Der Moment zwischen den Zeiten - Marta Orriols - E-Book

Der Moment zwischen den Zeiten E-Book

Marta Orriols

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Beschreibung

Der Weg zurück ins Leben Ein Paar trifft sich zum Mittagessen. Er erzählt dies und das, bis er die Bombe platzen lässt: Er hat sich in eine jüngere Frau verliebt. Eine der ältesten Geschichten der Welt. Doch dann, nur wenige Stunden später, wird Mauro bei einem Verkehrsunfall getötet. Schockstarre. Fassungslosigkeit. Paula steht vor den Trümmern ihrer Liebe. Über zehn Jahre war sie mit Mauro zusammen: Mit einem Schlag ist das vorbei. Wie trauern um den Mann, der einen kurz vor seinem Tod verlassen hat? »Wie man weiterlebt, wenn das Leben von einem Tag auf den anderen in viele kleine Teile zerspringt und widersprüchliche Gefühle einen zerreißen, erzählt Marta Orriols sehr einfühlsam, aber nie pathetisch.« Daniela Stohn in ›Brigitte‹

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Seitenzahl: 317

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Über das Buch

Ein Restaurant am Strand von Barcelona. Ein Paar trifft sich zum Mittagessen. Mauro erzählt dies und das, bis er die Bombe platzen lässt: Er hat sich in eine jüngere Frau verliebt. Eine der ältesten Geschichten der Welt. Doch dann, nur Stunden später, ein Verkehrsunfall. Ein Autofahrer hat die rote Ampel übersehen. Mauro ist tot.

Schockstarre. Fassungslosigkeit. Paula Cid steht vor den Trümmern ihrer Liebe. Über zehn Jahre war die engagierte Kinderärztin mit Mauro zusammen: Mit einem Schlag ist das ein für alle Mal vorbei. Wie trauern um den Mann, der einem kurz vor seinem Tod verlassen hat? Wie weiterleben?

 

 

 

 

Für Dich, Miquel.Tage und Nächte und aus der Zeit gefallene Stunden.Wir werden Dich nie vergessen.Ich vermisse Dich. Und ich liebe Dich.Für immer.

 

 

 

 

Man bringt zwei Menschen zusammen, die vorher nicht zusammengebracht wurden. Manchmal ist das wie jener erste Versuch, einen Wasserstoffballon an einen Heißluftballon zu koppeln: Man hat die Wahl zwischen abstürzen und verbrennen oder verbrennen und abstürzen. Aber manchmal funktioniert es, und etwas Neues entsteht, und die Welt hat sich verändert. Dann wird irgendwann, früher oder später, aus dem einen oder anderen Grund, einer von beiden weggenommen. Und was weggenommen wurde, ist größer als die Summe dessen, was vorher da gewesen war. Mathematisch mag das nicht möglich sein, aber emotional ist es möglich.

Julian Barnes, ›Lebensstufen‹

VORHER

 

 

 

 

Wir waren am Leben.

Attentate, Unfälle, Kriege und Epidemien – all das hatte mit uns nichts zu tun. Wir konnten uns Filme ansehen, die über den Akt des Sterbens mit frivoler Leichtigkeit hinweggingen, oder solche, die daraus einen Akt der Liebe machten, aber was es wirklich heißt, sein Leben zu verlieren, davon hatten wir keine Ahnung.

Manchmal schauten wir, mit der Arroganz unserer späten Jugend, abends im Bett die Nachrichten, behaglich in riesige, weiche Kissen gesunken, die Beine ineinander verschlungen, und dabei machte es sich der bläulich flimmernde Tod ohne unser Wissen auf Mauros Brillengläsern bequem. Hundertsiebenunddreißig Menschen sterben bei den Attentaten des Islamischen Staats in Paris; sechs Tote bei drei Frontalzusammenstößen auf der Landstraße, in weniger als vierundzwanzig Stunden; ein über die Ufer getretener Fluss in einem kleinen Dorf in Südspanien fordert vier Menschenleben; mindestens siebzig Tote bei einer Serie von Attentaten in Syrien: Wir erschraken kurz, und uns entfuhr vielleicht ein »Mein Gott, was für eine Welt« oder »Die Armen, was für ein Unglück«, doch je nach Tragweite verpufften die Nachrichten dann auch gleich wieder in unserem Schlafzimmer. Dem Schlafzimmer eines Paares, das selbst schon in den letzten Zügen lag. Wir schalteten um und sahen uns das Ende eines Films an, während wir kurz klärten, um wie viel Uhr ich am nächsten Abend nach Hause kommen würde, oder ich ihn daran erinnerte, den schwarzen Mantel aus der Reinigung zu holen, und an guten Tagen machten wir in jenen letzten Monaten vielleicht sogar einen halbherzigen Versuch, miteinander zu schlafen. Nur wenn die Nachrichten dramatischer waren, hallten sie etwas länger nach, und wir sprachen noch mit den Arbeitskollegen in der Kaffeepause darüber oder in der Schlange beim Fischhändler auf dem Markt.

Aber wir waren am Leben, der Tod war Sache der anderen.

Nach einem harten Arbeitstag erklärten wir wie selbstverständlich: »Ich bin so was von tot«, ohne dass uns das Adjektiv einen Stich versetzte. Und als wir ganz frisch zusammen waren, hatten wir uns manchmal mit sonnen- und salzverkrusteten Lippen in unserer Lieblingsbucht im Meer treiben lassen und aus Spaß so getan, als würden wir ertrinken, was jedes Mal zu einer erregenden Mund-zu-Mund-Beatmung und prustendem Gelächter geführt hatte.

Der Tod war weit weg, er tangierte uns nicht. Weder Mauro noch mich.

Der Tod, den ich als kleines Mädchen erlebt hatte – meine Mutter wurde krank und starb wenige Monate später –, war nur eine verschwommene Erinnerung, die längst nicht mehr schmerzte.

Damals hatte mich mein Vater in der Stunde nach der Mittagspause von der Schule abgeholt. Mit dem Ungestüm des Lebens war ich, zusammen mit hundert anderen Jungs und Mädchen, die gewundene Treppe von der Kantine in die Klassenräume hinaufgerannt, während anderswo alles zum Stillstand kam.

