Der Mond leuchtet in jeder Pfütze - Abt Muho - E-Book

Der Mond leuchtet in jeder Pfütze E-Book

Abt Muho

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Beschreibung

Lass los und sieh: Es füllt deine Hände! Abt Muho geht der Frage nach, worin Glück bestehen könnte. Wir alle haben es selbst in der Hand, hier und heute glücklich zu leben, doch dafür müssen wir lernen loszulassen - nicht zuletzt unser Streben nach Glück selbst. Anhand seiner bewegten Biografie und mit vielen Beispielen aus dem Alltag im Kloster stellt Muho die dafür nötige geistige Haltung vor und gibt praktische Tipps für ihre Umsetzung in verschiedenen Lebensbereichen. Er zeigt, wie uns die Praxis des Zen helfen kann, unseren eigenen Weg zum Glück zu finden. Muho hat viele Jahre das Zen-Kloster in Antaiji geleitet, ehe er sich 2019 dazu entschlossen hat, künftig mit seiner Familie in der Großstadt Ôsaka zu leben. Auch davon, von Abschied und Neubeginn, erzählt dieses Buch.

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© Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, Berlin/München 2020Der Text dieses Buches basiert auf dem Buch Zazen oder der Weg zum Glück, das 2007 im Rowohlt Taschenbuch Verlag erschien. Es wurde umfänglich überarbeitet, aktualisiert und um zahlreiche Passagen sowie ein neues Vorwort ergänzt.Die Übersetzungen der Zitate stammen vom Autor.Die Texte von Sawaki Kodo erschienen in An Dich. Zen-Sprüche (2002) und Zen ist die größte Lüge aller Zeiten (2005) im Angkor Verlag.Redaktion: Oliver KoboldCovergestaltung: zero-media.net, MünchenCovermotiv: FinePic®, MünchenSämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich der Berlin Verlag die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

 

Verstehst du nicht, dass du Frieden haben wirst, sobald du aufhörst, dafür zu kämpfen?

Aus dem Zen-en Shingi, einer chinesischen Sammlung von Klosterregeln aus dem 12. Jahrhundert

Inhalt

Cover & Impressum

Vorwort

Einleitung: Wenn nicht ich, wer dann?

Das Kloster in den Bergen

Erkennen, dass es an nichts fehlt

Ziegen, japanische Nudeln und kein Licht am Ende des Tunnels

Das Nirwana liegt im Diesseits

Wie begegnet man einem Ungeheuer?

Im Gefängnis ist es wenigstens warm

Hör auf, danach zu streben, glücklich zu sein

Zurück nach Antaiji

Das Leben ist wie der Atem, ohne Anfang und ohne Ende

Meditieren unter freiem Himmel

Und plötzlich stehst du da als Abt

Wir müssen bei uns selbst beginnen

Meditation – wie geht das?

Die Praxis des Zazen

Im Nebel des Satori

Man muss die Fackel weiterreichen, solange sie noch brennt

Das Lächeln des Mondes

Vorwort

Fünfzehn Jahre ist es nun her, dass mich die Anfrage erreichte, ob ich nicht Lust hätte, ein autobiografisches Buch über das Glück zu schreiben. Bei meiner Antwort konnte ich es mir nicht verkneifen, mit einem Zitat des japanischen Zen-Meisters Sawaki Kodo Roshi zu antworten: »Du suchst nach Glück und Frieden? Mach dir erst mal ordentlich Sorgen!« Wie zum Teufel war die Dame nur darauf gekommen, ausgerechnet mir dieses Thema anzutragen? Warum glaubte sie, ich könnte den Menschen auf ihrer Suche nach dem Glück etwas mitzuteilen haben, was sie noch nicht wussten?

Damals veröffentlichte ich regelmäßig kurze Artikel auf der Homepage unseres Klosters, des Klosters Antaiji in den japanischen Bergen. Meine sowohl auf Englisch als auch auf Japanisch verfassten Texte drehten sich allerdings nicht um Glück, sondern um die Opfer, die die Praxis des Zen-Wegs von jedem verlangt, der sich für ihn entscheidet. Die Zahl meiner Leser blieb überschaubar. Sie bewegte sich konstant im zweistelligen Bereich. Dennoch war ich schon einige Male gebeten worden, die Artikel auch auf Deutsch zu veröffentlichen. Aber dazu fehlte mir die Zeit. Überhaupt erschien es mir wichtiger, erst einmal die Werke des bereits erwähnten Sawaki Kodo Roshi auf Deutsch zugänglich zu machen. Von ihm, meinem Vor-Vor-Vor-Vorgänger im Amt des Abts von Antaiji, hatte ich viel gelernt. Es war mir ein Bedürfnis, seine Texte in meine Muttersprache zu übersetzen. Vielleicht würden sich auch deutsche Leser von ihnen inspirieren lassen können.

