbeiter, der Fürst, der Handwerker sind Beamte!«; es war dies ein Ausfluß seines stets und unter allen Umständen sachlichen Denkens, das keine Protektion kannte, und in seinen Augen erfüllten auch die Herrn und Damen der obersten Gesellschaft, indem sie mit den Erforschern der Boghazkoitexte oder der Plättchenfrage plauderten und sich die anwesenden Gattinnen der Hochfinanz ansahen, ein wichtiges, wenn auch nicht genau zu umschreibendes Amt. Dieser Begriff Amt ersetzte ihm das, was Diotima als die seit dem Mittelalter abhanden gekommene religiöse Einheit des menschlichen Tuns bezeichnete.

Und im Grunde entspringt auch wirklich alle solche gewaltsame Geselligkeit wie die bei ihr, wenn sie nicht ganz naiv und roh ist, dem Bedürfnis, eine menschliche Einheit vorzutäuschen, welche die so sehr verschiedenen menschlichen Betätigungen umfassen soll und niemals vorhanden ist. Diese Täuschung nannte Diotima Kultur und gewöhnlich mit einem besonderen Zusatz die alte österreichische Kultur. Seit ihr Ehrgeiz durch Erweiterung zu Geist geworden war, hatte sie dieses Wort immer häufiger gebrauchen gelernt. Sie verstand darunter: Die schönen Bilder von Velasquez und Rubens, die in den Hofmuseen hingen. Die Tatsache, daß Beethoven sozusagen ein Österreicher gewesen ist. Mozart, Haydn, den Stefansdom, das Burgtheater. Das von Traditionen schwere höfische Zeremoniell. Den ersten Bezirk, wo sich die elegantesten Kleider- und Wäschegeschäfte eines Fünfzigmillionenreichs zusammengedrängt hatten. Die diskrete Art hoher Beamter. Die Wiener Küche. Den Adel, der sich nächst dem englischen für den vornehmsten hielt, und seine alten Paläste. Den, manchmal von echter, meist von falscher Schöngeistigkeit durchsetzten Ton der Gesellschaft. Sie verstand auch die Tatsache darunter, daß ihr in diesem Lande ein so großer Herr wie Graf Leinsdorf seine Aufmerksamkeit schenkte und seine eigenen kulturellen Bestrebungen in ihr Haus verlegte. Sie wußte nicht, daß Se. Erlaucht das auch deshalb tat, weil es ihm unpassend erschien, sein eigenes Palais einer Neuerung zu öffnen, über die man leicht die Aufsicht verliert. Graf Leinsdorf war oft heimlich entsetzt über die Freiheit und Nachsicht, mit der seine schöne Freundin von menschlichen Leidenschaften und den Verwirrungen sprach, die sie anrichten, oder von revolutionären Ideen. Aber Diotima bemerkte es nicht. Sie hielt eine Trennung ein, zwischen sozusagen amtlicher Unkeuschheit und privater Keuschheit, wie eine Ärztin oder eine soziale Fürsorgerin; sie war empfindlich wie an einer verletzten Stelle, wenn ein Wort ihr persönlich zu nahe kam, aber unpersönlich sprach sie über alles und konnte dabei nur fühlen, daß Graf Leinsdorf sich von dieser Mischung sehr angezogen zeige.

Allein, das Leben baut nichts auf, wozu es nicht die Steine anderswo ausbricht. Zu Diotimas schmerzlicher Überraschung war ein sehr kleiner, träumerisch süßer Mandelkern von Phantasie, den ihr Dasein einst einschloß, als es sonst noch gar nichts enthielt, der auch noch dagewesen war, als sie sich den wie ein lederner Reisekoffer mit zwei dunklen Augen aussehenden Vizekonsul Tuzzi zu heiraten entschloß, in den Jahren des Erfolgs verschwunden. Freilich war vieles von dem, was sie unter alter österreichischer Kultur verstand, wie Haydn oder die Habsburger, einst nur eine lästige Lernaufgabe gewesen, während mitten dazwischen sich leben zu wissen ihr jetzt ein bezaubernder Reiz erschien, der ebenso heroisch ist wie das hochsommerliche Summen der Bienen; aber mit der Zeit wurde das nicht nur eintönig, sondern auch anstrengend und sogar hoffnungslos. Es ging Diotima mit ihren berühmten Gästen nicht anders wie dem Grafen Leinsdorf mit seinen Bankverbindungen; man mochte noch so sehr wünschen, sie in Einheit mit der Seele zu bringen, es gelang nicht. Von Automobilen und Röntgenstrahlen kann man ja sprechen, das löst noch Gefühle aus, aber was sollte man mit allen unzähligen anderen Erfindungen und Entdeckungen, die heute jeder Tag hervorbringt, anderes anfangen, als ganz im allgemeinen die menschliche Erfindungsgabe zu bewundern, was auf die Dauer recht schleppend wirkt! Se. Erlaucht kam gelegentlich und sprach mit einem Politiker oder ließ sich einen neuen Gast vorstellen, er hatte es leicht, von vertiefter Bildung zu schwärmen; wenn man aber so eingehend mit ihr zu tun hatte wie Diotima, zeigte es sich, daß nicht die Tiefe, sondern ihre Breite das Unüberwindliche war. Sogar die dem Menschen unmittelbar nahegehenden Fragen wie die edle Einfachheit Griechenlands oder der Sinn der Propheten lösten sich, wenn man mit Kennern sprach, in eine unüberblickbare Vielfältigkeit von Zweifeln und Möglichkeiten auf. Diotima machte die Erfahrung, daß sich auch die berühmten Gäste an ihren Abenden immer paarweise unterhielten, weil ein Mensch schon damals höchstens noch mit einem zweiten Menschen sachlich und vernünftig sprechen konnte, und sie konnte es eigentlich mit keinem. Damit hatte Diotima aber an sich das bekannte Leiden des zeitgenössischen Menschen entdeckt, das man Zivilisation nennt. Es ist ein hinderlicher Zustand, voll von Seife, drahtlosen Wellen, der anmaßenden Zeichensprache mathematischer und chemischer Formeln, Nationalökonomie, experimenteller Forschung und der Unfähigkeit zu einem einfachen, aber gehobenen Beisammensein der Menschen. Und auch das Verhältnis des ihr selbst innewohnenden Geistesadels zum gesellschaftlichen Adel, das Diotima große Vorsicht auferlegte und trotz aller Erfolge manche Enttäuschung eintrug, erschien ihr mit der Zeit immer mehr so beschaffen zu sein, wie es kein Kultur-, sondern nur ein Zivilisationszeitalter kennzeichnet.

Zivilisation war demnach alles, was ihr Geist nicht beherrschen konnte. Und darum war es seit langem und vor allem auch ihr Mann.

6

 

Leiden einer verheirateten Seele.

 

Sie las in ihrem Leiden viel und entdeckte, daß ihr etwas verlorengegangen war, von dessen Besitz sie vordem nicht viel gewußt hatte: eine Seele.

Was ist das? – Es ist negativ leicht bestimmt: es ist eben das, was sich verkriecht, wenn man von algebraischen Reihen hört.