Der Mäuserich - Marcel Bauer - E-Book

Der Mäuserich E-Book

Marcel Bauer

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Beschreibung

Schon viele Autoren haben sich bemüht, eine Lebensbeschreibung von Benno Bong zu verfassen. Doch dabei blieben viele Fragen offen, und es gab reichlich Unstimmigkeiten und Widersprüche. Darum habe ich, Asasiel, sein Schutzengel, der siebzig Jahre lang sein ständiger Begleiter war, beschlossen, seine Geschichte niederzuschreiben, so wie sie sich wirklich zugetragen hat. Bei den Pfadfindern erhielt Benno das Totem Wackerer Mäuserich, weil er vorwitzig, umtriebig und verlässlich wie eine Maus war. Der Sohn eines Schreiners stammte aus dem Vennland, einem Landstrich zwischen Eifel und Ardennen, der sich in den letzten Jahren zu einem kleinen Musterstaat mauserte. Schon in jungen Jahren hatte er die Vision, den alten Pilgerweg, der von Trier durch die Eifel nach Aachen und seinen Heiligtümern führte, neu zu beleben. Er wollte sich als Einsiedler im Hohen Venn niederlassen, um verirrten Pilgern den Weg durch das Moor zu weisen. Nachdem er dank einiger spektakulärer Aktionen auf sich aufmerksam gemacht hatte, wurde er vom Papst in Rom und von den Patriarchen in Konstantinopel und Moskau mit heiklen diplomatischen Missionen betraut, die ihn bis nach Afrika führten. Als Anerkennung für seine Dienste um Kirche und Ökumene erhielt er vom Aachener Domkapitel den Ehrentitel »Wächter des Domes«. Seine Bemühungen die Aachenfahrt neu zu beleben, scheiterten an den Umständen der Zeit und endeten tragisch.

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© 2023 – e-book-AusgabeRHEIN-MOSEL-VERLAGZell/MoselBrandenburg 17, D-56856 Zell/MoselTel 06542/5151 Fax 06542/61158Alle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-89801-936-1Ausstattung: Stefanie ThurKorrektorat: Melanie Oster-DaumAutorenfoto: Arne HoubenTitelbild: joe63bn/pixabay.com

Marcel Bauer

Der Mäuserich

Die Geschichte einer gescheiterten Pilgerfahrt

Ein Schelmenroman

Rhein-Mosel-Verlag

Für Kathrin und Dylan

»Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.«

Prolog

Mein Name ist Asasiel. Ich bin einer von den Engeln, die beiläufig im Buch Henoch erwähnt werden, aber das hat wenig zu bedeuten, denn es handelt sich beim Buch Henoch nicht um eines der sechsundsechzig anerkannten Bücher der Bibel, sondern um eine zweifelhafte Schrift aus späterer Zeit.

Aus der unermesslichen Zahl seiner Engel ernannte der allwissende und allmächtige Gott mich, den unwürdigsten in seinen Heerscharen, zu Benno Bongs Schutzengel. Nun, da mein Schützling zum Vater im Himmel heimgegangen ist, ist meine Aufgabe beendet.

Wie es im Buch des Lebens vorgeschrieben ist, habe ich abschließend einen Bericht über seine irdische Wanderschaft verfasst. In meinem Engelsleben gab es kaum eine Mission, die anstrengender gewesen wäre als die siebzig Jahre, die ich an seiner Seite verbracht habe.

Bevor ich mit meinem Bericht beginne, erscheint es mir sinnvoll, auf die Rolle einzugehen, die Gott uns Engeln in seinem Schöpfungsplan zugedacht hat. Wenn von Engeln die Rede ist, fragen sich manche, wer diese geheimnisvollen Wesen sind. Manchmal kommen sie unverhofft in Mode, dann geraten sie ebenso schnell wieder in Vergessenheit.

Bekannt ist, dass Engel im Judentum, im Christentum und im Islam vorkommen. Die drei monotheistischen Religionen stimmen darin überein, dass Engel himmlische Geistwesen sind. Allerdings unterscheiden sie sich in den Attributen, die sie ihnen zubilligen und in der Auflistung der Aufgaben, die sie zu erfüllen haben.

Nach christlichem Verständnis wird jeder Engel mit einer besonderen Aufgabe betraut. Unter allen Engeln nimmt der Erzengel Michael eine besondere Stellung ein, denn in der Apokalypse des Johannes, wird Michael als derjenige beschrieben, der den Satan in den Höllenschlund hinabstieß.

Das erklärt den hohen Rang, den er in der himmlischen Hierarchie einnimmt. Im heiligen Michael sehen gläubige Menschen den starken Arm Gottes. Auf Bildern wird er als wehrhafter Wächter an der Himmelspforte dargestellt. In der einen Hand hält er ein Flammenschwert, mit dem er den Zugang zum Himmelreich hütet. In der anderen Hand hält er die Seelenwaage, um die guten und bösen Taten eines Verstorbenen gegeneinander aufzuwiegen.

Solche volkstümlichen Darstellungen sind anrührend aber übertrieben, denn nicht der Erzengel Michael, sondern Gott selbst urteilt über das Leben eines Menschen, wobei selbst der ärmste Sünder mit Seiner allumfassenden Güte und Gnade rechnen darf.

In der Regel schenkt die Theologie, jene akademische Wissenschaft, die vorgibt, die Natur Gottes zu ergründen, uns Engeln kaum Beachtung. Die meisten Theologen stimmen nur darin überein, dass wir Engel personale Wesen sind, die in Gottes Namen bestimmte Aufgaben wahrnehmen.

Einer der wenigen, die sich ernsthaft mit den Engeln befasst hat, war Dionysios von Athen, ein Jünger des Apostels Paulus. Er teilt die himmlischen Heerscharen in neun Chöre auf. Ganz oben in seiner Rangordnung stehen Cherubim, Seraphim und Throne. Es folgen die Dominationes, Virtutes und Potestates. Wir Schutzengel gehören mit den Principes und den Archangeli zur dritten und untersten Kategorie: wir sind diejenigen, die den Menschen am nächsten stehen.

In der Summa Theologica von Thomas von Aquin findet sich eine Engelkunde, in der die Hierarchien, Rollen und Aufgaben der Engel genau aufgelistet werden. Insofern ist der Kirchenvater aus dem 13. Jahrhundert eine Ausnahme, denn für die meisten Theologen spielen Engel nur eine untergeordnete Rolle.

Uns ignorieren, können sie nicht, denn in den heiligen Schriften ist unsere Existenz vielfach bezeugt. Schon im Alten Testament tauchen Engel als Sprecher oder Boten Gottes auf. So hindert ein Engel den Stammvater Abraham daran, seinen Sohn Isaak als Opfergabe für den Allerhöchsten zu schlachten. An einer anderen Stelle muss Jakob, einer der Erzväter Israels, am Fluss Jabbok mit einem Engel ringen. Er wird ihn sogar bezwingen, was den Theologen viel Kopfzerbrechen bereitet.

Im Neuen Testament treten die Engel als Diener Gottes und Friedensboten auf. Jesus redet oft davon, dass ihn die Engel bei seiner Rückkehr zum Letzten Gericht begleiten werden.

Wenn die Evangelisten uns erwähnen, beschreiben sie uns als undefinierbare Lichtgestalten. Im Evangelium nach Lukas ist es ein Engel, der Maria die Ankunft des Erlösers mitteilt und in Bethlehem sind es ganze Heerscharen von Engeln, die den Hirten auf dem Felde seine Geburt verkünden. Es ist wiederum ein Engel, der Jesus in seiner schwersten Stunde am Ölberg beisteht.

Im Evangelium nach Matthäus erwähnt Jesus, dass jedes Kind einen Schutzengel hat, der allzeit das Angesicht des himmlischen Vaters sieht. Das hat manche Länder und Städte dazu bewogen, sich einen Engel als Schutzpatron zuzulegen – am liebsten einen Erzengel, weil dieser Kraft symbolisiert, egal ob es sich um Michael, Raphael, Gabriel oder Uriel handelt.

Viele Menschen, selbst solche, die nicht an Gott glauben, sehen in uns helfende und tröstende Geister. Manche sagen uns nach, wir würden eingreifen, wenn Menschen ein Unglück oder eine Gefahr drohe. Aber das ist eine irrige Annahme, denn wir sind weder eine himmlische Feuerwehr noch eine Art überirdischer Rettungsdienst. Umgekehrt tragen wir Engel keinerlei Schuld an Unglücken, die Menschen zustoßen oder die sie selbst verursachen.

Die Kunstgeschichte ist reich an Darstellungen von Engeln: angefangen von geflügelten Tieren im alten Persien und in Ägypten bis hin zu den feinsinnigen Miniaturen in der Renaissance. In der christlichen Kunst werden wir als menschenähnliche Mischwesen mit Flügeln und Sphingen dargestellt, die wie Vögel durch die Lüfte schwirren. Die Flügel sollen anzeigen, dass wir Boten sind, die ständig zwischen Himmel und Erde pendeln.

Wir mögen es nicht sonderlich, wenn man uns als pausbäckige Knaben mit gestutzten Flügeln oder als putzige Musikanten mit Harfen, Flöten und Posaunen darstellt. Das beweist nur, dass es noch immer kindliche Vorstellungen über die Herkunft und die Bestimmung der Engel gibt.

Oft hört man, dass sich die Seelen von totgeborenen Kindern und früh verstorbenen Säuglingen in Engel verwandeln. Darum die vielen Gipsengelchen auf den Friedhöfen. Das zeugt von einer gewissen Hilflosigkeit. Als schlimm empfinde ich es hingegen, wenn man uns zu Glücksbringern degradiert, wie das häufig in esoterischen Kreisen geschieht.

Immerhin zeigen die unterschiedlichen Vorstellungen, die über die Engel kursieren, dass von uns eine seltsame Faszination ausgeht. In Zeiten, in denen der christliche Glaube immer mehr schwindet und es keine gesicherten Wahrheiten mehr gibt, werden wir immer populärer. Religionsforscher haben festgestellt, dass der Glaube an Engel umso stärker wird, als der Glaube an Gott abnimmt.

