Der Mord in der Rose Street - Alex Reeve - E-Book

Der Mord in der Rose Street E-Book

Alex Reeve

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Beschreibung

Atmosphärische Mörder-Suche im viktorianischen London: In »Der Mord in der Rose Street«, dem 2. Band der historischen Krimi-Reihe, ermittelt Leo Stanhope in einem Mord-Fall unter Adligen und Anarchisten. London, 1881: Ein Jahr ist vergangen, seit Leo Stanhope nicht nur die Frau verloren hat, die er liebte, sondern beinahe auch sein eigenes Leben. Eigentlich möchte er nur ein ruhiges Leben führen – doch dann steht erneut die Polizei vor seiner Tür. Eine Anarchistin ist ermordet worden, und sie trug Leos Adresse bei sich. Am Tatort trifft Leo überraschend auf einen Mann aus seiner Vergangenheit: Der junge Adlige John Thackery ist unter falschem Namen zum Arbeiterführer geworden, um gegen seinen tyrannischen Vater zu rebellieren.  Er weiß, dass Leo früher einen anderen Namen trug. Und er droht, ihn zu verraten, sollte Leo ihm kein Alibi für die Mord-Nacht liefern. Im besten Fall würde man Leo »nur« ins Irrenhaus werfen – aber kann er deshalb einen Mörder schützen? Mit Leo Stanhope hat der britische Autor Alex Reeve den wohl außergewöhnlichsten Ermittler im viktorianischen London erschaffen. Seinen ersten Fall löst der Detektiv wider Willen im historischen Krimi »Das Haus in der Half Moon Street«. »Ein zutiefst atmosphärischer historischer Krimi mit mehr Wendungen als die dreckigen Londoner Straßen und einer Hauptfigur, die einem wirklich ans Herz wächst.« Heat

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Alex Reeve

Der Mord in der Rose Street

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Christine Gaspard

Knaur eBooks

Über dieses Buch

London, 1881: Aus heiterem Himmel wird der junge Leo Stanhope von der Polizei abgeholt. Eine Anarchistin ist ermordet worden, und sie trug seine Adresse bei sich. Am Tatort trifft Leo auf einen Mann aus seiner Vergangenheit: Der junge Adlige John Thackery ist inzwischen zum Arbeiterführer geworden. Er weiß, dass Leo früher ein anderer war. Und er droht, ihn zu verraten, sollte Leo ihm kein Alibi für die Mordnacht liefern. Im besten Fall würde man Leo nur ins Irrenhaus werfen – aber kann er deshalb einen Mörder schützen?

Inhaltsübersicht

Widmung

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

Dank

Leseprobe »Das Haus in der Half Moon Street«

Für Seth und Caleb

1

Ich bin Dora Hannigan nur ein einziges Mal begegnet, an einem Samstagnachmittag im März, an dem der Regen draußen so heftig herunterprasselte, dass ich kaum die gegenüberliegende Straßenseite sehen konnte. Sie stieß die Tür der Apotheke auf und kam herein, wobei sie zwei bis auf die Haut durchnässte und fröstelnde Kinder vor sich herscheuchte. Beiden klebten die Kleider am Leib. Der Knabe ging sofort vor dem Kaminfeuer auf die Knie, die Jackenärmel wie die Falten eines Akkordeons an den Armen hinaufgeschoben, und seine jüngere Schwester tat es ihm nach, hielt die Hände in die Wärme und wackelte mit den Fingern.

Ich wandte mich wieder meinem Buch zu, ohne ihnen viel Aufmerksamkeit zu schenken – ich ging davon aus, dass sie einfach Schutz vor dem Wetter suchten. Aber nach einer Weile stellte ich fest, dass die Mutter mir verstohlene Blicke zuwarf. Sie holte einen Handspiegel aus der Tasche, drehte den Kopf von einer Seite zur anderen und rückte ihren Hut zurecht, aber ich sah ihr Gesicht im Spiegel, was bedeutete, dass sie mich ebenso sehen konnte.

