Der Mond über Jerusalem - Dori Pinto - E-Book

Der Mond über Jerusalem E-Book

Dori Pinto

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Beschreibung

In Jerusalem herrscht Aufbruchstimmung – die Wirtschaft boomt, der Frieden mit Palästina scheint möglich, und im Fernsehen läuft der Countdown zum Start der Apollo 11. Es ist der 16.Juli 1969. Während eines einzigen Tages, an dem Weltgeschichte geschrieben wird, gehen fünf Menschen in Jerusalem ihrem Alltag nach. Auf den ersten Blick haben sie nichts gemein, und doch sind ihre Leben miteinander verknüpft. Da gibt es den siebenjährigen Charlie, dessen Mutter den Tod seines Vaters nie überwunden hat; Said, ein stummer Müllmann; die junge kanadische Englischlehrerin Beth, die ihren Eltern entfloh; Hans, der Deutsche, der dem Holocaust entkam; und der Schreiner Baruch, der als Kind aus Mostar floh. Für sie alle ist Jerusalem eine Zuflucht. Als die Mondlandung gelingt, ist das ein großer Schritt für die Menschheit, und doch nur ein kleiner für die Menschen auf der Erde.

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Seitenzahl: 426

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INHALT

» Über die Autorin

» Über das Buch

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» Impressum

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» www.keinundaber.ch

ÜBER DEN AUTOR

Dori Pinto, geboren 1958 in Jerusalem, studierte Politikwissenschaft, Jura sowie Literaturwissenschaft an der Universität Tel Aviv und war der öffentliche Verteidiger des Bezirks Jerusalem. Der Mond über Jerusalem ist sein erstes Buch und wurde 2020 mit dem Sapir-Preis für das beste Debüt ausgezeichnet.

ÜBER DAS BUCH

In Jerusalem herrscht Aufbruchstimmung: Die Wirtschaft boomt, der Frieden mit Palästina scheint möglich, und die erste bemannte Mondlandung steht kurz bevor. Es ist der 16. Juli 1969. Während eines einzigen Tages, an dem sich die Welt verändert, gehen fünf Menschen in Jerusalem ihrem Alltag nach. Da gibt es den siebenjährigen Charlie, dessen Mutter den Tod seines Vaters nie überwunden hat; Said, einen stummen Müllmann; die junge kanadische Englischlehrerin Beth, die gegen ihre Eltern rebelliert; Hans, den Deutschen, der dem Holocaust entkam; und den Schreiner Baruch, der als Kind aus Mostar floh. Scheinbar haben sie nichts gemeinsam, doch für sie alle ist Jerusalem eine Zuflucht. Als schließlich die Mondlandung gelingt, ist das ein großer Schritt für die Menschheit, und doch nur ein kleiner für die Menschen auf der Erde.

 

Für Tami

 

Die Bewegung des Mondes, wie wir sie am Himmel sehen, beruht auf vielen Bewegungen von ihm und der Erdkugel. Diese komplexe Bewegung ist derart kompliziert, dass frühere Astronomen nicht immer im Voraus zu berechnen wussten, wo am Himmel der Mond ein Jahr später stehen würde. Alle diese Bewegungen zusammen erzeugen das Phänomen, das als Libration oder Taumelbewegung bezeichnet wird.

    Die Welt der Kultur – Illustrierte Enzyklopädie (1965)

I

EINSONNENSTRAHLDURCHSOSTFENSTER

1

Ein grauer Rabenvogel startete bei Sonnenaufgang vom Wipfel eines hohen Eukalyptusbaums neben dem alten Bahnhof. Er segelte gemächlich gen Süden entlang der großen Straße und landete auf dem breiten steinernen Dachgeländer eines Gebäudes mit grün verzierter Front. Der Rabenvogel hüpfte auf der Brüstung hin und her, stieß sich dann kräftig von der rauen Fläche ab und flog weiter.

Ein überquellender Mülleimer stand zwischen dem blauen Tor des öffentlichen Schwimmbads und dem geschlossenen grünen Hoftor eines Restaurants, das auch jetzt, frühmorgens, noch von einem Hauch nach gebratenem Fleisch und Zwiebeln umwabert war. Der Rabenvogel legte die Flügel an, reckte den Hals, tauchte durch eine Wolke von Fliegen, die über dem Mülleimer schwirrten, schnappte sich mit seinem starken, schwarzen Schnabel ein schwabbelndes Stückchen Fleisch und schoss schräg in die Höhe. Mit einem Flügel streifte er beinahe die Mauer des Schwimmbads, auf der eine rote Schmiererei prangte.

Er flog erneut die Straße entlang, jetzt jedoch in die Gegenrichtung, zurück zum Nest. Etwa in der Mitte des Weges wich er, vielleicht eines leichten Luftzugs wegen, ein Stückchen nach Westen von seiner gewohnten Sommerstrecke ab und überquerte einen großen, von Furchen durchzogenen Garten. Ihn suchte er normalerweise nur an kühlen, grauen Frühwintertagen auf, wenn er feuchte Samen aus der losen Erde picken konnte. Der Rabenvogel kreiste über einer mit hohen Disteln bewachsenen Ecke des Gartens und landete auf der Spitze einer der Zypressen, die ihn umstanden. Der biegsame, dünne Zweig schwankte mit ihm auf und ab.

Gegenüber, jenseits des ramponierten Drahtzauns, der den Garten auf der anderen Seite begrenzte, befand sich ein lang gezogenes Steingebäude, und dort im zweiten Stock, auf dem leicht abschüssigen Boden eines kleinen Balkons, saß ein Kind mit nacktem Oberkörper. Der Junge trug kurze Hosen. Seine Oberschenkel steckten zwischen den Stäben des Eisengeländers, die Waden baumelten in der Luft, und seine nackten Füße wippten ein wenig vor und zurück, vor und zurück. Die Augen des Kleinen waren geschlossen, der Kopf hing nach vorn, und das zarte Kinn ruhte auf der Brust. Inmitten des Haarwirbels auf seinem Schädel zeigte sich ein verletzliches Stückchen Kopfhaut, von violett-rosa-grün-blau schimmernden Äderchen durchzogen, sehr ähnlich den Fasern des Fleischstücks, das der Rabenvogel im Schnabel hielt. Die Blätter eines schlappen, verstaubten Strauchs, den man in einer Gartenecke gepflanzt hatte, zeigten feine Linien beginnenden Welkens.

Der Rabenvogel hob vom Wipfel der Zypresse ab, schwebte lautlos über die Furchen des Gartens und landete auf dem eisernen Balkongeländer, über dem Kopf des Jungen, dessen geschlossene Augenlider plötzlich flatterten. Auf dem Boden hinter ihm marschierten zwei Ameisenkolonnen in entgegengesetzte Richtungen. Ihre Rücken schillerten in einer Fülle von Braun- und Orangetönen. Aus der Wohnung erklangen ruhige Atemzüge, hin und wieder unterbrochen durch einen kurzen Seufzer. Das Kinn des Jungen sank noch tiefer auf die Brust, und er murmelte: »Charlie, Charlie.«

Der Rabenvogel flatterte mit bebendem Hals und heftigem Flügelschlag vom Geländer auf und setzte seinen Weg nach Norden fort.

Über dem Bahnhof angelangt, begann er die erste der beiden Runden, die er dort gemeinhin drehte, bis er wieder zu seinem Nest auf dem Wipfel des mächtigen Eukalyptusbaums abtauchte. Die kurzen Federn an seinem gestreckten Hals richteten sich auf. Am südwestlichen Ende des klaren Himmels schwebten ein paar hellgraue, fast durchsichtige Wolken. Die Flügelbewegungen verlangsamten sich, als hätten sich ihre Federn mit Regenwasser vollgesogen. Als er die zweite Runde beendete, hatten sich die leichten Wolken schon fast vollständig verzogen.