Mein Vater betrat mit der Direktorin genau in dem Moment die Klasse, als der Biologielehrer uns den Unterschied zwischen Wirbeltieren und wirbellosen Tieren erklärte. Die Erinnerung an den Tod meiner Mutter ist für mich seither untrennbar mit der weißen Kreideschrift auf der grünen Tafel verbunden, die das Tierreich in zwei Gruppen teilte. Die Blicke meiner Klassenkameraden, die bis dahin meinesgleichen gewesen waren, veränderten sich, und ich wurde ganz still und spürte, wie ich mich in ein anderes, drittes Reich zurückzog, das der verwundeten Tiere, die ohne Mutter aufwachsen mussten.

Ihr Tod hatte sich angekündigt, was ihren Verlust zwar nicht weniger schlimm machte, uns aber in der Zeit, die ihm vorausging, Raum für Abschied und noch zu erfüllende Wünsche gab, für Demut, vor allem aber die Chance, ihr noch einmal unsere ganze Liebe zu zeigen. Damals bewahrten mich in erster Linie mein naiver Glaube an den Himmel, wo sie nun angeblich sein sollte, und die Unschuld meiner sieben Jahre davor, zu begreifen, dass ihr Abschied für immer war.

Mauro und ich waren viele Jahre ein Paar. Und dann waren wir es von einer Sekunde auf die andere nicht mehr. Vor ein paar Monaten ist er überraschend gestorben. Ein Auto hat ihn überfahren, und mit ihm so viel mehr.

Ohne den tröstlichen Himmel der Kindheit fühle ich jetzt, als Erwachsene, die ganze Wucht des Verlusts. Oft verwende ich, um von Mauro nicht in der Vergangenheit denken oder sprechen zu müssen, die Worte vorher und nachher. Dazwischen gibt es eine spürbare Grenze. Als er an jenem Tag mit mir zusammen zu Mittag aß, war er noch quicklebendig. Er trank Wein und bat darum, das Steak etwas mehr durchgebraten zu bekommen, nahm ein paar Anrufe vom Verlag entgegen und spielte dabei mit dem Serviettenring herum, er notierte mir auf der Rückseite der Visitenkarte des Restaurants den Titel des Buches einer französischen Autorin, die er mir wärmstens ans Herz legte, kratzte sich, aus Unbehagen oder Verlegenheit, am linken Ohrläppchen, und dann sagte er es mir. Er geriet fast ins Stottern. Wenige Stunden später war er tot.

Die Karte, auf der in seiner makellosen Handschrift der Titel des Buches steht, das ihm so gut gefallen hatte, habe ich noch. Das Logo des Restaurants ist in einer Ecke korallenrot. Ich betrachte es oft. Es steht jedem frei, sich sein Unglück mit so vielen Fuchsia-, Gelb-, Blau- und Grüntönen auszuschmücken, wie er möchte. Vielleicht kommt mir deshalb bei dem Gedanken an das Vorher und Nachher in meinem Leben immer das Great Barrier Reef in den Sinn, das größte Korallenriff der Welt. Bei der Frage, ob eine Sache vor oder nach Mauros Tod geschah, versuche ich jedes Mal, mir das Barrier Reef vorzustellen, voller bunter Fische und Seesterne, als wäre es eine Art Äquator des Lebens.

Denn wenn der Tod nicht länger Sache der anderen ist, muss man ihm ganz bewusst ein Eckchen auf der anderen Seite des Riffs einrichten, sonst nimmt er schon bald wie selbstverständlich den ganzen Raum für sich ein.

Sterben hat nichts Mystisches. Sterben ist konkret, unausweichlich, real.

1

»Wie sieht’s aus, Pili? Schnell! Atmet sie?«

»Nein.«

»Dann CPAP.«

Während ich leise seine Vitalparameter wiederhole, lege ich dem Frühchen rasch die Atemmaske an. Ich weiß, Kleines. Den Empfang hier hast du dir sicher anders vorgestellt, aber du musst atmen, hörst du?

»Dreißig Sekunden.«

Eins, zwei, drei … siehst du die Frau da drüben? Das ist deine Mutter. Sie würde draufgehen ohne dich … Zehn, elf, zwölf, dreizehn … Komm schon, atme, um alles in der Welt! Wenn du das schaffst, sieht die Sache gleich ganz anders aus, es lebt sich gut hier, versprochen … Sechzehn, siebzehn, achtzehn, neunzehn, zwanzig … Es lohnt sich zu leben, weißt du? Dreiundzwanzig, vierundzwanzig … Manchmal ist es nicht leicht, da will ich dir nichts vormachen … sechsundzwanzig, siebenundzwanzig … na los, Mäuschen, tu mir das nicht an. Ich gebe dir mein Wort, es lohnt sich. Dreißig …

Stille. Das Neugeborene zeigt keine Regung.

»Herzfrequenz, Pili?!«

Die Schwester sieht mich mit kritischem Blick an. Ich kenne diesen Ausdruck in ihren Augen, sie hat mich vor Kurzem schon einmal damit bedacht. Und sie hat recht, mein barscher Ton war völlig unnötig, das hätte wirklich nicht sein müssen. Aber ich fühle mich unwohl. Mir ist heiß, und mein rechter Clog scheuert an der kleinen Blase, die ich mir in den letzten Urlaubstagen mit den Sandalen eingehandelt habe. Die ersten Minuten nach der Geburt sind entscheidend, da haben mir die Blase und die Hitze gerade noch gefehlt. Für die Kleine ist Wärme allerdings lebenswichtig, sie darf auf keinen Fall auskühlen. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, in aller Herrgottsfrühe direkt von der Küste zur Arbeit zu fahren. Ich hätte besser erst mal zu Hause in aller Ruhe die Koffer ausgepackt und das seltsame Gefühl abgestreift, knapp zwei Wochen fortgewesen zu sein, weit weg von den Krankenakten meiner Kinder, von Untersuchungen und Laborwerten, von allem, was mich funktionieren lässt.

