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Nichts erregt mehr als die Angst. Als Rachel in der neuen High School in einen Streich verwickelt wird, der furchtbar daneben geht, hat sie plötzlich mehr Feinde als Freunde. Zu ihrer Überraschung erregt sie jedoch die Aufmerksamkeit eines geheimen Schülerclubs. Der Mary-Shelley-Club, benannt nach der Autorin von Frankenstein, hat nur ein Ziel: mit gruseligen Aktionen echte Angst zu verbreiten. Schon bald eskaliert das Spiel und wird immer gnadenloser – und Rachel muss das echte Monster aufspüren. Es ist an der Zeit, den ultimativen Streich zu spielen ... Ein exzellenter Thriller über eine Gruppe von Studenten, die von Horrorfilmen besessen sind, mit einer Prise Scream und Gossip Girl. Kirkus Reviews: »Der Humor ist gnadenlos finster, und niemand kommt ungeschoren davon.« Publishers Weekly: »Ein schwarzhumoriger, augenzwinkernder Roman mit Noir-Elementen ...«
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Seitenzahl: 491
Veröffentlichungsjahr: 2024
Aus dem Amerikanischen von Katrin Hoppe
Impressum
Die amerikanische Originalausgabe The Mary Shelley Club
erschien 2021 im Verlag Henry Holt and Company.
Copyright © 2021 by Goldy Moldavsky
Copyright © dieser Ausgabe 2024 by Festa Verlag GmbH, Leipzig
Published by Arrangement with Golda Melamud.
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.
Titelbild: Luko, 99design
Alle Rechte vorbehalten
eISBN 978-3-98676-103-5
www.Festa-Verlag.de
Für meine Schwester Yasmin – mit der ich mir am allerliebsten
Hüte dich, denn ich bin furchtlos und deshalb mächtig.
Frankenstein,
Prolog
Rachel saß wie eine Brezel an ihrem Schreibtisch: Die Knöchel verschränkt, die angezogenen Knie gegen die harte Holzkante gedrückt. Sie starrte auf den Wikipedia-Eintrag zu Nellie Bly, die historische Persönlichkeit, über die sie einen Aufsatz schreiben sollte. Doch die vielen Wörter verschwammen vor ihren Augen. Nicht dass sie sich nicht für Nellie Bly interessierte; Rachel konnte sich für jede knallharte Journalistin mit peppigem Namen begeistern. Aber es gab einfach zu viele Ablenkungen.
Spotify beschallte sie mit der neuesten Taylor-Single, und egal wie oft Rachel ihr Handy entschlossen weglegte, um etwas über Nellie zu lesen, schon zwitscherte es mit einer neuen Nachricht von Amy und sie musste es wieder in die Hand nehmen. So wie jetzt.
Ich frage mich, was er gerade treibt. Wir sollten zu seinem Haus gehen undSPIONIEREN.
Ich werde ihn nicht stalken, schrieb Rachel zurück und legte ihr Handy weg, dieses Mal endgültig.
Aber selbst Nellies wirklich interessanter Lebenslauf konnte nicht verhindern, dass Rachels Gedanken schon bald wieder abschweiften.
Sie hatte nicht vor zu spionieren, aber … mal ehrlich, was trieb er gerade? War er mit Freunden unterwegs, zockte er Videogames oder saß er fleißig an seinen Hausaufgaben, wie sie es gerade tun sollte? Womit auch immer er sich gerade beschäftigen mochte, er grübelte nicht über sie nach, da war sich Rachel sicher. Er wusste ja kaum, dass sie existierte. Na ja, abgesehen davon, dass sie heute Morgen tatsächlich ein echtes Gespräch geführt hatten. Es dauerte zwar gerade mal drei Minuten, aber es war echt. Und es wurde gelächelt. Gegenseitiges Lächeln war angesagt.
Der Gedanke daran ließ Rachel unwillkürlich grinsen. Und obwohl sie allein war, vergrub sie ihr albern errötendes Gesicht in ihren Händen. Ihr Telefon piepste wütend unter einer Flut neuer Nachrichten, bis Rachel doch wieder danach griff, und Nellie Bly war vergessen.
Du steeehst auf ihn!!!, schrieb Amy.
Du liebst ihn!!!
Du willst seineBABYYYSkriegen!!!
Rachel stöhnte, warf das Telefon auf ihr Bett und vergrub es zusätzlich noch unter ihrem Kopfkissen. Sie wollte seine Babyyys nicht kriegen, und vor allem hätte sie Amy niemals von ihrer Schwärmerei erzählen dürfen. Zurück zu Nellie. Rachel setzte sich aufrecht hin und richtete den Bildschirm ihres Laptops neu aus, als wäre der Trick, nur den richtigen Winkel für das Display zu erhaschen. Während Rachel ihr Telefon angestrengt ignorierte, erblickte sie draußen jemanden. Ihr Schreibtisch stand direkt am Fenster, von wo aus sie in den Vorgarten sehen konnte. Es war nicht ungewöhnlich, dass jemand vorbeilief, doch das hier war die Vorstadt und schon nach neun. Niemand trieb sich noch nach neun Uhr abends draußen rum.
Aber das war nicht einmal der Grund, warum Rachel aufmerksam wurde. Es war die Tatsache, dass diese Person wie eine Statue vor ihrem Haus stehen geblieben war. Sie trug eine dunkle Hose und einen schwarzen Parka, und obwohl sie ihr Gesicht nicht gut erkennen konnte, wirkte es ungewöhnlich blass.
Eine Gänsehaut kroch Rachels Arme hinauf, doch sie konnte nicht sagen, warum. Der vernünftige Teil ihres Gehirns sagte ihr immer wieder, dass da doch nur jemand auf der Straße war – womöglich ein Nachbar – und nichts weiter. Ein dumpfes Zirpen ertönte unter ihrem Kopfkissen. Rachel griff nach ihrem Handy und blickte auf Amys letzte Nachricht. STALKER SIND NICHT SEXY, MÄDEL!
Der Mann vor dem Fenster war verschwunden. Rachel atmete erleichtert auf.
Taylors Stimme verklang, und Rachels Telefon blieb nun auch endlich still, also beschloss sie, sich wieder an die Arbeit zu machen. Da hörte sie ein neues Geräusch. Diesmal aus keinem ihrer Geräte. Sondern von unten.
Schwer und mit Bedacht, wie Schritte.
Aber das war unmöglich. Sie war allein im Haus. Ein neues Lied begann, und Rachel schaltete es hastig ab. Völlig still saß sie nun da, wie ein Welpe, wenn ein Fremder an der Tür erscheint. Mit gespitzten Ohren wartete sie eine Weile und lauschte in die Stille hinein, die sich endlos auszudehnen schien.
Da dröhnte es durch den Raum. Sie wäre beinahe vom Stuhl gefallen, so sehr erschreckte sie das schrille Zirpen der eingehenden Nachricht. Diesmal hatte Amy nur ein GIF von einem bärtigen Chris Evans geschickt, der in ein herzhaftes Kichern ausbrach. Rachel hätte auch gelacht, wäre da nicht das nagende Unbehagen gewesen, das ihre Nackenhaare aufstellte. Je länger sie sich das GIF ansah – eine Endlosschleife aus explosivem, stummem Gelächter –, desto mehr machte es ihr in diesem Moment Angst.
Rachel wollte schon zurückschreiben, da hörte sie das Geräusch von eben wieder. Diesmal lauter, und nun war sie sich sicher, dass es Schritte waren. Jemand war auf das knarrende Dielenbrett zwischen Sofa und Couchtisch getreten.
Rachel holte tief Luft. »Mom, bist du das?«
Eigentlich sollte ihre Mutter in der Stadt zum Mädelsabend mit ihren Freundinnen sein. Sie war erst vor einer Stunde losgefahren, konnte also noch nicht zurück sein. Aber vielleicht hatte sie etwas zu Hause vergessen und war noch einmal umgekehrt.
Rachel klammerte sich an diesen Gedanken, auch wenn ihr Herz wie wild pochte. Im Hinterkopf wusste sie, dass sie gehört hätte, wie das Auto ihrer Mutter in die Einfahrt fuhr, wie sie ihren Schlüsselbund scheppernd auf den Garderobentisch fallen ließ und ihre Stiefel nachlässig von sich kickte, während sie verkündete, dass sie zu Hause war, so wie sie es immer tat.
Rachel legte ihr Handy weg, ging zur Tür und öffnete sie langsam.
»Mom?«, rief sie erneut. Als keine Antwort kam, trat Rachel aus ihrem Zimmer und schlich den Flur entlang zur Treppe. Auf Strümpfen tippelte sie lautlos über den Teppich der Stufen, bis sie das Wohnzimmer betrat.
Jemand war da. Und es war nicht ihre Mutter.
Der Mann von vorhin stand auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers, ganz in Schwarz gekleidet. Auch seine Hände waren in schwarzen Handschuhen verborgen. Als Rachel sein Gesicht sah, wurde ihr klar, warum es ihr zuvor so blass vorgekommen war. Was sie für Haut gehalten hatte, war in Wirklichkeit eine weiße Maske.
Dann entdeckte Rachel den anderen. Er stand beim Fernseher und war genauso gekleidet wie der Erste. Beide starrten sie durch narbige Gummigesichter an.
