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Märchen verbergen weit mehr, als es auf den ersten Blick scheint. Sie eröffnen Wege zu verborgenen Kräften und tiefgründigen Einsichten, die uns auf unerwartete Weise berühren. Hier entfalten sich 15 Volksmärchen aus aller Welt, die verschiedenste Themen und zeitlose Botschaften enthüllen. Es gibt Erzählungen für Kinder wie auch für Erwachsene, voller Symbolik und Bedeutung. Es wird dazu eingeladen, die Magie hinter den Geschichten neu zu entdecken, verborgene Botschaften zu entschlüsseln und wertvolle Impulse für das Leben und pädagogisches Arbeiten zu gewinnen. Eine Reise in die geheimnisvolle Welt der Märchen beginnt – reich an Weisheit, Fantasie und Menschlichkeit.
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Seitenzahl: 155
Veröffentlichungsjahr: 2025
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© 2025 novum publishing gmbh
Rathausgasse 73, A-7311 Neckenmarkt
ISBN Printausgabe: 978-3-7116-0273-2
ISBN e-book: 978-3-7116-0274-9
Lektorat: Valerie Waldrapp
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Die Liebe zu Märchen entdeckte ich schon in der frühen Kindheit. Ich hatte das große Glück, dass meine Mutter mir Märchen als Einschlafritual erzählte. Und das gestaltete sie immer besonders schön. Das Märchenbuch war in goldenes Papier eingebunden. Bevor sie mir vorlas, entzündete sie eine Kerze. Dieses abendliche Märchen – oder auch zwei, wenn sie in Stimmung war – war der Höhepunkt des Tages. Während sie erzählte, lebte ich in den Märchenwelten und freute mich oder litt mit meinen Helden mit. Am Ende war immer alles wunderbar. Die Guten mussten gewinnen und die Bösen bestraft werden. Dann war meine Welt in Ordnung – so wie Kinder eben sind.
Während meiner Schulzeit und meiner Ausbildung verlor ich meine Märchen aus den Augen. Erst zu Beginn meiner Tätigkeit als Vorschullehrerin erinnerte ich mich wieder an das Entzücken meiner Kindheit. Ich beschäftigte mich mit den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm und las meinen kleinen Schutzbefohlenen die gängigsten Märchen vor. Zu meinem großen Erstaunen konnte ich die meisten Kinder nicht in den Bann ziehen, den ich selbst als Kind erlebt hatte. Da die meisten dieser Märchen auch sehr lang waren, stellte ich immer wieder fest, dass die Kinder sehr unruhig wurden. Ihre Konzentration hielt meist nicht sehr lange an und ich vernahm häufig ein erleichtertes Aufatmen, wenn ich das Buch schloss.
Also legte ich das Märchenbuch zur Seite und ließ die Märchen Märchen sein.
Eines Tages, in der Adventszeit, wurden alle Schüler, auch die Kindergartenkinder, in die Aula der Schule eingeladen, um einer Märchenerzählerin zuzuhören. Ich wusste zwar aus eigener Erfahrung über die Kraft der Märchen Bescheid, war aber sehr kritisch, weil ich mir nicht vorstellen konnte, dass eine Märchenerzählerin hundert Kinder in ihren Bann ziehen konnte. Aber ich wurde eines Besseren belehrt, eines sehr viel Besseren! Ich erlebte etwas Wunderschönes! Eine Stunde in anderen, wunderbaren Welten!
Die Märchenerzählerin war zauberhaft gekleidet, der Raum war liebevoll gestaltet, sie arbeitete mit Kerzen und Klanginstrumenten und vor allem las sie nicht vor. Sie erzählte die Märchen frei und lebendig und hielt ständig den Kontakt zu ihren Zuhörern. Die Erzählungen waren so lebendig, als wäre sie selbst dabei gewesen.