Strategiewechsel. Mit raschen Klapsen stimuliere ich die Fußsohlen der Kleinen und muss dabei wie immer den Impuls unterdrücken, fester zu klopfen, energischer.

Das darfst du mir nicht antun, so darf der erste Arbeitstag nach dem Urlaub für mich nicht beginnen. Mach schon, atme, Herzchen.

Noch mal abhören.

Ich versuche, mich auf die Daten des Monitors und die Kleine zu konzentrieren, aber dann muss ich doch für einen Moment die Augen schließen, weil ich mir nicht die Ohren zuhalten kann. Die bangen Fragen der schluchzenden Mutter, die durch den Kreißsaal hallen, machen mich kirre. Mit dem Kummer anderer ergeht es mir neuerdings ähnlich wie beim Anblick eines vollen Tellers nach einer opulenten Mahlzeit. Es passt einfach nichts mehr in mich hinein, es ist mir zuwider. Jede Klage ruft in mir die von Mauros Mutter am Tag der Beerdigung wach. Sie zerriss einem das Herz …

Irritiert schüttele ich den Kopf. Hier ist nicht der Ort für schwierige Themen. Das gehört nicht hierher. Keine Erinnerungen. Hier nicht, Paula. Konzentrier dich.

Als hätte jemand einen Krug kaltes Wasser über mir ausgegossen, katapultiert mich mein Selbstgespräch wieder in die Realität zurück: Vor mir auf dem Reanimationstisch liegt ein Frühgeborenes von gerade mal achthundertfünfzig Gramm, das partout nicht atmen will und von mir abhängig ist.

Atme, Herzchen, mach schon. Atme, um Himmels willen!

Mein sechster Sinn ist nun erwacht und übernimmt die Regie, das exakte Zusammenspiel von Vernunft, medizinischem Wissen und untrüglichem Bauchgefühl, das es mir ermöglicht, diese winzigen Wesen ins Leben zu holen.

Hör zu, Kleine, es lohnt sich wirklich. Allein schon das Meer zu sehen ist das Leben wert.

»Ich beende die Beatmung, Pili, und versuch’s weiter taktil.«

Ich hole tief Luft, wie vor einem Sprung ins Nichts. Der Mundschutz hält meinen Atem zurück, in dem sich der Mentholgeschmack der Zahnpasta, die ich heute früh in Vaters Bad gefunden habe, und der bittere Espresso von der Autobahnraststätte mischen. Ich sehne mich nach meinen Sachen, danach, dass alles seinen gewohnten Gang geht. Nach einer Tasse Kaffee aus meiner eigenen Kaffeemaschine. Nach dem Geruch von zu Hause, meinem eigenen Rhythmus, danach, niemandem Erklärungen zu schulden und einfach mein Ding machen zu können.

Mit sanften, unablässigen Bewegungen streiche ich über den winzigen Rücken.

Weißt du, Kleines, das Meer hat einen Rhythmus. Es kommt und geht, kommt und geht. Spürst du meine Hände? Genau so kommen und gehen seine Wellen. Wirklich, Herzchen, allein das Meer ist es wert zu leben. Und es gibt noch viel mehr. Aber jetzt konzentrier dich auf das Meer … so, ganz sanft, spürst du es?

»Sie atmet!«

Pili seufzt erleichtert auf.

Der erste Schrei des kleinen Mädchens ist nur ein leises Miauen, aber im Kreißsaal begrüßen wir ihn so euphorisch wie ein Gewitter nach einem heißen Sommertag.

»Willkommen …«

Ich bin nicht sicher, ob ich es zu der Kleinen sage oder zu mir selbst, und muss mich zusammenreißen, um nicht loszuheulen.

Ich säubere sie mit schnellen, routinierten Handgriffen und sehe erleichtert, wie sie Farbe bekommt und die durchscheinende Haut einen rosigen Ton annimmt. Das lässt hoffen.

»Wie hoch ist jetzt ihre Herzfrequenz, Pili?«

»Hundertfünfzig.«

»Okay, dann legen wir ihr wieder die CPAP-Maske an, und ab mit ihr in den Inkubator.«

Ich schaue die Schwester über den Mundschutz hinweg an, um ihr zu verstehen zu geben, dass mir mein schroffer Ton von vorhin leidtut. Es ist besser, Pili bei Laune zu halten, sonst ist sie eingeschnappt und lässt es mich büßen, indem sie die von mir angeordneten Laboruntersuchungen verschleppt. Aber sie wird wenigstens sauer auf mich, das ist doch schon was. Seit Monaten lassen mir die Leute alles durchgehen, und dieses Herumlavieren macht mich nur noch grantiger.

Während Pili den Brutkasten vorbereitet, streiche ich abermals sanft über den winzigen Rücken, um der Kleinen dafür zu danken, dass sie sich mit solcher Energie ans Leben klammert. Doch ich werde das Gefühl nicht los, dass es noch einen anderen Grund gibt, warum ich sie berühre, etwas, das ich nicht benennen kann und das wohl damit zu tun hat, dass die Kleine noch am Leben ist und Mauro nicht mehr. Denn er ist nicht mehr da, Paula. Er ist nicht mehr da, und trotzdem taucht er immer wieder auf, sogar wenn ich dieses flüchtige Leben in meinen Händen halte.

»Möchte die frischgebackene Mama ihrer Tochter einen Kuss geben?« Ich beuge mich mit der Kleinen für einen kurzen Moment zu ihrer Mutter. »Sie hat sich mit dem Atmen ein bisschen schwergetan, aber jetzt ist alles gut. Wir bringen sie hoch auf die Intensivstation, wie besprochen, ja? Ich bin gleich wieder da und erkläre Ihnen dann in Ruhe alles Weitere …«

Machen Sie sich keine Sorgen, das wird schon.

Den letzten Satz denke ich nur. Denn versprechen tue ich es nicht. Auch wenn der Blick der Mutter förmlich darum fleht, nach der Sache mit Mauro verspreche ich nichts mehr.