Für manche Menschen scheinen Engel greifbarer zu sein als der allmächtige Gott. Das hat dazu geführt, dass es viele Scharlatane gibt, die sich mit Engelskunde befassen. Vielerorts werden Seminare in Angelologie angeboten. Quacksalber schreiben uns magische Kräfte zu. Mit dem vermeintlichen Wissen um das Wesen und das Wirken der Engel lässt sich heutzutage viel Geld verdienen.

Es gibt Spiritistinnen und Okkultisten, die behaupten, sie könnten in Kontakt mit uns treten, obwohl das unmöglich ist, weil wir überirdische Wesen sind. Sie veranstalten Geisterstunden, um uns herbeizurufen und zu befragen. In solchen Séancen gaukeln sie ihrem Publikum vor, sie könnten unsere Anwesenheit im Geruch einer Blume, im Hauch des Windes oder in einer fliegenden Vogelfeder wahrnehmen.

Aber das ist alles Unfug, denn wir Engel sind wie gesagt Geistwesen, die keine natürliche geschweige denn körperliche Gestalt annehmen und daher für irdische Geschöpfe unfassbar sind.

Laut der Offenbarung des Johannes ist die Zahl der Engel unermesslich: sie beträgt zehntausendmal zehntausend und tausendmal tausend. Wie die römische Armee sind die himmlischen Heerscharen in Legionen aufgeteilt. Eine Hundertschaft untersteht einem Centurio, eine Zehnerschaft einem Decurio.

Ich selbst gehöre zur Heerschar des Erzengels Raphael. Der heilige Raphael wird als Schutzpatron der Kranken und Apotheker, aber auch der Reisenden, Seeleute, Auswanderer und Pilger verehrt. Deshalb wird er gerne mit Pilgerstab und Wandertasche dargestellt. Insofern war es doch kein Zufall, dass ich dazu bestimmt wurde, Benno Bong auf seiner Pilgerschaft zu begleiten.

Als Diener des Allerhöchsten steht es uns Engeln nicht zu, in den Plan, den Gott mit den Menschen hat, einzugreifen. Wir müssen uns stets an unseren Auftrag halten und dürfen uns den Gesetzen der Natur nicht widersetzen. Wenn ich mich – was selten vorkam – ins Leben eines Menschen, der mir anvertraut war, eingemischt habe, so tat ich es immer im göttlichen Auftrag.

Unter meinen Schutzbefohlenen waren einige, die wussten, dass es mich gab, weil sie es gespürt und am eigenen Leib erfahren hatten. Darunter war auch bei Benno Bong. Anfangs war er skeptisch, wenn ihm seine Mutter und Großmutter abends vor dem Schlafengehen von den Schutzengeln erzählten. Er wollte es nicht annehmen, weil er noch nie einen Engel gesehen hatte.

Richtig bewusst, dass es mich gab und ich ihm zur Seite stand, wurde es ihm bei einer Klassenfahrt. Zum Abschluss des vierten Schuljahres machte seine Klasse einen Ausflug mit der Bahn an die See. Da es damals in den Zugabteilungen, die noch aus der Vorkriegszeit stammten, weder Heizung noch Belüftung gab, hatten die Kinder die Fensterscheiben ihres Abteils heruntergezogen, um in der Sommerhitze etwas Kühlung zu erhaschen.

Benno lehnte sich weit aus dem offenen Fenster hinaus, um die Wucht des Fahrtwindes zu spüren. Er fühlte sich dann wie ein Adler, der mit seinen mächtigen Schwingen durch die Rauchwolken flog, die die Lokomotive ausspuckte und zu ihm herüber blies.

Die Bahnstrecke führte durch hügeliges unübersichtliches Gelände. Es gab viele Schleifen und Tunnel. Irgendwann glaubte Benno eine innere Stimme zu vernehmen, die ihm dazu riet, schleunigst den Kopf einzuziehen. Er wusste nicht, woher die Stimme kam, aber er gehorchte ihr.

Kaum hatte er das getan, vernahm er einen lauten Knall, der von einem Schnellzug kam, der mit hohem Tempo an ihrem Bummelzug vorbeidonnerte. Niemand in seinem Abteil hatte ihn kommen sehen. Hätte Benno eine einzige Sekunde gezögert, der Schnellzug hätte ihn enthauptet. Gelähmt vor Schreck, saß er eine ganze Weile völlig benommen und nachdenklich auf seiner Bank.

Von diesem Augenblick an wusste Benno, dass es einen unsichtbaren Geist gab, der beauftragt war, ihn zu beschützen. Diese Gewissheit sollte er verinnerlichen. Nachdem er einige Male die Probe aufs Exempel gemacht hatte, machte er es sich zur Gewohnheit, meine Dienste auch dann zu beanspruchen, wenn es keinen eigentlichen Bedarf gab.

Ich erwähne die Anekdote, um darzulegen, dass wir Engel unter gewissen Umständen befugt, ja genötigt sind, einzugreifen, um die Seelen, die wir beschützen sollen, zu warnen, wenn ihnen etwas Böses droht oder sie anderweitig Gefahr laufen. Da dies bei Benno Bong häufiger vorkam, führte das mehrmals zu Kontroversen mit meinem Decurio, da dies eigentlich nur in Ausnahmefällen zulässig ist.

Abschließend möchte ich erwähnen, dass oft vergessen wird, dass wir Schutzengel nicht die Einzigen sind, die die Menschen auf ihrer irdischen Pilgerfahrt begleiten. Denn genauso wie Gott im Himmel seine Helfer ausschickt, um die Menschen vor Versuchungen und Unglück zu bewahren, so schickt auch Luzifer, der Fürst der Finsternis, seine Gehilfen aus, um genau das Gegenteil zu bewirken.

Mein Gegenspieler im Kampf um Bennos Seele war ein gefallener Engel namens Sammael. Sammael ist ein besonders verruchter Geist, was sich schon an seinem Namen zeigt, den man mit »Gift Gottes« übersetzen kann.

Sammael setzte alles daran, Benno auf dumme Gedanken zu bringen und zu törichten Taten zu verleiten, wobei ich leider eingestehen muss, dass er damit oft erfolgreich war. Denn wie jedes Menschenkind hatte auch Benno Fehler und Schwächen, und diese machte sich der böse Geist zunutze.

Ich habe mich bemüht, Bennos Pilgerreise so zu beschreiben, wie sie abgelaufen ist. Seine Ansichten zu existentiellen Fragen mögen eigenwillig gewesen sein und für manche befremdlich klingen, aber ich will sie so wiedergeben, wie sie gemeint waren.

In der Rückschau lässt sich sagen, dass Benno ein Leben voller Widersprüche, Fehler und Versäumnisse, aber auch voller geistiger Höhenflüge führte. Ich habe seine Beharrlichkeit und seine unverbrüchliche Treue bewundert. Nachdem er seine Mission, die Aachener Buß- und Betefahrt zu erneuern, erkannt hatte, war er unermüdlich in dem Bemühen, sie neu zu beleben. Dabei ließ er sich weder von Rückschlägen noch von Widerständen entmutigen.

Doch ich will nicht vorgreifen, sondern seine Geschichte so erzählen, wie sie mir in Erinnerung geblieben ist. Persönliche Anmerkungen und Bewertungen habe ich in Fußnoten besonders kenntlich gemacht.

Der Bericht des Engels

Ein vielversprechendes Kind

Benno Bong wurde am 24. März 1950 als zweites Kind der Eheleute Bong-Cronenberg in einer stürmischen Nacht geboren. Die schlechte Wetterlage hatte die Hebamme Elfriede Scheren daran gehindert, das Haus der Gebärenden, das abgelegen in einem Wäldchen lag, rechtzeitig zu erreichen.

Also sah sich ihr Vater Dr. Cronenberg, der zu Kaisers Zeiten Stabsarzt im Rang eines Hauptmanns gewesen war, gezwungen, seiner Tochter Geburtshilfe zu leisten. Es war eine schwierige Geburt. Das Ungeborene legte sich quer und machte keine Anstalten, seine Position zu verändern. Schon im Mutterleib bewies Benno seine sprichwörtliche Dickköpfigkeit.

Dr. Cronenberg war von der Situation überfordert, denn es ging nicht darum, wie damals im Krieg beschädigte Körper zusätzlich zu verstümmeln, sondern neuem Leben ans Licht zu helfen. Wäre Frau Scheren nicht noch eingetroffen, es hätte schlimm für Mutter und Kind geendet. Als das Neugeborene nach einigen Kunstgriffen der Hebamme und nach schmerzhaften Wehen endlich aus dem Leib seiner Mutter kroch und den ersten Schrei tat, hörte man den Großvater erleichtert sagen: »Gott sei Dank, es ist ein Junge!«

Nota bene: Die Nachricht, dass ich der Schutzengel des Neugeborenen werden sollte, kam überraschend. Mein Decurio unterrichtete mich kurzfristig, dass im Vennland1 ein vielversprechendes Kind geboren sei, von dem man noch hören werde, weil es mit ungewöhnlichen Gaben ausgestattet sei: er stelle den Jungen unter meinen Schutz, weil ich Übung und Erfahrung mit schwierigen Charakteren und abenteuerlichen Schicksalen habe.

Bennos Großmutter, die ein feines Gespür für übersinnliche Phänomene hatte, erinnerte sich später, dass an jenem Tag die Obstbäume im Garten ausschlugen, was für diese Jahreszeit sehr ungewöhnlich war. Sie hatte ein Gespür dafür, dass seltsame Dinge vor sich gingen. Sie schloss daraus, dass der Sprössling eine besondere Bestimmung hatte.