Eine ganze Stunde lang war von den Kindern kein Mucks zu hören. Die Atmosphäre war so fesselnd und gleichzeitig entspannt, dass selbst verhaltensauffällige Kinder, die keine fünf Minuten im Stuhlkreis durchhielten, eine ganze Stunde lang gebannt lauschten und hätten weiterlauschen können.
Dieses Erlebnis erinnerte mich an das, was ich selbst als Kind erleben durfte, und mir wurde sofort klar, dass ich diese narrative Technik auch lernen wollte.
Und so schaute ich mich in der Bildungslandschaft um und entdeckte eine angesehene Schule für Märchen- und Erzählkunst. Zwei Jahre lang ließ ich mich in der Kunst des freien Erzählens für Kinder und Erwachsene ausbilden. Dabei erfuhr ich viel über Märchen, ihre Herkunft und ihre Bedeutung.
Dieses Buch – beruhend auf inzwischen vielen Jahren Erzählerfahrung – soll Ihnen eine Vorstellung geben, welche Art von Märchen für Kinder geeignet sind, wie man diese Märchen erzählen und wie man sie mit den Kindern bearbeiten kann.
Bruno Bettelheim, der weltberühmte Kinder- und Jugendpsychiater, schrieb in seinem Buch „Kinder brauchen Märchen“ Sätze, die mich sehr bewegt haben und die ich nur unterstreichen kann:
„Das Anhören eines Märchens und das Aufnehmen seiner Bilder kann mit dem Ausstreuen von Samen verglichen werden, von dem nur ein Teil im Gemüt des Kindes Wurzeln schlägt. Einige Samenkörner fallen unmittelbar in sein Bewusstsein, andere setzen unbewusste Vorgänge frei. Weitere müssen lange Zeit ruhen, bis das kindliche Gemüt so weit ist, dass sie keimen können; viele bleiben ganz ohne Wirkung. Die Samenkörner aber, die auf fruchtbaren Boden fallen, wachsen zu schönen Blumen und kräftigen Bäumen heran – sie bestärken wichtige Gefühle, vermitteln Einsichten, nähren Hoffnungen und bewältigen Ängste –, und damit bereichern sie das Leben des Kindes in der jeweiligen Zeit und für immer.“
Es gibt grundsätzlich zwei Arten von Märchen: Volks- und Kunstmärchen.
Volksmärchen gibt es wohl von Anbeginn der Zeit, überall auf der Welt und in allen Kulturen. Sie verzaubern nicht nur durch ihre ganz eigene Art der Sprache, sondern sie symbolisieren vor allem die Ordnungsstrukturen des Lebens. Hell und Dunkel, Faul und Fleißig, Gesund und Krank, Gut und Böse! Märchen erzählen von der Welt in all ihren verschiedenen Facetten. Sie beschönigen nichts und doch gibt es immer eine Wendung zum Guten. Volksmärchen sind nicht bloße erfundene Geschichten, sondern sie sind Erzählungen darüber, wie das Leben funktioniert. Sie wurden von Generation zu Generation weitergetragen, weiterentwickelt und prägen das menschliche Lernen und Leben. Und etwa drei Viertel von ihnen sind, was kaum jemand weiß, Geschichten für Erwachsene. Geschichten, die sich die Menschen in der Zeit vor Büchern, Zeitungen, Funk und Fernsehen erzählt haben. Zudem konnten in früheren Zeiten nur die wenigsten Menschen lesen und schreiben, was der verbalen Überlieferung der Volksmärchen einen umso wichtigeren Charakter verlieh.
Die beiden berühmtesten Sammlungen sind die Märchen der Brüder Grimm, die durch die Lande zogen, sich Geschichten erzählen ließen und diese aufschrieben, sowie die Märchen aus Tausendundeiner Nacht.