Das Gehirn tat seltsame Dinge, wenn es mit etwas konfrontiert wurde, das es nicht verstand. Rachels erster Gedanke – wie ein Blitz schoss er durch ihr Hirn – war, den Männern ein Glas Wasser anzubieten, so wie sie es gelernt hatte, wenn Gäste eingetroffen waren. Und dann, ebenso schnell, begriff sie: Diese Männer waren keine Gäste. Rachels unwillkürlicher Impuls war, um Hilfe zu schreien, aber alles, was aus ihr heraussprudeln wollte, blieb in ihrer Kehle stecken und erstarrte wie der Rest von ihr. Sie fühlte sich, als würde sie in Treibsand versinken und jede Bewegung würde sie nur noch tiefer in den Schlamm ziehen.
Plötzlich geschahen zwei Dinge sehr schnell und zugleich. Einer der Männer huschte aus der Tür, er sauste regelrecht durch diese hindurch, als hätte ein Windstoß ihn erfasst und fortgeweht. Der zweite Mann bewegte sich ebenfalls, aber nicht zur Tür. Er stürmte auf Rachel zu, und auf einmal verschwand ihre Lähmung und sie rannte los.
Alles, woran sie denken konnte, war die Hintertür in der Küche. Sie stellte sich vor, wie sie sie öffnete, in die frostige Luft des Hinterhofs eintauchte und entkam. Einen Moment lang brauchte sie es sich nicht einmal mehr vorzustellen. Sie war in der Küche, sie griff nach der Tür, die Fingerspitzen nur noch wenige Zentimeter vom Knauf entfernt. Doch dann schlang sich seine Hand wie ein Schraubstock um ihren Arm. Er hatte sie.
1
Ein Jahr später
Ich öffnete die Tür, und da stand Saundra, mit dem strahlendsten Lächeln und Outfit.
»Zieh dich an, Rachel, wir gehen auf ’ne Party.«
Ich kannte das Mädchen erst seit drei Wochen, und schon tauchte sie unangemeldet vor meiner Wohnungstür auf, als würde sie das schon seit Jahren tun.
»Sorry, kann nicht.« Ich trug meine Jogginghose und wollte mich gleich mit meinem liebsten Wohlfühlfilm aller Zeiten entspannen. Die Nacht der lebenden Toten. Außerdem hasste ich Partys. »Meine Mom erlaubt nicht, dass ich an einem Schulabend ausgehe.«
Doch wie eine geisterhafte Erscheinung in einem Badezimmerspiegel tauchte plötzlich meine Mutter neben mir auf. »Sonntag ist technisch gesehen kein Schulabend, oder, Jamonada?«
Jamonada war ein Kosename, den mir meine Großmutter gegeben hatte, weil ich so ein pummeliges Baby gewesen war. Ich hatte schon alles versucht, um ihn wieder loszuwerden, aber offenbar fiel er nicht unter das Umtauschrecht. Und meine Mutter liebte ihn. Es war Spanisch für »Schinken«. Aber nicht etwa im Sinne von: »Das Mädchen ist so süß und gereift – sie ist so ein Schinken!«, sondern es meinte buchstäblich einen Schinken. Und jetzt hatte ihn auch noch Saundra gehört. Schlimmer ging’s kaum.
»Hallo, Mrs. Chavez!«, grüßte Saundra sie.
»Aber morgen ist Schule«, grummelte ich. »Also ist ja wohl heute definitiv ein Schulabend.«
»Aber heute hattest du keine Schule«, konterte Mom. »Ich würde sagen, hier sind die Geschworenen noch zu keinem eindeutigen Urteil gekommen.«
Mit einem energischen Nicken gab Saundra ihr recht, während ich meine Mutter entgeistert anstarrte, als hätte sie mich nicht 16 Jahre lang erzogen. Zunächst war mir tatsächlich schleierhaft, was sie damit bezweckte. Dann aber wurde mir auf einen Schlag klar: Selbst meine eigene Mutter machte sich Sorgen, weil ich so ein erbärmliches Einsiedlerdasein führte.
»Aber du willst doch, dass ich morgen ausgeruht und erholt in die Schule gehe, oder etwa nicht, Mom?« Ich knirschte mit den Zähnen, wie man es tat, wenn man wollte, dass jemand einen Wink verstand.
Meine Mutter dagegen schenkte mir dieses strahlende Lächeln, wie man es tat, wenn man einen Wink vorsätzlich ignorierte. »Du hattest das ganze Wochenende Zeit, dich auszuruhen und zu erholen, Schatz.«
Eine klassische Pattsituation. Ich wollte die Nacht mit den lebenden Toten verbringen, und meine Mutter wollte, dass ich Zeit mit den wirklich Lebenden verbrachte. Es war Zeit für die schweren Geschütze.
»Saundra, sag meiner Mutter, wo die Party stattfindet.« Das war ein Risiko. Soweit ich wusste, wollte Saundra mich zum Gracie Mansion schleppen, um mit dem Bürgermeister persönlich abzuhängen, was bei den Kreisen, in denen sie verkehrte, gar nicht unwahrscheinlich war. Aber die Chancen standen gut, dass die Umstände dieser Party bei meiner Mutter durchfallen würden.
Saundra zögerte, also drängte ich weiter: »Na los, sag’s ihr.«
»Ein verlassenes Haus in Williamsburg«, gab Saundra schließlich zu.
Ich drehte mich zu meiner Mutter um, der Triumph ließ mich strahlen wie eine frisch polierte Trophäe. »Einverlassenes Haus in Williamsburg. Hast du das gehört, Mom?«
Jetzt begann ein Kampf des Willens. Mom und ich starrten uns gegenseitig an, um zu sehen, wer zuerst einknicken würde.
»Viel Spaß!«, meinte Mom nur.
Meine eigene Mutter fiel mir in den Rücken. Als wir nach New York City zogen, hatte sie nur zwei Regeln für mich aufgestellt. Erstens: Meine Noten dürfen nicht schlechter werden. Und zweitens: Freunde finden. Die Tatsache, dass Saundra hier aufgetaucht war, sollte eigentlich als Beweis genügen, dass ich Freunde gefunden hatte. Okay, eine Freundin. Wie auch immer, ich hatte jedenfalls die schier unmögliche Hürde genommen, als Neuling an einer mir fremden Schule eine Freundin zu finden. Doch für Mom hieß eine Party mehr mögliche Freundschaften, und das bedeutete, dass ich nach Williamsburg verschleppt werden durfte. Also zog ich mich um (ich weigerte mich trotz Saundras Protesten, mein Batik-Nachtshirt auszuziehen, peppte es aber mit einer abgeschnittenen Dickies und einer Jacke auf), ehe wir aufbrachen. »Wir könnten zu Fuß gehen«, schlug ich vor. Immerhin befanden wir uns in Greenpoint, nur einen Stadtteil weiter, und das Wetter war schön.
Saundra schnaubte. »Und ermordet werden?«
»Die Gegend hier ist ziemlich sicher.«
Saundra tat mich und den gesamten Stadtbezirk Brooklyn mit einem Lachen ab und holte ihr Handy heraus. »Ja. Klar.«
In weniger als drei Minuten kam der Lyft-Wagen an. Wir machten es uns auf dem Rücksitz bequem, während Saundra ein Dutzend Selfies schoss, ihre sozialen Kontakte aktualisierte und mich darüber aufklärte, wer alles auf der Party sein würde. Im Grunde war genau das auch unsere Mittagsroutine, bei der sie mir den ganzen Klatsch und Tratsch über Leute erzählte, die ich auf den Fluren noch immer kaum zuordnen konnte.
Saundra hatte mich in dem Moment als Freundin auserkoren, als ich an der Manchester Prep in die Geschichtsklasse von Mr. Inzlo spazierte. Ich hatte mich gerade auf einen freien Platz gesetzt, da beugte sich Saundra auch schon zu mir rüber und fragte, ob sie sich einen Stift leihen könne – ein billiger Vorwand, wie mir sofort klar wurde, als ich einen Stift in der offenen Vordertasche ihres lavendelfarbenen Herschel-Rucksacks sah.
Zuerst hatte ich mich gewundert, warum Saundra meine Freundin sein wollte, aber mir ging schnell auf, dass sie den Kontakt zu mir suchte, weil sie mit der Tatsache nicht klarkam, dass es jemanden in ihrer Klasse gab, über den sie rein gar nichts wusste. Denn wie ich bald feststellen durfte, war Saundra Clairmonts hervorstechendstes Merkmal der unbändige Drang, absolut alles über absolut jeden zu wissen.
Also fütterte ich sie an diesem Tag mit ein paar Häppchen über mich. Vor Manchester hatte ich eine öffentliche Schule auf Long Island besucht, wo ich mit meiner Mutter lebte, bis wir beschlossen, nach New York City zu ziehen.
Im Gegensatz zu den meisten anderen Schülern hier war ich nicht reich, hatte kein großes Erbe in Aussicht oder ein Stipendium. Ich wurde nur aufgenommen, weil meine Mutter hier Lehrerin für Amerikanische Geschichte in der neunten und zehnten Klasse war. Also, ja – meine Mutter hatte ein Händchen dafür, mich an Orte zu verfrachten, an denen ich keine Lust hatte zu sein.