2

Lídia ist sicher gleich da, ihre Sprechstunde endet um eins. Sie zu treffen, löst in mir eine Welle der Erleichterung aus. Nur wenige Minuten noch, dann lässt mich ihr ungezwungenes Geplauder in die Normalität eintauchen, genau das, was ich jetzt so dringend brauche. Denn Normalität ist nach diesem Urlaub das A und O, sie ist mein Rettungsanker.

Während ich in der lauten, hektischen Cafeteria des Krankenhauses auf sie warte, schiebe ich den Salat auf dem Teller hin und her. Der Geruch nach Fleischbrühe versetzt mich zurück in die Kantine der Schule, wo ich mir alles, was ich nicht mochte, in die Taschen stopfte und die Hähnchenschenkel an meine hungrigeren Mitschüler verhökerte. Der Kinderarzt riet meinem Vater damals, er solle mir Toast mit Honig zu essen geben und so den Kampf gegen den niedrigen Perzentilwert aufnehmen, den er auf den von mir so gefürchteten karierten Kurvenblättern mit dem Bleistift antippte. Honig wurde von da an zum festen Bestandteil meines täglichen Speiseplans. Nicht um mir die grauen Tage ohne meine Mutter zu versüßen, sondern einfach nur, damit ich zunahm.

Irgendwo habe ich mal von einem dreiundachtzigjährigen Hindu-Asketen gelesen, der über siebzig Jahre weder etwas gegessen noch getrunken haben soll. Wissenschaftler eines Forschungsinstituts des indischen Verteidigungsministeriums beobachteten ihn mehrere Wochen lang rund um die Uhr. Hinterher berichtete der Arzt, der die Studie leitete, dass der Mann mit Wasser nur in Berührung gekommen war, um sich zu waschen oder zu gurgeln, und schlussfolgerte, dass er seine Energie wohl aus anderen Quellen in seinem Umfeld schöpfte als aus Nahrung und Wasser, unter anderem aus der Sonne. Nach Ende der Untersuchungen kehrte der Yogi in sein Heimatdorf zurück, wo er weitermeditierte wie zuvor. Offenbar hatte eine Göttin ihn im Alter von acht Jahren gesegnet, damit er fortan ohne Nahrung leben konnte.

Nach Mauros Tod nahm ich geschlagene vier Tage lang nichts als Lindenblütentee zu mir, in den mein Vater höchstens ein wenig Honig vom Imker aus seinem Dorf geben durfte. Mir fehlte die Kraft, zu protestieren, und so ließ ich ihn gewähren. Ich weiß nicht, auf welche Wachstumskurve er es diesmal abgesehen hatte. Abermals bekam meine Trauer dadurch jedoch die Farbe von Bernstein.

Es waren apathische, unwirkliche Tage, der Schock füllte alles aus, für Hunger war da kein Platz. Ich erinnere mich, wie die Hand meines Vaters energisch den Holzstab drehte, damit seine Rillen den Honig aufnahmen, ohne dass es tropfte. Mein Vater ist ein Perfektionist. Dass ich keinen hölzernen Honigstab besaß, war ihm unbegreiflich. Er kaufte mir einen. Außerdem räumte er meine Besteckschublade auf und reparierte die Tür am Topfschrank.

Eine Woche lang blieben mein Vater und Lídia abwechselnd bei mir, und ich verlor jede Kontrolle. Sie füllten den Kühlschrank mit guten Dingen, die nach und nach schlecht wurden. Lídia kam immer mittags, um zu kontrollieren, ob ich auch ja etwas aß, und mir dabei ein wenig Gesellschaft zu leisten.

Alle in meinem Umfeld nahmen als gegeben hin, dass mein verstörter Blick, das vernachlässigte Äußere und die heruntergelassenen Jalousien in jenen Wochen von der Trauer herrührten, in die mich der Verlust des Menschen gestürzt hatte, der so viele Jahre mein Lebensgefährte gewesen war. Niemand kam auf die Idee, dass es außer dem Schmerz über Mauros Tod noch etwas anderes, schwer Fassbares gab, das allem, selbst dem Schmerz über den Tod, wie Schneckenschleim anhaftete, etwas so Widerwärtiges, dass es niemand sehen sollte. Auch ich fühlte mich dadurch wie tot, erstickt an dieser mir bislang fremden Scham, gemessen an der der Tod fast schon ein alter Bekannter war. Und bis heute frage ich mich, ob es einen Zusammenhang zwischen beiden Ereignissen gibt, ob mein Wissen um diese Frau irgendwie bewirkt hat, dass Mauro aus meinem Leben verschwand.

»Komm schon, Paula. Wenigstens die Banane. Du hast nichts gegessen.«

Ich blickte zu Lídia hoch und musste unwillkürlich lächeln, denn die Geschichte des Yogis fiel mir wieder ein. Mir lag schon der Scherz auf der Zunge, ich käme ohne Nahrung aus, weil mich eine Göttin gesegnet habe, verkniff ihn mir aber, als ich ihre besorgte Miene sah.

»Na los, wenigstens einen Bissen oder zwei.«

Ich saß auf dem Küchenstuhl, und sie stand neben mir. Wir hätten zwei Freundinnen sein können, bei irgendeinem Mittagessen in einer x-beliebigen Wohnung, in der es weder Liebesgeschichten noch tote Partner gab. Aber das Bild war verstümmelt. Und ich, könnte man meinen Schmerz umwickeln mit Gaze, wirkte darin wie eine Kriegsversehrte.

Lídia schälte akribisch die Banane. Gedankenverloren schaute ich ihr zu, und als sie mir die nackte Frucht mit spitzen Fingern reichte, sahen wir uns an und fingen an zu kichern.