»Lassen Sie es mich wissen, wenn ich Ihnen helfen kann«, sagte ich.

»Das werde ich«, antwortete sie mit einem leichten Akzent, den ich nicht einordnen konnte.

Das kleine Mädchen begann sich inzwischen zu langweilen und kletterte auf den Zahnarztstuhl, zupfte mit den Fingernägeln an dem Lederpolster herum und sah sich in der Apotheke um wie eine Königin, die zu jung auf den Thron gekommen war.

»Wozu ist der gut?«, wollte sie wissen.

Sie konnte nicht älter als sieben Jahre sein, aber sie war ungewöhnlich selbstsicher – so sehr, dass sie Auskünfte von einem erwachsenen Mann verlangte, den sie nicht einmal kannte.

Ich legte mein Buch weg und kam hinter dem Kassentisch hervor. Der Blick der Mutter folgte mir.

»Siehst du das da?« Ich ging in die Hocke und zeigte ihr den Pumpmechanismus. »Es sorgt dafür, dass der Bohrer sich pausenlos dreht. Und dann kann man damit die Zähne der Leute in Ordnung bringen.«

Das kleine Mädchen grinste und zeigte mir dabei ihr eigenes Gebiss, milchweiß und mit ein paar Lücken vorn. Sie rutschte wieder von dem Stuhl herunter, setzte die Pumpe mit dem Fußpedal in Gang und kicherte, als der Bohrer in seiner Halterung zu tanzen und zu rattern begann. Ich hatte jedes Verständnis für ihre Wissbegier – in ihrem Alter hätte ich es genauso gemacht –, aber Alfie würde sich nicht bei mir bedanken, wenn er nach Hause kam und feststellte, dass sein kostbarer Stuhl Schaden genommen hatte. Und so manövrierte ich sie wieder zu ihrem Bruder hinüber.

»Mach keine Schwierigkeiten«, zischte er ihr zu, den Mund zu einer harten Linie verzogen.

Er hatte das gleiche dicke, lockige schwarze Haar wie seine Schwester und die gleichen dunklen Augen, nicht aber ihr fröhliches Wesen. Das kleine Mädchen schnitt eine Grimasse, rückte dichter an den Kamin heran und blies in die warme Asche, sodass die Kohlenreste aufglühten und knisterten.

Ihre Mutter beobachtete die beiden in nachdenklicher Stille. Ein Tropfen Regenwasser fiel vom Saum ihres Ärmels auf den Fußboden. Sie schüttelte sich – eine schnelle, ungeduldige Bewegung – und wandte sich dann an mich.

»Ich hätte gern etwas Kaliumbromid, wenn Sie es führen«, sagte sie. »Aber ich kann mir nur Sixpence leisten. Wie viel bekomme ich dafür?«

Ich suchte das Regalbrett ab, bis ich ein halb volles Glas von dem Zeug gefunden hatte: Kalium bromatum. Ich war kein Experte. In meinen Augen sah es aus wie Salz.

»Eine Unze.«

Ich war noch am Abwiegen, als sie wieder sprach. »Wenn ich vier Unzen bekommen könnte oder auch fünf, würde ich morgen mit dem Geld zurückkommen.«

»Dürfen Sie anschreiben lassen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Derzeit noch nicht.«

»Ich fürchte, in diesem Fall kann ich mich nicht darauf einlassen. Sie müssten später noch mal zurückkommen und mit dem Besitzer sprechen.«

Ich war lediglich als Vertretung da und auch das nur, um Alfie einen Gefallen zu tun. Mein Zimmerwirt, der Eigentümer der Apotheke, war ausgegangen. In Gesellschaft einer Freundin, wie er Mrs Gower nannte. Er hatte gesagt, er würde gleich nach dem Mittagessen zurückkommen, aber mittlerweile hatte die Uhr drei geschlagen, und von Alfie war nichts zu sehen. Es störte mich nicht weiter – ich hatte nichts Besseres zu tun, und seiner zwölfjährigen Tochter Constance fiel jedes Mal ein, dass sie andernorts Wichtiges zu erledigen hatte, wenn ihr Vater etwas Zeit in Gesellschaft von Mrs Gower verbringen wollte.