2

»Stumm, aber nicht taub, schön. Man hat mir erzählt, dass wir hier so einen haben.«

Der fleischige, sonnengebräunte linke Ellbogen des Fahrers ragte aus dem Fenster des Lastwagens Nummer siebzehn, über einem großen, verblichenen Wappen der Stadt Jerusalem auf der Tür. In seiner rechten Hand, die auf dem Lenkrad ruhte, hielt er ein Stückchen Pappe mit ausgefransten Ecken, beschriftet mit kleinen, ungelenken Druckbuchstaben in sechs Zeilen mit großem Abstand. Der Fahrer las laut vor:

Mein Name ist Said Mussa Salach. Ich arbeite bei der Stadt Jerusalem, Abteilung Müllabfuhr (man kann sich an Vizedirektor Aharon wenden, Telefon 34666). Ich bin stumm, aber nicht taub, und nicht beschränkt. Verstehe gut Hebräisch. Man kann mir Fragen stellen, und ich antworte mit Kopfbewegungen oder Gesten. Meine Anschrift ist Burj al Laqlaq, Bab Chuta, Altstadt (rechts vom Löwentor).

Der Fahrer studierte erneut die kurzen Sätze, wendete das graue Quadrat zwischen seinen Wurstfingern, um zu sehen, ob noch was auf der Rückseite stand, und gab es Said Mussa Salach zurück, der sich auf die Zehenspitzen stellte, den Arm hochreckte und nur mit Mühe die dicke Hand erreichte, die ihm lässig hingehalten wurde.

In Saids Hemdentasche steckte neben einem angespitzten halben gelben Bleistift noch ein quadratisches Stück Pappe mit einer ähnlichen Mitteilung auf Arabisch, aber dort standen Name und Telefonnummer von Muhamad Dib Abd Salim, Muchtar der Zigeuner.

Zwanzig Lastwagen parkten in Doppelreihe auf dem großen Platz. Das elektrische Licht der Straßenlaternen, die ihn umstanden, verblasste im erstarkenden Tageslicht. Die Motoren dreier Laster erwachten einer nach dem anderen, und aus ihren Auspuffrohren drangen schwarze Rußwolken. Die drei rollten langsam, schnaufend und ratternd zum eisernen Tor, das der Nachtwächter ihnen öffnete. Die anderen Fahrer warteten in ihren hohen Kabinen, bis die Müllmänner fertig eingeteilt waren.

Vor dem Fahrerbüro am Ende des Parkplatzes standen die Arbeiter, denen man noch keinen Müllwagen zugewiesen hatte. Sie würden auf ein Heck aufspringen müssen, selbst wenn sich der Gestank im Verlauf des Morgens immer weiter verschlimmerte. Die Arbeiter rauchten, gähnten und traten von einem Fuß auf den anderen, einige allein, andere in Grüppchen, Juden und Araber getrennt.

Ein schmächtiger junger Mann in einer Militärjacke ging zwischen ihnen umher, auf der Nase eine Brille mit breitem Gestell und in der Hand ein kleines Klemmbrett. An diesem Morgen fehlten ihm viele Arbeiter, und so musste er die übliche Einteilung völlig umkrempeln. Einige Müllwagen, wie der Laster Nummer siebzehn, dem Said zugeteilt worden war, würden heute Morgen mit nur einem Müllmann aufbrechen. Einige jüdische Arbeiter protestierten lauthals, andere unterstützten die Protestler mit leisen Worten oder beifälligem Brummen.

»Bechajat dinak – wir sind keine Kinder mehr.«

»Wenn wir doppelte Arbeit machen sollen, dann zahlt uns auch doppelten Lohn.«

»Noch so ein Tag, und hier bricht Streik aus, glaub mir.«

»Wo ist der Betriebsrat, wenn man ihn braucht.«

Nervös und unsicher klopfte der junge Mann in der Militärjacke mit dem Kugelschreiber in der einen Hand auf das Klemmbrett in der anderen und versuchte, der Lage Herr zu werden. »Du bist heute Nummer vier«, sagte er zu einem. »Ja, du bist allein, geht nicht anders, tut mir leid.«

Müllwagen Nummer siebzehn parkte in der zweiten Reihe, fern dem Fahrerbüro, aber die wütenden Proteste, das Klopfen des Stifts und die entschuldigenden Worte des Arbeitsverteilers erreichten klar und deutlich Saids Ohren, und er sah mühelos das Gesamtbild vor Augen.

»Das ist nur heute, dieses Durcheinander, morgen läuft alles wieder reibungslos. Ich werde dafür sorgen, glaubt mir, morgen holt man weitere Arbeiter.« Der junge Mann, der diese Aufgabe erst einige Tage zuvor übernommen hatte und von dem Said nicht mal wusste, wie er hieß, bemühte sich um einen bestimmten Ton, doch schließlich erstickte seine Zusage, und seine Stimme erstarb zittrig.

»Ja, ja, sicher, sie werden noch mehr Araber beiholen«, konterte jemand leise und wütend.

Said knöpfte seine Brusttasche zu und dachte sich, der neue Arbeitsverteiler schwitzte jetzt gewiss und nahm vielleicht auch wieder die Brille ab, um die dicken, beschlagenen Gläser mit dem Taschentuch zu putzen, wie eben, als er ihn, Said, zu diesem Laster schickte.

Weitere Müllwagen rollten langsam auf die Ausfahrt zu. Durch die Abgaswolken sah man am Heck ein oder zwei Arbeiter, die sich an den Lederschlaufen über ihren Köpfen festhielten. Auch Lastwagen Nummer sechs, der den Müll im Viertel Beit Hakerem abholte, passierte das Tor, hintendrauf nur der lange, schmale Josef, ein ewig wütender und wortkarger jüdischer Mann mit Pferdegebiss, den Said in den letzten Wochen begleitet hatte.

Peng! Peng!

Genau über seinem Kopf haute der Fahrer mit seiner Linken auf das Stadtwappen. Said beugte leicht den Oberkörper, um zu zeigen, dass er nicht taub war.

»Gut, also hör zu, Chabibi«, sagte der Fahrer energisch von seinem hohen Thron herab und fügte dann in normalem Ton, gewissermaßen in Klammern, hinzu: »Stumm, aber nicht taub und nicht beschränkt. Gut. Warum nicht. Hör zu, ja Chabibi. Du heißt Said? Dann hör mal, Said, hör mir gut zu, heute habe ich dich anstelle meiner beiden festen Müllmänner bekommen. Du kennst sie sicher, der Dicke und der Dünne, Dick und Doof, Muhamad und Imad. Gott weiß, was mit ihnen los ist, dass sie mich ausgerechnet heute im Stich lassen.« Der Fahrer schnippte mit den Fingern, sehr laut, er war offenbar geübt darin. »Die unternehmen sicher was gemeinsam, und morgen sagen sie mir mit Trauermiene, sie seien krank gewesen, als wären sie arme Trottel. Und dabei zwitschern sie die ganze Zeit wie alte Vögel und hecken weiß Gott was auf Arabisch aus.« Auf sein feistes Gesicht trat eine selbstzufriedene Miene wegen des klugen Spruchs, den er gleich sagen würde: »Vielleicht wollen sie Fedajin werden, ha? Ha? Was sagst du dazu, Said? Aber ehrlich gesagt, arbeiten sie fix, Laurel und Hardy.« Der Fahrer grinste noch breiter und lachte auf. »Was mich angeht, und hör jetzt gut her, mich interessiert das nicht, schert mich kein bisschen, dass du heute allein bist. Ich fahre mit derselben Geschwindigkeit, sogar schneller als an normalen Tagen. Hörst du mich? Verstehst du mich?«

Said bewegte das Kinn auf und ab. Ja, er verstand.

»Hörst du, mich interessiert nix, um halb zwölf sind wir durch mit der Deponie, und die Karre ist gewaschen. Um halb eins bin ich zu Hause, frisch geduscht, mit meiner Frau im Bett. Heute arbeitet sie nicht, hat Urlaub genommen. Wegen dem Mond, wo die Amerikaner hinfliegen. Nur für den Mond!« Er schüttelte ungläubig den Kopf. »Sie verpasst sonst nie einen Arbeitstag, und heute nimmt sie plötzlich Urlaub. Aber weißt du was? Vielleicht ist es gerade gut, dass sie heute daheimbleibt. Damit dieser Verrückte sie nicht überfällt, dieser Hurensohn, dem die Polizei auf den Fersen ist. Sie, hör zu, Chabibi, sie, meine Frau …«

Der Fahrer hustete und bremste sich.

»Du, ja Said, kannst dich meinetwegen an den Eiern kratzen. Hörst du?«

Said gab keine Antwort.

