Der Mord an der Mühle - Henning Kreitel - E-Book
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Der Mord an der Mühle E-Book

Henning Kreitel

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Beschreibung

August Barthel ist Bürgerpolizist in der Sächsischen Schweiz. Nach einer Wanderung hört er Hilferufe aus einer nahe gelegenen Schlucht. Er vermutet, dass sie von Friedrich Hauer stammen, dem Zimmermann. Hinweise auf ein Verbrechen findet er dort aber nicht, nur dessen Handy. Vom Zuhälter Carlo Wolf erfährt Barthel von Hauers Plänen, die ehemalige Lochmühle nahe Pirna in einen Edelpuff umzuwandeln. Auf Hauers Handy entdeckt er aufreizende Fotos der Wildhüterin Ronja Gräfe. Als er sie zur Rede stellen will, flieht sie. Hauer bleibt derweil verschwunden. Ein Mord wird immer wahrscheinlicher. Spannend und unterhaltsam erzählt Henning Kreitel in seinem Cosy-Krimi von der Suche des Dorfpolizisten nach einem verschwundenen Zimmermann und lüftet dabei auch ein Geheimnis längst vergangener Tage.

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Die Handlung und alle handelnden Figuren sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen ist rein zufällig.

Inhaltsverzeichnis

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Es war ein schöner Sonnenaufgang an diesem Sonntag, als August Barthel zu einer seiner Wanderungen aufbrach. Dabei nahm er sich vor, jedes Mal einen anderen Wanderweg zu nehmen – seine neue alte Heimat wieder kennenzulernen. Obschon er es liebte, auszuschlafen – denn das kam bei ihm leider viel zu selten vor –, stellte er sich den Wecker. Barthel stand um sieben Uhr auf, frühstückte und bereitete sich dann Leckereien vor, die er während der Wanderung an einem vortrefflichen Platz zu sich nehmen wollte.

Heute würde er einer Empfehlung seines Nachbarn Steffen Horn nachgehen und den „Breiten Stein“ aufsuchen. Dort könne er einen fantastischen Ausblick in die herbstliche Landschaft erleben. So hatte er sich bei einem Gespräch über den Gartenzaun mit Horn die Wanderroute genau beschreiben lassen. Über den Tipp freute sich Barthel, war er doch erst seit fünf Monaten wieder in Mihlsdorf. Für ihn war dieses scheinbar zwanglose Gespräch mit dem Nachbarn gleichzeitig eine Möglichkeit, einen Freundeskreis aufzubauen, der losgelöst von seinem Beruf war. Als Polizist hatte man auf dem Lande nicht wirklich viele Freunde, so empfand er es zumindest. Genau genommen war Barthel ein Bürgerpolizist, und somit für die polizeilichen Aufgaben in einer Gemeinde zuständig. Sein Abschnitt war überschaubar, bestand er schließlich bloß aus zwei Gemeinden, aber die Entfernung zwischen den einzelnen Ortsteilen war ein nicht zu unterschätzender Faktor, den er täglich aufs Neue spürte.

Das Schöne war, er freute sich Woche für Woche mehr über und auf seine Arbeit. Was nicht selbstverständlich war, denn erst kürzlich, da war er noch in Berlin gewesen und voller Zweifel.

Sein Wanderrucksack stand fertig gepackt in der Wohnungstür. Barthel nahm seine Thermoskanne, gefüllt mit Kaffee, zwei noch warme, frisch gelieferte und mit Butter bestrichene Mohnzöpfe und ein weichgekochtes Fünfminutenei mit sowie eine Freitagswurst, eine Spezialität einer Metzgerei zwei Dörfer weiter. Auch diesen Tipp verdankte er Horn. Dann konnte es losgehen.

Barthels Haus lag ungefähr in der Mitte des 800-Seelen-Dorfes Mihlsdorf. An einer langen, alten Pflasterstraße reihten sich Hof an Hof viele Dreiseitanwesen. Vereinzelt gab es dazwischen auch ein paar Einfamilienhäuser mit großzügigen Gärten. Barthel genoss die aufgehende Sonne im Rücken, die bewirkte, dass sein langgezogener Schatten ihm weit voraus war. Auch ohne diesen wäre er nicht allein gewesen: Es herrschte schon Leben im Dorf. Barthel versuchte, seine Neugier im Zaum zu halten – wahrscheinlich seinem Beruf geschuldet – und nicht einen Blick in die Fenster zu werfen, die leuchteten, und er ertappte sich bei dem Gedanken, dass das Gute wie Schlechte am Dorfleben war, dass man von jedem ungefähr wusste, wo er wohnte.

In der ersten, leicht rechtsgeschwungenen Kurve sah Barthel Gudrun Brückner, die fleißig mit ihrem blassgrünen Bollerwagen die bestellten Mohnzöpfe auslieferte. Nur sonntags gab es diese Backspezialität bei der Bäckerei Wumpe in Graupa, einem Nachbardorf. Brückner, eine gestandene Mihlsdorferin, verdiente sich dort etwas zu ihrer Rente dazu. Nach ihrer Frühschicht kam sie mit den Zöpfen zurück nach Mihlsdorf, um sie hier noch flugs zu verteilen. Als sie Barthel entdeckte, wartete sie lächelnd auf ihn.

„Wo geht’s heute hin?“, fragte sie ihn neugierig.

„Ich will zum ‚Breiten Stein‘“, antwortete er sachlich.

„Ach, herrlich! Wenn ich nicht die Zöpfe an der Backe hätte, wäre ich glatt mitgekommen“, schwärmte Gudrun Brückner und schob bedächtig ihre schmalrandige, viel zu große, silberlegierte Brille die Nase hoch, nur um dann zu fragen: „Was ist rausgekommen aus der Sache mit dem Feuerlöschteich?“

Gerade das hatte Barthel kurzzeitig ausblenden wollen.

„Die Untersuchungen dauern an. Außerdem darf ich leider nicht mit dir darüber reden“, lieferte er ihr einen Standardsatz als Antwort.

„Wen wundert es, ist ja auch erst gestern passiert. Guddi! Ich muss weiter, du hast ja schon deine Mohnzöpfe, aber die anderen warten noch“, und schon zuckelte sie mit ihrem quietschenden Bollerwagen los, um die bucklige Straße zu überqueren.