Zeit verging, aber der Gedanke, auch einmal meine eigene Geschichte in einem Buch zu erzählen, blieb. Die Idee reizte mich mehr, als ich mir anfangs eingestanden hatte. Ich gab mein Einverständnis. Warum eigentlich auch nicht? Philosophen, Hirnforscher, Psychologen, Ernährungswissenschaftler, Lifestyle-Gurus, Astrologen, sogar der Dalai-Lama – seit der Antike hatten sich schon viele am Thema Glück versucht. Jeder war davon überzeugt gewesen, die Antwort gefunden zu haben, nach der Generationen unglücklicher Menschen vor ihm oder ihr vergeblich gesucht hatten. Ich sah dieses anscheinend nie endende Jagen nach dem Glück durchaus kritisch. Vielleicht sollte ich ja gerade darüber schreiben?

Ich ließ mich auf das Wagnis ein, obwohl mich zu jener Zeit in Deutschland nur sehr wenige kannten, und die höchstwahrscheinlich von einem Dokumentarfilm mit dem Titel »Der Abt von Antaiji«, der in einigen dritten Programmen gelaufen war.

Das Buch Zazen oder der Weg zum Glück erschien schließlich im Januar 2007. Darin wechselten sich eher theoretische Überlegungen zum Thema Glück mit Kapiteln über mein bisheriges Leben ab: Kindheit und Jugend, Arbeit und Familie, die Praxis des Zen, die Liebe und das Leben im Kloster. Ich ließ nichts aus. Wenn ich das Buch heute zur Hand nehme, kommt es mir vor, als hätte ich beim Schreiben manchmal die Orientierung verloren und sei zu weit vom Weg abgekommen. Deshalb habe ich mich sehr gefreut, als mir der Berlin Verlag anbot, das Buch in einer von mir gründlich überarbeiteten und erweiterten Fassung neu aufzulegen.

Ich machte mich an die Arbeit. Manches hatte ich inzwischen in deutlich ausführlicherer Form in meinen beiden anderen Büchern erzählt (Ein Regentropfen kehrt ins Meer zurück, 2016, und Das Meer weist keinen Fluss zurück, 2018); diese Passagen konnte ich leichten Herzens streichen. Auch die Kapitel über meine Kindheit nahm ich mir vor. Sie erschienen mir nun regelrecht larmoyant. Als ich sie geschrieben hatte, waren meine Kinder noch ganz klein gewesen. Ich hatte, wie wohl jeder Vater, geglaubt, alles anders und vor allen Dingen besser machen zu können, als es mein Vater vermocht hatte. Die Jahre haben mich eines Besseren belehrt. Wahrscheinlich versteht man erst dann seine Eltern wirklich, wenn man sich dabei ertappt, dass man sich in einigen Situationen ganz genauso verhält wie sie.

Fast vollständig neu hinzugekommen sind meine Erinnerungen an die traumatischen Erlebnisse in einem Kyotoer Zen-Kloster der Rinzai-Schule. Als das Buch zum ersten Mal erschien, lagen diese Erlebnisse noch nicht lange genug zurück, um sie einigermaßen gelassen erzählen zu können. Selbst das wenige, das ich damals zu Papier brachte, kostete mich Mühe und verursachte Schmerz. Heute kann ich der Zeit in Kyoto sogar komische Seiten abgewinnen und mein damaliges Ich mit Selbstironie betrachten. Die Zeit ist über den damaligen Schmerz hinweggegangen.