»Wenn Sie bereit wären, mir auf eigene Verantwortung den Kredit zu gewähren, würde ich Ihnen morgen den doppelten Betrag zurückzahlen. Das wäre ein Gewinn von zwei Shilling und Sixpence. Natürlich würde Ihnen das auch die Möglichkeit geben, das Geld selbst zu behalten.«

Ich muss gestehen, ich war überrascht und in nicht unerheblichem Maß indigniert. Glaubte sie wirklich, ich würde so ohne Weiteres Alfies Vertrauen missbrauchen?

»Nein, das kann ich nicht tun. Wollen Sie die eine Unze trotzdem haben?«

Ihre Augen wurden schmal. »Ja, bitte.«

Ich legte ihr Sixpencestück in die Geldschublade und schob ihr das Bromidpäckchen in die Hand. Sie nahm es mit einem Nicken entgegen, das ich nicht erwiderte.

Als sie im Begriff waren zu gehen, sah sie sich um und mir direkt in die Augen. »Sie sind ein ehrlicher Mensch«, sagte sie.

Ich war mir nicht sicher, ob dies als Kompliment gemeint war oder nicht.

 

In den nächsten Tagen dachte ich nicht mehr an die Familie. Jeden Morgen ging ich zur Arbeit – ich war Pedell am St Thomas’s Hospital –, und jeden Abend kam ich nach Hause. Ein Mal die Woche spielte ich Schach. Manch einer hätte dies vorhersehbar oder sogar eintönig genannt, aber ich war zufrieden. Ich hatte meine Erfahrungen mit einem aufregenden Leben gemacht und legte auf weitere davon keinen Wert.

Aus diesem Grund war ich einigermaßen verstört, als ich am darauffolgenden Donnerstag von der Arbeit nach Hause kam und dort Constable Pallett antraf, der an der Tür der Apotheke auf mich wartete. Er war jünger als ich, aber in allen drei Dimensionen größer, und er hatte ein weiches, sanftes Gesicht und Fäuste wie die großen eisernen Klampen der Docks.

»Mr Stanhope«, grüßte er mich mit seiner unerschütterlichen Höflichkeit, etwa wie ein Bankangestellter unmittelbar bevor er den Kredit kündigt.

»Was kann ich für Sie tun, Constable?«

Ich sorgte dafür, dass mein Tonfall fest blieb, aber er war mir immer im Bewusstsein, der eine Gedanke: Haben sie die Wahrheit über mich herausgefunden? Ist dies jetzt der Moment?

Ich schloss die Tür auf, und er folgte mir in die Apotheke, wobei er den Helm abnahm, der andernfalls die Decke zerkratzt hätte.

»Es ist eine heikle Angelegenheit, Sir. Wir würden Sie gern um Ihre Unterstützung bitten.«

»Bei was?«

Ich beobachtete ihn aufmerksam. Seine Stiefel waren schlammverkrustet, und sein Uniformrock war fleckig, als hätte er seine schmierigen Hände daran abgewischt. Aber er wirkte vollkommen unbefangen, als er da stand und Alfies neue Waage mit dem Zeigefinger zum Wippen brachte.

»Es ist eine merkwürdige Sache, das steht mal fest.« Ich hatte den Eindruck, dass er jemanden zitierte. »Detective Inspector Hooper hat das Sagen.«

»Ihn kenne ich nicht. Ist er ein guter Mann?«

»Er hofft, Sie könnten uns im Zusammenhang mit einem Vorfall weiterhelfen.«

Ich stellte fest, dass er meine Frage nicht beantwortet hatte. Und ein »Vorfall«, das konnte so gut wie alles bedeuten – ein gesunkenes Schiff, ein ermordeter Angehöriger, eine Kneipenschlägerei, ein geliehenes und nicht zurückgegebenes Paar Handschuhe.