Aber jetzt, während Saundra und ich nach Williamsburg fuhren, hatte ich nicht einfach nur keine Lust auf diese Party, sondern mir grauste vor ihr. Der Gedanke, all diese Leute zu treffen, von denen kein Einziger mit mir reden würde, schnürte mir die Kehle zu. Am schlimmsten war das Wissen, dass ich so tun musste, als ob. So tun, als wäre ich ein Teil ihrer Welt, als wäre ich wie sie.
Doch gerade als ich Saundra sagen wollte, dass ich mich nicht so gut fühlte, hielt der Wagen an und sie sprang nach draußen. Ich schlich ihr hinterher, und gemeinsam näherten wir uns dem verlassenen Haus. Es sah aus, als wäre es einem Horrorfilm der späten 80er-Jahre entsprungen. Sämtliche Fenster waren mit verwittertem, graffitiverschmiertem Holz vernagelt, und an der Tür klebten diverse Schilder mit winziger Schrift, die uns sicherlich ermahnten, auf Abstand zu bleiben. Das Haus kauerte eingezwängt zwischen einer aufgegebenen Lagerhalle und einem leeren Grundstück, an dessen Maschendrahtzaun ein ZU VERKAUFEN-Schild hing.
Da erblickte ich einen hellen Fleck. Ein komplett in Schwarz gekleidetes Mädchen saß auf der Treppe, ihr geisterhaftes Gesicht schwebte über einem Buch. Ihre bleichen Finger verdeckten den Titel, aber darüber erkannte ich die scharfen Ecken von Stephen Kings Namen auf dem Einband. Ich mochte Stephen-King-Filme. Vielleicht konnte sich darüber ja ein Gespräch mit diesem Mädchen entspinnen. Vielleicht war das am Ende ja doch meine Art von Party.
»Hey, Felicity!«, begrüßte Saundra sie. Felicity blickte von ihrem Buch auf und starrte uns unter ihrem Mikropony an, ohne irgendetwas zu erwidern.
»Na dann, ciao.« Saundra hakte sich bei mir ein und zog mich die Treppe hinauf. »Für die Bücher auf der Party sorgt Felicity Chu.«
Das Wohnzimmer füllten mehr als zwei Dutzend Leute, die lachten, herumalberten und mit umherspritzenden Getränken in der Hand gestikulierten. Um das Innere des Hauses stand es nicht viel besser als um seine Fassade. Die Tapeten waren schimmlig oder blätterten von den Wänden, die Böden bedeckte schmieriges Linoleum und das einzige Licht kam von grellen Baustellenlampen. Den Asbeststaub in der Luft konnte man förmlich schmecken. Aber an alledem schien sich niemand zu stören.
Keine Ahnung, was genau ich auf Partys reicher Kids erwartet hatte, aber das hier war es nicht. Es kam mir irgendwie ironisch vor, dass sie ihre komfortablen Paläste verlassen hatten, um sich in einem Haus zu vergnügen, das auseinanderfiel.
»Ich hole mir ’nen Drink«, brüllte mir Saundra über die Musik hinweg zu.
»Ich komme mit.« Doch als ich mich nach ihr umdrehte, war sie schon verschwunden, einfach verschluckt von der Menge. Das Einzige, was noch schlimmer ist, als auf eine Party zu gehen, auf der man nicht sein will? Allein auf dieser Party zu sein. Ich hatte nicht vor, als einsame Boje in einem Meer aus Fremden dahinzutreiben. Mir blieb also nur eins übrig: mich im Badezimmer verstecken.
Als ich die Treppe hinaufging, war mir, als würde ich ein Portal betreten. Das Scheppern von aneinanderschlagenden Flaschen und schlechter Popmusik verblasste und wurde verdrängt von einer muffigen Dunkelheit, die mit jedem Schritt dichter wurde. Für gewöhnlich verflüchtigte sich meine Angst, sobald ich mich von einer Menschenmenge entfernte und in eine ruhige Ecke begab. Es war, wie in eine Papiertüte zu atmen, ein schneller Weg, um mich zu beruhigen. Doch dieses Mal war dem nicht so.
Am oberen Absatz der Treppe hielt ich inne und wartete, bis sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnten und schemenhafte Umrisse ausmachen konnten. Ich schaltete mein Handy ein, um etwas Licht zu bekommen, genug, um zu sehen, dass der Flur mit einer Blumentapete bedeckt war. Während ich den Flur entlangtappte, kamen mir die verblassten Blütenblätter immer unheimlicher vor, als würden sie sich in die Fratzen faltiger Hexen verwandeln.
Da entdeckte ich eine leicht geöffnete Tür und hielt augenblicklich den Atem an. Der Spalt war so finster, dass es unmöglich war, etwas im Inneren des Raums zu erkennen. Ich hielt mein Handy daran, doch auch das half nicht. Jemand konnte direkt dahinter stehen und mich beobachten, ohne dass ich es mitbekommen würde. Dieser Ort setzte mir zu.
Ich hätte auf dem Absatz kehrtmachen und nach Hause gehen sollen, doch immerhin war ich auf einer Party. Ich wollte sorglos, normal und albern sein. Nicht jemand, der bei jedem Schatten aufgescheucht hochschreckt. Also schob ich meine Ängste beiseite und stieß die Tür auf.
Wie sich herausstellte, war dahinter einfach nur ein Badezimmer. Und drin war auch niemand. Das Licht funktionierte nicht, genau wie der Wasserhahn, aber immerhin war es hier ruhig. Ich sah auf mein Handy und öffnete Instagram. Es kam nie etwas Gutes dabei heraus, seine Seite aufzurufen. Aber ich konnte einfach nicht widerstehen, gierte nach dem Gift, obwohl ich wusste, dass es mir nicht guttun würde.
Ich klickte auf ein Bild von ihm und seinem besten Freund in ihren Fußballtrikots. Mein Blick glitt über die Strähnen seiner Haare, seine dunklen bernsteinfarbenen Augen, die er vor Lachen fast geschlossen hatte. Und seine Grübchen. Dieses breite Grinsen mit den Grübchen war wie ein Schlag in die Magengrube. Unter dem Post standen Hunderte von Kommentaren seiner Freunde. Ich hatte jeden einzelnen davon gelesen, mehrfach. Würde ich sie jetzt erneut lesen, könnte ich mit Leichtigkeit Stunden damit zubringen.
Da hörte ich eine Stimme. Auch wenn ich zunächst keine Worte verstand, sie klang eindeutig wütend.
Ich war also definitiv nicht allein hier oben. Leise verließ ich das Badezimmer und folgte der Stimme zum Zimmer eine Tür weiter. Da wurde mir klar, dass es in Wahrheit zwei waren, die in gedämpftem, eindringlichem Ton miteinander sprachen. Sie stritten.
Jählings schwang die Tür auf, und mir blieb gerade noch genug Zeit, um aus dem Weg zu springen, als Bram Wilding auch schon aus dem Zimmer stürmte, sein rosiger Teint gerötet vor Wut. Er bemerkte mich gar nicht. Doch als ich mich wieder umdrehte, stieß ich direkt mit Lux McCray zusammen. Mit keinem der beiden hatte ich bisher auch nur ein Wort gewechselt, aber sie gehörten zum High-School-Adel, jene Art beliebter Leute, die man nicht erst persönlich kennenlernen musste, um alles über sie zu wissen. Und Lux und Bram stellten unter den Schülern der Manchester Prep so was wie das Königspaar dar.
Mein Handy rutschte mir aus der Hand, knallte auf den Flurteppich und tat, was in Lux’ Nähe anscheinend alle Lichtquellen zu tun pflegten. Wie ein Scheinwerfer fand es ihr Gesicht und ließ ihre markanten Gesichtszüge erstrahlen, sodass sie wie die Heldin auf einem V.-C.-Andrews-Buchcover aussah. Ihre Augen weiteten sich vor Schreck, ehe sie sich blitzschnell verengten.
»Was zum Teufel machst du hier?«, wollte Lux wissen. »Hast du uns etwa belauscht?«
»Nein.«
»Keine Ahnung, was du meinst, gehört zu haben …«
»Ich habe rein gar nichts gehört.«
Ihr musternder Blick kletterte von meinen Zappos-Slippern bis zum unordentlichen Dutt aus dickem braunem Haar hinauf, ehe er an meinem sonnengebräunten Gesicht hängen blieb. Vielleicht fragte sich Lux, warum ich so viele Sommersprossen hatte, ob ich kein Beauty-Tutorial finden konnte, mit dem ich einige davon loswurde.
Ich starrte zurück. Für Lux sahen meine natürlichen Sommersprossen im Vergleich zu ihren künstlichen vermutlich wie Dreck aus. Ich erkannte, dass ihre unecht waren, weil sie alle zu rund, ähnlich klein und perfekt verteilt waren. Genau wie man sie vorsichtig mit einem Augenbrauenstift aufmalte. Sie schmückten ihren Nasenrücken und dehnten sich bis zum Ansatz ihrer Wangen aus wie ein wunderschönes Sternbild.
Ein Hauch ihres Parfüms schwang mir entgegen. Miss Dior. Der bevorzugte Duft von einer in Zukunft sitzen gelassenen Politikergattin. Ihre pfirsichfarbene Haut schimmerte sanft und makellos unter den Trägern ihres Brandy-Melville-Tanktops, und ihr Haar hatte die Farbe von geronnener Butter. Sie war genau die Art von hübscher Blondine, die in Horrorfilmen für gewöhnlich sehr früh starb.