»Nun iss schon.«

»Ich habe keinen Hunger, Lídia, ehrlich. Mir wird davon schlecht.«

»Wenigstens die Spitze …«

Wir mussten lachen, und ich spürte, wie meine Wangen vor Scham glühten. Mein Lachen wiegte sie in Sicherheit, nur deshalb lachte ich. Ich musste zuerst sie beruhigen, damit sie anschließend mich beruhigen konnte. Wer von einem Toten betrogen worden ist, weiß um Dinge, über die man besser schweigt. Etwa, dass man angesichts dessen seine innere Balance nur sehr schwer wiederfindet. Darum lachte ich, der Magen wie zugeschnürt, übernächtigt, schweißgebadet. Würde ich aufhören zu lachen und mit der ungeschminkten Wahrheit herausplatzen, würde Lídia augenblicklich zur Salzsäule erstarren, und die Neuigkeit würde sich unaufhaltsam ihren Weg bahnen. Auf einmal würde sein Tod, der die Welt zum Stillstand gebracht hatte, zur Nebensache werden, und für einen Moment würde sich alles nur noch um die schnöde, klischeehafte Untreue drehen. Aber wir lachten. Lídia lachte, und ich lachte mit, und dabei suchten meine Augen ihren Blick, um ihr so endlich all das sagen zu können, wofür ich keine Worte fand. Sie verstand es nicht. Dass der Kerl, der gestorben ist, einen unmittelbar vorher verlassen hat, lässt sich nicht einfach so von den Augen ablesen.

»Iss, Paula.«

Ich biss ein Stück von der Banane ab, damit sie endlich Ruhe gab.

»Wusstest du, dass der Mensch rund 20 000 Gene besitzt und Bananen 36 000?«

»Wie …? Was meinst du damit, Paula?«

»Dass Bananen 16 000 Gene mehr haben als Menschen.«

»Toll.« Mit einem mitfühlenden Blick strich Lídia mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Alles wird gut, Süße. Irgendwann kommst du darüber hinweg.«

Nein, dachte ich, tief in meinem Innern.

Und im nächsten Moment schmeckte der süße Bananenbrei, den ich kaum herunterbrachte, salzig.

»Wer bin ich?«

Von hinten hält sie mir die Augen zu. Ich drehe mich um, und wir umarmen uns. Lídia ist ein Wirbelwind mit blonden, von Silberfäden durchzogenen Locken und tausend Sommersprossen im Gesicht.

Zunächst schildert jede haarklein ihren ersten Arbeitstag, dabei fallen wir uns immer wieder übersprudelnd ins Wort. Dann rege ich mich darüber auf, wie weit der Umbau auf der Station ist, in der sie als Kinderärztin arbeitet, während ich nach wie vor in winzigen, schlecht beleuchteten Räumen arbeiten muss, die von viel zu schmalen Fluren abgehen. Überall da, wo es Besuchern und Patienten nicht gleich ins Auge fällt, werden die längst fälligen Sanierungsarbeiten ständig verschoben.

Mit schadenfrohem Grinsen streckt Lídia mir die Zunge heraus und setzt mich damit matt. In unserer Freundschaft sind wir einander noch nie ebenbürtig gewesen. Egal, um was es geht, immer gewinnt sie die Oberhand, und das habe ich von Anfang an akzeptiert. So wie ich akzeptiert habe, dass ich, vielleicht durch die Umstände, ein eher verschlossener Mensch geworden bin.

Lídia erzählt mir nun, wie enttäuscht sie von den Hotels waren, in denen sie auf ihrer Schottlandreise übernachteten – die Teppichböden schmutzig, das Essen ungenießbar, und wegen eines Reservierungsfehlers seien sie einmal in einem solchen Drecksloch gelandet, dass sie schließlich alle vier im Auto geschlafen hätten –, und als würden wir noch immer auf der Dachterrasse ihres Elternhauses für die Abschlussprüfungen lernen, halten wir danach die Arme aneinander und vergleichen, wer von uns beiden brauner geworden ist.

»Gut siehst du aus«, meint sie lächelnd. »Die Ferien sind dir bekommen.«

Ich lasse sie in dem Glauben, weil mir nicht danach ist, über mich oder die zwei Wochen bei meinem Vater in Selva de Mar zu reden. Die vermeintliche Harmonie des Lebens in dem abgeschiedenen Dorf nahe der Costa Brava, die Freude an den einfachen Dingen, die Ruhe, von der alle behaupteten, sie würde mir guttun, all das hat überhaupt nichts gebracht.

Seit dem Unfall war ich nicht mehr dort gewesen, und durch die Brille der Zeit betrachtet, kam mir der kleine Ort fremd vor: Die Kirche war größer, und die Gassen waren enger, die Glocken waren mir noch nie so laut und das Gelächter der Sommergäste auf dem Dorfplatz noch nie so ungeniert vorgekommen. Am Ende hatte ich die Nase gestrichen voll von dem ländlichen Frieden, von den melancholischen Klavierklängen meines Vaters, den Vögeln, die mich frühmorgens weckten, wenn ich gerade eingeschlafen war. Es nervte mich, dass es keine zuverlässige Internetverbindung gab und ich mich über einen Felsen beugen musste, um wenigstens ab und zu Empfang zu haben, und die Schachpartien mit meinem Vater nach den Mahlzeiten hingen mir ebenfalls zum Hals raus. Die hochgelobte Stille auf dem Land hatte nur dazu geführt, dass bei mir sämtliche Alarmglocken schrillten und die Fragen, vor denen ich in meinem ersten Urlaub ohne Mauro fliehen wollte, so laut wie noch nie in mir widerhallten.

Um aber nicht vor Lídia ins Klagen zu verfallen, versuche ich, mit vielen Fragen zu verhindern, dass sie mir welche stellt. Schließlich hat eine Mutter nach der Rückkehr von einer ereignisreichen Reise durch Europa mehr zu erzählen als eine alleinstehende Frau, die auf die geistreiche Idee gekommen ist, vierzehn Tage in einem winzigen, vom Tramuntana-Wind heimgesuchten Kaff zu verbringen, umgeben von flotten siebzigjährigen Rentnern, allesamt Freunde ihres Vaters.