»Was ist passiert?«

»Er hat mich angewiesen, die Einzelheiten nicht zu erwähnen, Sir. Er hat gesagt, er möchte Ihre natürliche Reaktion sehen, ohne vorherige Unterrichtung, gewissermaßen. Er hat sich da sehr deutlich ausgedrückt.«

»Und wenn ich mich weigere?«

Er sah überrascht aus. »Es wurde ein Verbrechen verübt. Es ist am besten, wenn Sie mitkommen.«

Wir gingen in nördlicher Richtung durch Soho, wobei Pallett entschiedenen Schritts die Gehsteige entlangmarschierte und sich an den Helm tippte, wenn wir anderen Passanten begegneten. Ich stellte fest, dass sie mich beäugten und sich vermutlich fragten, warum ich hinter einem Polizisten herhastete. War ich Opfer oder Verdächtiger? Ich hätte ihnen die Frage nicht beantworten können. Ich verspürte das Bedürfnis, langsamer zu werden, in eine Nebenstraße abzubiegen und loszurennen – etwas, das ich bei früheren Gelegenheiten durchaus schon getan hatte.

»Wohin gehen wir?«

»Rose Street.«

Die Rose Street war mir ein Begriff, des Pubs wegen, der auf beiden Seiten und über der Straße errichtet worden war, sodass eine Durchfahrt durch das Gebäude selbst entstanden war. Alfie besuchte das Lokal oft, und einmal hatte er mich überredet, mitzukommen und seine alten Kameraden aus dem Regiment kennenzulernen. Sie hatten mich herzlich aufgenommen und sich geweigert, mich eine Runde ausgeben zu lassen. Wir saßen so dicht beisammen, dass unsere Schultern sich berührten, und sie erzählten abwechselnd Geschichten von ihren Einsätzen im Ausland, die sie unverkennbar alle auswendig kannten. Dann lachten sie und schütteten ihr Ale hinunter.

Ich war früh gegangen. Ich wollte keine neuen Freunde.

Pallett und ich erreichten die Rose Street und zogen instinktiv die Köpfe ein, als wir den Durchgang betraten und uns zwischen den Betrunkenen und Landstreichern hindurchschoben, die sich dort zusammendrängten wie neugeborene Mäuse. Auf der anderen Seite war die Straße abgesunken und überflutet, ein schlammiger brauner Teich, dessen Wasser mir durch die Löcher in meinen Schuhen und in die Socken drang. Hoch oben an einer der Mauern war ein aus Eisen gestaltetes Handwerkerzeichen angebracht: ein Männerarm, der einen Hammer hielt und jeden Menschen zu zerschmettern drohte, der unter ihm vorbeizugehen wagte.

Ich hatte keinerlei Vorstellung, warum man mich an diesen Ort führte. Der Magen krampfte sich mir zusammen, als ich mich zu fragen begann, ob ich die Leiche von jemandem identifizieren sollte, den ich kannte. Dabei fielen mir augenblicklich Alfie und Jacob ein und dann, weil meine Fantasie sich unweigerlich auf die Schwärzeste aller denkbaren Möglichkeiten stürzte, Constance.

Das konnte es nicht sein. Was hätte einer von ihnen hier in dieser Straße zu suchen gehabt? Und wäre es einer von ihnen gewesen, warum wäre man dann als Erstes zu mir gekommen? Sie alle hatten Angehörige.

Pallett blieb vor der Nr. 6 stehen – einer unauffälligen Tür, angelehnt, ein Fenster mit geschlossenen Läden daneben. Ich hörte Geräusche im Inneren, die gedämpften, eindringlichen Stimmen von Menschen, die Angst hatten und noch nicht wussten, wie sie sich diesbezüglich verhalten sollten.

Er stieß die Tür auf und ging hinein, während ich auf der Schwelle zögerte. Meine Handflächen prickelten.