Das Ende des Buches ist noch immer der Praxis des Zazen, der Meditation im Sitzen, gewidmet, denn sie steht nach wie vor im Zentrum meines Lebens. Bei der erneuten Lektüre erschienen mir meine alten Ausführungen dazu zwar nicht falsch, aber doch ein wenig dogmatisch. Damals schrieb ich, dass es beim Zazen ausschließlich um das Sitzen selbst gehe, nicht etwa um Entspannungs- oder Aufmerksamkeitsübungen. Auch Erleuchtung sei nicht das Ziel, schließlich gelte das Motto: Zen bringt nichts! Das war mein Standpunkt vor fünfzehn Jahren, und er ist es auch noch heute. Allerdings habe ich nun versucht, genauer zu erklären, warum es sich so verhält. Und ich gestehe mittlerweile auch gerne zu, dass Aufmerksamkeitsübungen durchaus den Zen-Einstieg erleichtern können, wie auch die eine oder andere kleine Erleuchtung entlang des Weges zum Weitergehen motivieren kann. Deshalb werden meine früheren Ausführungen nun flankiert von einem Kapitel über das kleine ABC der Meditation sowie einem Kapitel über die Erleuchtung, also über das, was im Zen »Satori« heißt.

Als dieses Buch zum ersten Mal veröffentlicht wurde, war ich Ende dreißig und noch nicht lange Abt von Antaiji. Heute bin ich Anfang fünfzig und stehe wieder vor einem Neubeginn. Mein Weg hat mich von den japanischen Bergen zurück in die Großstadt geführt, nach Osaka, wo ich mit meiner Familie lebe. Zwar bin ich nicht mehr, wie noch vor zwanzig Jahren, obdachlos, doch wie damals sitze ich nun seit einigen Monaten wieder unter freiem Himmel im Park, um zu meditieren. Bis vor Kurzem hat mich das Halten von Vorträgen und Leiten von Seminaren inner- und außerhalb Japans sehr viel Kraft gekostet. Schließlich waren da noch meine Verpflichtungen als Abt. Ich hatte Sorge zu tragen für die Klostergemeinschaft. In Zukunft werde ich mich all dem mit viel mehr Ruhe und Energie widmen können. Darauf freue ich mich. Zwar wird es den »Abt Muho« dann nicht mehr geben, aber durch diesen Schritt wird, so hoffe ich, nichts verloren gehen, sondern weiterhin vorhanden sein, nur anders und noch einmal neu.

Einleitung: Wenn nicht ich, wer dann?

Die Frage nach dem Glück wird vermutlich gestellt, seit es Menschen gibt. Was ist Glück? Wie lebt man ein glückliches Leben? Wie schafft man es, das Glück zu finden und dann auch nicht mehr zu verlieren? So viele große Denker haben sich schon mit diesem Thema beschäftigt, haben auch durchaus Antworten und Glücksrezepte gefunden. Aber leider widersprechen sich diese oft nicht nur gegenseitig, sondern bieten dann eben doch nicht den Königsweg zur Glückseligkeit. Auch im 21. Jahrhundert geht die Suche nach dem Glück deshalb unvermindert weiter – zumal in Deutschland, wo materieller Wohlstand, wie mir scheint, häufig mit Pessimismus und spiritueller Armut einhergeht.

Ich habe mir nicht vorgenommen, in diesem Buch endgültige Antworten zu geben. Woran so viele bereits gescheitert sind, das wird ganz sicher auch mir nicht gelingen. Doch ich möchte zumindest eine Art Kompass entwerfen, der dorthin weist, wo meiner Meinung nach das Glück verborgen sein könnte. Ausgangspunkt werden dabei meine eigenen Erlebnisse und Erfahrungen sein. Ich möchte aus meinem Leben erzählen, von meiner ganz persönlichen Suche nach dem Glück, die mich schließlich bis nach Japan geführt hat. Aber ich möchte auch allgemeine Überlegungen zum Wesen des Glücks und zu unserer Sehnsucht, es zu finden, anstellen. Letztlich haben sowohl die autobiografischen als auch die eher theoretischen Kapitel dasselbe Ziel: Sie sollen zeigen, dass das Glück niemals fern ist, sondern dass wir es oft längst schon in unseren Händen halten, ohne uns dessen bewusst zu sein.

Ich war sieben Jahre alt, als meine Mutter starb. Fortan verbrachte ich sehr viel Zeit allein. Ich begann zu grübeln und hörte viele Jahre nicht mehr damit auf. Die Fragen, die ich mir stellte, waren stets dieselben: Warum leben wir überhaupt, wenn wir doch alle sowieso sterben müssen? Wozu all die Anstrengung in der Schule, wozu die Hektik bei der Arbeit, wozu eine Familie gründen? Ist im Angesicht des Todes nicht sowieso alles sinnlos? Antworten erhielt ich weder von meinem Vater noch von meinen Lehrern. Die vertrösteten mich nur: »Irgendwann wirst du das schon verstehen, du kleiner Philosoph.«