„Dir auch noch einen schönen Tag!“, rief er ihr hinterher.

Bevor Barthel wieder startete, musste er an den chaotischen gestrigen Tag denken. Ihn schüttelte es erneut. Er war noch nicht lange als Bürgerpolizist hier, und schon so eine Riesensache. Unbekannte hatten eine Chemikalie in den hiesigen Teich geworfen. Überall war Schaum gewesen – Barthel hatte sogar von Schaum geträumt, der ihn umschloss und gegen seinen Willen forttrug. Nur zu gerne wäre er einfach verschwunden. Eins der Probleme war: In dem Teich laichte die Wechselkröte, die streng unter Naturschutz stand. Der NABU würde sicher einen Aufstand deswegen machen. Dreisterweise waren nämlich längst vor Barthels Wiederkehr auch Goldfische im Teich ausgesetzt worden. Dadurch war die Aufrechterhaltung der Kröten-Population im Grunde sowieso schon unmittelbar zerstört worden, sind doch Goldfische für ihre Gefräßigkeit bekannt und dafür, sich zügellos zu vermehren. Gerüchten zufolge war es Friedrich Hauer, der die Fische damals ausgesetzt hatte. Aber so genau wusste das keiner, oder vielmehr wollte es keiner wissen. Nun jedenfalls schwammen sie allesamt an der Oberfläche, scheinbar friedlich in einem Bett aus Schaum.

Dieser Hauer war so etwas wie das inoffizielle Dorfoberhaupt: mächtig und unantastbar. Er konnte sich alles erlauben und alle schauten nur zu, lästerten sich zwar die Zungen wund, doch keiner unternahm etwas, sein Treiben zu unterbinden oder ihn anzuschwärzen. Seine Erscheinung wirkte imponierend: Großgewachsen und muskulös, breitschultrig, mit blonden Haaren, die nach hinten pomadisiert waren, und undurchdringlichen, waldgrünen Augen. Eine Schwäche hatte er aber, welche sich erst zeigte, wenn er den Mund aufmachte: Er litt an einem Hustentick. Immer wenn er in einer Situation nervös wurde, zumeist in einem Gespräch, fing er zu husten an. Dies führte dazu, dass man ihn selten sprechen hörte, vielmehr hörte man seinen Arbeitseifer. Hauer arbeitete gefühlt Tag und Nacht, und das leider auch lautstark. Nur zu oft kam es vor, dass die Kreissäge nachts um vier Uhr wütete oder der Bagger auf einer seiner Baustellen dröhnte, sodass in den umliegenden Häusern die Lichter angingen. Die Sätze und Gespräche, die da fielen oder geführt wurden, wollte man sicher nicht hören, aber am Ende krochen alle wieder brav in ihre Betten und versuchten murrend, weiterzuschlafen.

Ein Grund, warum niemand etwas unternahm, war, dass Hauer viele wohltätige Dinge für das Dorf unternahm. So stellte er zu Weihnachten eine holzgefertigte, lebensgroße LED-Krippe auf. Etliche Schaulustige aus der Region kamen zu diesem Spektakel, wenn die Lichter der kunstvoll geschnitzten Krippe angingen. Die Zeitung berichtete sogar darüber, und so stand Mihlsdorf für ein paar Stunden jährlich im Rampenlicht. Auch baute Hauer für das Osterfeuer mit seinem übriggebliebenen Holz stets ein riesiges Tipi. Und abermals kamen alle hergepilgert und feierten bis weit in den Morgen, denn so lange hielt das Holz, das Hauer spendieren konnte. Solche Taten reichten anscheinend aus, um sich ein Dorf untertänig zu machen. Er war ihr Krösus und schwamm im Geld, was er auch offen zeigte. Ein weiterer wichtiger Grund war jedoch sicherlich auch die Qualität seiner Arbeit als Zimmermann. Es gab im Dorf viele Handwerker und wunderlicherweise auch noch einen weiteren Zimmermann. Aber Hauer war der geschäftigste und umtriebigste Handwerker von allen. Immer volle Auftragsbücher, mehrere Angestellte und ein ansehnlicher Fuhrpark waren Kennzeichen seiner Betriebsamkeit. Gerüchten zufolge sollte er sogar Kontakte zur Unterwelt pflegen. Sein Erfolg hatte aber auch seinen Preis: Er ließ sich seine Arbeit fürstlich bezahlen. Dafür war, was er anpackte, solide und schnell erledigt. Quasi an fast jedem Gebäude hier im Dorf hatte er schon Hand angelegt: von der Dorfkirche, dem alten Feuerwehrhäuschen bis zu der kleinen Schule für die Grundschüler. Auch sanierte er das Dach des einzigen hiesigen Wirtshauses „Zum Mühlstein“. Doch gab ihm das das Recht, sich wie die Axt im Walde – oder besser gesagt im Dorfe – aufzuführen?

Beim gestrigen Schaum-Drama hatte Barthel Hauer jedenfalls nirgends sehen können. Vielleicht war dieser insgeheim auch froh darüber, dass sich die Sache mit den Fischen so einfach erledigt hatte. Denn solch ein Vergehen wird normalerweise mit einem bis zu fünfstelligen Bußgeld geahndet. Doch Barthel hatte bisher keine Zeit gehabt, tiefgründig über Hauers Fernbleiben nachzudenken. Die Beseitigung der Schaumberge durch die örtliche Feuerwehr hatte sich bis in die späten Abendstunden hingezogen.

Das Quietschen von Gudruns Bollerwagen auf den buckligen Pflastersteinen holte Barthel unmittelbar aus seinem Wachtraum. Die leicht im Gesicht kribbelnde Frische des Morgens genoss er umso mehr und atmete tief ein und aus. Er hatte das Gefühl, dass die Luft hier leicht nach Moos roch, was ihm sehr gefiel. Mit jedem Atemzug fühlte er sich gesünder und gestärkter.