Der Fahrer hustete erneut, hob den Blick zu einem Punkt irgendwo über Saids Kopf und fragte: »Sag mal, Said, bist du verheiratet? Hast du eine Frau?«

Said beschrieb Dschamila gern die Fahrer. Alle hießen sie David oder Mosche, berichtete er ihr, und alle seien dick. Er genoss es, vor ihren blitzenden Augen die diversen Methoden nachzuahmen, mit denen die Fahrer den Arbeitern zeigten, wie schön und angenehm ihr Platz da oben in der Kabine doch war und wie elend die Lage der Arbeiter, die bei Hitze wie Kälte ewig dem weiterrollenden Laster nachrennen und die schweren, stinkenden Mülltonnen hineinkippen mussten: demonstratives Naserümpfen, eine neckische Gardine, Pfeife rauchen, genüssliches Ablegen der Jacke an einem kalten Wintertag hinter geschlossenem Fenster, Wedeln mit einem Damenfächer an einem glutheißen Chamsin-Tag, Lesen der Sportzeitung während der langsamen Fahrt.

Verheiratet oder nicht? Er könnte den Kopf von rechts nach links oder auf und ab bewegen oder die Frage ganz ignorieren, aber dann dachte der Fahrer womöglich, er sei doch taub oder beschränkt. Said begann, den Kopf verneinend zu schütteln. Der Fahrer feixte bereits zufrieden, doch dann änderte Said die Kopfbewegung abrupt, wobei er einen leichten Stich in der Kehle spürte.

»Heißt das ›ja‹? Warum eigentlich nicht, warum nicht, sachteen. Egal. Hör jetzt her, ja Chabibi, hör gut zu. Unsere Strecke ist ganz einfach. Die kürzeste Tour für den besten Fahrer.« Die leichte Verlegenheit, die Said kurz zuvor auf seinem feisten Gesicht entdeckt hatte, war völlig verschwunden.

»Also das ist so, hörst du? Emek Refa’im, in eine Richtung schnell, ruckzuck, bis zum Schwimmbad, die Tonnen schleifen. Dann noch ein Stückchen weiter bis zur Bahnschranke, und dann in Gegenrichtung, den Abfall ausschütten, alles schnell, verstehst du, was Schnelligkeit bedeutet? Ruckzuck. Du machst das fixgeschwind, obwohl du allein bist, verstehst du mich? Hörst du?« Der Fahrer steckte den Kopf aus dem Fenster und gesellte die rechte Hand zur linken, um die Route der Müllabfuhr in der Luft nachzuzeichnen. »Danach, hörst du, ja Said? Noch ein bisschen durch die Sträßchen beim Kino, du wirst kaum glauben, wie ich mit diesem Centurion dort manövriere wie mit einer Vespa, kann ich mit geschlossenen Augen, und dann machen wir dasselbe auf der halben Bethlehem-Straße und noch rund ein Viertel der Hebron-Straße, und fertig, ab nach Hause, zur Mülldeponie. Capito?«

Said bedeutete ihm mit dem Kopf, dass er kapierte.

»Jalla, jalla, Saidowitz, schade um die Zeit, spring hinten auf, ab gehts.«

Sein Zeigefinger war schon oft auf dem Stadtplan entlanggefahren, der im Fahrerbüro an der Wand hing, war die Beit-Safafa-Straße entlanggefahren – die Hauptstraße des Viertels, die die Juden jetzt Emek-Refa’im-Straße nannten. Obwohl es schon über zwei Jahre her war, dass sie auch den Ostteil der Stadt erobert hatten, waren Dschamila und er noch nicht dort hingegangen, um sich die Straße und das mit grünen Kacheln verzierte Haus anzuschauen, das Haus mit dem kleinen Dienstbotenhäuschen auf dem flachen Dach, in dem sie vom Frühjahr 1946 bis Frühjahr 1948 gewohnt hatten.

Rund eine Woche nach dem Antritt dieser Arbeit, die der Muchtar ihm beim Treffen mit dem Bürgermeister der Juden vermittelt hatte, hatte Said Dschamila das Fahrerbüro und den Stadtplan dort an der Wand skizziert, auf dem diese Hauptstraße ins Auge fiel, als sei sie in den letzten Jahren breiter und wichtiger als zuvor geworden. Auf einem anderen Blatt Papier hatte er zwei dunkle Strichmännchen gezeichnet, die ihre Gesichter von der Straße hoch auf die grünen Zierkacheln und noch höher zum Dach des Gebäudes richteten, wo im Erdgeschoss das Schreibwarengeschäft der Witwe Umm Ibrahim gewesen war. Sie hatte in einer der drei Wohnungen über dem Laden gelebt, in der zweiten ihr großer Sohn Ibrahim mit seiner Frau und in der dritten Anton, der ledige Jüngste, der zum Kunststudium nach Italien oder Frankreich fahren wollte und sein großes Zimmer – vollgestopft mit Leinwänden, Pinseln und Farben und in einer Ecke eine große Staffelei – »Atelier« nannte. Dschamila betrachtete die beiden Zeichnungen.

»Nein«, flüsterte sie und gähnte. Sie drehte sich um, ging zu ihrem Bett, schlüpfte unter die Decke, zog sie sich über den Kopf, und Sekunden später wechselte schon ihr Atemrhythmus.

In jener Nacht wachte er kurz vor drei Uhr auf und zog den Vorhang vor der Luke knapp unter der Zimmerdecke beiseite, durch deren Scheibe man das Pflaster der Gasse sah. Die Regenwolken vom Vortag hatten sich verzogen, und der Mond schien herein. Nachdem er seine Arbeitskleidung und darüber einen alten, braunen Pullover angezogen hatte, setzte er sich an den Tisch, nahm ein Schneidebrett und hackte rhythmisch vier Tomaten, drei kleine Gurken und eine Zwiebel. Er hatte Zeit genug, das Gemüse noch und noch zu zerkleinern, und schichtete die grünen, roten und weißen Würfelchen dann zu zwei gleich großen Haufen – den einen würde er Dschamila in einem verbeulten Blechtopf dalassen und den anderen in eine mit Olivenöl und Pfeffer präparierte Pita stopfen, die er in dem grauen Stoffsäckchen an den Haken am Heck des Lasters hängen würde. Der Stadtplan aus dem Fahrerbüro, den er für Dschamila gezeichnet hatte, lag zu seiner Rechten auf dem Tisch. Ein klitzekleines, fast durchsichtiges Zwiebelwürfelchen war von einem der Gemüsehügel herabgerollt. Said berührte es leicht mit dem Finger, und es rutschte in die Mitte der Skizze.

Vom Bett her kamen weiter Dschamilas ruhige Schlaflaute, aber als er hinblickte, sah er sie aufrecht dasitzen, die dunklen Beine untergeschlagen und das lange, dicke, hennarote Haar offen über ihre saubere, weiße Winternacht-Galabija fließen. Sie gab noch zwei künstliche Schlaflaute von sich, lächelte und deutete mit der Hand langsam ringsum auf die vier hellblau gestrichenen Wände. An der Wand hinter ihr, die zum Fundament der nördlichen Altstadtmauer gehörte, klebte ein altes Foto des Boxers Muhammad Ali, damals noch Cassius Clay, mit der Goldmedaille der Olympischen Spiele in Rom um den Hals. Nachdem Dschamila mit der Hand auf die vier Wände gezeigt hatte, verschränkte sie die Arme und blickte auf die geschlossene Holzkiste in der Zimmermitte. Ein arabisch-hebräisches und ein arabisch-englisches Wörterbuch lagen darauf, drinnen befanden sich eine fast leere Flasche Whisky, die hebräischen Zeitungen vom letzten Wochenende und ein paar Illustrierte aus Europa und Amerika mit glänzenden, bunten Seiten. Sie legte den Zeigefinger an die Nase, um den Gestank aus der offenen Gosse anzudeuten, die trotz aller feierlichen Versicherungen von der Stadtverwaltung der Juden noch nicht durch eine unterirdische Kanalisation ersetzt worden war.