Zur Taufe eines Stammhalters wurde wie im Vennland üblich den engeren Verwandten Seidensäckchen mit kandierten Mandeln geschenkt. Auf den Tütchen stand ein Vers aus dem Psalm 91, der für den Neugeborenen eine Art Lebensversicherung sein sollte: »Gott der Herr befiehlt seinen Engeln, dich zu behüten auf all deinen Wegen.«

Die Cronenbergs stammten aus Aachen. Nachdem die Nationalsozialisten 1933 in Deutschland die Macht an sich gerissen hatten, hatte Cronenberg, der eine gutgehende Praxis als Hals-Nasen-Ohren-Arzt in der Nähe des Domes betrieb, beschlossen, Aachen zu verlassen und sich mit seiner Familie ins benachbarte Ausland abzusetzen.

Zunächst schien das niederländische Vaals, das gleich vor den Toren der Kaiserstadt liegt und die Aachener gerne als ihr »Balkönchen« bezeichnen, ein geeigneter Wohnsitz zu sein, aber die überzogenen Steuerforderungen der niederländischen Finanz- und Zollbehörden, die alle eingeführten Wertsachen, Fahrzeuge, Gemälde, Teppiche usw. kräftig zu besteuern drohten, schreckten Cronenberg ab.

Also begann er, sich im sogenannten Butterländchen rund um Eupen umzuschauen. Aus der Wiesenlandschaft im Norden des Vennlandes bezogen die Aachener Wochenmärkte seit altersher Milch und frische Butter.

Das Vennland hatte im Laufe der Jahrhunderte mehrmals die Nationalität gewechselt. Durch den Versailler Vertrag war es 1920 an Belgien gefallen. Eigentlich war man in Brüssel nur scharf auf die ausgedehnten Waldungen beiderseits des Hohen Venns gewesen. Man nahm dabei in Kauf, dass es neben »preußischen Wallonen« auch eine Bevölkerung gab, die einen niederrheinischen oder einen moselfränkischen Dialekt sprach.

Bei einer Wanderung durch den Aachener Stadtwald entdeckte Cronenberg in einer lichten Waldung, die im Volksmund Katzenberg hieß, ein stattliches Haus aus der Gründerzeit, das zum Verkauf stand. Das Haus lag auf belgischer Seite der Landesgrenze und bot die Möglichkeit, über verschwiegene Waldwege problemlos nach Aachen zu gelangen.

Wie Benno später beim Studium der Archive herausfinden sollte, gehörte der Katzenberg zu den Waldungen, die Kaiser Heinrich IV. dem Aachener Marienstift, das die Aachener Heiligtümer hütete, geschenkt hatte, damit die Domherren über Bau- und Brennholz verfügten.

Die Cronenbergs tätigten einen Kaufvertrag und richteten sich in der Villa ein. Der prächtigste Raum war das Jägerzimmer. Bald hingen an den Wänden verschiedene Jagdtrophäen, denn Cronenberg war ein leidenschaftlicher Waidmann. Das Jägerzimmer war sein Refugium: hierher zog er sich zurück, um sich bei einem Glas Cognac in die Lektüre der Zeitschrift »Wild und Hund« zu vertiefen, die seit Jahren abonniert war.

Nach der Übersiedlung nach Belgien eröffnete Dr. Cronenberg in Eupen eine Praxis für Hals-Nasen- und Ohren-Krankheiten. Das war ein Novum, denn bis dahin gab es im Vennland nur Allgemeinmediziner und keine Fachärzte. Ähnlich wie die Wundärzte in alter Zeit hatten die Hausärzte alle erdenklichen Krankheiten und Leiden zu kurieren.

Cronenberg war eine eindrucksvolle Gestalt: hochgewachsen und distinguiert im Auftreten. Sein üppiger Rauschebart regte die Fantasie an. Man sagte ihm eine große Kunstfertigkeit nach: es hieß, er könne bei einer Ohrenuntersuchung das Wattestäbchen so geschickt in das eine Ohr stecken, dass es aus dem anderen Ohr wieder herauskomme.

Auch die Stirnlampe, die er für Mund- und Rachendiagnosen aufsetzte, machte großen Eindruck auf die Patienten: es hieß, damit könne er nicht nur die Speiseröhre ausleuchten, sondern bis auf den Grund des Magens gucken. Manche behaupteten, der Doktor habe erkennen können, welche Mahlzeit sie zuletzt zu sich genommen hätten.

Cronenberg war nicht bei allen Bewohnern der Grenzgemeinde wohlgelitten. Er machte keinen Hehl daraus, dass er ein Freigeist war. Statt am Sonntag die Kirche aufzusuchen, wie es sich für einen getauften Christen gehörte, ging er lieber in die Dorfkneipe gleich gegenüber, um ein paar Schoppen Bier zu trinken. Dort schwang er große Reden, prahlte mit seinen Heldentaten im vorletzten Krieg.

Wegen der gesellschaftlichen Stellung ihres Mannes genoss seine Ehefrau hingegen hohes Ansehen. Obwohl sie selbst keinen akademischen Titel besaß, wurde sie von allen respektvoll mit »Frau Doktor« angeredet. Tatsächlich legte sie gegenüber Außenstehenden Wert auf eine gewisse Distanz. Sie ließ keine Gelegenheit aus, ihre höhere Bildung durchschimmern zu lassen.

Selbst im Familienkreis kehrte Elisabeth Cronenberg ihre gute Kinderstube heraus und hob ihre klassische Bildung hervor. Sie genoss es, die neunzehn Strophen von Schillers »Lied von der Glocke« fehlerfrei zu rezitieren, einer Aufgabe, an der die meisten Vertreter ihrer Generation schon nach den ersten Versen scheiterten.

Elisabeth Cronenberg achtete darauf, dass ihre Enkelkinder korrektes Hochdeutsch sprachen und nicht das Kauderwelsch, das damals im Butterländchen gebräuchlich war. Denn nachdem der Landstrich 1920 an Belgien gefallen war, war die deutsche Sprache verkümmert, weil sie aus den Amtsstuben und den höheren Schulen verbannt wurde. Richtiges Hochdeutsch war nur noch von der Kirchenkanzel zu hören.

Die Cronenbergs hatten ein einziges Kind, das sie wie ihren Augapfel hüteten. Wie es sich für eine höhere Tochter gehörte, besuchte Henriette Mathilde Cronenberg in Eupen ein Lyzeum, das von Ordensfrauen geführt wurde. Dieses lag oberhalb der Stadt auf einem Hügel, der Heidberg hieß, weil er vor seiner Bebauung mit Heidekraut und Gestrüpp überwuchert war.

Die Wahl der Bildungsanstalt führte zu Zwistigkeiten zwischen den Eheleuten, weil Vater Cronenberg befürchtete, der fromme Umgang bekomme seiner Tochter nicht: er drohte seiner Frau, er werde nicht zulassen, dass aus ihr eine Betschwester werde. Eher würde er sie in ein Freudenhaus stecken oder an einen Pflanzer in den Kolonien verkaufen.

Insofern war er erleichtert, als ein gewisser Richard Heinrich Bong aus einer angesehenen Handwerkerfamilie seiner Tochter den Hof machte und um ihre Hand anhielt. Die Verbindung zwischen den jungen Leuten war zustande gekommen, weil das Kloster und das ihm angeschlossene Internat, das Henriette besuchte, sich in unmittelbarer Nachbarschaft der Schreinerei Bong befanden, und es den Nonnen manchmal an Wachsamkeit mangelte.

Die Schreinerei hatte weit über Eupen hinaus einen guten Ruf. Sie war auf Ausstattung von Herrensitzen und die Einrichtung von Opernhäusern und Spielcasinos spezialisiert. Die Familie gehörte zum gehobenen Bürgertum: die Brüder des Verehrers seiner Tochter waren Ärzte, Priester oder erfolgreiche Geschäftsleute. Auch die Schwestern hatten gute Partien gemacht, hatten Studienräte und höhere Angestellte geheiratet.

Die Cronenbergs waren demnach nicht abgeneigt, den jungen Leuten für ihre Verbindung ihren Segen zu geben, untersagten jedoch jeglichen Verkehr, bis die Tochter erfolgreich ihr Abitur abgeschlossen und ihre Matura bekommen hatte. Die Hochzeit folgte bald darauf und fiel standesgemäß aus.

Da es in Eupen an Wohnraum mangelte, boten die Cronenbergs dem jungen Paar an, vorübergehend bei ihnen auf dem Katzenberg zu wohnen. Das sollte sich einige Jahre hinziehen. In der Villa Morgentau sollten vier der sechs Bong-Kinder zur Welt kommen.

Benno wurde als Bernhard Friedrich Bong ins Register der Gemeinde Hauset eingetragen. In seiner Erinnerung waren die ersten Lebensjahre heiter und ungetrübt. Benno hatte mit seinem spitzen Näschen und dem blonden lockigen Haar etwas Schelmisches und Verschmitztes an sich. Er war ein lebenslustiges verspieltes Kind. Umgeben von der Liebe und Fürsorge seiner Eltern und dem Respekt für seine Großeltern begann er die Welt, so wie sie sich vom Katzenberg aus darstellte, zu erkunden.

Da der Vater in der Schreinerei arbeitete, musste er jeden Morgen die Straßenbahn in die Stadt nehmen und überließ es seiner Ehefrau, den wachsenden Haushalt zu führen. Zum Glück wurde sie von ihrer Mutter insofern entlastet, als diese sich um die Erziehung der Kinder kümmerte.

Die Frau Doktor achtete darauf, dass ihre Enkel gute Manieren hatten, sittsam und gehorsam waren. Wenn die Rasselbande sich zu wild gebärdete, versammelte sie diese um sich und las ihnen aus dem Struwwelpeter vor, weil sie meinte, die Schauergeschichten, die sich ein Frankfurter Arzt ausgedacht hatte, um seinen eigenen Sohn zu züchtigen, seien in der Erziehung immer noch wirksamer als Schläge und Drohungen.

Bald konnte der kleine Benno weite Passagen des Buches mit ernster Miene vortragen. »Es ging spazieren vor dem Thor ein kohlpechrabenschwarzer Mohr…« Während die grausigen Geschichten seine jüngeren Geschwister in Angst und Schrecken versetzten, regten sie seine Fantasie an.