»Mr Stanhope?«, rief er mir über die Schulter zu. »Hier entlang, Sir.«

Der schmale Hausgang war dunkel und voller Menschen, vor allem Gewerbsleute und ein paar Frauen, einfach, aber ordentlich gekleidet. An den Wänden hingen Ankündigungen für Veranstaltungen und deren Sprecher, aber im Halbdunkel konnte ich die Namen nicht lesen. Auf beiden Seiten lagen Räume, von denen einer voller Betten stand und ein anderer für eine Besprechung vorbereitet zu sein schien, auf dem Tisch stapelten sich Papiere und Pamphlete.

Am Ende des Flurs öffnete sich eine Hintertür auf einen geschützten Innenhof. An den hölzernen Außentreppen waren Petroleumlampen angebracht worden, die zischten und flackerten. Obwohl es nicht regnete, war alles nass, als fände das Sonnenlicht niemals einen Weg zwischen den Gebäuden hindurch und hier herunter.

Eine Gruppe von fünf oder sechs Männern stand in einem Kreis beisammen, und einer von ihnen, die rechte Hand in der Tasche seines ausgebeulten Anzugs vergraben, während er sich mit der anderen den struppigen Bart kratzte, spähte in unsere Richtung. Sein Gesicht war kreidebleich. Ein anderer Mann berührte ihn am Ellbogen, offenbar ein Versuch, ihn zu trösten, aber er schien es kaum zu merken. Ich spürte ein Prickeln im Gesicht, als mir aufging, dass ich ihn kannte. Oder gekannt hatte, vor langer Zeit einmal. Ich hatte keinerlei Bedürfnis, die Bekanntschaft zu erneuern.

Natürlich konnte er sich unmöglich an mich erinnern – ich hatte mich zu sehr verändert.

»Da drüben, Mr Stanhope«, sagte Pallett und führte mich in die Mitte des Hofs.

Ein groß gewachsener Mann mit langer Nase kam auf uns zu, wobei er sich den Weg durch die Pfützen suchte wie ein besonders heikler Fischreiher.

»Ich bin Detective Inspector Hooper«, sagte er mit einem Akzent, den jemand, der in den Slums geboren war, vielleicht für den der Oberschicht gehalten hätte. In den Ohren eines Menschen, der tatsächlich Angehörige der Oberschicht kannte – und die Kleinstadtgemeinde meines Vaters hatte alle Schichten umfasst –, klang er lediglich affektiert.

Ich warf einen Seitenblick auf Pallett, dessen Gesichtsausdruck vollkommen neutral war.

»Warum bin ich hier?«

»Eine Tragödie, ein Verbrechen und, wenn man es so sagen darf, auch eine Kuriosität.« Hooper rieb sich die Hände und grinste, wobei er ein für teures Geld installiertes Gebiss sehen ließ. »Kommen Sie mit, sehen Sie sich’s selber an.«

Ich folgte ihm zu der Gruppe von Männern hinüber, die sich bei unserem Näherkommen zerstreute. Einer von ihnen, ein Kerl mit dickem Backenbart und einem groben, bulligen Gesicht, schrieb etwas in sein Notizbuch. Er nickte mir zu, aber ich reagierte nicht – ich war voll und ganz mit dem beschäftigt, was sie sich angesehen hatten.

Es war ein Grab, gewissermaßen jedenfalls, aber es war nicht mehr als zwei Fuß tief, ohne jede Sorgfalt ausgehoben und mit Wasser gefüllt. Eine Frau lag in der Grube, die Augen geschlossen; ihr Haar trieb auf der Wasseroberfläche. Ihre Lippen waren dunkel, die Haut grau und aufgequollen. Unterhalb des Brustbeins war ihr Oberkörper gezeichnet von einem wüsten Riss in der Bluse und einem Blutfleck, der zu blühen schien wie eine rote Seerose. Ich erkannte sie augenblicklich als die Frau, die zu mir in die Apotheke gekommen war, die Bromid gekauft hatte, aber allem Anschein nach mehr an mir interessiert gewesen war.