»Und wie geht’s den Mädchen?«

»Puh, die Mädchen … Na ja, du siehst sie ja bald. Daniela war einfach unerträglich, ein Teenie, wie’s im Buche steht. Und Martina stand ihrer Schwester in nichts nach. Wenn die eine an den Pool wollte, wollte die andere an den Strand, das ging die ganze Zeit so.« Lídia schnaubt. »Ich schwöre dir, Urlaub mit Kindern ist die reinste Folter. Du kannst dir nicht vorstellen, wie oft mir in den Tagen der Gedanke gekommen ist, Toni mit den Mädchen weiterreisen zu lassen und zu dir ins Dorf zu fliehen, um mit dir tagsüber zum Nacktbaden und Sonnen an den Strand zu fahren und abends zusammen zu rauchen und zu trinken, statt mich mit der Zigarette in irgendeine Ecke verdrücken zu müssen.«

Warum hast du es nicht getan, frage ich mich augenblicklich, warum hast du mich so viele Tage allein gelassen? Die erwachsene Frau in mir weiß jedoch, dass Lídia verheiratet ist, Kinder hat, Verantwortung. Und darum lächelt die erwachsene Frau nur und sagt, so schlimm sei es bestimmt nicht gewesen, und dass sie sich darauf freue, die Mädchen zu sehen, sie habe ihnen T-Shirts gekauft. In Selva de Mar sei alles in Ordnung, wie immer, ihr Vater sei noch so robust wie eine Eiche, und zudem habe er den ganzen Tag am Herd gestanden, und sie habe deshalb mindestens drei Kilo zugenommen.

»Und sonst? Gab’s irgendwelche Verehrer im Dorf?«

Lídia mustert mich mit ihren blauen Augen. Ich glaube nicht, dass sie mit ihrer Frage auf konkrete Männer anspielt, sie will bloß etwas über meinen Seelenzustand in Erfahrung bringen.

»Ein ganzes Dutzend französischer Touristen.«

Ich zeige auf mich und breite die Arme aus, als wollte ich sagen: Hast du mich mal angesehen? Glaubst du, mir sei danach, mich mit irgendwem einzulassen?

»Na ja, ist auch besser so. Das mit Mauro ist noch viel zu frisch. Es ist noch nicht der richtige Zeitpunkt, Paula.«

Der Zeitpunkt wofür?, denke ich. Gibt es etwa ein Handbuch für Hinterbliebene, in dem die Frist festgelegt ist, nach der man wieder losziehen und flirten darf, ohne dass die Leute es schamlos finden? Aber die erwachsene Frau in mir nickt nur, während sie fein säuberlich alle Kirschtomaten aus ihrem Salat auf einer Seite des Tellers aufreiht.

 

 

 

 

Irgendwo habe ich gelesen, um im Langzeitgedächtnis gespeichert zu werden, muss Erlebtes wiederholt und assoziativ verbunden werden, weshalb es im Extremfall auch mal zu falschen Erinnerungen kommt. Und darum frage ich mich, wie ich dein Andenken so unversehrt und wahrhaftig wie möglich halten kann.

Es wäre viel leichter, wenn die Erinnerungen chronologisch hochkommen würden. Stattdessen blitzen wahllos einzelne Bilder auf, die es mir schwer machen, das Puzzle deines Wesens und deines Lebens richtig zusammenzusetzen. Genauer gesagt, deines Lebens mit mir.

Du konntest nähen. Du hast Knöpfe angenäht und Strümpfe gestopft.

Wenn du etwas nicht finden konntest und mich gerufen hast, damit ich dir beim Suchen half, hast du mich immer Pauli genannt. Ich mochte das nicht, aber das war dir egal.

Morgens nach dem Aufstehen musstest du immer dreimal niesen.

Und wenn deine Mutter anrief, veränderte sich der Klang deiner Stimme. Sobald du in diesem Kinderton »Mama« gesagt hast, habe ich mir die Schlüssel geschnappt und eine Runde um den Block gedreht, weil ich genau wusste, du würdest nachgeben, was auch immer sie von dir wollte.

Und dich umgab stets ein Geruch von Reinlichkeit. Auch ohne Eau de Toilette rochst du gut, nach lauwarmem Wasser und Seife.

Beim Zeitunglesen hast du immer Kekse gefuttert und sie dabei mit der Zunge gegen den Gaumen gedrückt. Einen nach dem anderen. Anfangs fand ich das amüsant. Doch mit den Jahren ermahnte ich dich immer wieder, du solltest nicht so viel Zucker essen.

Wenn ich dich berührte, bevor wir miteinander schliefen, durchlief dich jedes Mal im ersten Moment ein kaum merklicher Schauder, eine bittersüße Reaktion aus Lust und Aversion. Das wird nicht immer so gewesen sein, aber wie es am Anfang war, weiß ich nicht mehr.

Du hast mir unheimlich gern Schuhe gekauft. Ich habe es dir nie gesagt, aber du hast selten meinen Geschmack getroffen. Es tat mir leid, also zog ich sie an, um dich glücklich zu machen. Sie passten weder zu mir noch zu meinem Stil. Es waren Schuhe für eine andere Frau.

Und bevor du aus dem Haus gegangen bist, hast du mir immer einen Kuss auf die Stirn gegeben. Einen aufrichtigen, zärtlichen Kuss. Jedes Mal.

3

Ein Glas Mayonnaise. Zwei Flaschen Bier. Ein wabbeliger Strunk verschrumpeltes und von samtigem Schimmel überzogenes Gemüse. Zwei vor einer Woche abgelaufene Joghurts. Ich nehme mir einen. Ein fast leeres Glas bittere Orangenmarmelade und das Brummen des Kühlschranks. Das ist alles. Willkommen zu Hause.

Am Anrufbeantworter blinkt das rote Lämpchen. Nur eine Nachricht. Mein Herzschlag setzt für einen kurzen Moment aus … aber nein, sie kann nicht von Quim sein. Ich habe ihm meine Festnetznummer nicht gegeben. Und außerdem will ich daran glauben, dass er sich schicksalsergeben daran hält, was ich ihm geraten habe. Wenn man zu hören bekommt: »Halt dich von mir fern, wir tun uns nur weh«, ist das letztlich eine unmissverständliche Ansage.