Seine Lieblingsgeschichte war die vom Fliegenden Robert. Mehrmals versuchte er, diesem nachzueifern, indem er sich bei stürmischem Wetter mit einem Regenschirm vor die Haustür begab in der Hoffnung, dass eine Sturmbö ihn packen und durch die Lüfte in das Land seiner Träume entführen würde.

Elisabeth Cronenberg, die eine fromme Frau war, lehrte die Kinder das Beten. Von ihr erfuhr Benno, dass er einen Schutzengel hatte, denn vor dem Schlafengehen musste er diesen in sein Gebet einschließen. Benno sollte dieses Gebet nie vergessen und es noch im hohen Alter beten: »Sei behütet, liebes Kind. Möge es immer einen Engel geben, der ein Auge der Liebe auf dich hat, der dich aus den Gefahren des Lebens errettet und dich vor einem schlimmen Unglück bewahrt.«

Wenn Benno wach lag, grübelte er, wie ein Engel wohl aussehen könnte und warum er nicht eingreife, wenn der Großvater einen Unfall mit dem Auto baute, die Mutter zu viel Salz in die Suppe tat oder es Streit mit einem Geschwisterchen gab.

Nota bene: Da das Schutzengelchen angeblich die ganze Nacht an seinem Bettchen wachte, schob er mir – ohne dass jemand es bemerkte – manchmal einen Keks zu oder das eine oder andere Spielzeug unter die Bettkante, damit ich mir die Zeit vertreiben konnte. Ich muss gestehen, ich fand es rührend, welche Beachtung und Fürsorge der kleine Mann mir entgegenbrachte.

*

Benno war das Schoßkindchen der Elisabeth Cronenberg. Schon als Kleinkind hing er ständig an ihren Rockzipfeln. Wenn ihre Freundinnen zu Besuch waren, durfte er als Einziger im Raum bleiben, musste aber versprechen mucksmäuschenstill zu sein. Bei den Kaffeekränzen ging es stets gesittet zu: die Damen vertrieben sich die Zeit mit Liedern und Geschichten aus der schönen Jugendzeit.

Zum Kaffee gab es gewöhnlich ein Gläschen selbstgemachten Eierlikör. Wenn die Damen genügend daran genippt hatten, wurden sie heiter und froh. Dann setzte Oma Cronenberg sich ans Klavier und spielte Lieder von Schumann oder Mendelssohn Bartholdy. Eines ihrer Lieblingsstücke war das Lied vom »Einsiedler«.

Nota bene: An den Refrain erinnerte Benno sich noch im hohen Alter: »ein Siedler will ich werden, der Wildnis stiller Gast …« Ich denke, dass dieses vertonte Gedicht von Emanuel Geibel ein erster Wink Gottes gewesen ist, welchen Weg mein Schützling einschlagen sollte.

Einmal in der Woche packte die Großmutter einen Rucksack mit Waren voll und verließ am frühen Morgen das Haus. Es hieß, sie begebe sich auf eine Wallfahrt nach Moresnet. Als Benno sie fragte, was daran gut sei, sagte sie, dass eine Wallfahrt eine Wohltat für die Seele und ein Schritt in den Himmel sei. Ihr Enkel fragte sich, warum sie dafür so viel Gepäck brauche, denn sehr weit konnte es nicht sein, da sie früh am Abend wieder daheim war.

Eines Tages lud die Großmutter ihn ein, sie zu begleiten. Benno wusste später nicht mehr genau, wie alt er damals gewesen war, denn es war noch vor seiner Schulzeit, aber er hatte sich jedes Detail gemerkt, als ahne er, dass dieser Fußweg sein Leben verändern würde.

Der Pilgerort Moresnet lag genau an dem kartografischen Punkt, an dem Deutschland, Belgien und die Niederlande aufeinander treffen. Viele Menschen aus dem Dreiländereck pilgerten dorthin, um bei Krankheit und Not die Gottesmutter um Hilfe und Beistand zu bitten.

In Moresnet hatte vor vielen Jahren ein Bauernjunge, der an Epilepsie litt, ein Bild der Muttergottes an einen Baumstamm geheftet. Nachdem er dort Tag für Tag gebetet hatte, wurde er von seiner Fallsucht geheilt.

Als wenig später im Dreiländereck eine Viehseuche ausbrach, pilgerten die verzweifelten Bauern zum sogenannten Eikschen. Daraufhin sei die Seuche so schnell verschwunden, wie sie gekommen war. Dass wundertätige Bild der Trösterin der Betrübten wurde danach vom Baum abgenommen und fand Aufnahme in einer Kapelle.

Unter den vielen Prozessionen, die nach Moresnet zogen, war eine aus Aachen, die aus Hausfrauen bestand. Sie zogen jeden Mittwoch von der Jakobskirche los. Die Frauen nutzten den Ausflug, um der Madonna ihre Anliegen vorzutragen und gleichzeitig im Ausland unverzollt einige Waren zu erwerben, die es im Nachkriegsdeutschland entweder gar nicht oder nur maßlos überteuert gab.

Diesen Bedürfnissen trug Elisabeth Cronenberg Rechnung, indem sie den Frauen schwarze Schokolade der Firma Callebaut und Bohnenkaffee der Marke »Schwarze Katze« anbot, beides waren Produkte, die in der Kaiserstadt unerschwinglich und daher sehr begehrt waren.

Mit dem Erlös ihrer Kaffeefahrten besserte die Großmutter ihre Haushaltskasse auf. Die Handelsware besorgte sie sich bei einem Großhändler. Auf ihrem Weg zum Wallfahrtsort vermied die Großmutter es, die Landstraße zu nehmen. Sie wählte lieber Wald- und Wiesenwege, um keiner belgischen Zollstreife in die Arme zu laufen.

Unterwegs erzählte sie ihrem Enkel, dass sie sich als junges Mädchen gerne mit ihrem Verlobten auf den Jakobsweg begeben hätte, aber ihre Eltern hätten es nicht erlaubt und ihr angehender Ehemann habe dazu keine Lust verspürt.

In Santiago de Compostela, im Norden Spaniens, sei das Grab des heiligen Jacobus, eines der zwölf Apostel. Früher hätten unzählige Menschen Haus und Hof verlassen und wären gen Spanien gezogen, aber inzwischen sei das Pilgern aus der Mode gekommen, was sie sehr bedauere. Er solle sich eines für sein Leben merken: alles beginne mit einer Sehnsucht. Vielleicht wäre es ihm eines Tages vergönnt, die Pilgerfahrt anzutreten.

Da die Großmutter schwer beladen war, musste sie mehrmals eine Verschnaufpause einlegen. Eine längere Rast gönnte sie sich an der Rochuskapelle, die auf halbem Weg lag und an eine Pestepidemie während des Dreißigjährigen Kriegs erinnerte. Sie achtete darauf, dass die Pause nicht zu lang ausfiel, denn sie wollte auf keinen Fall die Ankunft der Pilger verpassen.

Sie erreichten den Gnadenort gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie die Frauen mit dem Marienlied »Milde Königin gedenke« in die Kapelle einzogen. Während sie drinnen beteten, holte Elisabeth Cronenberg ihre Waren aus dem Rucksack und breitete sie auf einem Tischtuch aus. Als die Pilger das Gotteshaus verließen, war sie in wenigen Minuten ihren gesamten Kaffee und alle Schokolade los.

Danach begleitete sie die Frauen, von denen sie einige noch aus ihrer Jugend kannte, in eine der umliegenden Gaststätten, um bei einer Tasse Bohnenkaffee und einem Stück Reisfladen zu plaudern. Benno langweilte sich und zog es vor, in der Kapelle auf sie zu warten. Während er wartete, bewunderte er die Votivtafeln, die bis an die Decke der Kapelle reichten.

Irgendwann kam aus einem Seiteneingang ein alter Mann ohne Haare am Kopf, der mit einem Sack bekleidet war und sich an dem Gnadenbild zu schaffen machte. Als er den Jungen in einer der hinteren Bänke bemerkte, winkte er ihm zu, näher zu kommen. Der Mann fragte ihn, wie er heiße und woher er komme. Als er hörte, dass er die Strecke von Hauset bis hierher zu Fuß gelaufen war, staunte er und sagte, er sei ja bereits ein richtiger Pelegrinus. Benno wusste nicht, was das war, spürte aber, dass dies eher ein Lob als eine Rüge war.

Nota bene: Es war das erste Mal in seinem Leben, dass man Benno als Pilger bezeichnete. Normalerweise verflüchtigen sich solche Aussagen im Gedächtnis eines Kindes. Nicht so bei Benno. Das Thema Pilgerschaft sollte immer wieder in seinem Leben auftauchen, bis es schließlich Teil seiner DNA und ein Baustein seines Erbgutes wurde.

Der Mönch war gekommen, um die Ständer mit den Opferlichtern von abgebrannten Stumpen zu reinigen. Er zeigte Benno, wie man mit einem Messerchen die Wachsreste aus den Glasschalen herauskratzt. Als er genügend Wachs beisammen hatte, lud er das Kind ein, ihm in die Sakristei zu folgen.

Auf einem halbhohen Schrank mit vielen Schubladen stand ein Kessel auf einem Gaskocher. Der Mönch schüttete die Stumpen in kleine Schüsseln, die auf dem kochenden Wasser schwammen. Als das Wachs flüssig war, schüttete er dieses in ein Glas, in dem bereits ein Faden steckte, der offenbar als Docht dienen sollte. Benno musste die Kordel halten, während der Mönch den Brei in den Behälter schüttete. Als die Flüssigkeit erkaltete, war sie wieder zu einer Kerze geworden.

Der Mönch sagte, die Kerze werde bei der nächsten Oktav vor dem Gnadenbild entzündet. Wenn sie abgebrannt sei, kämen viele arme Seelen, die wegen ihrer Missetaten im Fegefeuer wären und dort große Qualen litten, auf Fürsprache der Gottesmutter in den Himmel.