Ich hatte zwei Jahre lang als Assistent eines Chirurgen gearbeitet. Ich hatte Hunderte von Leichen gesehen – zerschmettert, erstochen, vergiftet, erschlagen und ertrunken –, aber es machte mich noch immer fassungslos, jemanden tot zu sehen, der mir als lebendiger Mensch begegnet war.

»Stich in den Bauch«, stellte Hooper in sachlichem Tonfall fest. »Ihr Name ist Dora Hannigan. Haben Sie sie gekannt?«

»Nein. Wieso haben Sie mich hierhergeholt?«

Natürlich kannte ich sie nicht. Nicht wirklich. Jemanden ein einziges Mal getroffen zu haben bedeutet nicht, dass man denjenigen kennt, und ich wollte mit dieser Geschichte nichts zu tun haben. Ich wollte nach Hause gehen und Constances experimentellen Eintopf essen und ein Glas von Alfies Whisky trinken und am Fenster meines Zimmers ein Buch lesen. Und trotzdem hatte ich ein wundes Gefühl im Inneren. Nach meiner Verleugnung kam sie mir toter vor als zuvor.

»Interessant.« Er zog ein Stück Papier aus der Tasche. »Das hier war in ihrer Handtasche.«

Er drehte es um, damit ich es lesen konnte, und zu meiner Verblüffung sah ich meinen Namen und meine Adresse in einer sauberen, ordentlichen Handschrift. Offenbar war diese Frau – Dora Hannigan – nicht einfach hereingekommen, um eine Unze Bromid zu kaufen oder Schutz vor dem Wetter zu suchen. Sie hatte gezielt und namentlich mich aufgesucht. Aber zugleich hatte sie dies in keiner Weise erkennen lassen, hatte sich weder vorgestellt noch gefragt, wer ich war.

Was hatte sie an jenem Tag zu mir geführt, so kurz vor ihrem Tod? Nein, so kurz vor ihrer Ermordung.

»Ich sage Ihnen doch, ich kenne sie nicht.«

Hooper nickte. Ich hatte den Eindruck, er wollte mich glauben machen, dass er meine Aussage für wahr hielt, wobei ich mir sicher war, er tat es nicht.

»Waren Sie schon mal hier?«

»Nein, nie.«

Er rümpfte die Nase und studierte den Hof – der schmaler war, als die umstehenden Gebäude hoch waren, was ihm etwas von einem Kirchenraum verlieh.

»Die Leute hier nennen das einen Klub«, sagte er abfällig. »Sie sind Radikale und Anarchisten – wollen allem ein Ende machen, was anständig und gesetzestreu ist. Allesamt Gauner, alle, wie sie da sind.«

Es schien ihm gleichgültig zu sein, dass die auf den Stufen sitzenden Männer mit ihren Hüten in den Händen und den gesenkten Köpfen in Hörweite waren und dass die Frau, die sich über uns ans Geländer lehnte, die Melodie von »Nearer, My God, to Thee« summte. Ihr Gesichtsausdruck war friedvoll, obwohl ihr Tränen über die Wangen rannen.

Von Mrs Hannigans Kindern war keine Spur zu sehen. Ich fragte mich, wo sie waren. Aber ich konnte Hooper kaum nach ihnen fragen, nachdem ich gerade erklärt hatte, ihre Mutter nicht gekannt zu haben.

Ich spürte einen weiteren Stich des schlechten Gewissens.

»Es sieht nicht aus, als wäre etwas gestohlen worden«, sagte ich. »Sie hat ihre Halskette und die Schuhe noch.«

»Es ist auch nichts gestohlen worden, soweit wir’s wissen«, gab Hooper zu. »Wenn Sie mir die Beobachtung verzeihen wollen, Mr …« Er wedelte mit der Hand und versuchte, sich an meinen Namen zu erinnern. Ich half ihm nicht weiter. »Sie kommen mir nicht gerade sehr schockiert vor. Die meisten Leute wären ausgesprochen verstört, wenn man ihnen so etwas zeigte.«

Mir ging auf, warum er mich unter all der Heimlichtuerei hierhergebracht hatte. Er glaubte, dass Dora Hannigan und ich einander gekannt hatten, dass ich sie ermordet hatte und dass ich jetzt, nachdem mein Werk mir derart vor Augen geführt worden war, unter Tränen zusammenbrechen und meine Schuld eingestehen müsste. Und nun war er enttäuscht angesichts meiner Gelassenheit.