Kunstmärchen sind literarisch gestaltete Werke. Sie wurden von Schriftstellern erfunden und folgen nicht dem Spannungsbogen der Volksmärchen. Sie werden moralisch nicht vom Leben, sondern von den Persönlichkeiten ihrer Erzähler geprägt und haben dadurch nicht die Dynamik, die das Leben an sich durch den bildhaften Vergleich im Märchen verstehen lässt. Oft genug gibt es auch keinen guten Ausgang, was sie weniger geeignet macht, sie als Lernbeispiel für Kinder oder Erwachsene heranzuziehen. Ebenso ist das Ende dieser Kunstmärchen häufig offen, so dass es keinen befriedigenden Abschluss gibt. Es bleibt ein komisches Gefühl beim Zuhörer übrig, ein „Was soll ich jetzt damit anfangen?“
Die bekanntesten Schöpfer von literarischen Märchen waren Wilhelm Hauff, Ludwig Bechstein und Hans Christian Andersen.
Wilhelm Hauff
Ludwig Bechstein
Hans Christian Andersen
Bei Volksmärchen ist der Aufbau im Wesentlichen immer derselbe.
Sie beginnen mit einer ungelösten Situation, einem Problem oder einer Sehnsucht.
Dann löst sich die Heldin oder der Held aus der Situation und entscheidet sich, eben diese Situation verändern zu wollen.
Nach einer mehr oder minder langen Wanderung kommt Hilfe in Form einer guten Fee, eines hilfreichen Zwerges oder eines Symbols, wie zum Beispiel eines Schlüssels.
Dann folgt der Kampf, das Bestehen der Prüfung, die Lösung der bevorstehenden Aufgabe. Wenn diese Herausforderung gemeistert ist, folgt die Rückkehr in das eigene Leben. Auch hier wartet eine Herausforderung, nämlich das Erfahrene oder Mitgebrachte bestmöglich in sein Leben einzubringen.
Wenn das gelingt, folgt die Hoch-Zeit, eine Hochzeit oder das Erringen des Erwünschten.
Gegen diese Märchen, die zum Erbe der Menschheit gehören, wird oft der Vorwurf erhoben, sie seien viel zu brutal. Lassen Sie mich das am Beispiel von Hänsel und Gretel erwidern:
Als Erwachsener haben Sie eine Vorstellung davon, was in der Realität passiert, wenn jemand verbrannt wird, wie es in diesem Märchen mit der Hexe geschieht. Wenn Sie die Geschichte hören, die Bilder in Ihnen entstehen lassen und rational ausschmücken, sind diese vielleicht erfüllt von Geschrei, verzweifeltem Toben und dem Geruch von verbranntem Fleisch. Ein vierjähriges Kind hat gar nicht dieses Wissen von den Begleitumständen des Verbranntwerdens. Für das Kind bedeutet das Verbrennen der Hexe schlicht und einfach die Lösung des Problems, die Hexe ist tot und es kann wieder in den Wald gehen, ohne Angst haben zu müssen, da sie ja verbrannt ist.
In dem Märchen von den sieben Raben verliert die Heldin das Hinkelbeinchen, mit dem sie Glasberg hätte aufschließen können, in dem ihre in Raben verwandelten sieben Brüder leben. Als Lösung schneidet sie sich ihren kleinen Finger ab, öffnet mit diesem den Glasberg und erlöst ihre Brüder.
Das ist brutal, wenn man sich die Tat in Technicolor und auf der Großleinwand vorstellt. Tatsächlich geht es aber darum, dass die Intention des Mädchens war, ihre Brüder zu erlösen, koste es, was es wolle.
Für die meisten Kinder ist die innere Logik nachzuvollziehen und selbstverständlich. Gelegentlich wird weitergedacht. Ein Mädchen sagte einmal an der Stelle, dass das aber doch weh tue. Während ich noch kurz überlegte, wie ich ihr antworten sollte, sagte ein Junge zu ihr: „Das ist doch nicht schlimm! Der Finger wächst doch wieder nach.“
An diesem Beispiel lässt sich erkennen, dass es völlig unangebracht ist, das Erleben von Kindern mit erwachsenem Wissen zu messen. Der Maßstab muss sein, welche Märchen das Kind hören möchte und wie es damit umgeht.