Zugegeben, manchmal sehne ich ihn herbei. Hin und wieder flehe ich ihn nachts stumm an, er möge mich doch bitte anrufen, sich in irgendeiner Form melden. Eine Whatsapp, ein Foto, egal was, Hauptsache ein Lebenszeichen. Manchmal schlafe ich sogar mit dem Mobiltelefon in der Hand ein, nachdem ich stundenlang darüber nachgegrübelt habe, ob ich Kontakt zu ihm aufnehmen soll oder nicht und ob wir uns wirklich so sehr verletzen würden. In anderen Momenten verfluche ich mich wiederum selbst, dass ich immer noch an ihn denke, und kann es nicht fassen, dass in mir, mit zweiundvierzig Jahren!, ein Teenie voller Zweifel und Stimmungsschwankungen wie Phoenix aus der Asche emporgestiegen ist. Ich bin der Wankelmut in Person. Dabei hat Quim meinen Namen höchstwahrscheinlich längst vergessen.

Die Nachricht ist jedenfalls sicher nicht von ihm. Sie kann eigentlich nur von meinem Vater stammen. Nur seinetwegen wartet neben dem Fernseher noch immer stoisch dieser anachronistische Staubfänger. Mein Vater hinterlässt nicht nur Nachrichten, er spielt mir auch seine Klavierkompositionen aufs Band. Der Anrufbeantworter ist der Schrein für seine ellenlangen musikalischen Reliquien. Ganz gleich, wann ich heimkomme, stets verkündet mir das blinkende Lämpchen, dass es was zum Anhören gibt oder er wissen will, was ich von diesem oder jenem Stück halte. Meist ist es besser, ihn direkt zurückzurufen, sonst kann er ganz schön penetrant werden. Für manch unruhigen, unersättlichen Geist müsste der Ruhestand verboten werden.

Ich drücke auf den Knopf, und, wie erwartet, hallt seine Stimme durch den Raum. Ich höre zu, während ich zwischen zwei Löffeln Joghurt die Jalousien zur Terrasse hochziehe, um das Licht des späten Nachmittags hereinzulassen.

»Du solltest jetzt eigentlich schon zu Hause sein … Hoffentlich war nicht zu viel los auf der Autobahn. Als ich vorhin aus dem Café kam, habe ich Pepi getroffen. Ich soll dich schön grüßen. Sie meinte, wenn sie gewusst hätte, dass du hier warst, hätte sie uns mal besucht … Ah, Paula, übrigens, du hast den Biskuitkuchen vergessen, den Maria Rubiés gestern für dich vorbeigebracht hat … Also eigentlich wollte ich dir nur einen guten Start in der Klinik wünschen. Sonst war nichts weiter … Und iss was, hörst du? Küsschen.«

Ich stehe mit offenem Mund da, und mich überkommt plötzlich Ekel. Angewidert gehe ich in die Küche und werfe den Joghurt in den Müll. Vor meinem Aufbruch heute früh habe ich die Tupperdose mit Maria Rubiés’ Biskuitkuchen auf der Arbeitsplatte stehen sehen. Ich hatte sie sogar schon in der Hand, habe sie dann aber wieder zurückgestellt, weil der Behälter genauso muffig roch wie der Atem seiner Besitzerin.

»Wir müssen jetzt stark sein, Liebes. Im Gegensatz zu mir bist du ja auch noch jung. Du kannst noch mal ganz von vorn anfangen.«

Das waren ihre Worte gewesen, als mein Vater und ich am späten Dienstagvormittag bei ihr zum Kaffee waren.

Ich glaube, die Besuche meines Vaters bei Nachbarn, die krank sind oder einen Angehörigen verloren haben, entspringen seinem Bedürfnis, sich in dem Dorf, in dem er von Jahr zu Jahr mehr Zeit verbringt, weniger fremd zu fühlen. In Barcelona habe ich ihn so etwas nie tun sehen, außer natürlich bei Freunden oder im engsten Familienkreis. Allerdings verraten Kleinigkeiten noch immer, dass er aus der Stadt stammt: Er speichert die Verabredungen in seiner Kalender-App und macht sich für den Anlass besonders fein. So auch am Dienstagmorgen. Während wir draußen im Garten frühstückten, fing auf einmal sein Handy zu piepsen an. Er tupfte sich mit der Serviette die Lippen ab und sagte mit vollem Mund: »Maria Rubiés, um zwölf. Wir müssen uns sputen, wenn wir vor dem Kondolenzbesuch noch in Port de la Selva schwimmen gehen wollen.«

Ich sah ihn skeptisch an und erwiderte, ich würde nicht im Traum daran denken, ihn zu Senyora Maria zu begleiten, ich hätte in diesem Sommer wahrlich keinen Nerv dafür, jemandem mein Beileid auszusprechen, den ich zudem nicht mal kenne.

»Aber sie kennt dich. Und wenn du mitkommst, mache ich uns heute Abend Seeteufel mit Muscheln.«

In Selva de Mar weiß keiner, dass Mauro mich wenige Stunden vor seinem Tod verlassen hat. Auch mein Vater nicht, obwohl er mitbekommen hatte, dass wir eine »schwierige Phase« durchmachten.

Im letzten Herbst hatten wir einen heftigen Streit, weil ich Flugtickets für den Brückentag im November besorgt hatte, Mauro der Kurzurlaub aus beruflichen Gründen jedoch nicht passte. Ich maulte ihn an, er solle mir dann nicht vorwerfen, ich würde ihn nie überraschen, und im Nu lagen wir uns in den Haaren, aber so richtig, mit Geschrei und Türenschlagen. Er brüllte, fick dich, und ich, mit dir bin ich gefickt genug. Eine halbe Stunde später war ich mit meinem Vater verabredet, den ich zum Hautarzt begleiten sollte. Er musste sich am Rücken ein paar Muttermale entfernen lassen, und ängstlich, wie er ist, hatte er mich gebeten, ihn nach dem Eingriff – der im Übrigen völlig harmlos war – nach Hause zu bringen. Obwohl ich genau wusste, dass er mich nicht trösten würde, weil er dazu noch nie fähig gewesen war, ließ ich mich, während wir darauf warteten, dass er aufgerufen wurde, dazu hinreißen, ihm mit zittriger Stimme zu erzählen, bei Mauro und mir laufe es zurzeit nicht gut, ohne jedoch auf Einzelheiten einzugehen. Da brachte er den Spruch mit der schwierigen Phase: »Das ist nur eine schwierige Phase, Paula. Du wirst sehen, im Frühjahr hat sich alles wieder eingerenkt. So was hat jedes Paar mal durchzustehen.« Er klopfte mir noch zweimal auf die Schultern, und damit war die Sache für ihn erledigt. Ich musste innerlich über meine Naivität lachen und wünschte ihn und Mauro zum Teufel. Muttermale weg. Probleme weg. Alles neu macht der Mai.