»Ich arbeite in einem Krankenhaus. Es gibt inzwischen nicht mehr sehr viel, das mich noch verstören könnte. Kann ich jetzt gehen?«

Ich bereute es, mit Pallett hergekommen zu sein. Ich riskierte einen Blick in die Richtung des Mannes, den ich erkannt hatte, aber er stand mit dem Rücken zu mir, zappelte nervös herum und verlagerte sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen, als sei es ihm unmöglich, stillzustehen. Ich starrte ihn immer noch an, als er sich umsah, und konnte eben noch rechtzeitig den Blick abwenden. Hatte ich eigentlich nichts gelernt?

»Sie war unverheiratet«, fuhr Hooper fort, ohne meine Frage zu beantworten. »Aber soweit wir wissen, war sie keine Prostituierte.«

»Warum hätten Sie angenommen, dass sie eine war?«

»Sie ist tot, oder vielleicht nicht?« Er starrte finster zu den Männern auf den Treppenstufen hinüber, und einer von ihnen, ein Kahlkopf mit harten Augen, stierte geradewegs zurück. »Wenn’s kein Raubmord ist, ist’s meistens das andere. Vielleicht war sie irgendjemandes Geliebte. Verbrechen aus Leidenschaft. Sind Sie verheiratet?«

»Nein. Und Verbrechen aus Leidenschaft sind in der Regel …« Ich suchte nach dem richtigen Wort, während ich auf sie hinuntersah. Im dürftigen Licht der Lampen sah sie aus wie in Bernstein eingeschlossen. »Sie sind barbarischer. Sie sind chaotisch, und man sieht es dem Opfer an. Dies ist zu sauber. Wollen Sie die Leiche untersuchen lassen?«

Hooper strich sich den Schnurrbart glatt. »Wozu sollte das gut sein? Die Todesursache ist doch klar.«

»Vielleicht. Ist am Rücken auch Blut zu sehen?«

Der Ermittler nickte Pallett zu, und der seufzte tief und ging neben der Grube in die Hocke, wobei er ihren Rand heruntertrat, sodass seine Stiefel im Schlamm versanken. Er packte die Tote am Arm und zog sie herum, bis sie auf der Seite lag und ihr Gesicht unter Wasser geriet. Ich hatte das plötzliche Bedürfnis, ihn zu bitten, er möchte sie wieder zurückfallen lassen, damit sie atmen konnte, aber natürlich war das blanke Idiotie.

Rechts neben dem Rückgrat war ihr Kleid aufgerissen. Was es auch immer gewesen war, mit dem man sie erstochen hatte, es war lang und scharf gewesen und geradewegs durch den Körper hindurchgegangen.

»Ein Säbel vielleicht«, sagte Hooper und machte eine Stoßbewegung mit einer imaginären Stichwaffe. »Besitzen Sie einen Säbel?«

»Nein, natürlich nicht. Gibt es noch einen anderen Zugang zu diesem Hof – außer dem, durch den wir hereingekommen sind?«

Pallett zeigte zu der finstersten Ecke hinüber. »Es gibt einen Hintereingang.«

»Wieso wollen Sie das wissen?«, fragte Hooper etwas gereizt.

»Sie könnte an einem anderen Ort ermordet und dann hierhergebracht worden sein.«

Er verdrehte die Augen. »Das bezweifle ich aber. Irgendwer in diesem Schweinestall war der Mörder. Kann doch gar nicht anders sein.«

Ich holte mir eine der Lampen und ging neben ihr in die Hocke, studierte die feinen Linien rings um ihre Augen, eine lang verheilte Narbe am Kinn. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie jemand einen anderen Menschen auf diese Art umbringen konnte. Und doch, so sagte ich mir, hatte ich bereits Hunderte von Leichen untersucht, immer mit demselben Ziel: herauszufinden, wie sie umgekommen waren. Und dies war alles, was ich jetzt noch für sie tun konnte.