Dann wies sie mit dem Finger auf ihre Arbeitsecke, wo sie jeden Tag auf dem kleinen Teppich saß und mit starken Farben die Holzquadrate bemalte, die sie bei der Schreinerei im Viertel Wadi Dschos aus dem Abfall auflas und samstags am Bab al-Chalil oder am Bab al-Amud an jüdische Ausflügler verkaufte. Wenn sie die Passanten anlächelte, legte sie die Hand über den Mund, um die Zahnlücke zu verbergen. Mit ausgestreckter Hand bat sie Said, auch an die Wohnung jenseits der dünnen Ostwand zu denken, wo eine große Domarifamilie, entfernte Verwandte von ihnen, lebte. Tagsüber kamen laute Stimmen von dort, aber jetzt hörte man nur ein Baby weinen. In sehr leisem Ton, um nicht zu dem weinenden Baby hinter der Wand durchzudringen oder zu jemandem, der vielleicht schon aufgestanden war, um es zu beruhigen, sagte sie: »Ich fühle mich wohl hier.«

Und um keinen Raum für Zweifel zu lassen, nickte sie dreimal leicht und schob die Unterlippe über die Oberlippe.

Der Laster fuhr schnell auf der leeren Straße. Said hob die Hand und packte mit sicherem Doppelgriff die Schlaufe aus rissigem Leder, die von der Eisenstange am Heck des Wagens baumelte. Der Fahrer bog scharf ab, und Said ließ seinen Körper schlaff an dem braunen Riemen hängen. Aus dem großen öffentlichen Park – Unabhängigkeitspark laut dem Schild am Eingang – kam ein Mann, der halb gehend, halb rennend von einem großen, schwarzen Hund mitgezerrt wurde. Als der Lastwagen die Kurve genommen hatte, gewann Said wieder festen Stand auf dem eisernen Trittbrett. Zu seiner Rechten erblickte er das YMCA-Gebäude, dessen Glockenturm von vielen Orten in der Stadt zu sehen war, und zu seiner Linken das King David Hotel. Die Jerusalem Post, die er einige Tage zuvor am Zeitungsstand am Bab al-Amud gesehen hatte, berichtete, man habe dort in der Gegend ein modernes Schwimmbad mit temperiertem Wasser eröffnet. Als er Dschamila an jenem Abend davon erzählte, hatte sie eine amerikanische Frauenzeitschrift, die er auf einem Zaun im Viertel Beit Hakerem gefunden hatte, aus der Kiste geholt und sie in der Mitte aufgeschlagen: Über zwei Seiten erstreckte sich das Foto von sieben Frauen in freizügigen Badeanzügen, allesamt schön und langbeinig, die breit lächelnd in einer Reihe standen. Die Mittlere hatte eine dunklere Haut, und Dschamila strich mit dem Finger über sie.

Die deutsche Kirche, am Anfang der Hauptstraße, sah genauso geschlossen und verlassen aus wie vor einundzwanzig Jahren. Der Fahrer verlangsamte die Fahrt erheblich und schlug mit der Hand an die Wagentür – jetzt gehts los.

Ehe sie das Gebäude mit den grünen Kacheln erreichten, war Said schon dreimal nach rechts und zweimal nach links abgesprungen, um die vollen Mülltonnen vom Rand des Bürgersteigs anzuschleifen. Als sie das Gebäude erreichten, verweilte er kurz auf die einzig mögliche Weise – ging zunächst auf die andere Straßenseite, zu den Tonnen am Zaun der Villa, in der bis 1947 ein hoher englischer Offizier mit seiner Familie gewohnt hatte. Dem blau-weißen Schild daran entnahm er, dass das stattliche zweistöckige Haus jetzt Teil einer Grundschule war. Von dem einstigen gepflegten Obstgarten war nichts mehr zu sehen. An drei Fronten der alten Villa war ein neues, helles Gebäude angebaut, das sie optisch verkleinerte. Said schleifte lärmend vier Tonnen zum Rand des Bürgersteigs. Der Fahrer hupte.

»Ahbal! Die Tonnen sind leer, das ist eine Schule hier, jetzt sind Ferien, lass sie stehen, geh zur anderen Seite, jalla, schnell-schnell, wir haben keine Zeit.«

Said schleifte die leeren Tonnen zurück an ihren Platz. Erst jetzt merkte er, dass sie tatsächlich leicht waren. Von einem Balkon rief ihm eine Frau zu: »Sag mal, hast du Spaß dran? Was denn, bist du taub? Lass uns schlafen. Unsere Nerven liegen sowieso schon blank.«

Er umrundete den Laster und überquerte die Straße. Das Gebäude mit den grünen Zierkacheln und auch das daneben, das sich nur durch die blaue Farbe der Kacheln von ihm unterschied – und durch die Apotheke anstelle des früheren Schreibwarengeschäfts –, waren beide fast unverändert. Der geschlossene metallene Rollladen des Geschäfts war nun mit einem rostigen Stück Blech geflickt, und neben dem Eingang zum Treppenhaus befand sich anstelle der einstigen Garage jetzt eine Konditorei. Über dem Schaufenster stand Konditorei Koch, und durch die Scheibe sah Said, dass die Garage, wo vor Jahren der große Ford geparkt hatte, unterteilt war – in das Ladengeschäft und einen Hinterraum, in dem jetzt Licht brannte.

»Beschränkt oder nicht, Chawadscha Said, nun beweg dich schon, wovon träumst du denn? Von den Kuchen? Jalla, Hapoel!«

Er schleifte zwei schwere, volle Mülltonnen an den Bordsteinrand. Der Laster fuhr an, und er rannte ihm nach, packte die Schlaufe, sprang aufs Trittbrett und blickte sich um. Durch die Lücke zwischen den beiden ähnlichen Gebäuden sah er noch ein oder zwei Sekunden lang die Südfront des Häuschens auf dem Dach, in dem sie einst gewohnt hatten – auf dem Dach und nicht im Keller –, aus deren kleinem Fenster sie die fernen Häuser des Dorfs Beit Safafa hatten sehen können, und weiter östlich, durch den schmalen Spalt zwischen einer Hauswand und einem Baum daneben, mit einiger Anstrengung auch die Züge, die im Bahnhof ein- oder abfuhren. Wenn Dschamila die Eisenbahn hörte, trat sie ans Waschbecken in der Zimmerecke, genau vor dem Fenster dort, und bedeutete ihm mit dem Daumen, sich hinter sie zu stellen, oder flüsterte einfach: »Komm.« Und er hatte sich an sie geschmiegt – als wolle er sich vergewissern, dass er genauso groß war wie sie, dass sich nichts verändert hatte, sondern alles in Ordnung war –, hatte sie um die Taille gefasst und hochgeschwungen, ihren Körper gespürt, ihren Duft eingesogen, von hinten betrachtet, wie ihr Nacken sich anspannte und rundete, und auch ohne ihr Gesicht zu sehen, gewusst, dass beim Tuten des Zuges ihre Nasenflügel bebten, ihr Kinn hervortrat und ihre Augen lachten.

Nichts mehr mit Wand und Fenster.

Der Gedanke, dass die dünnen, brüchigen Wände des Häuschens auf dem Dach wohl abgerissen oder eingestürzt waren und Dschamila mit Recht sagte, dass sie da nichts mehr zu suchen hätten, ließ ihm leichter ums Herz werden. Der Laster hielt an. Said sprang auf die Fahrbahn, aber statt zu den nächsten Mülltonnen zu gehen, machte er kehrt und blickte erneut zum Dach des Gebäudes empor.

Wand und Fenster waren noch da. Ein Baum, an den er sich nicht erinnerte, war in den vergangenen einundzwanzig Jahren in die Höhe gewachsen, über das Hausdach hinaus, und verdeckte die Südfront fast völlig. Said stellte sich auf die Zehenspitzen und reckte den Hals nach rechts und links. Der Rahmen des kleinen Fensters überm Waschbecken war immer noch mit der gleichen dunkelblauen Farbe gestrichen.

»Wo bleibst du, ja Said?«

Said ging zurück zum Heck des Müllwagens. Als er das Trittbrett bestiegen und die Lederschlaufe wieder ergriffen hatte, rückte er nach links, lehnte sich zur Seite, und in dem großen Außenspiegel begegneten seine Augen denen des Fahrers, die tief in dessen feistem Gesicht lagen. Mit einem Auf und Ab des angewinkelten Ellbogens, einer Geste, die er an seinem ersten Arbeitstag hier gelernt hatte, signalisierte er dem Fahrer: »Los, los.«

3

Donnerstag früh – an seinem fünfundsechzigsten Geburtstag und seinem ersten Tag in Rente – erwachte Chaim Zemach in seinem breiten Bett. Es nahm fast die Hälfte des Häuschens mit einem Zimmer ein, das kaum größer war als eine ausrangierte graue Schuhschachtel auf dem Dach eines hübschen, aber heruntergekommenen Steinhauses mit grünen Zierkacheln an der Front.