Sein Weg führte Barthel auch direkt am Dorfkern vorbei. Auf einem kleinen Platz stand die schöne, sehr alte Dorfkirche. Unweit daneben befanden sich zwei behauene, große Mühlsteine aus Sandstein, die an die Geschichte des ehemaligen Steinbruchdorfes erinnerten. Auf einem stand der Name und die Jahreszahl 1442, der andere lag flach auf dem Boden und war als Steintisch gedacht. Ein großes, unbebautes Grundstück auf der anderen Seite des Dorfplatzes sah so aus, als wäre seit der Dorfgründung nichts mehr damit passiert. Erstklassig gelegen, fragte sich Barthel immer wieder aufs Neue, warum es keinen Käufer fand, oder wem es überhaupt gehörte – war es doch seinem Dafürhalten nach eine wahre Goldgrube. Neben vielen alten, dickstämmigen Obstbäumen, die schon sehr lange keinen Beschnitt mehr erlebt hatten, stand in der Mitte des riesigen Areals auch eine kleine Holzhütte, deren Tür meist einen Spaltbreit offen war. Wucherndes Gras blockierte den Eingang und hinderte den Wind daran, sie ganz aufzureißen. Die nur noch aus Fetzen bestehende Dachpappe schien einzig von einem mächtigen Efeustrang gehalten zu werden. Barthels Blick war stets auf diese Hütte gerichtet, wenn er an dem Grundstück vorbeiging, wie auch an diesem Tag. Die aufgehende Sonne ließ das verwitterte, ergraute Holz in einer leuchtend-warmen Farbe erstrahlen. Barthels Gedanken kreisten darum, was wohl in dieser Hütte sein mochte. Schon lange war niemand mehr auf diesem Gelände gewesen, das hätte er spielend leicht am plattgedrückten Gras erkannt. Als Kinder hatten sie einen großen Bogen um dieses Grundstück gemacht oder sich zu Mutproben gezwungen, wie weit man an die Hütte rankäme, mit dem Ziel, einen Blick hineinzuwerfen.

In den Häusern brannte noch immer vereinzelt Licht. So konnte Barthel die alten Höfe links und rechts ungestört bewundern. Weiter vorn an der Straße sah er den Jäger Heinz Rüttig, der dabei war, einen Strohballen für sein Rotwild mit einem Gabelstapler ins Gehege zu bringen. Barthel ging hin und schaute gebannt zu, wie das Wild von weit her in Scharen anlief, fast schon zutraulich zu Rüttig kam und genüsslich anfing zu äsen. Ein Rothirsch mit seinem mächtigen 12-Ender-Geweih blickte immer mal wieder auf und fixierte Barthel. Der grüßte ihn im Vorbeigehen, schlenderte weiter und sah schon das Dorfende. Er bemerkte, dass Licht bei Erika Meyer brannte. Die Witwe lebte in einem schönen, efeuumrankten Haus ganz am Ende der Straße. Wenn sie aus dem Fenster blickte, sah sie weite Felder und – ganz entfernt, bei guten Wetterverhältnissen, – sogar die Spitzen des Osterzgebirges. Beneidenswert, wie Barthel fand. Nur gab es auch einen Haken bei all dem Idyllischen: Sie musste immer die Straße überqueren, um zu ihrem Garten zu gelangen. Dieser wurde zusätzlich auch noch von einer Schlucht begrenzt, dem Liebethaler Grund. Dort stand am Fuße massiver Felsen ein Denkmal für Richard Wagner, der hier seinerzeit an der Oper Lohengrin geschrieben hatte. Wagner war als Gralsritter dargestellt, und zu seinen Füßen lagen fünf Figuren, die Menschen nachempfunden waren und die die Elemente seiner Musik repräsentieren sollten: das Sphärische, das Lyrische, das Dramatische, das Dionysische und das Dämonische. Jede der Figuren hielt ein Symbol in den Händen. Das im Liebethaler Grund fast versteckt anmutende Denkmal war das weltweit größte seiner Art. Auf einem acht Meter emporragenden Sandsteinsockel stand die knapp vier Meter hohe Bronze-Plastik des wohl bedeutendsten Komponisten der Romantik.

Wurde ein kleiner Knopf auf einem Info-Pult am Fuße der Stufen zum Denkmal gedrückt, ertönten zarte Klänge aus dem Präludium von Lohengrin. Eine wundersame Ergänzung zu dem wilden Wassertreiben des Flusses, der Wesenitz, der sich mit aller Kraft kurvenreich und lautstark durch dasselbe Tal zwängte.

Um Meyers Garten hielten sich hartnäckig viele Gerüchte, dass dort etwas nicht stimmte, es nicht mit rechten Dingen zuging. Auch diese Anschuldigungen waren Barthel seit seiner Kinderzeit bekannt. Für ihn war die Meyer aber stets eine hilfsbereite Frau gewesen, immer freundlich und gut gelaunt. Wenn er sie sah, bei Wind und Wetter, war sie in ihrem Garten, in der Erde grabend, beschnitt Stauden und summte dabei eine Melodie. Weil sie so eingängig war, konnte Barthel sich gut an sie erinnern.

Mit der Melodie im Ohr verschwand er in den Tiefen der Wälder der Sächsischen Schweiz.

Nach einer herrlichen Wanderung gelangte Barthel über einen schmalen Pfad durch das weite Weizenfeld wieder auf die alte Pflasterstraße in Richtung Mihlsdorf. Als er sich noch mal umdrehte, um zu beobachten, wie der Wind zärtlich den Weizen streichelte, vernahm er unvermittelt ein Brüllen. Es kam aus dem Liebethaler Grund. Barthel ging so schnell und so nah er konnte an den Rand einer Klippe, die sich gleich rechts neben der Straße befand. Leider konnte er aber nur ansatzweise nach unten schauen. Bäume und Äste versperrten ihm die Sicht. Barthel hörte jemanden irgendetwas stammeln, das jedoch durch Hustenanfälle unterbrochen wurde. Für Barthel klang das in gewisser Weise nach Hauer. Mit wem sich die Person unterhielt, konnte er zwar nicht verstehen, doch war er sich sicher, eine zweite Stimme gehört zu haben. Ob männlich oder weiblich war nicht klar. Leise war sie auf jeden Fall. Barthel stand mucksmäuschenstill da, suchte mit seinem Blick alles ab und lauschte. Plötzlich schreckte ihn ein Schrei auf – von der tiefen Stimmlage her eindeutig männlich. Irgendetwas musste da unten passiert sein! Das Problem war nur, dass der Schall, bedingt durch Fluss und Tal, von überall hätte kommen können. Und noch näher an die Felskante wagte sich Barthel nicht, von der aus hätte er vielleicht mehr sehen können. Er überlegte angestrengt. Seines Wissens gab es nur wenige steile Pfade und eine lange Treppenanlage, um das Tal zu erreichen. Zwei offizielle Wege, an denen man hinuntergelangte, lagen nicht in unmittelbarer Nähe. Er entschied sich für den Abstieg beim Dorfausgang und rannte los. Die Straße verlief fast parallel zum Fluss, nur der Abgrund trennte beides voneinander. Der Rucksack schlug gegen Barthels Rücken, aber das war jetzt unwichtig. Immer wieder stoppte er, um zu lauschen, doch da war nur das Rauschen des Flusses. Barthel erreichte Mihlsdorf geschwind und kam am kleinen Parkplatz für die Wanderer vorbei. Beiläufig nahm er den großen Geländewagen mit der scheinbar unendlich langen Ladefläche von Hauer wahr. Als er bei der Abzweigung in den kühlen und dunklen Grund ankam, stockte er kurz, denn er war unbewaffnet. Jetzt schon Verstärkung alarmieren? Und am Ende dem Gespött ausgeliefert sein, wenn unten nichts zu finden war? Was, wenn ihm der Fluss einen akustischen Streich gespielt hatte? Doch für Abwägungen war die Zeit zu knapp. Barthel entschied sich, allein nachzuschauen.