Als die Großmutter nach der Mittagspause nach dem Enkel schaute und ihn nicht in der Kapelle antraf, geriet sie in Panik. Sie befürchtete, der Junge sei schon alleine nach Hause aufgebrochen oder gar in die Hände eines Sittenstrolches geraten.

Als sie laut seinen Namen rief, zeigte er sich an der Tür zur Sakristei. Sie war erleichtert und fragte ihn etwas ungehalten, was er da treibe. Er sagte, er habe einem alten Mann geholfen, Kerzenwachs einzusammeln.

Neugierig schaute die Großmutter in der Sakristei nach, aber dort war niemand zu sehen. Auch von einem Kessel mit kochendem Wasser, von dem Benno erzählt hatte, fand sich keine Spur. Sie war zwar gewohnt, dass Benno sich seltsame Geschichten ausdachte, aber diesmal war sie etwas verunsichert.

Da Benno beteuerte, nichts erfunden zu haben, wusste sie nicht, ob ihr Enkel Gespenster gesehen oder eine außerirdische Begegnung gehabt hatte. Sie verbot ihm, irgendein Wort über die merkwürdige Begegnung zu verlieren, weil sie befürchtete, er würde sich lächerlich machen.

Auf dem Rückweg wollte Benno wissen, was es mit dem Fegefeuer auf sich hat und wer die »armen Seelen« seien, von denen der alte Mann erzählt hatte. Die Großmutter belehrte ihn, dass das Fegefeuer ein Ort der Reinigung sei, in dem die Seelen von Menschen, die nicht immer brav gewesen seien, ausharren müssten, bis sie geläutert seien und ins Paradies eintreten dürften.

Wie sich später herausstellen sollte, hatte Benno sich in Moresnet den »bacillus perigrinus« eingefangen, jene Bakterie, die ihn einerseits sein Leben lang plagen und andererseits zu großen Dingen beflügeln sollte.

Ein Ausflug in die Unterwelt

Benno war in jungen Jahren das Sorgenkind seiner Eltern, denn er war schmächtig und kränkelte häufig. Um jeglicher Erkältung vorzubeugen, achtete seine Mutter darauf, dass er bis in den Monat Mai hinein lange Unterhosen trug.

Dennoch holte er sich die üblichen Kinderkrankheiten wie Keuchhusten oder Masern, die ihn wochenlang ans Bett fesselten. Als er an den Windpocken erkrankte, kam es zu Beschwerden und Komplikationen, an denen er fast gestorben wäre, wenn es in seiner Verwandtschaft nicht genügend Ärzte gegeben hätte, die das Schlimmste verhüten konnten.

Da seine Mutter viele Tage und Nächte an seinem Krankenbett verbrachte, entstand zwischen beiden eine enge Bindung, die ein Leben lang andauern sollte. Benno liebte es, wenn die Mutter ihm vorlas. Sein Lieblingsbuch war »Pünktchen und Anton«. Für ihn stand fest, dass er eines Tages genauso klug und beherzt sein würde wie diese beiden Gören: man werde noch von ihm hören, versicherte er seiner Mutter.

Obwohl von schwacher Konstitution war Benno ein munteres und pfiffiges Kerlchen. Das spitze Näschen, die Kulleraugen und der schmale Mund gaben seinem Gesicht etwas Spitzbübisches. Mit seinen kugelrunden Augen konnte er einen Gesprächspartner so durchdringend anstarren, als wolle er die Tiefen seiner Seele ergründen. Es gab Menschen, die konnten diesen Blick nicht lange ertragen. Schon in jungen Jahren umgab Benno eine seltsame Aura.

Benno fiel früh durch seine Beredsamkeit auf. Seine Mutter musste öfter den »kleinen Naseweis« bremsen, wenn er allzu vorlaut oder besserwisserisch auftrat. Der Großvater meinte hingegen, Benno sei ein richtiger Schalk, ein Kerl aus echtem Schrot und Korn. Er lasse sich nicht einschüchtern und halte mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg.

Wenn der kleine vorlaute Fratz im trauten Familienkreis das große Wort führte, fühlte sich Elisabeth Cronenberg an den Jesusknaben im Tempel erinnert, der den Schriftgelehrten den Sinn der Heiligen Schrift erläuterte.

Sie drängte ihre Tochter, die rhetorische Begabung ihres Sohnes einschätzen zu lassen. Da die Psychologie damals noch in den Kinderschuhen steckte, suchten sie einen Pädagogen im Ruhestand auf: dieser unterwarf den Jungen mehreren Tests, die tatsächlich eine hohe Intelligenz nachwiesen.

Als Benno vier Jahre alt war, verzog Richard Bong mit seiner Familie nach Eupen ins Stammhaus des Vaters, da er als ältester Sohn den elterlichen Betrieb übernehmen sollte. Richard Bongs Mutter wohnte in der Parterrewohnung, während er selbst mit seiner Familie die oberen Stockwerke des Hauses bezog.

Richard Bong war ein bescheidener Mann, der Mitglied des Kirchenvorstandes war. Auf Drängen seiner Brüder ließ er sich auf eine Liste für die Gemeinderatswahlen aufstellen und wurde prompt zum Stadtverordneten gewählt. Seine Popularität, gründete sich darauf, dass er auf der Straße vor jedem Passanten artig seinen Hut zog – egal ob es sich um einen Straßenfeger oder um den Apotheker handelte.

Richard Bongs einziges Vergnügen war der Frühschoppen am Sonntagmorgen nach dem Hochamt. Anders als seine Stammtischbrüder, die sich über ihre Kriegserlebnisse in Russland lieber ausschwiegen, redete er gerne über die Soldatenzeit.

Wie alle jungen Vennländer war er 1942 zur Wehrmacht eingezogen worden. Zur Ausbildung schickte man ihn nach Norwegen, wo mitten im Krieg noch ein Stück heile Welt war. Er kam rechtzeitig beim Afrika-Korps zum Einsatz, um in amerikanische Gefangenschaft zu geraten. Die letzten Kriegsjahre verbrachte er in einem Lager in Missouri, wo er gut versorgt wurde, viel Sport trieb und die neuesten Hollywoodfilme sehen durfte. Nebenbei lernte er Stenografie und Englisch, was ihm später beruflich sehr nützlich sein sollte.

Die Kunst- und Möbelschreinerei Bong verfügte über ein eigenes Sägewerk, das ihre Hölzer, vor allem Fichten, Buchen und Eichen aus dem nahen Hertogenwald bezog. Werkstatt und Sägerei lagen in einer Talmulde, die im Volksmund »die Schüssel« hieß. Durch die natürliche Senke floss ein namenloser Bach, der etwas oberhalb der Schreinerei aus dem Zusammenfluss zweier Wiesenbäche, dem Hase- und dem Schimmerichbach, entstand und sich namenlos in die Gospertstraße ergoss.

Nota bene: Der namenlose Bach hatte durchaus einen Namen. Viele Jahre später fand Benno ihn im topografischen Verzeichnis des österreichischen Generalleutnants Joseph Johann von Ferraris, der 1772 eine Karte zeichnete, in der das Herzogtum Limburg und seine wichtigsten Ortschaften und Wasserläufe vermerkt waren.

Unter den verzeichneten Gewässern war auch das Bächlein, das an seinem Elternhaus vorbeifloss. Laut Ferraris hieß das Gewässer Menebach. Daher rühre der Name des Dorfes Membach am Unterlauf des Baches. Obwohl Benno seine Entdeckung der Stadt Eupen mitteilte, bewirkte das nichts: der Bach blieb auf allen städtischen Karten und Plänen weiterhin namenlos.

Der namenlose Bach hat in der Geschichte der Stadt Eupen eine bedeutende Rolle gespielt, denn er hat den Webern, die sich an seinen Rändern niederließen, weiches Wasser zum Walken und Waschen der Tuche geliefert. Später errichteten Kaufleute entlang des trüben Gewässers prächtige Bürgerhäuser mit angeschlossenen Manufakturen.

Da das Wasser des Baches im Sommer nur sparsam floss, wurde es von den Anwohnern in Becken und Schleusen gestaut. Als der Wassermangel immer größer wurde, verlagerte sich die Tuchindustrie von der Ober- in die Unterstadt. Durch diese flossen mehrere Bäche, die den Feuchtgebieten des Hohen Venns entsprangen und reichlich frisches Wasser mit sich führten.

Danach diente der Wasserlauf nur noch dazu, die Abfälle der anliegenden Haushalte und die Abwässer der Färbereien zu entsorgen. Da der Bach übel roch, beschlossen die Stadtväter, ihn bei seinem Eintritt ins Stadtgebiet unter das Straßenpflaster zu legen. Seitdem floss der Stadtbach unterirdisch durch die Innenstadt. Er war dem allgemeinen Blickfeld entschwunden.

Nota bene: Wer geglaubt hatte, damit seien alle Probleme behoben, sah sich getäuscht, denn das Gewässer ließ sich nicht so leicht zähmen wie gedacht. Mitunter brachte es sich durch Überschwemmungen schmerzlich in Erinnerung. Der unscheinbare Bach sollte Benno mit fünf Jahren eine erste Bewährungsprobe abverlangen.

Wie jeden Sommer fieberten Benno und seine Geschwister damals der Kirmes entgegen. Doch das Wetter schien verrückt zu spielen. Es regnete tagelang in Strömen. Dennoch ließen sich die Schausteller nicht davon abhalten, entlang der Gospertstraße mit dem unterirdischen Bach ihre Buden und Attraktionen aufzubauen.

Durch die heftigen Regenfälle hatte das Bächlein sich in einen reißenden Strom verwandelt. Als sich am Kirmessonntag auch noch ein kräftiges Gewitter entlud, war die Kanalisation überfordert.

Bald stand die gesamte Oberstadt unter Wasser. Nicht nur für die Kirmesbuden, sondern auch für den Wanderzirkus, der in der Stadt gastierte, hieß es »Land unter«. Im letzten Moment konnten die Artisten die gesamte Menagerie, Pferde, Kamele, Zebras, Affen, Bären und selbst den Löwen Leopold aus den Niederungen der Gospert auf eine höher gelegene Position in Sicherheit bringen. Dem Tanzbären gelang es auszubüxen. Er musste auf den Wiesen oberhalb der Innenstadt wieder eingefangen werden.