Wie an allen Schabbat- und Feiertagsmorgen der letzten drei Jahre schlug er die Augen nicht gleich auf, sondern versuchte weiterzuschlafen. Und wie immer an solchen Vormittagen wanderten seine Gedanken hinter den geschlossenen Lidern auch diesmal zu seinem alten Berliner Elternhaus in der Prenzlauer Allee, in sein Kinderzimmer und sein Bett, das zu seiner damaligen Länge passte, der Länge des neunjährigen Hans, dessen Beine stramm ausgestreckt lagen wie die eines Zinnsoldaten und dessen gewaschener und gekämmter Kopf in dem großen Kissen versank. Die saubere, weiße Bettwäsche roch nach den Händen der blonden Wäscherin. Wie immer im Winter waren seine Fingerknöchel entzündet und geschwollen. Der Hausarzt sagte, schmerzende Knöchel seien zwar selten bei Kindern, aber es handle sich nicht um eine gefährliche Krankheit. »Das ist nicht weiter schlimm«, sagte der Doktor, als er schon seine braune Tasche zuklappte, die wie eine Ziehharmonika aufging, »dann wirst du vielleicht mal kein Chirurg, sondern Allgemeinmediziner wie ich. Und wenn du kein Arzt wirst, kannst du gewiss wenigstens Apotheker werden, wie dein Papa.«

An jenem Abend, dem letzten Tag des Jahres 1913, hatte er die Tür, wie immer, einen Spalt offen gelassen, genau eine Diele breit, aber er musste länger als sonst auf seine Mutter warten, und in die wohlduftende, sichere Blase ringsum drangen unvertraute Stiche im Herzen, von Begehren und Eifersucht, die von Minute zu Minute stärker schmerzten. Sein Vater, der Apotheker Erwin Blumberg, saß jetzt sicher einen Stock tiefer auf seinem hirschledernen Sessel unter drei Gobelins mit den Bibelmotiven von Gustave Doré, schmal, aufrecht und knöchern, in einem frisch aufgebügelten dunklen Anzug, aus dessen Brusttasche ein zum gleichschenkligen Dreieck gefaltetes helles Einstecktuch ragte.

Und nun knarrten die Holzstufen. Da kam sie endlich, die Mama.

Sie klopfte dreimal an die Tür und sagte wie immer mit bebender Stimme: »Darf ich eintreten?«

Hans antwortete: »Ja, gewiss doch, bitte sehr, und wer ist die Dame?«

»Ich bin nur eine arme Alte, die zufällig hier vorbeikam und ein erleuchtetes Zimmer sah.«

Ihr Haar war auf dem Kopf hochgesteckt und mit einem goldenen Band umschlungen. Sie trug ein glänzendes, neues Kleid. An diesem Abend, begriff er, würden sie nicht ins Konzert oder Theater und auch nicht zum Chorgesang gehen. Ihr Ausschnitt war tief und ihre Taille im Schnürkorsett noch schmaler als sonst. Hans tat einen tiefen Atemzug, und noch ehe er die Lungen vollständig wieder geleert hatte, holte er erneut Luft.

Statt seine gewohnte Einladung abzuwarten – gewiss, gewiss doch, arme Frau, kommen Sie herein und setzen Sie sich zu mir –, machte sie zwei Schritte, setzte sich aufs Bett und küsste ihn mitten auf die Stirn. Das tat sie sonst erst zum Schluss, bevor sie aufstand und ging – erst nach dem langen Gespräch zwischen der Bettlerin und dem Kind, das ihr Unterschlupf gewährte, und nachdem er ihr seine Erlebnisse des Tages erzählt hatte. Diese Abweichung vom Gewohnten versetzte ihn in Angst und Erregung. Der gute Duft seiner Mutter überdeckte den guten Duft der Bettwäsche. Ihre Sommersprossen leuchteten auf Brust und Hals. Hans zog die Hände unter der Bettdecke hervor und legte sie ihr auf die Schultern. Puder klebte an seinen feuchten Händen. Tränen stiegen in ihm auf.

»Geh noch nicht, Mama.«

»Nein, das ist unmöglich, mein Lieber, mein Süßer, da ruft er mich schon.«

Sie zog ein lila Taschentuch aus dem Gürtel und wischte ihm die Tränen von den Wangen. Danach drehte sie das Tuch um und tupfte sich die Schultern ab, um seine Fingerabdrücke darauf zu beseitigen. Von unten erklang die scharfe Tenorstimme seines Vaters: »Grete, komm runter, komm bitte runter, wir sind schon spät dran.« Sie stand auf und lächelte, zeigte kurz ihre rosige Zungenspitze und ihre schneeweißen Zähne.

»Wir gehen zu einer Gesellschaft, Hans, morgen beginnt schon ein schönes neues Jahr, 1914. Kannst du dir das vorstellen?«

Er blickte auf die fließenden Falten ihres neuen Kleides.

»Ja«, sie strich ihm über den Kopf, »du kannst es dir sicher vorstellen.«

Diese Berührung und ihre Erwähnung dessen, was er – in seiner Arglosigkeit oder Klugheit – sich vorstellen konnte, sowie ihre Gestik, die ihm zeigte, dass ihre Gedanken sie bereits an einen anderen Ort trugen – zu einem fernen, funkelnd hellen Dort –, all das jagte ihm eine Hitzewelle durch den Leib. Seine Fingerknöchel schmerzten noch mehr.

»Arme Frau, kommen Sie herein und setzen Sie sich zu mir«, versuchte Hans zu restaurieren, was er schon eindeutig zerstört wusste.

Seine Mutter stand bereits an der Tür.

»Weißt du, Hansi, du bist nun schon ein großer Junge. Neujahr ist eine gute Zeit, um zu beschließen, dass wir mit diesem Spiel aufhören, das mehr was für kleine Kinder ist, meinst du nicht auch, Hans?«

Hans nickte.

»Schön, sehr schön. Also fertig, von nun an bist du schon groß.«

»Mama, ich glaube, ich bin krank.«

Die letzten Worte hatte sie wohl gar nicht mehr gehört, denn ohne ihm einen weiteren Kuss zu geben, löschte sie das Licht und machte die Tür hinter sich zu.

Hans packte die Decke am unteren Rand mit den Füßen, zog sich den oberen übers Gesicht und stopfte die Seiten unter den Rücken. In diesem selbst geschaffenen Zelt fühlte er sich sicher, und schnell schlief er ein.

Als Zemach erneut aufwachte, war die Luft um seinen Kopf herum verbraucht und stickig. Er konnte die Decke nicht aufschlagen, da eine Ecke noch unter seinem Rücken feststeckte. Er zerrte und zerrte, bis sie herausrutschte, und wandte das Gesicht dann zur anderen Seite.

Er strich sich über den schütteren, feuchten Haarkranz um seine Glatze.

Durch das Westfenster zum Dach sah Zemach einen grauen Rabenvogel das Gewicht von einem Bein aufs andere verlagern, rechts-links, auf der steinernen Brüstung. Er wandte den Blick von dem ruhelosen Vogel und starrte auf das neue gelbe Telefon, das vor zehn Tagen angeschlossen worden war und seither kein einziges Mal geklingelt hatte.

Nahe dem Telefon, auf dem Boden neben der Tür, lag eine große Papiertüte mit den zehn Schachteln Gitanes-Zigaretten, die er Lili gestern nicht mehr hatte bringen können. Die Unterzeichnung der Entlassungs- und Rentenpapiere in den Gewerkschaftsbüros in der Histadrut-Straße hatte bis in die Abendstunden gedauert, und als er endlich heimkam – in der Aktentasche die Rentenurkunde der »Histadrut der hebräischen Arbeiter im Land Israel« und am linken Arm die neue Uhr mit dem Emblem der Gewerkschaft auf der Rückseite –, war die Konditorei schon zu gewesen.