Ich wurde den Verdacht nicht los, dass die Erwachsenen selbst vollkommen im Dunkeln tappten. Also dachte ich auf eigene Faust weiter. Wenn das Leben überhaupt einen Sinn haben soll, überlegte ich, dann kann der eigentlich nur darin bestehen, so viel Spaß wie möglich zu haben, ehe alles vorbei ist. Andererseits schien auf jedes noch so kleine Vergnügen eine neue Welle von Überdruss und Langeweile zu folgen, die die kurzen Augenblicke des Glücks und der Zufriedenheit einfach mit sich riss. Jeder Tag kam mir wie eine Ewigkeit vor, mein Leben erschien mir trist und freudlos. In der Pubertät dachte ich oft daran, mir das Leben zu nehmen. Schon der Gedanke, dass mir dieser Ausweg immer offenstehen würde, hatte etwas Tröstliches, wenn ich insgeheim auch wusste, dass ich niemals den Mut aufbringen würde, meine düsteren Pläne in die Tat umzusetzen. Zum Glück.

Mit sechzehn kam ich ins Internat. Einer der Lehrer dort leitete einen Meditationskurs »im Stil des Zen«, wie es hieß. Er lud auch mich ein, daran teilzunehmen. Ich hatte kein sonderliches Interesse daran. Fernöstliche Spiritualität genoss bei mir nicht gerade den besten Ruf. Ich hatte von einem Bhagwan in Indien gehört, der stets mit einem Rolls-Royce durch die Gegend fuhr. Das schien mir auf keine sehr erleuchtete Einstellung hinzuweisen. Also sagte ich ab, doch der Lehrer ließ nicht locker. Zwei Wochen später kam er wieder auf mich zu: »Willst du es denn nicht doch einmal ausprobieren?« Langsam roch es nach Sekte. Als ich erneut bekundete, kein Interesse zu haben, blieb er hartnäckig: »Wenn du es noch nie versucht hast, woher willst du dann wissen, dass es dich nicht interessiert?« Dieses Argument war schlagend. Ich wusste nichts mehr zu erwidern und ließ mich darauf ein, mir alles einmal anzuschauen – »aber nur ein einziges Mal!«. Daraus wurden drei Jahre, in denen ich kaum einen Termin versäumte. Am Ende leitete ich den Kurs sogar. Dass ich irgendwann in Japan zum Zen-Meister werden würde, hätte ich mir damals dennoch nicht träumen lassen.

Was hatte meine anfänglichen Zweifel zerstreut? Zuerst war es die eigentlich ganz selbstverständliche, mir aber doch wie eine Offenbarung erscheinende Erfahrung, über einen Körper zu verfügen. Hätte man mich, bevor ich mit der Meditation begann, gefragt, was mich ausmachte, worin mein Ich bestand, wäre mir sicher nur eine Antwort eingefallen: »Mein Hirn, das bin ich. Was auch sonst?«

Doch beim Meditieren auf dem Sitzkissen nahm ich zum ersten Mal bewusst meinen Atem wahr, das Schlagen meines Herzens und den Halt meines Rückgrats. Oft hatte man mich auf meine schlechte Körperhaltung hingewiesen, immer war es mir egal gewesen. Schließlich kam es doch ausschließlich auf die Welt in meinem Kopf an. Erst jetzt merkte ich, wie sehr ich mich getäuscht hatte. Mir wurde klar, dass sich das Geistige nicht davon trennen ließ, wie ich mit meinem Körper umging. Eine bestimmte Körperhaltung konnte meine Wahrnehmung der Welt verändern und dadurch auch mich selbst. Darüber wollte ich mehr erfahren. Ich besorgte mir Bücher über Zen. Zum ersten Mal begegnete ich der Geschichte des indischen Prinzen, der nicht König werden wollte. Er glaubte erkannt zu haben, dass das Leben in seinem Kern Leiden ist. Mir sprach dieser Jüngling aus der Seele. Heute kennt ihn jeder unter dem Namen Buddha.