Normalerweise reichte die Kanalöffnung hinter der Schreinerei Bong, um die Abwässer zu entsorgen. Aber diesmal war die Schüssel randvoll. Die Röhre konnte die Wassermassen nicht mehr fassen. Der Zugang war außerdem durch Treibgut so verstopft, dass die Wassermassen ihr Bett, das längst unkenntlich war, verließen und sich einen neuen Weg suchten.

Obwohl Benno nur ein Dreikäsehoch war, wollte er Abhilfe schaffen. Da der Vater und seine Gesellen damit beschäftigt waren, die Maschinen der Schreinerei vor den Fluten zu retten, entschloss er sich, das Geröll vor der Rohrleitung wegzuräumen, damit das Wasser abfließen konnte. Dabei rutschte er unglücklich aus, wurde von der Strömung erfasst und in den Abgrund gerissen. Bevor die Geschwister begriffen, was geschah, verschwand er in der städtischen Kanalisation.

Wie ein Stück Treibholz wurde der Knirps von der Strömung erfasst und hin und her geworfen. Mehrmals knallte er mit dem Köpfchen gegen die Decke des Kanals, sodass er das Bewusstsein verlor.

Die tosenden Elemente wären ihm zum Verhängnis geworden, wenn ich, sein Schutzengel, nicht eingegriffen hätte. Durch den Druck des Wassers waren die Kanaldeckel in der Gospertstraße aus ihrer Verankerung gerissen und hochgespült worden, sodass die braune Brühe herausströmen und ungehindert durch die Straße fließen konnte. Ich sorgte dafür, dass Benno sich mit den Hosenträgern in den angeschwemmten Ästen eines Kanallochs verfing und dort hängen blieb.

Nota bene: Ich wusste, dass ich damit meine Befugnisse überschritt, denn einem Schutzengel ist es nicht erlaubt, in Ereignisse, die seinen Schützling betreffen, einzugreifen, geschweige denn sich den Gesetzen der Natur zu widersetzen.

Als mein Führungsengel mich deswegen bei der Vollversammlung der himmlischen Chöre zur Rechenschaft zog, sagte ich zu meiner Entlastung, dass ich keine andere Wahl gehabt hätte, wenn ich sicherstellen sollte, dass die Pläne, die Gott mit Benno hegte, auch umgesetzt würden und er nicht vorzeitig als Wasserleiche endete. Schließlich wäre auch Simon Petrus in seinem Kerker, in den ihn König Herodes Agrippa hatte werfen lassen, umgekommen, wenn ihn sein Schutzengel nicht befreit hätte.

Die Vorsehung schien mein Vorgehen gutzuheißen, denn ein Mann, der mit einem Kahn durch die überflutete Straße ruderte, um den vom Wasser eingeschlossenen Anwohnern zu Hilfe zu eilen, bemerkte, dass in einem der Kanallöcher, aus denen die Wassermassen quollen, etwas war, das aus der Ferne wie ein Müllsack oder wie ein Tierkadaver aussah.

Als er sich näherte, erkannte er, dass es sich um ein lebloses Kind handelte. Gerade als es drohte, sich aus den Ästen und Schlingen, in die es sich verfangen hatte, zu lösen und vom Strudel fortgerissen zu werden, kriegte er es zu packen und konnte es in sein Boot hieven.

Bennos Familie war durch Bennos Geschwister von dem Eintauchen ihres Sohnes in die Kanalisation unterrichtet worden und hatte Polizei und Feuerwehr alarmiert. Diese waren ausgerückt, aber niemand hatte es gewagt, in die Röhre zu kriechen. Zu wild tobten die Wasser und zu eng schien das Rohr. Alle gaben Benno verloren, als der Bootsmann mit dem Kind im Arm auftauchte.

Als er es seinen überglücklichen Eltern übergab, meinte sein Lebensretter, der Junge müsse einen guten Schutzengel haben. Ansonsten hätte er nicht überlebt.

Obwohl Benno die Wildwasserfahrt fast schadlos überstanden hatte, musste er auf Anraten des Arztes einige Tage das Bett hüten. Die Lokalzeitung schickte einen Redakteur und einen Fotografen, um ihren Lesern die unglaubliche Geschichte von der Wildwasserfahrt des kleinen Benno Bong durch den städtischen Untergrund zu schildern.

Am nächsten Morgen zeigten Fotos einen Knirps mit seinem Teddy im Arm, wie er herausgeputzt und gut gelaunt wie eine Filmdiva im Wochenbett die Presse empfing. Wortreich hatte der Dreikäsehoch den Reportern geschildert, wie man sich fühlt, wenn man die Pflastersteine der Gospertstraße von unten statt von oben sieht. Die Geschichte war den Journalisten eine Doppelseite wert.

Durch seine wunderbare Errettung war Benno Bong über Nacht zum Stadtgespräch geworden. Damit machte er sich nicht nur Freunde. Viele Spielkameraden beneideten das spindeldürre Männchen für die Bewunderung, die es genoss. Als Benno wieder auf den Beinen war, nannten sie ihn einen Prahlhans und schalten ihn eine Kanalratte.

Angesichts der Schmähungen, die er von missgünstigen Nachbarskindern erfuhr, war die lobende Bewertung des Vorfalls durch den Großvater wie Balsam für seine Seele. Cronenberg meinte, Benno habe mit seiner Rutschpartie bewiesen, was in ihm stecke. Er sei sich sicher, dass er alle Hindernisse, die das Schicksal für ihn bereithalte, überwinden werde.

Die Großmutter war in ihrem Urteil etwas vorsichtiger. Sie riet dem Enkel, es ja nicht zu übertreiben, wenn er lange leben wolle. Er solle immer darauf achten nicht schneller zu laufen, als sein Schutzengel fliegen könne.

*

Der kleine Benno war kein Kind von Traurigkeit. Er war immer zu Scherzen und Streichen aufgelegt, die allerdings nicht nach jedermanns Geschmack waren. So war der Vater alles andere als erbaut, als er eines Tages feststellen musste, dass Benno ihm während er mittags ein Nickerchen in seinem Sessel machte, die Haare geschnitten hatte.

An seinem gut behaarten Mannesschädel klafften nun beträchtliche Lücken, sodass sich der Schreinermeister kaum noch aus dem Haus traute. Und wenn er dazu gezwungen war, in die Stadt zu gehen, um die Kirchfabrik oder den Stadtrat aufzusuchen, unterließ er es eine ganze Weile wie gewohnt seinen Hut zu ziehen. Selbst in der Werkstatt trug er von nun an eine Mütze, weil er nicht zum Gespött der Gesellen werden wollte.

Wie jedes Jahr freuten sich Bennos Geschwister auf den Karneval. Er selbst hatte wenig Freude am Fastnachtstreiben. Wenn er auf Geheiß der Mutter als Kreuzritter, Schornsteinfeger, Seeräuber oder Indianer herumlaufen musste, kam er sich wie ein Idiot vor. Ihn erfreute nur die Aussicht, dass man an Karneval ungestraft Schabernack mit seinen Mitmenschen treiben durfte.

Mit seinem Taschengeld kaufte er sich in einem Zeitungsladen Scherzartikel. Neben harmlosem Firlefanz wie Konfetti und Luftschlangen gab es dort Rasseln, Blechtröten und Knallerbsen. Es gab auch winzige Knaller, die so winzig waren, dass man sie in eine Zigarette, eine Zigarre oder eine Pfeife stecken konnte, ohne dass sie sichtbar wurden. Wenn diese Stifte in Kontakt mit Feuer kamen, gab es einen lauten Knall und eine Stichflamme stieg auf.

Benno bestimmte zum Ziel seines ersten Anschlags den Vater. Damit glaubte er, einen erzieherischen Zweck zu erfüllen, denn er wollte einem Kettenraucher mit Hilfe der Feuerwerkskörper das Rauchen abgewöhnen. Richard Bongs Schwiegervater hatte ihn oft genug gewarnt, dass jede Zigarette zu einem Sargnagel werden würde. Benno fühlte sich deshalb berufen und berechtigt, den Vater von seiner Sucht zu befreien. Die Knallkörper machten also nicht nur unheimlich viel Spaß, sondern sie dienten auch der Volksgesundheit.

Als der Vater eines Abends müde vom Tagewerk zur Tageszeitung griff und eine wohlverdiente Zigarette rauchen wollte, gab es nach den ersten beiden Zügen einen lauten Knall. Während er zu Tode erschrak, löste die Explosion bei den Anwesenden zunächst Verblüffung, danach lautes Gelächter aus.

Als sich die Detonationen in den nächsten Tagen häuften, weil Benno das gesamte Räucherwerk des Vaters mit Sprengstoff bespickt hatte, war der sehr aufgebracht. Fortan prüfte er aufmerksam jede Zigarette, um sicherzugehen, dass an deren Ende kein Sprengmittel versteckt war.

Dr. Cronenberg war zufällig zugegen, als es wieder einmal einen lauten Knall gab und aus der Zigarette seines Schwiegersohnes eine solche Stichflamme aufstieg, dass dieser sich die Lippen verbrannte. Als Richard Bong dem Täter eine anständige Abreibung geben wollte, rief Cronenberg ihn dazu auf, Ruhe und Haltung zu bewahren. Schließlich handele es sich um einen Kinderscherz. Der Junge habe eben den Schalk im Nacken und ein Schelm sei, wer Böses dabei denke.

Als jedoch kurz darauf eine Feuersäule aus Cronenbergs Pfeife aufstieg, die so groß war, dass dessen Rauschebart Feuer fing, sah dieser die Dinge weniger gelassen. Er nannte Benno einen Taugenichts und hätte ihm sicherlich eine Tracht Prügel verabreicht, wenn die Großmutter nicht eingeschritten wäre und sich schützend vor ihren Enkel gestellt hätte. Sie sagte, der Junge sei nicht ausgelastet und langweile sich. Er brauche dringend eine sinnvolle Beschäftigung und mehr erzieherisches Verständnis.