2

6 Monate zuvor

Nach einer anstrengenden und langen Frühschicht öffnete Barthel im schwach beleuchteten Hausflur den Briefkasten seiner Berliner Wohnung. Ihm flatterte ein Brief vom Nachlassgericht seiner Heimatgemeinde in die Hände. Da er für eine gewisse Zeit dastand und nur den Brief festhielt, ging das Licht des Bewegungsmelders aus. Kaltes, blaues Regenwetterleuchten drang von draußen durch die schmalen Flurfenster. Sich uneins mit seinen Gefühlen, riss Barthel den Brief auf. Der Sensor registrierte ihn wieder. Umgehend ging das Licht an.

Barthels Vater war gestorben.

Erschöpft schleppte er sich die Treppen in den vierten Stock hoch, schloss seine Wohnungstür auf, machte sich in der Küche einen Kaffee und ließ sich im Wohnzimmer in seinen türkisfarbenen Ohrensessel fallen. Durch das Martinshorn eines vorbeifahrenden Rettungswagens schreckte er auf und stellte erschrocken fest, dass er knapp zwei Stunden geschlafen hatte. Natürlich war der Kaffee mittlerweile kalt geworden, und er stand auf, um sich einen neuen zu machen. Da sah er auch wieder den Brief liegen. Dieses Mal las er weiter. Barthel war laut Testament zwar der alleinige Erbe, doch gebe es ein lebenslanges Wohnrecht für eine gewisse Marlies Michel. Barthel fiel aus allen Wolken. Sicherlich, sie hatten lange keinen Kontakt gehabt und ihr letztes Gespräch war nicht gerade gut verlaufen, aber anscheinend hatte es im Leben seines Vaters eine neue Frau gegeben. Immerhin war er so nett gewesen, das Erbe nicht aufzuteilen. Viel Vermögen besaßen Barthels Eltern eh nie. Alles, was sein Vater verdient hatte, hatte er in Haus und Garten gesteckt. Er pochte immer so auf seine Unabhängigkeit und wollte nie Hilfe annehmen, besonders nach dem Tod seiner Frau.

Im Brief stand auch irgendetwas von einer Frist. Barthel hätte sechs Wochen Zeit, das Erbe auszuschlagen, sonst gelte die Erbschaft als angenommen. Wer war diese Frau? Barthel fasste sich ein Herz, griff zum Telefon und wählte die Nummer seines Vaters. Er hatte sie lange nicht mehr gewählt. Seine Finger fanden trotzdem zielstrebig die richtigen Zahlen. Nervös lief er in der Küche auf und ab. Wenn sie schon bei ihm wohnte, musste sie auch rangehen.

„Hier bei Barthel“, antwortete eine volle und kräftige Frauenstimme nach dem vierten Klingeln.

„Guten Tag, spreche ich mit Marlies Michel?“, fragte Barthel entschieden.

„Ja, die bin ich. Und mit wem spreche ich, wenn ich fragen darf?“

„Hier ist August Barthel.“

„August? Dann musst du Rolands Sohn sein! Er hat so viel von dir erzählt …“

„Das kann ich mir kaum vorstellen … Verzeihung, wer sind sie eigentlich und warum leben sie im Haus meines Vaters?“, unterbrach Barthel kühl ihren Satz.

„Aber natürlich, ich war die Haushälterin deines Vaters. Und doch, er hat sehr wohl viel von dir geredet. Er war sehr stolz auf dich. Mein herzliches Beileid!“

Sein Vater und eine Haushälterin? Barthel wollte es kaum glauben.

„Ich wurde durch einen Brief davon in Kenntnis gesetzt! Wann ist es passiert?“ Barthel setzte sich auf einen Holzstuhl an den schmalen Küchentisch.

„Als ich das Testament abgegeben habe, sagte man mir, dass sie dich schnellstmöglich kontaktieren werden. Aber dass es so lange gedauert hat, tut mir wirklich leid. Dein Vater starb schon vor einem Monat.“

„Vor einem Monat?“ Zum Glück saß Barthel schon.

„Eigentlich ging es ihm immer gut. Aber am 22. März kam er einfach nicht zum Frühstück. So ging ich irgendwann nachschauen und fand ihn in seinem Bett“, sprach Michel mit sanfter Stimme.

„Ist er schon …?“, begann Barthel leise.

„Nein. Oder so halb, er wurde schon eingeäschert. Nur so gab es die Möglichkeit, die Bestattung so lang wie möglich hinauszuzögern. Zum Glück rufst du an! Die Beerdigung ist nächste Woche Samstag um 11 Uhr …“ Hörbar gespannt hielt Michel die Luft am Ende des Satzes an.

„Okay. Ich melde mich“, beendete Barthel das Gespräch knapp und legte auf.