Nach dem Abitur studierte ich in Berlin Japanologie. Während zweier Auslandssemester an der Universität in Kyoto lernte ich dann Antaiji kennen, ein Zen-Kloster in den japanischen Bergen. Ich glaubte, endlich am Ziel zu sein. Nach Abschluss meines Studiums bat ich den Abt, mich als Schüler anzunehmen und zum buddhistischen Mönch zu ordinieren. Er entsprach meinem Wunsch, und für kurze Zeit schien alles perfekt. Doch das Leben als Zen-Mönch gestaltete sich weitaus schwieriger, als ich es mir vorgestellt hatte. Beispielsweise hatte ich bis dahin noch nie körperlich hart gearbeitet, ja nicht einmal etwas getragen, das das Gewicht eines dicken philosophischen Wörterbuchs überstieg. Das rächte sich jetzt. Die Mönche in Antaiji versorgten sich selbst, und da ich nun einer von ihnen war, warteten auch auf mich Feld- und Bauarbeiten, Baumfällen und Holzhacken. Dazu kam der Küchendienst. Plötzlich stand ich, der gerade einmal Rühr- und Spiegeleier einigermaßen unfallfrei hinbekam, allein am Herd und musste für die ganze Mönchsgemeinschaft kochen.

Mehr als einmal packte ich meine Koffer, mehr als einmal blieb ich nur deshalb im Kloster, weil der letzte Bus des Tages, der mich von der Haltestelle am Fuß des Berges zurück in die Stadt hätte bringen können, schon abgefahren war. Ich teilte die Zeit in kleine, überschaubare Einheiten. Morgens sagte ich mir: Wenigstens bis zum Mittag versuche ich durchzuhalten. Und nach dem Mittagessen: Diesen Nachmittag werde ich noch schaffen. Dann wurde es wieder Abend, der Bus war einmal mehr schon weg, und ich hatte einen weiteren Tag im Zen-Kloster hinter mich gebracht.

Dass die ersten Jahre alles andere als glücklich verliefen, lag nicht nur an der körperlichen Arbeit. Auch an die strenge Hierarchie im Klosteralltag konnte ich mich nur schwer gewöhnen. Überhaupt erschien mir alles mühsam und letztlich sinnlos. Erst allmählich änderte sich meine Sichtweise. Ich begann zu begreifen, dass die Antworten auf meine vielen Fragen nicht irgendwo in der Zukunft auf mich warteten. Ja sogar, dass die Fragen sich an niemand anderes richteten als an mich selbst. Also lag es auch ganz allein an mir, sie zu beantworten. Wenn nicht ich es tat, wer dann? Wenn es nicht heute geschah, wann dann? Und wenn nicht an diesem Ort, wo dann? Diese Erkenntnis machte vieles leichter. Ich hatte verstanden, dass mein Weg direkt unter meinen Füßen begann und jeder einzelne Tag, jeder Augenblick und jeder Atemzug einen neuen Schritt auf diesem Weg bedeuteten. Gleichzeitig wurde mir aber auch klar, dass ich lernen musste, mich selbst ganz aufzugeben, um diesen Weg überhaupt beschreiten zu können.

Zehn Jahre nach meiner ersten Begegnung mit dem Meister von Antaiji übertrug er mir formell die Lehre, das heißt, er bevollmächtigte mich dazu, als eigenständiger Zen-Meister selbst Schüler annehmen zu können. Die letzten Worte, die er an mich richtete, lauteten: »Von nun an gehst du deinen eigenen Weg. Um das Kloster brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Wenn ich aber sterbe, dann komm zurück.« Ich glaube, dass mein Meister jedem seiner Schüler dasselbe gesagt hat – dass er zu diesem Zeitpunkt noch nicht entschieden hatte, wer einmal sein Nachfolger werden sollte, er aber dafür Sorge tragen wollte, dass einer seiner Schüler Antaiji weiterführen würde, wäre er selbst einmal nicht mehr in der Lage dazu. Keiner, außer ihm selbst vielleicht, konnte ahnen, wie schnell es dazu kommen würde.

Ich hätte nach Deutschland zurückgehen können, aber ich entschied mich dagegen. Ich hatte eine Idee, die ich gern in die Tat umsetzen wollte, und das ging nur in Japan. Ich wollte irgendwo in der Großstadt eine Zen-Gruppe gründen und Zazen, also die Sitzmeditation des Zen, praktizieren. Zazen spielt in der modernen, stark am Westen orientierten japanischen Gesellschaft kaum eine Rolle. Nur in wenigen, noch dazu weit abgelegenen Priesterseminaren haben die Japaner heute überhaupt noch Gelegenheit, an der Praxis der Zen-Mönche teilzunehmen.