Wenn Sie alt genug sind, Tom und Jerry oder Roadrunner und den Kojoten erlebt zu haben, wie sie sich geprügelt und in Grund und Boden gekloppt haben, sollten Sie sich fragen, ob Ihr damaliges kindliches Gemüt unter dieser Brutalität gelitten hat. Hat es nicht? Warum sollte dann Ihr Kind darunter leiden?
Wichtig ist, dass das Kind reif genug ist, die inneren Bilder entwickeln zu können, die vom Vorlesen oder Erzählen der Märchen ausgelöst werden. Dies ist selten vor dem vierten Geburtstag der Fall. Davor liegt die Zeit der Bilderbücher, in der beim Betrachten der Bilder und dem dazugehörigen Erzählen durch eine ältere Person diese Fähigkeit geschult wird.
Kinder reagieren oft sehr originell auf Märchen. Sie lernen dadurch, lösungsorientiert zu denken, ihr „Rucksack fürs Leben“ wird gefüllt. Albert Einstein sagte: „Wenn du intelligente Kinder willst, lies ihnen Märchen vor. Wenn du noch intelligentere Kinder willst, lies ihnen noch mehr Märchen vor!“
Grundsätzlich gilt, dass jene Märchen geeignet sind, für die sich das Kind interessiert.
Wenn ich als Mutter oder Vater ein Märchen für mein Kind aussuchen möchte, gibt es ein paar Punkte, die es zu beachten gilt:
Das Märchen sollte nicht zu lang sein und es sollte viele Wiederholungen geben. Als Beispiel kann Frau Holle dienen. Gold- und Pechmarie gehen dieselben Wege und erleben dieselben Situationen. Man kann beim zweiten Mal fragen, was denn jetzt wohl passieren mag. Das schult die Merk- und Wiedergabefähigkeit, sowie die Fähigkeit, aktiv zuzuhören. Darüber hinaus kann das Kind aktiv mitschütteln, wenn es um den Apfelbaum oder die Betten geht. Das gibt Kindern Sicherheit. Es weiß, was kommt und hat Erfolgserlebnisse.
Tiermärchen sind für Kinder absolut faszinierend. Es gibt die Möglichkeit, in Rollenspiele einzutauchen, was das Erlebnis erheblich intensiviert.
Kinder erleben auch Reime als besonders „merk-würdig“. Oft werden diese Reime als erstes im Gedächtnis behalten und unentwegt wiedergegeben. „Ach, wie gut, dass niemand weiß, dass ich Rumpelstilzchen heiß.“ Oder auch „Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?“ Die Sprachentwicklung und der Sinn für Satzmelodie und -rhythmus werden gefördert.
Es empfiehlt sich, die Märchenstunde in einen rituellen Rahmen zu verpacken. Sei es, wie oben beschrieben, wie ich es als Kind erlebt habe. Sei es auf der Couch mit einem oder zwei Kindern an der Seite. Wichtig ist, dass diese Stunde den immer gleichen Rahmen hat. Verlässlichkeit und Vorhersehbarkeit gibt Kindern Sicherheit. Für größere Gruppen gilt es, etwas mehr Aufwand zu betreiben, da auch Kinder unterschiedliche Individuen sind und sie aus dem „realen Leben“ heraus zu holen, eine besondere Stimmung schafft. Das Arbeiten mit Licht, zum Beispiel Kerzen, oder die Verwandlung der Umgebung mit Tüchern oder schmückendem Beiwerk lässt Kinder in eine völlig andere Erwartungshaltung und Einstellung gleiten. Und dieses Ambiente muss immer gleich sein. Besondere Anreize kann das Einbeziehen der Kinder in die letzten Vor- oder Nachbereitungen sein. Anzünden der Kerzen, Aussuchen des Märchens mittels Glasmurmeln, in denen je ein Märchen steckt, Kerzen löschen, usw.