Nun war er beunruhigt. Fragen überschatteten seine aufkeimende Trauer, auf die er recht bald Antworten haben musste. Und um diese zu finden, würde er wieder in sein Dorf zurückmüssen. Er musste diese Marlies Michel kennenlernen und versuchen, sie einzuschätzen. Hing doch in gewisser Weise seine Entscheidung bezüglich seines Erbes davon ab. Wie alt sie war, das konnte er allein anhand ihrer Stimme am Telefon nicht einschätzen.

Wie sollte er sich nur entscheiden? Er fand sich mit seinen 42 Jahren noch zu jung, um schon wieder in die Heimat zurückzugehen.

Plötzlich übermannte Barthel eine unschöne Erinnerung. Ein handfester Streit mit seinem Vater. Es ging um seine Mutter, die bei einem Autounfall tödlich verunglückt war.

„Wir haben FSV Porschendorf platt gemacht, das musste doch ordentlich gefeiert werden“, hörte Barthel seinen Vater sagen und sah noch ganz genau, wie er seinem Blick auswich und eisern in die Landschaft schaute. Weil sein Vater zu besoffen war, um ihn vom Bahnhof abzuholen, musste seine Mutter fahren. Er gab seinem Vater die Schuld an ihrem Tod und hatte ihn nie wiedersehen wollen. Das war jetzt zehn Jahre her. Gekonnt wich er damals den Fragen seiner Freunde nach seinen Eltern an seinem 40. Geburtstag aus. Nun würde er seinen Vater tatsächlich nie mehr sehen können, und angesichts dieser Endgültigkeit überkam ihn ein Schauer. Vielleicht hätte ein klärendes Gespräch nach dem gebührenden Abstand gutgetan. Dafür war es nun zu spät.

Die Woche verging schleppend, aber Barthel war durch fordernde Polizeidienste gut abgelenkt. Eine Entscheidung zwecks des Erbes hatte er noch immer nicht treffen können. Am Freitagabend rief er Michel an – einen Tag vor der Beerdigung.

„Hier bei Barthel“, meldete sie sich freundlich.

„Ja, hier August noch mal. Ich sagte ja, dass ich mich noch melde.“

„Schön, von dir zu hören.“

„Sei mir nicht böse … Ich werde morgen nicht kommen“, sagte er ihr, ohne selbst richtig überzeugt zu sein.

„Ist gut.“

Sie war enttäuscht, das hörte Barthel an ihrer Stimme. „Viel Kraft für morgen.“ Barthel verabschiedete sich und legte auf.

Er brauchte ewig, um einzuschlafen, und wachte auf, ohne sich den Wecker gestellt zu haben. Ein Blick darauf verriet ihm, dass es sieben Uhr war. Barthel wusste plötzlich, was er zu tun hatte.

Nach einem schnellen Frühstück kleidete er sich mit Hemd, Krawatte und feinem Anzug ganz in Schwarz, holte entschlossen sein Auto aus der Tiefgarage und fuhr los. Die Beerdigung war um 11 Uhr, er konnte es noch rechtzeitig schaffen.

Die Strecke war Barthel ebenso lange nicht mehr gefahren, wie er auch seinen Vater nicht mehr gesehen hatte, und schneller als gedacht erreichte er Mihlsdorf. Er fuhr langsam die lange Kirschallee hinunter ins Dorf. Nur noch vereinzelt hingen Ende April ein paar rosafarbene Blüten an den alten, knorpeligen Bäumen, deren Schattenwurf düstere Gestalten auf dem Asphalt hervorzauberte. Barthels Heimat, seine Region, ein Hort der Sagen und Mythen. Als er noch ein Kind war, erzählte ihm seine Mutter viele hiesige Geschichten. Damals suchte er auf den Wanderungen in den Bergen und Wäldern regelrecht die Unholde, oder zumindest Hinweise auf deren Existenz. An ein paar Sagen konnte er sich auch heute noch bruchstückhaft erinnern.

Da war sie wieder, die Dorfstraße mit ihren alten Pflastersteinen. Die Stoßdämpfer hatten tüchtig zu tun – zwangsläufig fuhr Barthel noch langsamer. Mit gemischten Gefühlen schlich er bedächtig die Straße entlang, die auch am Lebensmittelladen von Irmgard Helbig vorbeiführte. Hier gab es in gewisser Weise alles, was das Herz begehrte. Das stilvoll drapierte Schaufenster mit den Gläsern und bunten Verpackungen hatte sich nicht verändert. Selbst das kleine Bäckermännchen streckte tapfer seinen riesigen Laib Brot in die Höhe wie eh und je. Weil er noch etwas Zeit hatte und auch einen kleinen Appetit verspürte, hielt Barthel davor und stieg aus. Er trat auf die breite Sandsteinstufe beim Eingang, öffnete die weiß gestrichene Holztür und hörte dieselbe alte, kleine Glocke wie damals bimmeln. Helbigs Laden war auch der einzige im Dorf, der Kaffee und belegte Brötchen anbot, falls sich dies in der Zwischenzeit nicht geändert hatte. Frau Helbig lugte durch den bunten, aus vielen Streifen bestehenden Fliegenschutz, der das Hinterzimmer von der Ladenfläche trennte, und kam dann geradewegs zur langen Theke, die aus einer Vitrine für Backwaren, dem Kassierbereich und einer Kühltheke mit Wurst bestand. Mittig positionierte sie sich und sagte unvermittelt: „Schön, dich hier wiederzusehen. Mein herzliches Beileid, lieber August.“

Barthel war überrascht, dass sie ihn gleich erkannt hatte. „Danke schön, Frau Helbig. Lang ist es her, und viel ist passiert!“

„Was kann ich für dich Gutes tun?“, setzte sie nach und glättete mit der linken Hand die weiße Tischdecke unter ihrer Kasse.

„Gerne hätte ich einen Kaffee und ein Hackepeter-Brötchen“, entgegnete Barthel, zeigte auf die mit Zwiebeln und Petersilie liebevoll dekorierten belegten Brötchen und fügte hinzu: „Den Kaffee bitte schwarz.“

„Sehr gerne doch.“ Helbig fischte das Brötchen mit einer langen, silbernen Gebäckzange heraus und legte es auf einen kleinen Porzellanteller. Sie schraubte eine bunte Thermoskanne von beachtlicher Größe auf und goss vorsichtig Kaffee in eine mit blauem Zwiebelmuster verzierte Henkeltasse ein, die sie Barthel dann samt passender Untertasse galant reichte.