An einem Samstagnachmittag vor drei Jahren hatte Lili ihm verkündet, »ich muss einfach weggehen, mein Lieber«, und das Häuschen verlassen, doch das hatte nichts an dem gewohnten Erwerb der Zigaretten geändert, sondern nur an ihrer Übergabe. Nachdem sie alle ihre Bücher in drei Kisten gepackt, ihre Kleidungsstücke in einem Laken gesammelt, dessen Enden zu einem dicken Knoten verschnürt und alles auf einen Kleinlaster der städtischen Straßenreinigung verladen hatte, der auf dem Bürgersteig geparkt war, hatte er bei Nacht keinen Schlaf gefunden und unter Atemnot gelitten. Am nächsten Tag rief er von einer Telefonzelle aus Ruchama an, eine der beiden Sekretärinnen der Beitragsabteilung, und erklärte ihr, er habe eine schwere Grippe. In der Apotheke nebenan kaufte er sich Schlaftabletten der Firma Bayer in einem Fläschchen, das genauso aussah wie die, die er aus der väterlichen Apotheke in Berlin kannte, und schluckte auf der Stelle fünf davon, und als deren Wirkung nachließ, nahm er noch ein paar. Nach drei fast durchgeschlafenen Tagen weckte ihn Mittwochnachmittag eine Krankenwagensirene von draußen, und er verspürte Hunger. Er verspeiste ein halbes trockenes Brot, warf die verbliebenen Schlaftabletten ins Klo, wusch und rasierte sich, zog die Sachen an, die Lili ihm vor ihrem Weggang letztmals gebügelt hatte, und ging hinunter auf die Straße. Sieben Schritte weiter betrat er die Konditorei und legte die Tüte mit zehn Schachteln Gitanes vor Lili auf die Theke.

»Du hast deine Zigaretten vergessen, als du weggegangen bist«, sagte er.

Lili nahm die Tüte und lächelte ihn an.

»Vielen Dank. Darf es noch etwas sein, der Herr?«

»Ja«, erwiderte Zemach und zeigte, um seine Antwort mit Inhalt zu füllen, auf die Kipferl, die er vor sich sah. »Ein halbes Kilo davon, bitte.«

Lili wog die Kekse ab, und er zahlte. Beide wussten, dass er die süßen kleinen Sicheln nicht mochte. Zwischen ihren Fingern brannte bereits eine Zigarette.

»Kommen Sie in einer Woche neue Vanillekipferl kaufen, mein Herr, wir freuen uns sehr, Sie wiederzusehen.«

In jener Nacht schlief er, ganz ohne Tabletten, völlig ruhig, unbeschwert und traumlos, und am nächsten Morgen ging er wieder gänzlich genesen in die Beitragsabteilung. Nur ein leichter Schmerz am Hals und eine kleine Wunde am Gaumen, die nicht abheilen wollte, störten ihn Tage, Wochen und Monate, bis sie ein fester, nicht unbedingt lästiger Teil von Leib und Seele wurden. Die allwöchentliche kurze Begegnung mit Lili war bald ein Ankerpunkt in seiner festen Lebensweise – wie die Arbeit in der Beitragsabteilung, wie die Gewerkschaftszeitung Davar und wie die Medikamente gegen erhöhten Blutdruck. Jeden Mittwoch um halb fünf, eine halbe Stunde vor ihrem Arbeitsschluss, brachte er ihr zehn Schachteln Gitanes-Zigaretten und kaufte ein halbes Kilo Kipferl, die er später allesamt in helle Brösel zerkrümelte und auf die Dachbrüstung zur Hauptstraße streute, wo sich am nächsten Morgen die Vögel versammelten, als sei diese allwöchentliche Fütterung in ihrem Kalender verzeichnet. Die Zigaretten kaufte er weiterhin, wie vor Lilis Abgang, in der versteckten, kleinen Bar unweit des Kinos. Die Besitzerin, Frieda – eine recht ansehnliche Polin mit ungekämmtem blondem Haar und meist einer Alkoholfahne –, zog die schon bereitgelegte Tüte unter dem Tresen hervor. Mal berührte sie ihn an der Hand, mal zwinkerte sie ihm zu, und mal sagte sie leise: »Bitte sehr, für die schöne junge Frau des Direktors der Beitragsabteilung der Histadrut, zehn Zigeunerinnen, spottbillig, ohne Banderole.«

Dieses allwöchentliche Ritual war am vorletzten Mittwoch erstmals anders verlaufen. Die Konditorei war leer, als Zemach ihr die Tüte hinlegte.

»Vielen Dank, mein Herr. Wie immer?«

»Ja, ein halbes Kilo, bitte, wenn es geht.«

»Ein halbes Kilo Kipferl für den Herrn, wie immer, gewiss.«

»Ja, ja, ein halbes Kilo, wie immer, für den Herrn«, wiederholte Zemach diesmal ihre Worte.

»Bitte sehr.« Lili legte die braune Papiertüte vor ihn hin und beugte sich vor: »Bitte schön, Hans.«

Im Hinterzimmer hörte man, wie ein Backofen geöffnet wurde.

»Lili«, sagte er, gerade als eine ältere Frau den Laden betrat, gefolgt von zwei großen, kräftigen jungen Männern mit grimmigen Mienen, »Lili, das Telefon ist da, fünf Jahre, nachdem wir den Anschluss beantragt haben.«

»Und die Nummer, bitte, mein Herr?«

»38571«, antwortete Zemach.

Lili notierte die Nummer auf ein graues Stück Pappe, das für ein einzelnes Tortenstück gedacht war, und schob es unter die große Registrierkasse. Sie übergab Zemach das Wechselgeld und strich noch einmal über den oberen Falz der Kekstüte auf der Theke zwischen ihnen.

»Auf Wiedersehen, mein Herr, und einen schönen Abend noch.«

Der gelbe Telefonapparat stand auf einem Bambusschemel, darunter lagen zusammengefaltet die Durchschläge der Formulare, die der Techniker von der Post ihn nach Anschluss des Geräts hatte unterschreiben lassen. Falls Lili hier anrief, würde sie sicher etwas sagen, das ein bisschen humoristisch und ein bisschen freundlich und ehrlich besorgt klingen würde, wie: »Wir haben bemerkt, dass der Herr gestern nicht wie gewohnt bei uns war, und hoffen, dass alles in Ordnung ist und der Herr nicht etwa krank darniederliegt.«

Wer könnte sonst noch anrufen? Außer Lili kannte die Nummer nur Bella Zuck, die heute seinen Platz in dem fensterlosen, kleinen Raum in der Beitragsabteilung der Histadrut einnehmen würde.

»Für den Fall, dass in den ersten Tagen Fragen oder Probleme auftauchen sollten«, hatte er ihr gesagt.

»Ich bin sicher, es wird keine geben«, hatte Bella Zuck erwidert.

Draußen hörte man das ferne Rumpeln von Mülltonnen und das nahe Tschilpen von Vögeln, die – wie der Rabenvogel – ihr Donnerstagsfrühstück auf der leeren Brüstung suchten.

Zemach lag auf der Seite, zog sich die Decke übers Gesicht, winkelte die Beine an, legte die Hände aneinander und seine rechte Wange darauf. Der Gedanke an die Frau mit der eisernen Miene, die heute sein Zimmer in der Beitragsabteilung übernehmen würde, machte ihn schwermütig.

Vor einer Woche war sie, noch vor Beginn des Publikumsverkehrs, in Begleitung des Bezirksdirektors, Drori, hereingekommen.

»Ich bin eine Frühaufsteherin, ein Morgenmensch, aus alter Selbstdisziplin. Ich arbeite schon viele Jahre in der Stadt, beginne den Tag aber immer noch so wie zum morgendlichen Melken.«

Er sagte ihr schnell alles, was er sich am Vortag Punkt für Punkt in einer kurzen Liste notiert hatte.

»Und das ist alles?«, fragte Bella Zuck und blies den Rauch ihrer Zigarette ein Stückchen über seinen Augen aus.

»Nein«, gab er zurück.