Immer wenn Benno sich langweilte, heckte er neue Späße aus, die manchmal richtig bösartig waren. Wenn ihm etwas gegen den Strich ging, konnte er sich maßlos ärgern und vor Wut mit den Füßen auf den Boden stampfen. Seine Großmutter fand das amüsant und nannte ihn ihr Rumpelstilzchen. Sie sah ihm jeden Streich und manche Unflätigkeit nach.

Benno wusste, dass er ihr erklärter Liebling war. Im Wettkampf um ihre Zuneigung duldete er keine Nebenbuhler. Als die Großmutter gegenüber einer seiner Schwestern eine besondere Zuneigung an den Tag legte, reizte ihn das so sehr, dass er beschloss, die Rivalin in die Schranken zu weisen.

Nota bene: Bennos Eifersucht nutzte der hinterhältige Sammael für seine Zwecke aus. Während ich mich bemühte, Benno zu mäßigen und zu guten Gedanken zu bewegen, stachelte mein teuflischer Gegenspieler ihn zu bodenlosen Gemeinheiten an.

Sammael hatte seine helle Freude daran, wenn mein Schützling seinen Geschwistern zweifelhafte Streiche spielte. Das machte ihn zuversichtlich, dass er das Kerlchen, wenn es einmal erwachsen wäre, leicht in den Griff bekommen würde.

Blind vor Eifersucht nahm Benno eines Tages das Schwesterchen beiseite, um ihm ein angeblich streng gehütetes Familiengeheimnis anzuvertrauen. Es solle wissen, dass es kein leibliches Kind ihrer Eltern, sondern ein Findelkind sei. Es solle sich daher nicht wundern, wenn eines Tages Männer in weißen Kitteln auftauchen würden, um es mitzunehmen und wieder in das Kinderheim zu stecken, aus dem es einst gekommen sei.

Die Kleine war untröstlich. Als sie bei der Großmutter nachfragte, ob sie sie aufnehmen würde, wenn die Eltern es verstoßen würden, kam die Sache ans Licht. Benno erntete ein schlimmes Donnerwetter und musste feierlich versprechen, solche Späße zukünftig zu unterlassen. Spätestens hier hätte Benno erkennen müssen, dass es auch für ihn rote Linien gab, die er nicht überschreiten durfte, aber er schlug alle Warnungen in den Wind.

Benno ließ es im Umgang mit seinen Geschwistern oft an Mitgefühl und Takt fehlen. Es bereitete ihm sichtlich Vergnügen, sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu reizen und zu triezen: so schüttete er ihnen Marmelade in die Pantoffel oder er versteckte ihre Plüschtiere, sodass es beim Schlafengehen öfter ein lautes Gezeter gab. Auch der Mittagstisch war häufig ein Ort von Sticheleien. Manchmal genügte ein schräger Blick, um Bennos Gegenüber in Rage zu versetzen. Vergeblich drohten die Eltern ihm bittere Strafen an.

Besonders übel spielte Benno seiner älteren Schwester mit: einmal schnappte er sich ihre Zahncreme, schnitt die Tube von hinten auf, um die Paste herauszupressen. Stattdessen steckte er Maden hinein, bevor er sie wieder verklebte. Als seine Schwester am Abend nach ihrer Zahnbürste griff und auf die Tube drückte, krochen widerliche Tierchen hervor. Sie ekelte sich derart, dass sie erbrechen musste. Danach weigerte sie sich wochenlang, ihre Zähne zu putzen.

Das Maß war nun voll. Seine Eltern verordneten ihm zwei Tage lang Hausarrest. Benno fühlte sich ungerecht behandelt: während er untätig am Fenster seines Zimmers saß und zusah, wie seine Geschwister sich im Hof amüsierten, sann er auf Rache. Er überlegte, wie er seine Eltern, die ihm bitteres Unrecht zugefügt hatten, strafen könne. Schließlich kam ihm der Gedanke, die schlimmste aller Strafen wäre, wenn er spurlos aus ihrem Leben verschwinden würde. Dann würden sie Gewissensbisse haben, die sie ihr ganzes Leben lang plagen würden.

Nach Aufhebung der Quarantäne steckte sich Benno heimlich einige belegte Brote als Wegzehrung für die geplante Flucht in die Hosentaschen. Als er sich unbeobachtet fühlte, schlich er sich aus dem Haus: von nun an würde er wie Huckleberry Finn allein durchs Leben ziehen. Schon malte er sich die hektische Suche aus, die einsetzen würde, wenn sein Verlust bemerkt würde, der laute Schmerz der Mutter, die Selbstvorwürfe des Vaters, die Zerknirschung seiner Geschwister.

Doch während er innerlich vor Schadenfreude jubilierte, kehrten sich die Bilder in ihr Gegenteil um: er malte sich aus, wie schön es wäre, abends in seinem warmen Bett zu liegen. Auch würde er den Schokoladenpudding seiner Mutter vermissen und die Späße des Großvaters.

Er war noch nicht ganz aus Sichtweise des Elternhauses, als ihm ernsthafte Zweifel kamen, ob er klug gehandelt hatte. Ihn packte plötzlich ein heftiges Selbstmitleid: der Schmerz, den er auf einmal verspürte, übertraf bei weitem den, den er seinen Eltern zufügen wollte. Er konnte nicht vermeiden, dass ihm einige Tränen über die Wangen flossen.

Als Benno nach einer halben Stunde von seinem Ausbruch heimkehrte, stellte er enttäuscht fest, dass niemand sein Verschwinden bemerkt hatte. Niemand schien ihn vermisst zu haben. Das war einerseits tröstlich, andererseits beschämend.

Von nun verlagerte Benno sein Tätigkeitsfeld von der Kinderstube ins Wartezimmer seines Großvaters. Dessen Praxis lag nur einige Hundert Meter von der Schreinerei entfernt. Dort unterhielt er sich angeregt mit den Patienten, erkundigte sich nach ihren Beschwerden und erteilte dem einen oder anderen gute Ratschläge, wie sie mit ihrer Krankheit umgehen sollten. Sein Erscheinen und seine Ratschläge lösten in der Regel große Heiterkeit aus.

Die medizinischen Grundkenntnisse, die Benno in der Sprechstunde sammelte, brachten ihn dazu, auf seine Ernährung zu achten. Während er bei Fleisch und Gemüse wählerisch war, schlug er erbarmungslos zu, wenn seine Lieblingsspeisen auf den Tisch kamen. Dann gab es kein Pardon. Dann bediente er sich so großzügig, dass für die anderen kaum etwas übrig blieb.

Wenn ihn die Mutter darauf ansprach, sagte er, er benötige gewisse Speisen wie Pudding oder Pfannkuchen für sein Wohlbefinden. Sie würden das Wachstum fördern und seine Sinne schärfen. Als sie wissen wollte, woher er diese Weisheiten habe, sagte er, dass habe er alles in Opas Praxis mitbekommen. Dort habe er alles Wissenswertes über die menschliche Natur erfahren.

In diesem Zusammenhang riet er ihr, von der Zubereitung italienischer Nudeln abzusehen. Spaghettis seien so dünn wie Bindfäden und führten leicht zu Erstickungsanfällen. Auch vor Brotaufstrich aus pflanzlichen Ölen und Fetten als Ersatz für gute Butter habe der Großvater gewarnt, weil junge Mädchen davon Pickel und Pusteln bekämen.

Musterschüler und Sorgenkind

Im Hause Bong waren alle irgendwie erleichtert, als Benno das nötige Alter erreicht hatte, um eingeschult zu werden. Davon versprach man sich eine Disziplinierung seines ungestümen Temperaments.

Voller Zuversicht und Tatendrang trat Benno seinen ersten Schulweg an. Die Schule lag nur einen Steinwurf vom elterlichen Betrieb entfernt. Die Mutter hatte ihm für seinen Eintritt ins Leben eine Schultasche, eine Schiefertafel, einen Griffel und einen Naturschwamm gekauft. Am Vorabend hatte Benno zusätzlich einige Scherzartikel wie Juckpulver, Rauchbomben und Gummispinnen in seinen Ranzen gepackt. Die Mutter hatte es rechtzeitig entdeckt und das Zeug gegen ein Pausenbrot eingetauscht.

Auf dem Schulhof wurde Benno Zeuge eines verstörenden Schauspiels: als die Schulglocke läutete, hörte man lautes Klagen. Benno sah sich von lauter Heulsusen umgeben. Kaum vorzustellen, dass aus diesen Jammerlappen, die sich wie ängstliche Küken in die Rockschöße ihrer Mütter verkrochen, schlimme Quälgeister werden sollten, die ihm das Leben schwer machen sollten.

Ein paar Stunden später bei Schulschluss bot sich ein ganz anderes Bild. Stolz verließen die ABC-Schützen das Schulgebäude. Ihre Mütter vergossen Tränen des Glücks und überreichten ihnen bunte Tüten, die aussahen wie umgedrehte Zauberhüte. Auch Benno erhielt eine solche Wundertüte, war aber vom Inhalt enttäuscht: er hätte sich weniger Packpapier und mehr Schokolade und Süßigkeiten gewünscht.

In den nächsten Wochen wurde Benno mit dem Einmaleins vertraut gemacht und in die Geheimnisse der Schrift eingeführt. Jeder Schüler erhielt als Lesehilfe eine kleine Fibel. Darin gab es Bildgeschichten zu einzelnen Buchstaben, geläufigen Wörtern und kurzen Sätzen, die sich an die Jahreszeiten anlehnten.

Ein wichtiges Fach war das Schönschreiben. Dieses wurde zunächst auf einer Schiefertafel geübt, danach in einem Heft fortgeführt. Da Kugelschreiber verboten waren, mussten die Kinder für diese Disziplin einen Federhalter benutzen. Dieser wurde in ein Tintenfass getunkt, was meist mit einer unsäglichen Schmiererei verbunden war.