„Danke! Das gute alte Meissner …“ Barthel war sichtlich angetan. Er stellte sich an den einzigen Stehtisch, links neben der Wursttheke, und biss herzhaft in das Brötchen.

Plötzlich hörte er, wie eine Autotür zugeplautzt wurde. Gefühlt einen Wimpernschlag später ging die Ladentür schwungvoll auf. Berufsbedingt sensibilisiert drehte sich Barthel um und blickte einem gutaussehenden, hochgewachsenen Mann in die energischen, waldgrünen Augen. Dieser erwiderte seinen Blick, öffnete den Mund, so als ob er etwas sagen wollte, doch anstelle dessen musste er husten, dem er ein lautes „Mensch“ hinterherschickte, ehe er wieder hustete. „Dich gibt es also auch noch!“

Barthel erkannte sein Gegenüber nicht sofort und antwortete arglos: „Hoffe ich doch mal.“

„Ich wette, du hast keinen blassen Schimmer, wer ich bin“, sprach der blonde, junge Mann selbstsicher, denn er musste diesmal erst am Ende seines Satzes husten. Fast im selben Atemzug drehte er sich zu Helbig und kommandierte: „Kaffee! Zum Mitnehmen. Wie gehabt“, um sich dann wieder Barthel zuzuwenden: „Und, schon eine Idee?“

Kurz herrschte nahezu Stille in dem kleinen Lebensmittelladen. Nur jenes Geräusch war zu hören, wie Helbig den dampfenden Kaffee in den Pappbecher goss.

„Diesmal mit einem Deckel, lieber Friedrich?“, durchstach sie dieses scheinbare Vakuum, und da fiel es Barthel wie Schuppen von den Augen: Vor ihm konnte nur Friedrich Hauer stehen.

„Breit bist du geworden!“, sagte Barthel zu ihm.

„Das macht die Arbeit.“ Hauer hustete wieder und richtete sich auf. Barthel wusste, dass Hauer zehn Jahre jünger war als er. Ganz früher stand es nicht gut um ihn, er war schmächtig und in sich gekehrt gewesen. Kein Gleichaltriger wollte was mit ihm zu tun haben, mitunter auch wegen seines Hustenticks.

Hauer verzog keine Miene. „Gibt’s nicht gleich jemanden zum Beerdigen?“

Barthel war sprachlos, fasste sich aber schnell wieder, schluckte seine aufkeimende Wut hinunter und schaute auf seine Uhr. „Stimmt.“ Er zahlte, bedankte sich knapp bei Helbig und ging nach draußen. Als Barthel seine Autotür öffnete, stand Hauer mitten im Ladeneingang, schaute ihm beim Einsteigen zu und sagte großspurig: „Ich kauf ’ dir die Bude ab, wenn du willst.“

Barthel erwiderte nichts, sondern schloss die Autotür, startete den Motor und fuhr los in Richtung Dorfkirche. Dabei musste er zwangsläufig auch an „seinem“ Haus vorbei. Er stoppte davor und spähte verstohlen durch das Seitenfenster darauf. Im sanften Gegenlicht kam es ihm schöner vor, als er es in Erinnerung hatte. Sein Vater musste in der Zwischenzeit viel daran gewerkelt haben. Barthel verspürte ein behagliches Gefühl, als er den Rückwärtsgang einlegte und beschloss, hier zu parken. Er hatte seine Entscheidung getroffen, er würde sich schon irgendwie mit Marlies Michel arrangieren.

3

Barthel brauchte seine ganze Konzentration. Der Weg nach unten war durch große, moosüberzogene Sandsteine beschwerlich, die stellenweise auch noch rutschig waren. Er hielt sich immer wieder an dem viel zu niedrigen, verrosteten Handlauf fest und kam langsamer als gedacht unten im Tal an.

Hier drang wenig Licht durch die Bäume. Die Felswände waren mit imposanten Überhängen versehen und steil. Der Fluss donnerte durch das Tal. Barthel fühlte sich auf einmal unheimlich klein. Aber er hatte ein Ziel: Herauszufinden, was hier unten passiert war. Das sollte seiner Einschätzung nach schnell gehen.

Er kam an eine Gabelung. Links ging es zu dem Grundstück der ehemaligen Lochmühle, einer schicksalhaften Mahlmühle, die direkt am Fluss lag und schon Ende des 16. Jahrhunderts urkundlich erwähnt wurde, später als beliebtes Ausflugslokal diente und nun schon lange leer stand und zunehmend verfiel. Barthel sah von fern, dass das Transparent von Hauers Firma am eingerüsteten Dachstuhl prangte. Er entschied sich für den rechten Weg. So ging er aufmerksam den schmalen Wanderpfad entlang und schaute nach Spuren eines Kampfes oder dergleichen. Seine Uhr zeigte an, dass es kurz nach 15 Uhr war, doch hier unten kam es ihm durch das wenige Licht wie abends vor. Wie immer bestens vorbereitet, hatte er eine Taschenlampe im Rucksack; zur Not wäre auch das Handylicht parat gewesen, doch ging er nicht davon aus, beides benutzen zu müssen.

Reichlich Schuhabdrücke gab es auf dem immerfeuchten Weg, der mit vielen großen, matschigen Stellen gespickt war. Bald hatte Barthel den großen Vorplatz des Wagner-Denkmals erreicht, ohne irgendetwas Nennenswertes entdeckt zu haben und hielt vor der überlebensgroßen Plastik inne. Ein Ehepaar saß unmittelbar dem Denkmal gegenüber auf einer Bank, ganz vertieft in die zarten Klänge des Lohengrin-Vorspiels. Der Mann wippte im Takt der Melodie mit seinem freischwingenden Fuß, den er auf dem Knie des anderen Beines abstützte, hingegen war sein Kopf starr auf das Denkmal gerichtet. Seine zarte rechte Hand hielt sanft ihre linke. Sie saß kerzengerade in ihrem dunklen, teuren Wanderoutfit, das noch wie neu aussah, und rührte sich nicht. Nur das gelegentliche Öffnen und Schließen ihrer Lider deutete auf ein Lebenszeichen hin. Barthel hätte wetten können, dass die beiden leidenschaftliche Wagnerianer waren, die sicherlich sämtliche Libretti des Ring-Zyklus’ auswendig konnten. Barthel ging zu ihnen hin. „Ungern möchte ich stören, doch muss ich Sie leider etwas fragen. Ich bin von der Polizei, Barthel mein Name. Haben Sie eben einen Streit oder irgendetwas Auffälliges mitbekommen?“