Da er eben verneint hatte, obwohl er hatte bejahen wollen, erläuterte er noch einmal den Unterschied zwischen Gebührenmarken für Rentner und solchen für Arbeitnehmer und kam erneut auf die speziellen Vorbereitungen für den 20. Juli zu sprechen, den letzten Tag zur Bezahlung des Gewerkschaftsbeitrags für alle, die ins Wählerverzeichnis für den elften Gewerkschaftstag aufgenommen werden wollten.

»Das sind drei Tage nach Ihrem Arbeitsantritt.«

»Zwei Tage, wenn wir den Schabbat abziehen.«

»Wenn Sie möchten, können Sie an dem Tag zwei zusätzliche Beamte bekommen, und man kann einen weiteren Tisch in die Zimmerecke stellen.«

»Das hatten Sie schon gesagt. Wärs das dann?«

Er bemerkte ihre ausgestreckte Hand und hob gerade seine an, um sie zu schütteln, da hatte Bella ihre bereits wieder gesenkt. Sie streckte ihre erneut aus. »Ist was passiert, oder geht es?«, fragte sie, bevor sie ihre raue Hand aus seinem feuchten Händedruck löste, Zügel und Peitsche aus den Händen dieses Kutschers übernahm, den die Pferde lenkten, statt er sie.

Im Bett, unter der Decke, kniff er die Lider fest zu. Wenn heute oder morgen im großen Raum der Beitragsabteilung einer ausrastete oder ein Streit über den Platz in der Schlange ausbräche, würde Bella Zuck sich nicht wie er im Zimmer wegducken und warten, bis sich die Dinge von selbst regelten, sondern würde aufrecht hinausgehen und in strengem Ton fragen: »Was ist hier los? Ist was passiert?«

Als Bella Zuck das Zimmer verließ, war Drori ihr erst gefolgt, dann jedoch an der Tür stehen geblieben und zu Zemach zurückgekehrt.

»Und was ist mit einer Abschiedsfeier, Zemach? Was sagen Sie? Uns bleibt noch knapp eine Woche, wir müssen das vorbereiten. Wir machen eine schöne Feier, entweder hier in der Abteilung oder vielleicht im ganzen Bezirk.«

»Nein, nein, lieber nicht, ich mag keine Feiern.«

Das Sandwich, von dem er erst einmal abgebissen hatte, lag mitten auf dem Schutzglas des Tisches, auf einem Blatt mit den Beitragsangleichungen. Aus dem Brot lugte eine ramponierte Sardinengräte hervor.

»Schade, Zemach, jammerschade, sicher wären viele Leute gern gekommen, aber wissen Sie was? Ganz wie Sie wünschen. Wer weiß«, lachte Drori, »vielleicht wäre Aharon Becker höchstpersönlich erschienen.«

Er wollte Zemach auf die Schulter klopfen, aber da der sich seitlich wegduckte, als müsse er gerade jetzt das Blatt mit den Beitragssätzen überfliegen, trafen Droris dicke Finger Zemach am Hals.

»Na schön«, sagte Drori. Er erreichte die Tür mit zwei langen Schritten und knallte sie belustigt hinter sich zu. Die Neonröhre, die in der Zimmermitte an zwei dünnen Metallketten von der Decke baumelte, schwang leicht hin und her, und damit schwankte auch ihr Lichtstreifen auf der Glasplatte.

Draußen schnaufte ein Autobus. Zemach schlug die Decke vom Gesicht. Durch das Ostfenster fiel ein Sonnenstrahl auf den Spiegel gegenüber, und von dort, von Westen, kehrte er zurück in Zemachs Augen wie das Licht der untergehenden Sonne.

»Der Tod! Der Tod!«, entfuhr seiner Kehle plötzlich ein entsetzter deutscher Ruf.

Er streckte die Beine aus und legte die Füße auf die Deckenzipfel. Den oberen Rand zog er wieder übers Gesicht, stopfte die Ecken unterm Schädel fest, und so, im selbst geschaffenen, straffen Zelt, fühlte er sich geborgen und schlief ein.

4

Charlie Ben Hemo erwachte von dem Geräusch flappender Flügel. Ihm war nicht klar, ob tatsächlich ein grauer Rabenvogel an seinem Kopf vorbeigeflogen war oder ob der Laut und das Beben über den geschlossenen Lidern nur Traumreste waren. Seine Beine hatte er zwischen die taufeuchten Balkongitterstäbe geschoben, und seine nackten Füße wackelten noch leicht vom Schlafen. Er holte tief Luft und schloss die Hände fester um die Gitterstäbe. Jetzt war er wach, ganz sicher. In den anderen kleinen Wohnungen dieses langen, alten Steingebäudes mit seinen drei Stockwerken wohnten große Familien. Bei einigen, wie den Turgemans und den Butbuls, kamen zu den beiden Eltern und ihren vier oder fünf Kindern noch ein Opa oder eine Oma dazu. Aber in dieser Wohnung hier waren sie nur zu dritt – seine Mama, seine Schwester Batya und er, Charlie.

Charlie streckte den Rücken, lockerte mit leichtem, aber wohligem Schmerz die Rückenwirbel und rieb sich kreisförmig den nackten Bauch. Auf der kleinen, sandigen Freifläche zwischen der Hausfront und dem eingerissenen, niedergetrampelten Zaun des Schulgartens parkten ein paar Autos. Er bezeichnete sie von rechts nach links: »Sussita, Sussita Kastenwagen, Volkswagen Käfer, Cortina, Contessa, Dauphine.«

Es waren Sommerferien. Bis zum Nachmittag würde der große Schulhof leer bleiben. Und dann, wenn es nicht mehr so heiß war, würden einige Kinder kommen, um an dem einen Basketballkorb zu spielen, der nicht kaputt war.

Zweieinhalb Wochen waren seit Schuljahrsende vergangen, aber ihm schien es schon sehr lange her zu sein, dass er hier gesessen und auf das Läuten zum Schulbeginn gewartet hatte. Die Schüler gingen sonst schwatzend und lachend unter dem Balkon vorbei. Er kannte einige der Erstklässler, die letztes Jahr bei ihm im Kindergarten gewesen waren und nun an der Hand eines großen Bruders oder einer großen Schwester zur Schule gingen. Beim Läuten bogen die Kinder scharf rechts ab, statt den überdachten Gang zur Hauptstraße und von dort zum Schulhoftor weiterzugehen, kürzten den Weg durch einen Sprung über den ramponierten Zaun des Schulgartens ab. Wenn eines sich in den Drähten verfing und lang auf die Erde fiel, sprang es sofort wieder auf, sammelte die aus dem Ranzen gerutschten Bücher und Hefte ein, rieb sich Spucke auf die aufgeschürften Knie und rannte weiter. Einige der hastenden Kinder versuchten, über die Beete zu springen, und zertrampelten im Laufen zuweilen Blätter und Blumen.

Später, wenn alle schon in den Klassenzimmern saßen oder sogar erst nach der ersten Pause, trat seine Mutter neben ihn auf den Balkon, stützte die Ellbogen aufs Geländer und fragte: »Ist es schon sehr spät, Charlie?« Ihrem schnellen Daumenwackeln entnahm er, dass sie mit ihren Gedanken woanders war.

Er antwortete dann: »Nein, Mama, nur ein bisschen spät.«

Und da sie den Tag so begannen, kamen sie immer als Letzte in den Kindergarten, wenn die anderen Kinder schon gefrühstückt hatten.

Im Sommer gingen sie manchmal ins Schwimmbad statt in den Kindergarten. Seine Mutter rauchte dann noch eine Zigarette, trank noch eine Tasse Kaffee, und wenn sie damit fertig war, sagte sie, als geschehe es zum ersten Mal: »Weißt du was, Charlie? Vielleicht gehen wir heute nicht in den Kindergarten, der ist doch nicht so wichtig. Statt in den Kindergarten gehen wir ins Schwimmbad. Warum nicht? Richtig?«

»Richtig, Mama«, antwortete er darauf. »Richtig, warum nicht, gehen wir ins Schwimmbad. Das ist eine gute Idee.« So sagte er, auch wenn er lieber in den Kindergarten gegangen wäre, gern im Schatten des großen Maulbeerbaums gesessen und die Limonade getrunken hätte, die die Kindergärtnerin Chana mit einer großen Blechkelle aus einem riesigen Topf mit einem großen Eisbrocken drin ausschenkte.