Lux’ Blick huschte zu meinem Handy am Boden. Sie hob es auf und schaute lange genug auf das Display, um nicht nur den Post, sondern auch den Namen vom Account zu sehen. »Vielleicht richtest du deine Aufmerksamkeit besser darauf, wo du hingehst, statt Matthew Marshall zu stalken.«
Augenblicklich schwoll ein Medizinball blanker Panik in meiner Brust und drohte, auch den Rest meines Körpers zu verschlingen. Rasend schnell und wie aus dem Nichts überrollte mich mal wieder die Angst. Das passierte mir von Zeit zu Zeit. In der einen Minute ging es mir noch blendend, und in der nächsten war ich ein nervöses Wrack, zitterte am ganzen Körper und meine Finger und Zehen erfasste ein unangenehmes Kribbeln. Sie durfte Matthews Namen nicht kennen. Niemand durfte das. Ich griff nach meinem Handy, und Lux sah schockiert und empört aus, als gehörte es ihr. Ich riss es ihr regelrecht aus der Hand.
»Freak«, zischte sie, schob sich an mir vorbei und verschwand im dunklen Flur.
Das erinnerte mich umgehend daran, was ich war. Nicht normal. Ein Freak. Jeder konnte es sehen, auch Lux. Jep, ich war mit dieser Party offiziell fertig.
Also machte ich mich auf den Weg nach unten, um Saundra zu finden und mit ihr von hier zu verschwinden. Aber die bedrückende Finsternis und die seltsame Begegnung mit Lux hingen mir nach wie eine Tischdecke, die sich versehentlich in meinem Hosenbund verklemmt hatte. Niemand sollte Matthews Namen kennen. Ich hatte ja gewusst, dass diese Party eine miese Idee war. Ich hatte es gewusst.
In meinem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander, bis mir ganz schwindelig wurde und es sich anfühlte, als würde ich die Treppe zu schnell und zu langsam zugleich hinuntergehen. Ich bahnte mir einen Weg durch die Menge, den Blick starr auf den Ausgang gerichtet, als würde ich das Ende eines Tunnels fixieren.
Einen Augenblick später war ich draußen und saugte gierig die frische Nachtluft ein. Ich musste auf andere Gedanken kommen, etwas komplett anderes tun, als darüber nachzudenken, was gerade passiert war. Ich musste etwas Unbedachtes tun. Etwas Waghalsiges.
Mein Blick fiel auf den einzigen Menschen, der noch draußen war. Ich ging hinüber und klopfte ihm auf die Schulter. In Momenten wie diesen konnte ich eine Figur in einem Film über Besessene sein. Es ging nur noch darum, die Kontrolle zu verlieren und mich von etwas anderem leiten zu lassen. Ich wartete kaum ab, dass er sich umdrehte, da packte ich auch schon sein Hemd mit einer Hand und zog sein Gesicht zu mir herunter.
Ich hasste den Teil von mir, der so etwas tat. Rücksichtslos und falsch.
Aber es funktionierte. Sobald sich unsere Lippen berührten, waren alle Gedanken an Matthew Marshall und Lux und daran, wie erdrückend sich das Haus angefühlt hatte, wie weggewischt. In diesem Moment wurde mir alles egal. Ich würde es ganz einfach als Torheit auf einer High-School-Party abhaken. Ich konnte so tun, als wäre ich betrunken, als wäre ich ein wildes Mädchen, das sich um Moral nicht scherte. Ich war mir ziemlich sicher, dass normale Teenager auf normalen Partys genau so etwas taten.
Schon bald dachte ich an gar nichts mehr, und als meine Gedanken zur Ruhe kamen, übernahmen meine Sinne die Führung. Da war das Geräusch seines Atems; scharf, wenn er durch die Nase einatmete, und dann weich, wenn er seufzte.
Ich atmete den Duft seines Shampoos ein, etwas Holziges. Kiefern mit Limette. Und dann fielen auch diese Sinne weg, und es existierten nur noch zwei. Das Gefühl seiner Lippen und wie sie schmeckten.
Als wir uns voneinander lösten, beide völlig außer Atem, konnte ich endlich sehen, wen ich geküsst hatte.
Mein Geist, der noch vor einem Moment völlig leer war, schrie laut und niedergeschlagen auf. Fuck!
»Rachel?«, rief Saundra, während sie die Treppe herunterkam. Ich konnte nicht sagen, ob Bram Wilding entsetzt oder angewidert war von dem, was ich gerade getan hatte, aber er war so höflich, sein Gesicht nicht zu verziehen. Das war immerhin etwas. Bram – Lux’ fester Freund, den ich gerade förmlich angefallen hatte, weil ich ein kriminell unbeherrschter Freak war, genau wie Lux sagte – war höflich. Er drehte sich auf dem Absatz um und ging davon, bevor Saundra ihn erkennen konnte.
»Wer war das?«, fragte Saundra, sobald sie bei mir war.
»Niemand.«
Sie zog eine Augenbraue hoch. »Ich habe dich doch gerade mit jemandem reden sehen.«
»Es war niemand. Ein Geist.«
»Lustig, dass du das sagst«, fand Saundra und legte ihre Fingerspitzen aneinander. »Es wird nämlich gleich eine Séance geben!«
2
Ihren Arm fest um meinen gehakt, um jeden weiteren Fluchtversuch zu verhindern, führte mich Saundra zurück ins Haus. »Warum machen wir das?«, fragte ich.
»Es ist eine Séance«, sagten Saundra und ich gleichzeitig, aber in komplett gegensätzlichem Tonfall.
»Was soll schon schiefgehen?«, meinte Saundra.
»Offensichtlich hast du noch nie Night of the Demons gesehen.«
Saundra blieb stehen und drehte sich zu mir um. Sanft ließ sie ihre Hände auf meine Schultern sinken und sah mich sehr ernst an. »Rachel. Keiner kapiert deine Anspielungen auf Filme.«
Ich seufzte. Sie hatte recht.
»Das wird der totale Spaß«, drängte Saundra. »Außerdem machst du dir damit an der Manchester einen Namen. Auf die Art lernt man die Schwergewichte kennen.« Sie ließ ihre Hände sinken und drückte meinen Ellbogen. »So findest du deine Leute.«
Wer hätte gedacht, dass ich nur ein paar Geister heraufbeschwören musste, um Freunde zu finden? Auf dem Boden im Wohnzimmer hatten sich bereits einige in einem Kreis niedergelassen. Mittlerweile war die Party abgeflaut, es waren vielleicht noch 15 Leute geblieben. Leider war eine von ihnen Lux. Als sie mich ansah, verkrampfte sich sofort mein Magen. Ich stand bereits auf ihrer schwarzen Liste – und betete darum, dass sie nie herausfand, dass ich soeben ihren Freund geküsst hatte.
Jemand hatte die Baulampen ausgeschaltet, und das einzige Licht kam aus der Mitte des Kreises, wo ein Junge gerade dicke Stumpenkerzen auf dem Boden anzündete. Als das flackernde Kerzenlicht den Raum genügend unheimlich gemacht hatte und alle ihren Platz eingenommen hatten, stand ein Typ auf. »Meinem Vater gehört dieses Haus, also sollte diese Séance besser nicht aus dem Ruder laufen.«
»Rodrigo, dein Vater hat die Bude nur gekauft, um sie abzureißen und hier Luxusapartments zu bauen«, erinnerte ihn jemand. »Lasst uns das Tor zur Hölle eintreten!«
Ein paar der anderen kicherten, aber ich verstand den Witz nicht. Ein Mädchen riss ihre Hand hoch. Mit ihrer Schuluniform sah sie anders aus, dennoch erkannte ich sie sofort, weil sie in Erdkunde ständig auf dieselbe selbstbewusste Art die Hand hob. So wie sie es jetzt tat. »Welche Art von Séance soll das genau werden?«
»Eine Séance über vergangene Leben«, schlug Thayer Turner vor. Sein Vater war der Generalstaatsanwalt des Bundesstaates, und wie Saundra mich hatte wissen lassen, waren die Turners praktisch die nächsten Obamas. Bewundert, beliebt, in jeder Hinsicht perfekt. Selbst jetzt auf dieser Party war Thayer mit seinem lila Blazer, der perfekt zu seiner dunklen Haut passte, tadellos gekleidet.
»Was ist eine Séance über vergangene Leben?«, fragte Hochreiß-Hand.
»Man schaut in einen Spiegel und sieht darin, wer man in einem früheren Leben war«, erklärte ich.
Thayer drehte sich um, um mich anzusehen. Tatsächlich drehten sich alle um und sahen mich an. Das waren vermutlich die meisten Worte, die sie je von mir gehört hatten, seit ich ihre Schule infiltriert hatte. Meine Anspielung zur Séance in Night of the Demons war als Scherz gemeint gewesen, aber nun, da ich in all die schaurig beleuchteten Gesichter blickte, fühlte es sich eher wie eine Prophezeiung an.