Das Paar starrte weiter wie hypnotisiert auf das Wagner-Denkmal. Barthel räusperte sich laut, weil niemand reagierte. Da stoppte der Mann sein Fußzappeln, hob seine Hand und macht eine halbkreisförmige Armbewegung, als ob er dem Publikum eine ganz besondere Attraktion darbieten wolle. „Hier stand Wagner mal höchstpersönlich und ließ sich inspirieren, dem kann man nicht lang genug frönen.“

Barthel hakte nach: „Und da ist Ihnen nichts aufgefallen?“

Die Frau antwortete, ohne sich oder ihren Kopf zu rühren. Es waren einzig ihre Lippen, die sich bewegten: „Herbert, erinnerst du dich an das seltsame Paar?“

Barthel erschrak vor ihrer piepsigen Stimme, die einer Maus glich. „Was war denn so seltsam an den beiden?“

Die Frau holte Luft und piepste weiter: „An einer schwachen Stelle des Präludiums bemerkte ich zufällig eine Frau und einen Mann. Sie ging voraus und er versuchte, ihr zu folgen. Doch ihm schien es irgendwie nicht gut zu gehen. Sie aber ging unbeeindruckt einfach weiter. Ich habe ihnen keine weitere Beachtung geschenkt.“

Barthel hörte aufmerksam zu, was nicht wirklich leicht war, denn der Fluss übertönte beinahe ihr Stimmchen, und fragte aufgeregt: „Wohin liefen sie?“

Die Frau zeigte mit dem Zeigefinger ihrer klauenhaften rechten Hand in die Richtung, die tiefer ins Tal führte. Das tat sie allerdings, ohne ihren Körper zu bewegen, und sprach: „Da irgendwo. Plötzlich waren sie weg. Wahrscheinlich sind sie im Gebüsch verschwunden. Haben denn die Menschen keinen Anstand und kein Zuhause mehr, an dem sie solchen Schweinskram ausleben können?“

Knapp bedankte sich Barthel für die Information und beeilte sich, ihrem Hinweis zu folgen. Er suchte den Boden ab und blickte in regelmäßigen Abständen nach oben zur Felskante. So wollte er sich orientieren und den Punkt ausfindig machen, an dem er vorhin gestanden und dem Geschehen gelauscht hatte. Am Boden fand er keine eindeutigen Hinweise, alles sah matschig und zertrampelt aus. Links dröhnte der Fluss, dessen Ufergegend unversehrt war. Rechts waren zerklüftete Felsformationen, mal scheinbar aufgeschichtet, mal glatt gebrochen. Die Natur begann stetig, sich ihr Refugium zurückzuerobern; die Zeiten des hiesigen Steinbruchs waren schon lange vorbei. In fast jeder Fuge wurzelte ein Baum oder Strauch. Unterarmdicker Efeu rankte breitflächig am Felsen hoch. Dieses Gebiet unterlag nun strengstem Naturschutz. So durfte kein umgefallener Baum, selbst wenn er noch so ungünstig lag, geräumt werden.

Hoffnung regte sich in Barthel, als er einen stärkeren Ast entdeckte, der zerteilt mitten auf dem Weg lag. Er kniete sich vorsichtig hin und untersuchte die Bruchstelle auf Spuren von Blut. Aber warum vermutete er hier eigentlich ein Verbrechen? War es nicht auch denkbar, dass er lediglich Zeuge eines gewöhnlichen Streits geworden war? In der Folge es leider zu Handgreiflichkeiten kam, beide stillschweigend weitergegangen waren und sich nun bei Kaffee und Kuchen wieder versöhnt hatten? Möglich! Doch wenn Barthel eins besaß, dann war das ein Gespür für Verbrechen. Und das schlug hier unten eindeutig an.

Barthel fand nichts Verdächtiges an dem Ast, stand enttäuscht wieder auf und schaute nach oben. Er machte ungefähr die Stelle aus, an der er vorhin oben gestanden war. Der Streit musste also hier gewesen sein.

Plötzlich polterte etwas Geröll unweit von Barthel entfernt den Hang hinunter und landete im Gebüsch. Glücklicherweise wurde er nicht getroffen, aber der Schreck saß tief. Barthel versuchte zu erspähen, wo etwas abgebrochen war, und entdeckte auf den ersten Blick nichts Besonderes, nur faltige Felsformationen und Vorsprünge mit gaffenden, dunklen Mäulern. Der Laubfall setzte dieses Jahr recht spät ein. Sonst wäre es etwas schwerer für Barthel gewesen, Spuren ausfindig zu machen. Aber er musste mit seinen Rückschlüssen vorsichtig sein, denn es gab hier unten auch eine Menge Wildtiere.

In einem Spalt unterhalb eines Vorsprungs in drei Metern Höhe, der breit genug für einen Menschen war, meinte Barthel, ein Augenpaar auszumachen, das ihn unnatürlich goldgrün anstarrte – als ob ihn der Teufel höchstpersönlich fixierte. Er ging näher, ließ dabei die Stelle jedoch nie aus den Augen. Nur einmal ganz kurz, als er direkt vor dem Felsen stand, ihn absuchte, um vergeblich einen Weg nach oben zu finden. Als er die Spalte wieder ins Visier nahm, waren die Augen weg. Barthel wollte es genau wissen, setzte seinen Rucksack ab, kramte darin herum und holte eine Taschenlampe heraus. Mit seinem Handy hätte er die Stelle in dieser Höhe nicht ausreichend ausleuchten können. Er richtete die Lampe gezielt auf das Dunkel und wurde augenblicklich enttäuscht. Das, was er für Augen gehalten hatte, war nichts anderes als Leuchtmoos, welches hier im Elbsandsteingebirge reichlich vorhanden war. Ein Teil des Lichtes wurde von den Polstern, ähnlich wie bei einem Katzenauge, zurückgeworfen, so leuchteten die Moose bei bestimmten Lichtverhältnissen goldgrün.