Während daheim niemand vor seinen Streichen sicher sein konnte, gab sich Benno in der Schule lammfromm. Er war ein begeisterter Schüler. Er war lebhaft, fleißig und vielseitig interessiert. Er meldete sich häufig zu Wort, denn für jede richtige Antwort gab es als Belohnung ein Fleißkärtchen. Wer zehn davon gesammelt hatte, konnte sie gegen ein Heiligenbildchen eintauschen.

In Erinnerung an seinen Lebensretter während der großen Flut entschied er sich für ein Bild mit einem Schutzengel: es zeigte einen hochgewachsenen Himmelsboten mit mächtigen Flügeln, der zwei kleinen Kindern dabei half, im Hochgebirge ein wildes Wasser zu überqueren.

Die Meinung der Lehrer über den quirligen vorlauten Sprössling des Schreiners waren gespalten: die einen hielten ihn für aufgeweckt und intelligent, die anderen für bauernschlau und durchtrieben. Im Umgang mit anderen Kindern war er eigenwillig und rechthaberisch, konnte störrisch und dickköpfig sein, aber auch selbstlos und großzügig.

Benno mauserte sich zum Klassenprimus. Daheim war man stolz auf seine Schulleistungen. Die Großmutter sah sich in ihrer Auffassung bestätigt, dass Benno das Zeug zu einem Wunderkind hätte, wenn man seine Talente nur richtig fördern würde. Seine Lehrer lobten ihn wegen seiner Beredsamkeit und einer für sein Alter erstaunlichen Allgemeinbildung.

Bei seinen Klassenkameraden war er weniger beliebt. Sie sahen in ihm eine Mischung aus Klassenclown und Streber. Mit seiner Rechthaberei, seinen Belehrungen und seinem ständigen Moralisieren ging er ihnen gehörig auf die Nerven. Man hielt ihn lieber auf Distanz. Denn entgegen einer alten Volksweisheit würden Hunde, die bellen, auch beißen.

Benno ließ die Abneigung seiner Mitschüler kalt. Den Albernheiten und dem Unfug, den sie trieben, konnte er nichts abgewinnen: weder beteiligte er sich daran, wenn sie Papierflieger auf die Reise schickten, noch billigte er es, wenn sie Kaugummi auf das Pult der Lehrers klebten oder Wasser auf die Sitzfläche seines Stuhles schütteten, sodass er unter dem Gelächter der ganzen Klasse mit nassem Hosenboden herumlief.

Benno betrachtete seine Klassenkameraden als dumme Tölpel und zeigte keinerlei Neigung, sich an ihren dummen Streichen zu beteiligen. Er hielt sich brav an die Schulordnung. Ihm war es wichtiger, seinem Lehrer statt seinen Mitschülern zu gefallen. Aber selbst dem Lehrer ging er manchmal auf die Nerven, weil er ihn häufig unterbrach und ständig eines Besseren belehren wollte.

Weil Benno sich weigerte, bei den albernen Streichen seiner Mitschüler mitzumachen, nannten sie ihn feige und hinterfotzig. Sie nannten ihn einen Duckmäuser und falschen Apostel: sie lästerten ihn wegen seiner Frömmelei und malten mit Kreide an den Wänden Strichmännchen mit einem Birett auf dem Kopf und erhobenem Zeigefinger.

Auch in den Schulpausen trieben sie ihren Spott mit ihm, indem sie – wie bei einer Prozession – eine Menschenschlange bildeten und hinter ihm herliefen. Dabei sangen sie das Lied vom Bruder Jakob: »Bruder Benno, schläfst du noch? Hörst du nicht die Glocken, ding, dang, bong.« Die bösen Buben hatten keine Ahnung, welch prophetische Aussage sie da machten.

Der Lehrer, der die Pausenaufsicht hatte, schritt ein und verlangte von den Lästermäulern, dieses Theater zu unterlassen. Benno ermahnte er gleichzeitig, etwas verträglicher und umgänglicher zu sein. Benno schien daran aber kein Interesse zu haben. Er war nicht gewillt, sich mit Lausebengeln abzugeben, sondern weiterhin für seine Prinzipien eintreten, auch wenn dies nicht unbedingt Beifall finden würde.

Einmal hatten sich einige Lümmel in seiner Klasse einen besonderen Jux ausgedacht. Da der Lehrer viel gestikulierte, hatte er die Angewohnheit, vor Beginn des Unterrichts seine Armbanduhr auf dem Pult abzulegen. Als der Lehrer den Schülern den Rücken zukehrte, schnappte sich einer die Uhr und rückte den Zeiger um eine Viertelstunde vor, sodass der Lehrer die Unterrichtsstunde vorzeitig beendete.

Als er den Frevel bemerkte, forderte er den Schuldigen auf, sich freiwillig zu melden. Da die ganze Klasse sich in Schweigen hüllte, fühlte Benno sich berufen, den Übeltäter anzuzeigen. Das sorgte für böses Blut. Einige in der Klasse fassten den Entschluss, dem Denunzianten einen Denkzettel zu verpassen, den er sobald nicht vergessen würde. Sie lauerten Benno auf dem Heimweg auf und zwangen ihn unter Androhung nackter Gewalt, Regenwürmer und Maikäfer zu verschlingen. Benno wurde übel davon, und er musste sich übergeben. Nach einigen Fußtritten ließen sie ihn laufen.

Als er dem Großvater von der erlittenen Schmach berichtete, meinte der, er sei gut beraten, wenn er sich nicht immer in die Angelegenheiten anderer Leute einmischte. Doch Benno hörte nicht auf den Rat, sondern bestand weiterhin darauf, seine Mitschüler Mores zu lehren.

Bennos Beflissenheit dem Lehrer zu gefallen, war nicht immer von Erfolg gekrönt. Irgendwann stand auf dem Lehrplan der Wetterbericht: der Lehrer wollte wissen, wer in der Klasse ein Thermometer lesen könne und sich mit Temperaturen und Wetteraussichten auskenne. Der Lehrer erklärte, was ein Thermometer sei: ein enges, luftdicht verschlossenes Glasröhrchen, das entweder mit Quecksilber oder mit einer rötlichen oder blau gefärbten Flüssigkeit gefüllt war. Wenn die Außentemperatur ansteige oder falle, passe sich die Flüssigkeit im Röhrchen an.

Obwohl Benno bis dahin keinen blassen Schimmer hatte, was ein Thermometer war und welchen Zweck es erfüllte, behauptete er, er wisse damit umzugehen. Er wurde daraufhin damit beauftragt, vor Beginn des Unterrichts auf einem Thermometer, das an der Außenmauer des Klassenzimmers befestigt war, den Temperaturstand abzulesen und diesen auf die Tafel zu schreiben.

Obwohl Benno sich bemühte, konnte er keine gesicherten Angaben liefern, weil die Flüssigkeit fast die gleiche Farbe wie das Glasröhrchen hatte und eines vom anderen kaum zu unterscheiden war. Also erkundigte er sich morgens, bevor er das Haus verließ, bei seiner Mutter, wie die Wetteraussichten wären, ob mit höheren, niedrigeren oder unveränderten Temperaturen zu rechnen sei. Entsprechend fielen seine meteorologischen Beobachtungen aus.

Der Schwindel fiel auf, als Benno eines Tages milde Temperaturen und gutes Wetter ankündigte, obwohl es draußen zu stürmen begann. Die Blamage war groß. Der Wetterfrosch wurde seines Amtes enthoben und verlor viel von dem Vertrauen, das der Lehrer bis dahin in ihn gesetzt hatte.

Wer geglaubt hatte, die Erfahrung würde Bennos Selbstbewusstsein erschüttern, sah sich getäuscht. Als gelte es, die erlittene Schmach zu tilgen, fuhr er fort, sich unentwegt zu Wort zu melden, sodass der Lehrer sich genötigt sah, ihm hin und wieder das Wort abzuschneiden.

In der Klasse registrierte man mit Schadenfreude, dass der Wunderknabe in Ungnade gefallen war. Jedes Mal, wenn Benno sich zu Wort meldete, gab es ein Rumoren in den Bänken: »Bong, Bong, Schuhkartong … Bong, Bong, Schuhkartong«, zischte es böse aus den hinteren Reihen.

Der Einzige in seiner Klasse, der ihm die Stange hielt, war Leopold Lemaire, ein unauffälliger schüchterner Junge, der offenbar aus schwierigen Verhältnissen kam. Sein Vater war Alkoholiker und es hieß hinter vorgehaltener Hand, dass der landwirtschaftliche Betrieb demnächst unter den Hammer käme.

Leopold hatte einen Graus davor, vorzutreten und vor der versammelten Klasse etwas aufzusagen oder vorzusingen. Nachdem der Lehrer ihn einmal aufgerufen hatte und er vor Angst in Tränen ausbrach und dabei die Hosen nass machte, verschonte ihn der Lehrer mit öffentlichen Auftritten. Er verbrachte fortan seine Schultage weitgehend ungestört in einer der hinteren Bänke.

Leopold hatte eine bizarre Angewohnheit: wenn es für ihn einen Grund zur Freude gab, etwa weil er gute Noten oder auf eine Frage richtig geantwortet hatte, was selten genug vorkam, ein breites Grinsen aufzusetzen und sich voller Wollust die Hände zwischen den Schenkeln zu reiben, wobei er vor Vergnügen quietschte. In der Klasse hatte man ihm deshalb in Anlehnung an den Struwwelpeter den Spitznamen »Zappel« gegeben.

Der Musterschüler und der Sonderling freundeten sich an und waren bald unzertrennlich. Dabei waren die Rollen in dieser Partnerschaft klar aufgeteilt: Benno gab den Ton an und Leopold ordnete sich unter.

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Im Vennland, das von tiefer Frömmigkeit geprägt war, war der Advent eine Zeit der Läuterung und der freudigen Erwartung, Mitten in diese heilige Zeit kam es unter den Pennälern zu einem Disput in Glaubensfragen.