»Ja«, meinte Thayer gedehnt, während er mich eingehend musterte. »New Girl hat recht. Zu unserem Glück habe ich einen Spiegel im Flurschrank gesehen!«
»Was hast du denn in dem Schrank gemacht?«, fragte jemand. Ich funkelte den Typen mit bösem Blick an. In seinem Tonfall lag beißender Spott, der auch Thayer nicht entgangen war. Er zog die Schultern hoch und ging zum Flur.
»Haha, sehr lustig, Devon«, rief er zurück.
Als Thayer wiederkam, schleppte er einen Ganzkörperspiegel, den er quer gegen den Kamin lehnte. Das Glas war trüb von Alter und Verfall, und alle drängten sich um ihn herum, um sich besser betrachten zu können.
»Es kann eine Minute dauern«, sagte Thayer. »Ihr müsst euch konzentrieren.«
Wären wir im Film, würde nun jeden Moment ein knochiger Dämon aus dem Glas brechen. Aber man sah immer noch nichts weiter als ein paar gelangweilte Teenager, die das Gesicht verzogen, um möglichst vorteilhaft auszusehen.
Natürlich war mir klar, dass kein Dämon auf uns zustürmen würde, und auch, dass wir nicht unser früheres Leben sehen würden, trotzdem konnte ich allmählich das vertraute Kribbeln in meinem Nacken spüren. Ich glaubte nicht an vergangene Leben, aber ich hatte eine Vergangenheit. Was, wenn ich in diesen Spiegel blickte und alle konnten sehen, wer ich in Wahrheit war?
»Es passiert überhaupt nichts«, beschwerte sich Hochschnell-Hand.
»Tja, schätze, dann hast du wohl kein Vorleben«, scherzte Thayer.
»Passt zu deinem nicht existierenden Liebesleben«, kicherte Devon, das Arschloch. Der Rest lachte, und ich fragte mich, ob ich da nicht doch einen Haufen Dämonen im Spiegel sah.
»Beruhigt euch, Kinder«, mahnte Thayer. »Warum vergessen wir nicht die Sache mit den vergangenen Leben und versuchen, mit echten Geistern zu kommunizieren?«
»Unsere Urgroßeltern?«, fragte jemand.
»Die Leute, die in diesem Haus gelebt haben«, berichtigte Thayer.
»Ich dachte, es war verlassen«, meinte Devon.
»Nun, es musste ja erst jemand hier wohnen, um es zu verlassen, du Trottel.« Thayer beugte sich vor. Es war nur eine sanfte Bewegung, aber sie brachte alle zum Schweigen und ließ sie sich ebenfalls nach vorn beugen. »Es gab ein Paar, das hier wohnte, Frank und Greta. Typische Hipster – damit meine ich veganen Cashewkäse und schrecklichen Stil. Alles ist gut in Hipsterville, bis Greta eines Tages beginnt, ein Summen zu hören.«
»Ein Summen?«, fragte jemand.
»Wie eine Fliege, die an deinem Ohr herumschwirrt«, erklärte Thayer. »Zuerst war es nur ab und zu, als hätte sich ein Insekt durchs Küchenfenster nach drinnen verirrt und würde nicht mehr hinausfinden. Aber dann wurde es häufiger. Beharrlicher. Greta stellte fest, dass der Lärm immer dann am lautesten war, wenn Frank zu Hause war. Immer wenn sie zusammen waren, hörte sie es. Das Summen. Irgendwann fragte sie ihn, ob er das Geräusch absichtlich machte. Doch Frank antwortete, er könne rein gar nichts hören. Aber Greta hörte das Summen immer weiter, und irgendwann konnte sie es nicht mehr ertragen. Sie brach zusammen und flehte ihn an, doch bitte mit dem Summen aufzuhören, doch Frank sah ihr direkt in die Augen und sagte, er wisse nicht, wovon sie spreche.
Greta glaubte ihm nicht. Das Summen war einfach viel zu laut. Sie nahm ihm nicht ab, dass er es nicht hörte. Und als Greta allmählich durchzudrehen begann, dachte sie nicht mehr nur, dass er über das Summen log. Sie dachte, er war das Summen. Greta war überzeugt, dass Frank einen Hautanzug trug – und dass er darunter eine Million Fliegen war, die summten und schwirrten und es auf sie abgesehen hatten.«
Einige Leute (wie Devon) schnaubten, aber sie hörten Thayer trotzdem unverwandt zu und warteten gebannt, wie es weiterging. Ich beugte mich vor. Auch ich wollte, dass er fortfuhr.
»Frank versuchte natürlich, Greta zur Vernunft zu bringen, aber Greta ertrug es nicht mehr, in seiner Nähe zu sein, bei all dem Gesumme. An manchem Morgen, wenn er sein Müsli aß, sah sie eine Fliege an seinem Ohrläppchen entlangkrabbeln, ohne dass es ihn irgendwie zu stören schien. Nachts konnte sie nicht schlafen, weil Frank mit offenem Mund schlief, und jedes Mal wenn sie die Augen schloss, stellte sie sich vor, wie Fliegen daraus hervorströmten.«
Thayer öffnete den Mund, ließ den Unterkiefer herunterklappen und dehnte ihn so weit wie möglich.
Natürlich schwärmten keine Fliegen heraus, aber er behielt die Pose bei und starrte uns an. Ich spürte, wie Saundra sich an mich drängte. Als er seinen Mund mit einem Klicken zuschnappen ließ, schreckten einige von uns zusammen.
»Greta ertrug es nicht länger«, fuhr er fort. »Eines Tages nahm sie ein Hackebeil und schlug es Frank in den Hals.«
Saundra japste erschrocken.
»Sie hat versucht, die Fliegen zu befreien. Aber am Ende hat sie einfach nur Frank ermordet. Und als Greta erkannte, dass es keine Fliegen gab, nahm sie sich selbst das Leben. Doch das Beängstigende an der ganzen Sache war, dass Frank und Greta« – Thayer machte große Augen und senkte seine Stimme zu einem Flüstern – »registrierte Republikaner waren.«
Ich prustete los, doch niemand sonst schien das lustig zu finden.
»Okay, das Letzte war ein Witz, aber der Rest ist absolut wahr!«, fuhr Thayer fort. »Es dauerte eine geschlagene Woche, bis jemand die Leichen entdeckte. Tagelang hörten die Nachbarn ein ununterbrochenes Summen, das immer lauter und lauter wurde. Schließlich rief jemand die Polizei, und als sie die Tür aufbrachen, ratet, was sie fanden?« Er machte eine dramatische Pause. »Fliegen. Hunderttausende von ihnen krabbelten überall durch das Haus – und über die Leichen.«
»Du redest so einen Schwachsinn«, meinte ein Mädchen, aber direkt neben ihr schlug sich ein Typ an den Hals und zitterte.
»Also, was jetzt? Versuchen wir, mit den Leuten zu reden, die hier gestorben sind?«, fragte Lux. »Brauchen wir dazu nicht ein Ouija-Brett oder so?«
Ein anderes Mädchen, Sienna Irgendwas, räusperte sich. »Ich habe schon an Séancen teilgenommen. Ich weiß, was zu tun ist.« Sie setzte sich auf dramatische Art kerzengerade hin und nahm die Hände derjenigen, zwischen denen sie saß.
Ich wusste nicht, ob ich beeindruckt oder beunruhigt sein sollte. Séancen? Plural? Doch mir blieb keine Zeit, weiter darüber nachzudenken, denn das Mädchen neben mir ergriff meine Hand.
»Na dann los«, ermunterte Thayer sie amüsiert. »Was kommt als Nächstes?«
»Wir dürfen uns auf nichts Bestimmtes konzentrieren, sondern müssen unseren Geist und unsere Seele für alle Eventualitäten öffnen, die das Universum uns darbietet«, erklärte Sienna und klang dabei wie ein Wellness-Guru auf Youtube.
Sie hob ihr Kinn zum kaputten Kronleuchter in der Mitte der Decke und atmete tief ein. »Greta, mit Liebe und Sorge in unseren Herzen wenden wir uns an dich. Dein Tod kam zur falschen Zeit und war total brutal und alles, und das ist scheiße. Und uns ist bewusst, dass du das kleine Problem hattest, Frank oder so zu töten, aber ich glaube auch daran, Frauen einen Vertrauensvorschuss zu gewähren, und ich weiß, dass er vermutlich den ganzen Tag vor sich hin summte, um dich zu ärgern. Wir sind für dich da und wir lieben dich. Wenn du uns hören kannst, gib uns ein Zeichen.«
Ich hatte meinen Geist und meine Seele geöffnet und all das, dennoch konnte ich nicht verhindern, dass sich zwischen meinen Augenbrauen eine tiefe Falte bildete. Das Einzige, was ich über Greta wusste, war, dass sie zu 100 Prozent eine erfundene Person in einer erfundenen Geschichte war. Aber ich schien die Einzige zu sein, die sich daran störte.