Barthels Blick wanderte wieder durch die Gegend, und er drehte sich langsam einmal um die eigene Achse. Doch obwohl er augenscheinlich ganz allein war, wurde er irgendwie das Gefühl nicht los, beobachtet zu werden. Es erübrigte sich, den Atem anzuhalten oder ganz ruhig stehen zu bleiben, um zu lauschen. Das Rauschen des Flusses übertönte ohnehin alles. Ihn gruselte es allmählich. Er war kein Mann der starken Nerven, eher des guten Gespürs. Aber es war seine Aufgabe und Pflicht, weiterzumachen. Obwohl, streng genommen war er ja gar nicht im Dienst, es war Sonntag und er hatte frei; morgen erst musste er wieder ran. Ebenfalls alleine, das war die Kehrseite seines idyllischen Berufs als Bürgerpolizist auf dem Dorf.

Die Sonne war weitergewandert. Es wurde langsam dunkel hier unten, wenngleich es eigentlich erst später Nachmittag war. Barthel analysierte die Situation: Entweder lief er den Wanderweg weiter bis zum nächstmöglichen Aufstieg und somit auch in die Dunkelheit hinein, oder er würde umkehren und morgen noch mal bei Tageslicht ausgiebig suchen. Nach Regen sah es zumindest nicht aus, sodass keinerlei Spuren vernichtet werden würden.

Barthel entschied sich dafür, umzudrehen. Gedankenversunken ging er denselben Weg zurück. Das Wanderpaar saß noch immer unverändert vor dem Denkmal und schaute gebannt auf Wagner. Beide würdigten ihn keines Blickes. Neu an diesem Stillleben war allerdings, dass sie sich ein Lämpchen aufgestellt hatten, denn das Monument wurde bei Dunkelheit nicht angestrahlt. Sie wirkten in diesem Licht unfreiwillig nur noch gespenstischer.

Als Barthel zu der Weggabelung kam, bemerkte er, infolge der schwachen Lichtverhältnisse, dass durch die Plane auf dem Dachstuhl der Lochmühle Licht nach außen drang. Es schien so, als ob jemand auf der Baustelle zugange wäre. Barthel zückte diesmal sein Handy, das ging jetzt schneller, als erst den Rucksack abzusetzen und darin rumzuwühlen, zumal er nicht ernsthaft davon ausging, Objekte in großer Entfernung erkennen zu müssen. Als er auf den Bildschirm des Handys blickte, nahm er besorgt zur Kenntnis, dass er hier unten keinen Empfang hatte. Barthel stellte die Taschenlampen-Funktion ein und hielt den Lichtstrahl vor sich. Die moosüberzogenen, feuchten Steine strahlten unnatürlich hell. Er musste durch eine Art tropfende, steinerne Unterführung gehen. Je näher er dem Gelände kam, desto erkennbarer wurde das Dudeln eines Radios. Der Lichtstrahl erfasste auch das vom Schimmel malträtierte alte Mauerwerk. Ein Bauzaun umgab das Gebäude. Reste des ehemaligen Putzes klebten sporadisch auf den feuchten Sandsteinen wie sich ablösende, nass gewordene Pflaster. Ansatzweise war der Schriftzug des ehemaligen Betreibers auf einer Tafel in Höhe des ersten Stocks noch zu erkennen, aber auch hier hatte die Witterung schon ordentlich an den aufgemalten Buchstaben genagt. Barthel suchte den Eingang in das vom Einsturz bedrohte Gebäude und schritt langsam an der Außenwand mit den vielen zugemauerten Fenstern entlang. Er fand einen Zugang an der Stirnseite der Mühle, von wo aus man bei Tageslicht einen herrlichen Blick auf den kleinen angrenzenden Wasserfall haben musste. Er konnte jetzt ganz deutlich die Musik hören und zwängte sich durch den offengelassenen Bauzaun. Sein Kommen kündigte er lautstark an: „Hallo. Jemand hier?“ Da keine Reaktion erfolgte, ging er vorsichtig in das Gebäude hinein.

Durch einen Türspalt drang Licht in den Vorraum. Ein plötzlicher Windstoß ließ die Plane auf das Dachskelett schlagen. Barthel zuckte zusammen. Seine Schreckhaftigkeit ließ ihn einen kurzen, mädchenhaften Schrei ausstoßen, wofür er sich im Anschluss schämte und hoffte, dass ihn niemand gehört hatte. Er war alles andere als ein knallharter Großstadtbulle, das wusste er auch, aber das musste nicht jeder wissen.

Barthel öffnete entschlossen die vor ihm sich befindliche Tür, ging hinein und kam in eine Art offene Halle. Vier Baustrahler, jeweils in den Ecken positioniert, leuchteten alles derart grell aus, dass Barthel das Gefühl hatte, die Sonne würde hier scheinen. Er ließ das Handy wieder in seiner aufgesetzten Beintasche verschwinden und bestaunte die Halle, nachdem sich seine Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten. Da keine weiteren Zimmer vorhanden zu sein schienen und die Zwischendecke fehlte, konnte man direkt in den Dachstuhl hochschauen. Der vormals vorhandene Holzbohlenbelag war entfernt worden, Überreste konnte Barthel gestapelt in einer Ecke erspähen. Das Fundament in Form von in den Dreck gemauerten Sandsteinen kam zum Vorschein. Das Radio entdeckte Barthel neben einem der Baustrahler und stellte es aus. Er rief noch mal „Hallo“, doch er hörte nur den Wind pfeifen und den Fluss rauschen. Mitten in der Halle sah er ein massives Brett, welches von zwei Klappböcken gestützt wurde. Darauf lag etwas. Doch aus der Entfernung konnte er nicht erkennen, was genau es war. Barthel ging näher und fand ein Handy in einer robusten Hülle neben einer geöffneten Brotdose vor. Die aufgeschnittenen Äpfel darin waren schon braun verfärbt und das belegte Brot lediglich angebissen. Ein offenes Bier rundete die Brotzeit ab, nur war auch dieses nicht angerührt worden. Seinem Dafürhalten nach sah es hier so aus, als ob jemand die Baustelle nur kurz verlassen hätte und gleich wiederkäme. Wer sonst würde sein Handy und Essen einfach so liegen lassen? Möglich war jedoch vieles. Jedenfalls, da war sich Barthel ziemlich sicher, war niemand mehr hier.