Doch jetzt gab es keinen Kindergarten und keine Schule. Die Kinder sprangen morgens nicht mehr über den eingerissenen Zaun, und sie beide gingen morgens nicht mehr aus dem Haus – weder zum Kindergarten noch zum Schwimmbad. Jeden Tag stand sie später auf als am Vortag. Wenn die Ferien zu Ende waren und er in die erste Klasse kam – mit sieben, ein Jahr älter als die anderen Kinder –, würde sie vielleicht erst aufwachen, wenn er mit dem neuen Ranzen auf dem Rücken heimkehrte.

Charlie drehte sich um und spähte vom Balkon in das kleine Wohnzimmer. Seine Mutter schlief im Sessel, die Beine untergeschlagen. Sie trug dasselbe ärmellose blaue Kleid mit weißen Pünktchen wie gestern. Ihre eine Wange ruhte an der Lehne, und wenn sie aufwachte, würde er die Linien des gerippten Polsterstoffs auf ihrer Haut sehen. Auf dem kleinen Tisch lag das große, grüne Buch, in dem sie am Abend gelesen hatten.

Charlie feuerte sich mit dünner Stimme an: »Jalla, los, hopp!« Er packte das Geländer und zog sich in den Stand hoch. Angenehm kribbelnd kehrte das Gefühl in seine Füße zurück.

Auf der Hauptstraße schepperten Mülltonnen. Charlie tappte unsicher vom Balkon ins Innere. Er setzte sich auf das graue Sofa, im rechten Winkel zum Sessel seiner Mutter. Das abgewetzte Polster der Armlehnen ließ das Holz durchschimmern. Auf dem Einband des grünen Buchs stand in kleinen Goldbuchstaben Don Quijote und in großen Goldbuchstaben »Chaim Nachman Bialik«. Charlie schlug das Buch auf und betrachtete das Bild eines scharf blickenden Mannes mit gezwirbelten Schnauzbartenden, in der Hand eine Feder, und an der Wand dahinter hing ein Dolch. Gestern hatte seine Mutter ihm gesagt, dieser Mann habe das Buch vor langer, langer Zeit geschrieben, und Bialik, dessen Name in großen Goldbuchstaben auf dem Einband stand, obwohl er das Buch nur ins Hebräische übersetzt hatte, sei auch längst tot. Auf dem Titelblatt prangte ein lila Kreis. Bevor sie zu lesen begann, hatte Charlie gefragt: »Was ist das für ein Zeichen?«

»Das ist das Zeichen, dass das Buch dem Internat gehört«, erwiderte sie weich, als fange sie schon an vorzulesen. »Bevor ich deinen Papa geheiratet und die Schule verlassen habe, ließ der Direktor mich zehn Bücher auswählen, nur müsste ich versprechen, sie alle zu lesen. Er war ein sehr guter Mensch.« Sie verstummte kurz. »Sehr dick war er auch«, fügte sie hinzu, und Charlie lächelte. Anscheinend hatte sie ihn zum Lachen bringen wollen.

»Und hast du es versprochen?«

»Ja«, antwortete sie, »hab ich. Er ist ebenfalls schon tot.« Nun lächelte auch sie, vielleicht kraft seines Lächelns, oder vielleicht, weil gerade in diesem Augenblick Kinderlachen hereinschallte.

»Musst du dein Versprechen noch halten, obwohl er schon tot ist?«

»Ich weiß es nicht, Charlie«, antwortete sie und strich ihm über den Kopf. »Ich weiß nicht. Komm, lesen wir.«

Erneut hörte man die Mülltonnen und den Müllwagen rumpeln, jetzt aber von fern. Unter den Lidern seiner Mutter flimmerte es rasch, und Charlie dachte, dass es sehr leicht war, jemandem zu schaden, der tot war oder nur schlief und nicht ahnte, was andere ihm antaten oder antun konnten oder ihm vielleicht nur anzutun erwogen.

Auf der Haut am Oberschenkel spürte er die erhabenen Goldbuchstaben vom Einband des offenen Buchs. Als seine Mutter gestern zu lesen begann, hatte sie alle Seiten der Vorrede ausgelassen mit der Erklärung: »Das ist unwichtig, das ist unwichtig.«

Fast jeden Abend lehnte er sich an sie, und sie las ihm aus dem Buch auf ihren Knien vor. Ihr Zeigefinger fuhr von Wort zu Wort, und nach jedem Absatz holte sie kurz oder lange Luft, je nachdem, wie es das Gelesene verlangte, und in diesen Momenten sagte er manchmal: »Jetzt, Mama, jetzt, Mama, jetzt bist du haargenau.«

Manchmal bewegten sich seine Lippen und sprachen beinahe das nächste Wort aus. Sie spürte es und hörte auf zu lesen. »Mach weiter, Mama, lies, ich kann nicht lesen«, drängte er dann, obwohl er schon alle Druckbuchstaben und fast alle Schreibbuchstaben lesen konnte, als wäre er mit seinen Altersgenossen in die erste Klasse gekommen und nicht ein weiteres Jahr im Kindergarten geblieben, »wegen dem, was passiert ist« – so hatte er die Kindergärtnerin Chana zur Mutter eines anderen Kindes sagen hören, wobei sie auf ihn deutete.

Dass er lesen konnte, hatte er an einem Winterabend begriffen, als sie ihm die Geschichte Der glückliche Prinz vorlas. Sie war dermaßen in die Handlung vertieft gewesen, dass sie gar nicht merkte, dass der Petroleumofen am Erlöschen war. Charlie sagte: »Mir ist kalt, schrecklich kalt.« Ihrer Miene entnahm er, dass auch ihr kalt war, sie es bisher jedoch nicht bemerkt hatte. Sie stand auf und verließ das Zimmer, um den Glasbehälter des Ofens mit Petroleum aufzufüllen, und als sie draußen war, fuhr sein Finger, der, den man »Zeigefinger« nannte, zu der Stelle, wo vorher ihrer gewesen war, seine Lippen bewegten sich, und seine Stimme ertönte. Er las mit Leichtigkeit.

»Und der – Sperling – pickte – in das – Auge – des – schlafenden – Prinzen.«

»Liest du, Charlie?«, fragte sie und steckte die bauchige Flasche mit Petroleum zurück in den Ofen. Draußen prasselte der Regen. Der graue Ofen gluckerte, als trinke dort jemand direkt aus der Flasche, und plötzlich schlug die Flamme hoch, loderte auf wie das Lagerfeuer, das die großen Kinder zu Lag baOmer auf dem Platz vorm Balkon entzündeten, sobald es die Haman- oder Hitler-Puppe erfasste, wobei alle vor Staunen und Aufregung und Angst aufschrien.

»Liest du wirklich?«, fragte sie erneut und drehte den kleinen Griff des Ofens hin und her. Die Glut färbte ihr Gesicht orangerot, und ihre Augen blitzten.

»Nein, Mama, nein. Tu ich nicht«, antwortete er und blätterte ein paar Seiten zurück, bis zu dem Bild von der Statue des glücklichen Prinzen, der auf einer hohen Säule stand.

»Willst du, dass ich dir das Lesen beibringe?«, fragte sie.

»Nein, nein, will ich nicht«, erwiderte er, und ihm fiel das lange, unverständliche Wort ein, das sein Großvater manchmal sagte, wenn er sich nicht länger über etwas ärgern wollte, wie ein Zauber- oder Wunderwort, das alles auf den Punkt brachte. »Ein-jegliches-hat-seine-Zeit-und-alles-Vorhaben-unter-dem-Himmel-hat-seine-Stunde.« Das lange Wort rutschte ihm flüsternd über die Lippen, in einem gutturalen Tonfall, bei dem kaum Vokale zu hören waren, eine Aussprache, die Batya hässlich fand und die sogar Papa kaum noch verwendete. »Manchmal«, sagte Batya zu Charlie, »konnte er diesen Akzent fast völlig verbergen, und seine Mutter hat ihn ausgelacht und gesagt, er rede wie ein Kibbuznik.«

Als ein Blitz über den schwarzen Himmel vorm Fenster zuckte und seine Gedanken unterbrach, fragte seine Mutter: »Hast du was gesagt, Charlie?« Nach dem Donner antwortete er: »Nein, nein, ich hab nichts gesagt, Mama, lies weiter.«