Alle um mich herum schlossen die Augen, das einzige Geräusch im Raum war das leise Rascheln von Menschen, die versuchten, still zu sitzen und den Atem anzuhalten. Definitiv keine Spur von Greta. Dennoch harrten wir alle eine gefühlte Ewigkeit so aus und warteten. Mir kam der Gedanke, mich einfach rauszuschleichen, aber ich wollte nicht diejenige sein, die den Zauber des Moments zerstörte. Denn ich war mir ziemlich sicher, dass es nicht das war, was Saundra unter Freunde finden verstand. Zu meinem Glück musste ich gar nichts tun, denn jemand sprach für uns alle. »Okay, das Ganze ist ganz offensichtlich …«
Ein dumpfer Schlag an der Decke unterbrach ihn, und mehr als ein paar Köpfe zuckten zum Geräusch nach oben. Es war laut und stark genug, um die Kristalle des Kronleuchters zum Klingen zu bringen, als wäre dies ein windiger Tag auf einer Veranda in North Carolina und nicht in einem verlassenen Haus in Williamsburg.
»Ist irgendwer oben?«, zischte jemand.
»Es ist Gretaaaaa«, meinte Thayer und ließ seine Stimme gespenstisch vibrieren.
»Greta, bist du das?«, fragte Sienna. »Tippe einmal für Ja und zweimal für Nein.«
Wieder saßen alle ganz still und warteten gespannt auf ein weiteres Geräusch. Nach einem Moment ertönte ein weiterer Schlag. »Greta«, sagte Sienna. »Geht es dir gut?«
Ein Moment des Wartens, dann ein dumpfer Schlag. Und dann, gerade rechtzeitig, um Siennas erblühendes Lächeln verschwinden zu lassen, ein letzter dumpfer Schlag. Zwei Schläge.
»Es geht ihr nicht gut«, flüsterte Saundra.
Für eine Weile herrschte angespanntes Schweigen, während wir uns gegenseitig Blicke zuwarfen, um zu sehen, wer Angst hatte und wer an all das glaubte.
»Greta, wie können wir dir helfen?«, fragte Sienna.
»Das ist keine Frage, die man mit ›Ja‹ oder ›Nein‹ beantworten kann. Wie soll sie uns denn antworten?«, ätzte Lux und rollte mit den Augen.
Da kam ein neues Geräusch von oben. Kein dumpfer Schlag, sondern eher ein Rumpeln, als ob eine Bowlingkugel über den Boden gerollt würde. Staub rieselte von der Popcorn-Decke. Und dann geschahen plötzlich mehrere Dinge gleichzeitig. Nicht mehr nur an der Decke, sondern auch in den Wänden klopfte und hämmerte es, als würde das ganze Haus zum Leben erwachen. Die Kerzen erloschen und ich hörte ein schrilles Scheppern. Der Spiegel war umgefallen und bespritzte uns mit seinen Splittern. Alle begannen zu schreien, laut genug, um mit der zunehmenden Kakofonie des zerfallenden Hauses mitzuhalten. Saundras Schrei war schriller als der aller anderen, sie riss plötzlich an meiner Hand und zog mich so schnell hoch, dass meine Füße wegrutschten, als ich mich aufzurichten versuchte. Die Geräusche der Leute, die durch die Dunkelheit huschten, vermischten sich mit dem donnernden Getöse, das noch immer aus Decke und Wänden kam. Und dann verwandelte sich der Lärm in etwas anderes.
Etwas, das viel näher war.
Ein Schwarm.
Ein Summen.
Als ob Hunderttausende Fliegen über uns hinwegkrabbeln würden.
Nun wurden die Schreie panisch, vor allem von einer Person. »Holt sie von mir runter!«, kreischte sie. »Nehmt sie weg von mir!«
Das grelle Neonlicht der Baulampen flackerte wieder auf und beleuchtete einen nun völlig verwandelten Raum. Leute drängten sich an der Tür, schrien und versuchten verzweifelt hinauszugelangen. Aber vor allem starrten wir alle auf Lux, die außer sich vor Panik war. Sie zerrte wild an ihren schönen blonden Strähnen und schrie hysterisch, jemand solle ihr helfen, die Fliegen aus dem Haar zu bekommen. Aber es waren keine Fliegen zu sehen. Mit dem Licht kehrte Stille ein, und aus dem Augenwinkel sah ich die einzige andere Person, die nicht ausflippte. Keine einzige Strähne seiner Locken schien verrutscht. Der dicke Rahmen seiner Brille saß akkurat auf seiner Nase. Ich beobachtete, wie er auf einen tragbaren Lautsprecher klickte und ihn in seine Hosentasche steckte. Und plötzlich war das Summen verstummt.
Ich biss mir auf die Lippen. Versuchte, nichts preiszugeben. Alle anderen fluchten und hielten den Atem an, doch in mir stieg ein anderer Drang auf. Bis ich ihn schließlich nicht länger unterdrücken konnte.
Ich lachte los. Aus vollem Hals. Mein Lachen war so laut, dass bald alle im Raum mich anstarrten, als wäre ich das Merkwürdigste hier in diesem verlassenen, vermeintlich verfluchten Haus.
Heftig atmend starrte Lux mich an, aus beiden Fäusten hingen blonde Strähnen wie traurige Bouquets. Für einen Moment dachte ich, sie hätte sich büschelweise die eigenen Haare rausgerissen, bis mir die Clips an den Enden auffielen. Haar-Extensions.
»Du hast mir das angetan!« Lux zeigte auf mich, als wäre ich diejenige gewesen, die sie kahl gerupft hatte.
Ich schüttelte den Kopf, doch obwohl ich versuchte, ernst zu sein, schlüpften mir noch immer kleine Kichersalven durch die Lippen.
»Das war dein verfluchter Streich!«
Ich sah mich um, wollte den Kerl mit dem tragbaren Lautsprecher finden, doch er hatte sich offenbar verdrückt, bevor Lux mich zusammenstauchte. Alle anderen standen da wie erstarrt.
Ein wütender, gutturaler Laut brodelte aus Lux’ Hals, als sie ihre Extensions auf den Boden schleuderte. »Lach dich ruhig ein letztes Mal schlapp, denn an dieser Schule bist du erledigt.« Und dann stapfte sie zur Tür raus.
Mittlerweile war mein Lachanfall verebbt. Als ich mich zu Saundra umdrehte, sah sie mich an, das Gesicht zu einer Grimasse erstarrt. Ich wartete darauf, dass sie irgendetwas sagte. Irgendeinen ihrer ermutigenden Sprüche wie zuvor, als sie meinte, diese Party würde der »totale Spaß« werden und dass ich hier »meine Leute« finden würde.
Doch alles, was ihr über die Lippen kam, war: »Das ist nicht gut.«
3
Wie ungut es um mich stand, bekam ich in dem Moment zu spüren, als ich am nächsten Morgen die Schule betrat.
Die Manchester Prep war eine Privatschule, und wie exklusiv sie war, verriet schon ihre Adresse. Manhattan. Upper East Side. Praktisch auf der Museum Mile. Das Gebäude war fünf Etagen hoch mit einer Fassade, deren kunstvolle gotische Details Touristen und deren Kameras wie magisch anzogen. Es war von außen so wunderschön, wie es von innen verkrampft zuging.
Wir trugen alle Schuluniformen. Oxford-Hemden und blaue Blazer mit Schulwappen. Die Jungs dazu Hosen, die Mädchen graue Faltenröcke, die eigentlich bis zu den Knien reichen sollten, aber bei den meisten an den Oberschenkeln endeten. Ich hatte den Fehler gemacht, meine Uniform online zu bestellen, statt wie die anderen sie mir im Geschäft anpassen zu lassen, sodass mein Rocksaum bis zu den Schienbeinen herabbaumelte. Der Stoff war gestärkt und scheuerte, der Bund kniff an den weichen Stellen meiner Taille. Das gesamte Kleidungsstück war eine einzige Metapher dafür, wie wenig ich hier reinpasste.
Das ging schon mit dem Geld los. Sie hatten es, ich nicht. Man mochte annehmen, dass dies keine große Rolle spielte, wenn alle in denselben Klamotten und demselben Unterricht steckten. Doch sobald einer von ihnen den Mund öffnete, war klar, dass wir unterschiedlichen Welten angehörten. Sie liebten es, über die Sachen zu reden, die sie besaßen: wie teuer sie gewesen waren und wie viele sie davon besaßen. Sie hatten Kreditkarten ohne Limit und Schmuck von Cartier, und aus irgendeinem Grund, den ich wohl nie erfahren würde, trugen alle haargenau die gleiche Nano-Designertasche von Céline. Einmal sah ich einen meiner Klassenkameraden dabei, wie er in einem Laden auf der 2nd Avenue versuchte, einen Twix-Riegel mit einer 100-Dollar-Note zu bezahlen.
Also ja, auf der einen Seite stand ich und auf der anderen standen sie. Und die Kluft zwischen uns hatte die Größe von Manhattan.
Aber jetzt, während ich denselben Weg wie immer zu meinem Schrank nahm, hatte ich das Gefühl, noch aus einem ganz anderen Grund nicht hierherzugehören. Jeder starrte mich an. So richtig. Sie hielten sogar an dafür. Manche grinsten, andere lehnten sich zu ihren Freunden, um ihnen etwas zuzuflüstern, während sie mich weiter angafften.
Ich brauchte sie nicht zu hören, um zu wissen, was sie sagten. Das ist die, die sich mit Lux angelegt hat.