Ich arbeite mit einer Märchenschatzkiste, die ich zufällig in einem Antiquitätenladen als alte Minibar gefunden und ausgebaut habe. Mit den Kindern zusammen werden Lichter entzündet und die Kiste geöffnet.
Mir ist wichtig, dass jedes Kind
bei diesen Handlungen beteiligt
wird.
Wichtig ist auch das Aussuchen
einer Glasmurmel, das Hineinschauen und Finden eines Märchens.
Dann wird die Märchenstunde vom einfachen Vorlesen oder Erzählen zum märchenhaften Erlebnis.
Wenn man sich dafür entscheidet, ein Märchen vorzulesen, ist es essenziell, das Märchen zu kennen, indem man es schon vorab gründlich gelesen hat. Das Lesen sollte langsam sein, mit Varianz in der Stimme, stimmliche Unterstreichungen des Geschehens, unterschiedliche Stimmen für unterschiedliche Figuren und Untermalungen mit Gesten, Körperhaltung, Mimik und Kopfbewegungen. Auch Vorlesen will belebt rübergebracht sein, damit das Interesse geweckt und gehalten werden kann.
Das freie Erzählen von Märchen transportiert noch eine wesentlich intensivere Magie. Der Erzähler bleibt ganz anders im Kontakt mit den Zuhörern und kann interagieren und über Gestik, Mimik und Blicke führen. Ich sehe, was mit meinen kleinen Zuhörern passiert, wie sie innerlich mitgehen. Zudem kann ich mich wesentlich freier bewegen, spielen und das Märchen leben und erleben lassen. Die Geschichte kommt nicht aus einem Buch, sondern aus mir. Ich muss mich darin auskennen, die Orte, an denen das Märchen spielt, „selbst besucht“ haben, die Höhen und Tiefen durchlitten haben und ich muss mich in dem Text wohl fühlen. Das schafft Authentizität und nur diese vermag meine Zuhörer zu fesseln.
Sie mögen sich fragen, ob das alles wirklich notwendig ist. So viel Aufwand, nur um ein Märchen zu erzählen? Ja, es ist notwendig, denn die Erzählung soll lebendig sein. Und sie ist nur lebendig, wenn Sie von etwas erzählen, was Sie wirklich erlebt haben. Auch wenn das „nur“ in der Fantasie geschah. Wie sagt der Volksmund? „Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erzählen.“
ES WAR EINMAL ein junger Mann namens Severi, der auszog, um sein Glück zu suchen.
Er wanderte über Berge und Wiesen und durch dichte Wälder, bis er endlich das Meer erreichte. Am Strand entdeckte er ein kleines Ruderboot. Severi stieg ins Boot und wollte über den Ozean rudern. Das Boot wurde von Stürmen geschüttelt und vom Regen gepeitscht; schließlich spülte eine große Welle Severi von Bord. Aber er verlor nicht den Mut. Er schwamm Tag und Nacht, bis er einen weißen Sandstrand am Fuße einer schwarzen Klippe erreichte. Von der Klippe hing ein Seil herunter und Severi kletterte daran hinauf.
Oben folgte er einem Pfad, der in das Herz des Felsens führte. Er kam an eine Tür, die sich vor ihm öffnete. Severi trat ein und fand sich in einer verzauberten Welt grüner Wiesen und schöner Blumen wieder; die Obstbäume trugen hier goldene Früchte.
Dort traf Severi einen alten Mann mit langem, weißem Haar, der ihn fragte, wer er sei und wohin er wolle.
„Mein Name ist Severi“, antwortete er, „und ich weiß nicht, wohin ich gehe.“
„Dann bleibe hier“, sagte der alte Mann, „und sei mein Diener.“
So ging Severi mit dem alten Mann in dessen Kupferschloss.