Für mich bedeutete mein Vorhaben, eine Schuld zu begleichen. Ich wollte all das, was ich gelernt hatte, an andere weitergeben. Also schlug ich buchstäblich meine Zelte in Osaka auf, und zwar im Zentrum dieser Millionenstadt, im Schlosspark. Dort lebte ich gemeinsam mit Hunderten von Obdachlosen, die ebenfalls ihre Planen zwischen die Bäume gespannt hatten. Morgens meditierte ich zwei Stunden lang mit jedem, der mitmachen wollte, danach ging ich betteln oder übersetzte Zen-Bücher ins Deutsche.

Der Park war mein Zuhause geworden, als mich ein Anruf auf meinem Handy erreichte: Mein Meister war beim Schneeräumen tödlich verunglückt. Ich musste zurück nach Antaiji. Kurz darauf war ich verantwortlich für das Kloster und für die fünfzig Hektar Land, die zu ihm gehören. Als Abt hielt ich achtzehn Jahre lang die Tore für jeden offen, der mit mir den Weg des Zen gehen wollte. Dass dieser Weg der einzige ist, der zum Glück führt, will ich nicht behaupten. Vielmehr möchte ich in diesem Buch darüber nachdenken, ob es sich dabei überhaupt um einen Weg zum Glück handelt und nicht doch viel eher um ein Loslassen, Sich-Öffnen und Übernehmen von Verantwortung.

Das Kloster in den Bergen

Dem Weg des Glücks zu folgen bedeutet, dir selbst zu folgen. Dir selbst zu folgen bedeutet, dich selbst zu vergessen. Dich selbst zu vergessen bedeutet, dem Glück in jedem einzelnen Ding zu begegnen.

frei nach Dogen, dem Begründer des japanischen Zen, 1200–1253

Braunschweig 1986. Kalter Krieg. Tschernobyl. Ob es die Menschheit bald noch geben würde, wusste ich nicht. Aber was ich für den Rest meines Lebens tun wollte, das wusste ich: Zen. Von meinen anderen Interessen – Mathematik, Physik oder Informatik – erwartete ich mir nicht mehr viel, was die Rettung der Welt betraf. Fast noch weniger traute ich ihnen zu, mir die Antworten auf meine Fragen geben zu können. Warum sollte ich also meine Zeit an der Uni verschwenden? Warum sollte ich nicht sofort ins Zen-Kloster gehen?

Während der Sommerferien war ich zum Friseur gegangen, zum ersten Mal seit fast drei Jahren. Mich von meinen hüftlangen Haaren zu trennen, fiel mir nicht schwer. Am ersten Schultag nach den Ferien forderte die Klassenlehrerin mich prompt auf, meinen Namen zu sagen und mich den anderen vorzustellen. Sie hielt mich für einen neuen Schüler. Und im Grunde war ich das ja auch. Meine Mitschüler zeigten sich amüsiert. Ob ich nun vom »Müsli« zum Skinhead konvertiert sei, fragten sie spöttisch. Was wussten sie schon. Nach zwei Jahren Meditation war es höchste Zeit gewesen, mich auch äußerlich auf ein Leben als Mönch in Japan vorzubereiten.

Viele wollten es mir ausreden. Aber alle Argumente prallten an mir ab. Dennoch wollte ich mich bei jenem Lehrer rückversichern, der mich damals zur Teilnahme am Meditationskreis überredet hatte. Seine Meinung war mir wichtig. Ich war mir sicher, dass er mich verstehen würde, schließlich verdankte ich ihm die Begegnung mit Zen. Aber ich hatte mich geirrt. Auch er riet mir davon ab, die Dinge zu überstürzen: »Du solltest auf alle Fälle erst eine Berufsausbildung machen. Dann hast du eine Alternative, falls es mit Zen nicht klappt. Zu viele Leute enden im Zen-Kloster, weil ihnen sonst keine Tür offensteht.«

Ich war verblüfft. Dass sich jemand zum Rückzug ins Kloster entschließen könnte, weil er keinen Beruf für sich fand, es mit der Liebe nicht klappte und ihm auch sonst die Welt nicht gerade Freund war – das überstieg meine Vorstellungskraft. Erst jetzt merkte ich, dass ich Zen-Mönche hemmungslos idealisiert hatte. Der Dämpfer kam daher zur rechten Zeit. Auch die Frage einer Freundin stellte mich bloß: »Willst du etwa von der Pubertät direkt zur Erleuchtung gelangen?« Sie hatte recht. Ich war zu naiv gewesen. Wahrscheinlich war es doch besser, erst einmal Japanisch zu lernen und meinen Abschluss an der Uni zu machen.