Bisher hatte ich mir solche Mühe gegeben, an dieser Schule nicht aufzufallen und mich einzufügen, dass es sich nun, da alle Augen auf mich gerichtet waren, wie ein abrupter Temperatursturz anfühlte. Alles um mich herum schien frostig. Selbst die Leute auf den Porträts der Ehemaligen, die an den hohen Wänden hingen, schienen mich missbilligend zu beäugen. Die meisten von ihnen waren wütend dreinschauende Typen aus einer Zeit, als Manchester noch exklusiv für wütend dreinschauende Typen reserviert war. Erst seit den 80ern ließ die Schule auch Mädchen zu, und mein Schrank war direkt unter den Farbfotografien von zwei Absolventinnen mit auftoupiertem Haar. Eine war Astronautin geworden, die andere eine Schauspielerin in zweitklassigen Sitcoms. Auch sie wirkten um Längen zu interessiert. An mir, der frisch gekürten Aussätzigen.
Lux traf ich nicht, doch ich spürte ihre Anwesenheit überall, wie einen Geist, der mir auf Schritt und Tritt folgte. Das Gefühl wurde am stärksten in meinem Kurs Frauen in der Literatur, als ich Bram auf seinem Platz erblickte. Für einen scheinbar unendlichen Moment trafen sich unsere Blicke und ich dachte wieder an unseren Kuss. Ich fühlte mein Gesicht rot werden und fragte mich, ob er Lux wohl davon erzählt hatte und ob ich mich darauf gefasst machen musste, dass mein sowieso schon elendes Dasein an der Manchester noch um ein Vielfaches furchtbarer werden würde. Doch dann sah er einfach weg, also machte ich dasselbe, und wir beide taten wieder so, als wäre ich unsichtbar.
Ich gab mein Bestes, nicht mehr an Bram zu denken, aber unglücklicherweise war ausgerechnet er Saundras absolutes Lieblingsthema.
»Gab es an deiner alten High School irgendwelche Typen, die auch nur annähernd so umwerfend waren wie Bram?«, fragte sie mich, als wir uns in der Cafeteria zum Essen hinsetzten.
Ich ließ sofort mein Sandwich sinken. Mein Magen zog sich zusammen und mir verging abrupt der Appetit. Saundra bemerkte davon nichts. Gedankenverloren kaute sie vor sich hin, während sie zur Mitte des Raums starrte. Die exklusiv für die Schulelite reservierte Zone. Saundra gaffte Bram und seine Freunde an, als würden sie etwas unglaublich Bemerkenswertes tun und nicht etwa nur essen und sich unterhalten wie der Rest vom Pöbel.
Saundra hatte mir alles erzählt, was ich nie über Bram wissen wollte. Er war der Spross von Andrew und Delilah Wilding, einem Magnaten der Verlagsbranche mit schottischen Wurzeln und einem Ex-Model aus Kairo. Doch ich wusste etwas über Bram, das Saundra nicht wissen konnte. Nämlich wie sich seine Lippen anfühlten.
»Sämtliche Typen an meiner alten Schule sahen aus wie Oger«, antwortete ich. Saundra tat mir den großen Gefallen, den Elefanten im Raum nicht zu erwähnen (meine jähe Prominenz und soziale Ächtung), dennoch musste ich jetzt ganz dringend das Thema wechseln. »Könnten wir buchstäblich über alles andere sprechen?«
»Okay, wir könnten über die Party reden, über die ich alles andere als hinweg bin. Wir durften rausfinden, dass Lux’ legendäre Locken in Wahrheit Extensions sind.« Saundra hob seufzend den Blick zur Decke. »Ich meine, dauernd betet man zu den großen Skandalgöttern, ohne sich jemals träumen zu lassen, dass sie einen erhören, verstehst du?«
»Findest du denn nicht, dass es ein ganz schön fieser Streich war?«, fragte ich.
»Oh, du glaubst doch nicht etwa solchen Gerüchten.«
»Welchen Gerüchten?«
Saundras Augen leuchteten auf. Wenn es etwas gab, über das sie noch lieber sprach als über Bram Wilding, dann waren es Gerüchte. »Manchmal vergesse ich, dass du neu bist und keine Ahnung hast von all den schmutzigen Geheimnissen an der Manchester.« Sie schob ihr Tablett zur Seite, als müsste sie Platz schaffen für die riesige Ungeheuerlichkeit, die sie im Begriff war zu enthüllen.
»Die Leute hier denken, dass es einen Ober-Prankster gibt, der hinter den größten Demütigungen von jedem hier steckt. Wie das eine Mal, als Erica Belcott im Schwimmbad des Jugendzentrums eingeschlossen wurde. Als man sie schließlich fand, lag sie zusammengerollt wie ein Fötus auf dem Sprungbrett und erzählte, irgendwer habe die ganze Zeit das Licht an- und ausgeschaltet. Ein anderes Mal wachte Jonathan Calden in einem Müllcontainer hinter dem Red Lobster auf, ohne zu wissen, wie er dort hingekommen war. Dann war da noch die Sache mit Julia Mahoney. Sie schwor, dass jemand ihr gruselige Nachrichten mit rotem Lippenstift überall in ihrem Zuhause hinterließ. Dann fand sie während der Chemiestunde einen Lippenstift in ihrem Rucksack. Sie rastete total aus, warf den Bunsenbrenner um und hätte beinahe das ganze Labor abgefackelt. Daher die Prankster-Theorie«, fuhr Saundra fort. »Man munkelt, all diese Streiche würden zusammenhängen und auf das Konto von ein und derselben Person gehen. Sie sagen dann so was wie: ›Das Arschloch hat mich erwischt.‹ Ähm, nö, Jonathan, wie wär’s mal mit etwas Eigenverantwortung? Selbst schuld, wenn du zum Red Lobster nach Jersey fährst und dann in ’nem Müllcontainer aufwachst.«
Wenn mir Saundra sonst lauter unbekannte Namen um die Ohren blies, schaltete ich normalerweise auf Durchzug und tat, als wären es Umgebungsgeräusche. Aber ein mysteriöser Schrecken, der mit dem Leben anderer sein Unwesen trieb? »Erzähl mir mehr davon.«
»Das geht schon seit Ewigkeiten so«, meinte Saundra. »Ich hab schon Geschichten über den ›Prankster‹ gehört, bevor ich überhaupt an der High School war. Aber es ist nicht mehr als eine dieser Großstadtlegenden.«
Da fiel mir der Kerl wieder ein, den ich gesehen hatte, als die Lichter in dem verlassenen Haus wieder angingen. Während alle abgelenkt waren, hatte er unauffällig seinen tragbaren Lautsprecher abgeschaltet. Ich hatte seinen Namen herausgefunden – Freddie Martinez. Ein Blick durch die Cafeteria, und ich entdeckte ihn. Die wilden Locken, die sich über seiner hellbraunen Stirn wölbten, waren unverkennbar. Er saß da umgeben von einer Gruppe von Freunden.
»Wer sind die da?«, fragte ich Saundra.
»Bäh, das sind die Tisch-Jungs. Die sind alle zusammen im Filmclub. Jeder von denen will später an die Tisch School der NYU, um Kino zu studieren – sorry, ›Film‹«, erklärte mir Saundra verächtlich. »Einer von denen ist sogar ein Tisch. Pass bloß auf. Die könnten glatt versuchen, dich für ihren Club zu rekrutieren, immerhin haben sie bisher nicht ein weibliches Mitglied an Land ziehen können. Was ein großes Imageproblem ist. Einmal hat Pruit Pusivic mich angeflirtet, und ich bin sogar kurz drauf eingestiegen. Aber dann ging mir ein Licht auf, so nach dem Motto: Moment mal, willst du echt was von mir oder versuchst du nur, mich in euren Club zu zerren? Das hat mein Vertrauen in andere wirklich nachhaltig erschüttert.«
»Oh.«
»Ganz genau«, bestätigte Saundra. »Die finden sich cool, dabei sind sie nichts weiter als aufgeblasene Nerds.«
Freddie kam mir dagegen gar nicht so nerdig vor. Klar, er trug diese Brille mit dicken Rändern, aber irgendwie gefiel mir das. Außerdem wirkte er mit seinem entspannten Auftreten und dem unbeschwerten Lächeln wie jemand mit einem gesunden Selbstbewusstsein. Und dann war da noch die markante Kieferpartie. So scharf geschnitten. Seine Kleidung wirkte aber irgendwie unordentlich – anders als bei den anderen Jungs war das Hemd seiner Schuluniform ungebügelt, und seine Schuhe waren abgewetzt, als hätten sie noch nie Schuhcreme gesehen. Doch ich wurde das Gefühl nicht los, dass all das Absicht war. Ein Look, den er genau so wollte.
»Und was ist mit dem da?«, fragte ich und deutete mit dem Kinn in Freddies Richtung.
»Freddie Martinez?«, fragte Saundra. »Was soll mit ihm sein?«
»Nichts, ich bin nur neugierig.«
Ihr Gesichtsausdruck verriet, dass es für sie um Längen interessantere Leute gab, über die man tratschen konnte, doch Saundra war immer glücklich, wenn sie ihr umfassendes Wissen über die Schülerschaft zum Besten geben konnte, selbst wenn es dabei nur um Freddie Martinez ging. Also atmete sie tief ein, ehe sie begann, eine Liste von Freddie-Fakten abzuspulen.