Am nächsten Morgen sagte der alte Mann, er müsse zu einer langen Reise aufbrechen.
„Hier sind die Schlüssel zum Schloss“, sagte er.
„Es sind vierundzwanzig Schlüssel für vierundzwanzig Räume. Du kannst dir alle Räume ansehen, außer dem letzten. Wenn du ihn betrittst, dann auf eigene Gefahr.“
Severi sah sich die dreiundzwanzig Räume an. Einer war ganz aus Gold, der nächste aus Silber, der dritte aus schwarzem Ebenholz und der vierte aus poliertem Marmor. Doch irgendwann hatte er alle gesehen und war traurig. „Jetzt sind meine Abenteuer vorbei“, dachte er, „hier gibt es nichts mehr zu sehen.“
Als er aber am nächsten Morgen erwachte, stellte Severi fest, dass er den Schlüssel zum vierundzwanzigsten Zimmer in der Hand hielt. „Das ist ein Zeichen“, dachte er. „Ich werde die Gefahr auf mich nehmen.“
Er öffnete die letzte Tür und sah in der Mitte des Raums einen hohen Thron. Darauf saß das liebenswerteste Mädchen der Welt.
„Wer bist du?“, fragte Severi.
„Ich heiße Vappu“, sagte das Mädchen, „und ich habe die längste Zeit auf dich gewartet.“
Ihre Stimme war so lieblich wie Harfenmusik.
Severi und Vappu lebten einen ganzen Monat lang glücklich in dem Kupferschloss. Sie setzten sich an den silbernen Bach und aßen sich sorglos an den goldenen Früchten aus dem Garten des alten Mannes satt. Eines Tages aber schliefen sie Seite an Seite am Bach ein und als Severi erwachte, war Vappu verschwunden.
Severi rief viele Male nach ihr. Aber die einzige Antwort war das Zwitschern der Vögel in den Bäumen.
Bei seiner Rückkehr fand der alte Mann einen sehr unglücklichen Severi vor.
„Ich habe dich vor der Tür gewarnt“, sagte er.
„Ich bin alt genug, um meine Entscheidungen selbst zu treffen“, erwiderte Severi.
„Und bist du nun, da du sie getroffen hast, weiser geworden?“
„Mein Kummer hat mich älter werden lassen“, sagte Severi, „und auch weiser.“
Da murmelte der alte Mann einen Zauberspruch und Vappu war wieder da, heiter wie ein Sonnenstrahl.
„Verlass mich nie wieder!“, bat Severi.
„Das werde ich nicht“, sagte Vappu, „wenn es dir gelingt, dich so zu verstecken, dass ich dich nicht mehr finde. Du hast drei Versuche.“
Severi fürchtete, dass es ihm nicht gelingen würde, die kluge Vappu zu täuschen. Aber der alte Mann flüsterte ihm einen Zauberspruch zu, der ihm helfen würde.
Das erste Mal versteckte sich Severi bei den Wildkaninchen; doch Vappu spürte ihn auf.
Dann versuchte Severi sich unter den wilden Bären zu verstecken, doch Vappu fand ihn dort ebenfalls.
Zuletzt beschloss Severi, sich in Vappus Herz zu verstecken. Er sagte: „Dreimal klopfe ich an deine Tür, liebes Herz. Lass mich ein, kostbares Herz, lass mich ein.“
Vappu sah überall nach. „Seltsam“, dachte sie, „gerade eben stand Severi noch neben mir und jetzt ist er weg.“
Da rief Severi ihr zu: „Kannst du mich nicht finden, mein Schatz?“
„Nein, kann ich nicht“, antwortete Vappu. „Wo bist du?“
„Ich bin hier in deinem Herzen“, antwortete Severi.
„Dann gehört mein Herz dir“, sagte Vappu.