In Berlin studierte ich dann neben Japanologie auch noch Philosophie und Physik. Eines der Bücher, die damals schwer in Mode waren, trug den Titel Das Tao der Physik. Wie der Autor Fritjof Capra hing auch ich dem Glauben an, dass sich die Elementarteilchen auf ihren Bahnen nach jenen Regeln bewegen mussten, die bereits Buddha oder Lao-tse vor Jahrtausenden gelehrt hatten. Das Physikstudium machte mir Spaß, dennoch brach ich es nach dem Vordiplom ab. Daran konnten auch die guten Berufsaussichten nichts ändern. Die Physik hatte einfach zu wenig mit mir selbst und meinen Plänen zu tun.

Auch in Berlin träumte ich davon, irgendwann einmal als »richtiger Zen-Mönch« zu leben. Ich nahm regelmäßig an den Treffen einer Gruppe teil, die sich zur Zen-Meditation traf. Aber das reichte mir nicht. Ich musste nach Japan. Im Frühjahr 1990 ergab sich endlich die ersehnte Gelegenheit. Ich würde für ein Jahr an der Universität in Kyoto studieren können. In Kyoto, dem Mittelpunkt des japanischen Zen! Dort musste das Paradies auf Erden sein, dachte ich, als ich aufbrach. Meine Erwartungen wurden schnell enttäuscht. Weder an der Uni noch in Kyoto selbst wurde in Sachen Zen viel geboten. Daran hat sich auch bis heute nichts geändert. Zwar gibt es in Kyoto mehrere Haupttempel der Zen-Schule, aber als Außenseiter ist man dort nicht willkommen – es sei denn, man reist als Tourist und zahlt eine kleine Gebühr, um einen der berühmten Steingärten bewundern zu können.

In Japan wird Zen wie eine Ware behandelt, und die Zen-Mönche sind die Händler, die mit ihr Geschäfte machen. Auch existieren nur wenige offene Zen-Gruppen, die sich zudem so unregelmäßig treffen, wie es in einer deutschen Großstadt undenkbar wäre. Bezeichnenderweise erfuhr ich erst nach Wochen und durch einen Zufall, dass es sich bei dem Professor, der mich betreute, um einen waschechten Zen-Priester handelte. Darauf wäre ich nie gekommen, denn ich sah ihn stets in Anzug und Krawatte, und an der Uni versuchte er, den Studenten Immanuel Kants Transzendentalphilosophie näherzubringen.

Aber es gab einen Zufluchtsort für mich. In einem kleinen Tempel namens Shorinji, der eine Stunde außerhalb Kyotos lag, konnte ich jeden Monat an einem fünftägigen Sesshin teilnehmen. Sesshins sind intensive Tage der Praxis, an denen von vier Uhr morgens bis neun Uhr abends Zazen, also Sitzmeditation, auf dem Plan steht. Jede Stunde wird das Zazen vom sogenannten Kinhin kurz unterbrochen. Kinhin, das bedeutet Zazen in der Bewegung. Zehn Minuten lang schreitet man schweigend und im Rhythmus des eigenen Atems ein Viereck in der Halle ab. Bei jedem Atemzug geht man einen kleinen Schritt nach vorn. Die »Bewegung« hält sich also in Grenzen. Ansonsten werden die langen Stunden des Sitzens und Gehens nur unterbrochen, um zu essen oder die Toilette aufzusuchen.

In Deutschland hatte ich bereits an einigen Sesshins teilgenommen. Ihre Intensität ließ sich aber nicht mit dem vergleichen, was ich nun erlebte. Die Sitzungen daheim hatten jeweils kaum länger als eine halbe Stunde gedauert, und mehrmals am Tag waren längere Pausen eingelegt worden, für ein Sonnenbad im Garten oder sogar ein Nickerchen. Über Besucher hatten sich die Organisatoren dieser Sesshins nie beklagen können. Manchmal musste für die vielen Interessierten sogar eigens eine Turnhalle angemietet werden. Im Shorinji konnte ich die Teilnehmer dagegen an einer Hand abzählen. Wir waren zu viert. »Wann kommt der Rest?«, fragte ich den Priester. »Von welchem Rest sprichst du?«, fragte er zurück. »Auch wenn wir Hunderte von Praktizierenden hier hätten – deine Praxis könnten sie dir nicht abnehmen.«