Ich erfuhr, dass er und ich etwas gemeinsam hatten: In einer Schule, auf der sich die Abkömmlinge des obersten Prozents der Gesellschaft tummelten, gehörten wir beide zu den restlichen 99 Prozent. Er war durch ein Stipendium hier gelandet. Seine Mom hatte eine Catering-Firma, bei der er an den Wochenenden mithalf. Doch er verkaufte auch Klausurantworten und Hausarbeiten. Wenn der Preis stimmte, schrieb er offenbar sogar Prüfungen für andere. In diesem Umfeld war das ein lukratives Nebeneinkommen.
»Generell würde der für ein paar Kröten alles machen. Was ziemlich schäbig ist, aber wohl auch echt nützlich, wenn man in Mathe oder so eine Niete ist.« Saundra hielt kurz inne, um Luft zu holen. »Es gibt auch das Gerücht, dass er mit Drogen dealt, aber ich persönlich denke, das ist einfach ein rassistisches Vorurteil.«
Dann sprach es ja ungeheuer für sie, dass sie nicht zur Verbreitung solcher Gerüchte beitrug.
Freddie war mit dem Jungen neben ihm ins Gespräch vertieft. Unwillkürlich fragte ich mich, ob beide für den Streich verantwortlich gewesen sein konnten oder ob ihn Freddie im Alleingang ausgeheckt hatte. Vielleicht irrte sich Saundra diesmal. Vielleicht gab es ja doch jemanden, der es auf die Schüler der Manchester abgesehen hatte.
Was für eine verstörende Vorstellung.
Andererseits aber auch das Spannendste, was seit meiner Ankunft hier passiert wäre.
4
Zum Dampfablassen sah ich mir am liebsten Horrorfilme an. Für mich waren sie eine Art Konfrontationstherapie. Was ironisch war, denn mein früherer Therapeut hasste diese Vorstellung. Doch auf mich hatte Horror eine beruhigende Wirkung, fast wie eine Katharsis. Vielleicht weil ich wusste, dass alles, was ich da sah, nicht echt und in weniger als zwei Stunden vorbei war. Wenn ich mir beibringen konnte, einen beängstigenden Film durchzustehen, mich den verschiedensten Schrecken darin zu stellen, dann war ich vielleicht auch in der Lage, mich zu einer Version von mir weiterzuentwickeln, die im Ganzen gelassener und abgeklärter war.
Zumindest war das der Plan gewesen. Ich hatte letztes Jahr begonnen, mir Horrorfilme anzuschauen, nachdem ich angegriffen worden war. Am Anfang machten sie mich fast wahnsinnig vor Angst. Während Der Exorzist musste ich jedes Mal hastig den Blick abwenden, sobald eine Nahaufnahme von Linda Blairs schaumigem und fleckigem Gesicht zu sehen war. Nach Ring war ich eine Woche lang nicht in der Lage, ans Telefon zu gehen.
Gruselfilme ließen mich genau das fühlen, wofür sie gemacht waren. Ich war starr vor Angst, und dann war ich drüber weg. Die Gänsehaut, die mir dieses Grauen bescherte, schoss über meine Haut, als würde man sich mit eisigem Wasser abduschen. Zuerst schüttelte es einen durch bis ins Mark, aber danach fühlte man sich gereinigt und erfrischt und war umso froher, dass man es gewagt hatte.
Aber nach und nach wurde ich immer süchtiger nach diesem Gefühl, und nachdem ich die meisten Mainstreamfilme durchhatte, fing ich an, mir Streifen aus den Unterkategorien des Horrorgenres reinzuziehen, die eher geschmacklos und billig als angsteinflößend waren.
Das ganze Zeug mit schlechter Schminke und noch schlechteren Dialogen. Ich war nicht immun geworden gegen Horror oder so, aber in letzter Zeit hauten diese Filme nicht mehr so rein.
Das galt leider auch für meine nächtliche Dosis heute – ein Film namens Rabid. Aber ich wurde auch die ganze Zeit von meinem Handy abgelenkt.
Ich hatte geglaubt, ich könnte all die seltsamen Ereignisse in der Schule hinter mir lassen, aber das erwies sich als naiv. Der Vorfall mit Lux und ihren Haar-Extensions entwickelte in den sozialen Medien ein Eigenleben, wo er in den verschiedensten Versionen vor sich hin wucherte. Auf Instagram wurde ich in Posts getaggt, in denen man mir die Augen ausschraffiert hatte oder sich in langen und ausschweifenden Tiraden darüber ausließ, warum ich der furchtbarste Mensch der Welt war für das, was ich Lux angetan hatte.
Seufzend scrollte ich durch all die Benachrichtigungen, in denen ich erwähnt wurde, und fand auf Tiktok zwei Jungs; einer sollte Lux darstellen (wie mir die blonde Perücke verriet) und der andere mich (das Gesicht über und über bemalt mit Sommersprossen fett wie Leberflecke), die übereinander herfielen und sich gegenseitig niederrangen.
All das, weil ich mich erdreistet hatte, über einen blöden Streich zu lachen. Natürlich sah es für alle anderen so aus, als hätte ich Lux ausgelacht. Und vielleicht hatte ein Teil von mir das sogar getan und sich ergötzt an ihrer Angst und geweidet an ihrem Unbehagen. Ich spielte den Clip noch einmal ab und zoomte auf das gackernde Gesicht von »Rachel«.
Vor einem Jahr, ehe Angst und Beklemmung zu meinen ungeliebten Gefährten wurden, hatte meine monströse Seite ihren Kopf zum ersten Mal in die Höhe gereckt. Seitdem tat ich alles, um sie zu verstecken. Aber in diesem kurzen Moment, als die Lichter in dem verlassenen Haus wieder angingen, war sie entblößt gewesen. Und nun sprang dieses Monster für jeden sichtbar überall durch die sozialen Medien.
Die schlimmsten Posts aber – die sich anfühlten, als würde mir ein klingenbewehrter Handschuh direkt in die Eingeweide fahren – waren jene, die sich ungeniert über Lux lustig machten. Abfällige, anonyme Tweeds über ihr falsches Haar, mit Photoshop bearbeitete Bilder von Lux mit kahlem Schädel. Diese Posts waren es, die signalisierten, dass all dies, wie Saundra es so treffend formuliert hatte, nicht gut war. Ich konnte das Grauen spüren, wie es mir die Kehle zuschnürte, und das kam nicht von dem Film, den ich mir ansah. Ich fühlte mich schlecht wegen Lux, doch selbst während unserer kurzen Begegnung konnte ich spüren, dass Lux nicht die Art Mädchen war, die Demütigung auf die leichte Schulter nahm. Sie würde sich rächen wollen.
Das Grauen meiner Mom kam dagegen eindeutig vom Film. Sie saß am anderen Ende der Couch mit einem schiefen Stapel Klassenarbeiten auf dem Schoß und verbarg ihr Gesicht mit beiden Händen. Immer wieder schielte sie zwischen den Fingern hindurch, um zu sehen, ob die Zange endlich aus dem Bild verschwunden war.
»Müssen die denn wirklich all die … Kiefermuskeln zeigen?«, jammerte sie.
Rabid handelte von einer Frau, der bei einem Unfall fast das gesamte Gesicht weggerissen wurde. Gerade waren wir an der Stelle, als die Ärzte ihr die Verletzungen zeigten. Untermalt von jeder Menge Wehklage, sowohl von der Patientin als auch von meiner Mutter. Es war das erste Mal, dass ich den Film sah.
»Ja, die müssen sie alle zeigen«, antwortete ich. Ich legte mein Handy weg und griff mir eine Handvoll Mikrowellenpopcorn aus der Schüssel auf meinem Schoß.
Ich hatte meine Mom nie gebeten, sich mit mir die Filme anzusehen, doch sie bestand jedes Mal darauf, mir dabei Gesellschaft zu leisten. Ich war überzeugt, für sie lief das unter Mutter-Tochter-Zeit.
»Das ist so widerwärtig«, beschwerte sie sich. »Und unnötig! Warum zeigen diese Filme dauernd Gewalt gegen Frauen?«
»Regie führen zwei Frauen. Die Soska-Schwestern.«
»Ach, echt?«
»Ich kann ihn auch in meinem Zimmer weitersehen, wenn du magst.«
Doch meine Mom schüttelte energisch den Kopf. Ich hatte nichts anderes erwartet. Ich denke, sie ertrug meine Schockerfilm-Manie, weil sie es als meinen Weg ansah, »mein Trauma« zu kurieren, das ich durch den Vorfall im letzten Jahr erlitten hatte. Was nicht hieß, dass sie es mögen musste. Und bei jedem Film, den wir sahen, machte sie das auch mehr als deutlich.
Um nicht weiter auf den Bildschirm zu sehen, widmete sie sich ihrem Stapel Blätter. Aus dem Augenwinkel beobachtete ich, wie sie die Kappe von ihrem Rotstift abzog und an den Rand irgendeines Schüleraufsatzes drei Fragezeichen kritzelte. Als das Geschrei wieder losging, fuhr sie zusammen und blickte auf.
»Sollte ich mir Sorgen machen, Rachel?«
Ich verdrehte die Augen und brauchte all meine Beherrschung, um nicht augenblicklich von der Couch zu verduften. »Wir müssen aufhören, diese Filme gemeinsam zu schauen.«
»War irgendwas in der Schule?«
»Nö.«