Wenn wir uns nach all den Jahren getrennt hätten … mein Vater hätte sich so gegrämt, dass er vermutlich nicht gewusst hätte, wie er seinen Rentnerfreunden die Katastrophe beibringen sollte, eine Tochter jenseits der vierzig zu haben, die eine alte Jungfer zu werden drohte. Er brüstete sich liebend gern mit Sätzen wie: »Mein Schwiegersohn ist Verleger«, »Heute erscheint ein Interview mit meinem Schwiegersohn in der ›Vanguardia‹«, »Mein Schwiegersohn hat doch tatsächlich meine Kletterrose an der westlichen Hauswand wieder zum Blühen gebracht«. Die beiden verstanden sich bestens, und was die traditionelle Familie mit Trauschein anging, die Mauro und ich nicht waren und die wir, wenn es nach mir ging, auch niemals werden würden, waren sie auf einer Wellenlänge. Indem er ihn »mein Schwiegersohn« nannte, gehörte Mauro ihm ein Stückchen mehr.

»Paula ist für ein paar Tage bei mir. Mein Schwiegersohn ist tödlich verunglückt.« Dass Maria Rubiés mich kannte, ich sie aber nicht, konnte nur bedeuten, dass mein Vater keinerlei Hemmungen gehabt hatte, mich in seinem Bekanntenkreis als seine arme Paula einzuführen, die ihren Lebensgefährten bei einem Unfall verloren hatte. Vermutlich ist es manchmal leichter, über das Befinden einer Tochter zu sprechen, die einen schmerzlichen Verlust zu verwinden hat, als sich zu gewagten Thesen zu versteigen, die Paare von heute genössen enorm viele Freiheiten, hätten aber keinen Mumm, die Probleme aus der Welt zu schaffen, wenn es mal schlecht lief. Der Tod schafft aus der Welt, was eigentlich nicht wiedergutzumachen ist, und rückt alles ins beste Licht, unwiderruflich. Aus Mauro hat er einen Unschuldigen, fast schon einen Heiligen gemacht. Der Tod ist wie der Frühling. Alles neu macht der Mai.

Mein Vater und Senyora Maria unterhielten sich in knappen, altbewährten Floskeln. Es gibt eine eigene Sprache, um über den Tod zu reden, ein ganzes Repertoire an Phrasen, die sich zwischen Respekt und Scheu bewegen. Ich blieb derweil in der Küchentür stehen, um dem durchdringenden Geruch nach saurer Quitte und frisch geschnittener Salami zu entgehen, und wünschte mir beim Zuhören nur eins: dass der Kaffee endlich kochte. Vielleicht würde dann ja die Kanne explodieren, und wir könnten uns verdrücken, ohne an dem Tisch mit der klebrigen Wachstuchdecke Platz nehmen zu müssen, auf der sicher noch die Wurstfingerabdrücke von Senyora Marias totem Ehemann waren.

Es war der 26. August, und sie trug eine langärmelige schwarze Strickjacke, einen knöchellangen Rock und Winterpantoffeln mit Absatz, neben denen meine flachen Lederriemchen-Sandalen umso mehr betonten, wie sehr sich unsere Welten, wie sehr wir uns voneinander unterschieden. Ja, wir hatten beide unsere Lebensgefährten verloren. Aber wir fühlten nicht den gleichen Schmerz, auch wenn der Kummer uns scheinbar fest verband, so als wäre er ansteckend und würde sich, losgelöst vom Willen desjenigen, der einen geliebten Menschen verloren hat, eins zu eins übertragen. Doch mein Schmerz gehörte allein mir, und ich wollte sie nicht in seiner Nähe haben.

Ich weiß nicht, wie es dazu kam, jedenfalls saß ich auf einmal dann doch neben ihr und verdrängte den Gedanken an die Wachstuchdecke, deren Saum meine Oberschenkel streifte, als das Gurgeln der Espressokanne mir urplötzlich klarmachte, dass es kein Entrinnen gab. Senyora Maria erhob sich, schaltete bedächtig den Herd aus und holte drei winzige Tassen aus einem Büfettschrank mit verblasstem Furnier, und ein muffiger Geruch flutete in den Raum. Nur das Ticken der Küchenuhr durchbrach die Stille, als sie sich zu mir beugte, nah, viel zu nah, sodass ich die Augen schließen musste, und sagte:

»Wir müssen jetzt stark sein, Liebes. Im Gegensatz zu mir bist du ja auch noch jung. Du kannst noch mal ganz von vorn anfangen.«

Ich will nicht von Maria Rubiés mit ihrem Mundgeruch oder sonst irgendeiner Dorfmatrone behelligt werden. Ich will keinen Biskuitkuchen und schon gar keine Prognosen über meine Zukunft. Und sie soll mir auch wegbleiben mit ihrem unerschütterlichen Glauben an das Leben. Ich will unter keinen Umständen, dass sie sich mit mir identifiziert. Mein Schmerz gehört allein mir, und es gibt nur eine Maßeinheit, mit der er erfasst werden kann: das tiefe Wissen darum, wie sehr Mauro und ich uns geliebt haben. Dass es uns, so wie wir waren, nicht mehr gibt, und dass ich deshalb auf meine ureigene Weise um ihn weine.