Es gab noch einen weiteren Unterschied. In Deutschland waren die Teilnehmer zwar gebeten worden, während des Sesshins möglichst wenig zu reden. Doch dafür saß der Leiter mit dem Gesicht zum Raum, um den Meditierenden jederzeit Anweisungen oder Hilfestellungen geben zu können. Vormittags wurden begleitende Vorträge über die Lehre des Zen angeboten, und abends, wenn alle müde waren, erhielt man noch eine kleine Weisheit als Betthupferl. Immer wieder hatte man uns gesagt, dass sich Zen nicht in Worten ausdrücken lasse, doch es waren genau diese Worte, nach denen sich viele von uns sehnten. Im Shorinji herrschte dagegen vom ersten Morgen an eisernes Schweigen. Am Vorabend hatte man mir lediglich gezeigt, wo ich zu sitzen hatte, das war aber auch schon alles an Erklärung gewesen. Also saß jeder in einer anderen Ecke der weiten Halle, und auch der Priester hatte sein Gesicht zur Wand gerichtet.

Obwohl ich mich nicht für einen Anfänger hielt – schließlich hatte ich schon sechs Jahre Erfahrung mit dem Sitzen –, ging ich bei diesen Sesshins durch die Hölle. Nicht nur die Schmerzen in den Beinen schienen über alle Grenzen des Erträglichen hinauszugehen. Mehr als einmal glaubte ich auch, beim Starren auf die Wand langsam verrückt zu werden und ausrasten zu müssen. Trotzdem war es genau die Art Prüfung, auf die ich gewartet hatte. Wenn es für mich überhaupt einen Weg zu einem sinnerfüllten Leben gab, dann musste er durch diesen Abgrund führen, davon war ich überzeugt.

Während der Sommerferien wollte ich deshalb zwei Monate in Shorinji verbringen. Neuling, der ich war, ging ich davon aus, dass mir die anderen Bewohner dann schon zeigen würden, wie das Leben in so einem japanischen Zen-Tempel ablief. Geleitet wurde er zu dieser Zeit von einem Meister namens Okumura Shohaku, der heute einem wichtigen Zen-Zentrum in den USA vorsteht. Der Meister würde mir sicher wertvolle Hinweise geben können, wie ich zu meditieren hatte, welche Arbeiten im Tempel zu verrichten waren, wie man buddhistisch kochte, und, wenn ich ganz viel Glück hatte, vielleicht sogar auch, wie man Erleuchtung erlangte. Welch ein Irrtum.

Wenn du nach Glück suchst, läufst du zunächst deinem Glück davon. Erst wenn du diesen Augenblick als dein Glück erkennst, wirst du eins mit dir sein.

Dogen

Dabei fing alles recht vielversprechend an. Schon am ersten Tag wurde ich zu Hans, einem Schweden, in die Küche geschickt, um ihm zu helfen. Ich hatte keine große Ahnung vom Kochen, daher freute ich mich darauf, etwas Neues lernen zu können. Doch Hans war selbst erst eine Woche zuvor im Shorinji angekommen. Die schwüle Juli-Hitze setzte ihm sichtlich zu. Ständig beklagte er sich über das Fehlen einer Klimaanlage. Und dann war da ja auch noch die junge Frau aus Tokio, die ihm ihre Telefonnummer gegeben hatte und die er nicht mehr aus dem Kopf bekam. Er redete fast ununterbrochen von ihr.

Drei Tage später war Hans weg. Einfach verschwunden, bei Nacht und Nebel, auf der Suche nach seiner Liebe und nach kühlerer Luft. Okumura nahm es gelassen. »Jetzt warst du ja schon einige Zeit in der Küche«, sagte er zu mir. »Die nächsten zehn Tage kommst du auch allein zurecht, oder?« Natürlich traute ich mir das nicht zu. Traditionsgemäß hat der Koch eines der wichtigsten Ämter in einem Zen-Tempel inne. Es erfordert nicht nur technisches Können, sondern auch geistige Reife. Beides fehlte mir. Doch Okumura zuckte nur mit den Schultern: »Hast du denn noch nie gehört, dass Zen bedeutet, sich selbst auf den Grund zu gehen? Du kannst nichts von Buddha lernen, wenn du nicht erst einmal von dir selbst lernst. Alles, worum es geht, bist du selbst, und mehr habe ich dir nicht beizubringen.«

Ende der Leseprobe