Ihre Kleidung war vollständig und saß an Ort und Stelle, dies also war ihr wenigstens erspart geblieben. Ich holte tief Atem und schloss die Augen, während die Erinnerungen an mir zerrten. Der Hof kreiste und kam langsam wieder zur Ruhe.

»Es gibt keine Anzeichen für einen Kampf«, sagte ich.

Hooper schob die Lippen vor, als sei es ihm peinlich, an den Worten eines Mannes zu hängen, den er als Verdächtigen hatte hierherbringen lassen. »Hat ihn nicht abwehren können, was? Bloß eine Frau halt.«

»Aber das ist eher ungewöhnlich, meiner Erfahrung nach.« Ich griff nach ihrer Hand, schob den Ärmel zurück und drehte die Handfläche nach oben. Sosehr ich daran gewöhnt sein mochte, mit Kadavern umzugehen, es kam mir seltsam intim vor. »Keine Kratzer, Verletzungen oder blauen Flecke von einem Kampf. Wenn jemand mich mit einem Säbel angriffe, würde ich doch versuchen, die Klinge abzuwehren. Sie etwa nicht?«

»Vielleicht hat er sie überrumpelt.« Er klatschte in die Hände. »Oder vielleicht hat er sie in den Rücken gestochen! Das würde es doch erklären.«

»Überrumpelt vielleicht, aber nicht in den Rücken gestochen. Sehen Sie mal hier. Die Wunde vorn ist größer als die Rückenwunde, die Waffe läuft also spitz zu. Ein Dolch oder eine Art kurzes Schwert.«

Unter dem Haar war ihr Hals purpurn gesprenkelt. Ich drückte einen Finger gegen die Haut, und an den Sprenkeln änderte sich nichts. »Die Leichenstarre hat eingesetzt, und das Blut ist bereits geronnen. Ich würde sagen, sie ist seit mindestens zwölf Stunden tot.«

Hooper schüttelte mit einem herablassenden Grienen den Kopf. »Da irren Sie sich. Sie ist noch nicht starr, also ist es irgendwann heute passiert. Wie gesagt, es muss einer von hier gewesen sein.«

Ich begann die Geduld zu verlieren. Meiner Erfahrung nach sahen Polizisten etwa so weit, wie sie die Fäuste schwingen konnten, und nicht weiter. »Sie liegt in kalter, nasser Erde, was die Leichenstarre ganz erheblich verzögern kann. Dies ist vor über zwölf Stunden passiert, aber vermutlich vor weniger als sechsunddreißig.«

Pallett wischte sich die Hände an der Uniformjacke ab. »Und wo waren Sie während dieser Stunden, Mr Stanhope?«

»Wenn ich nicht gerade geschlafen habe, war ich bei der Arbeit im St Thomas’s Hospital oder habe bis spätabends mit meinem Zimmerwirt Whisky getrunken. Er kann sich für mich verbürgen.«

Hooper zog einen Füllfederhalter aus Schildpatt aus der Tasche und schrieb es sich auf, langsam und sorgfältig. Ein feiner Nieselregen hatte eingesetzt, und er musste sich über sein Notizbuch beugen, damit das Papier nicht nass wurde.

»Na schön. Sie können jetzt gehen, Mr Stanhope. Wenn wir noch mehr Fragen an Sie haben, werden wir es Sie wissen lassen.« Er drehte sich unvermittelt zu Pallett um und zeigte mit dem Daumen zu der Männergruppe hinüber. »Wir sollten uns mal mit dem Haufen da unterhalten. Vor allem mit diesem zwielichtigen Kerl da. Wie heißt er doch gleich?«

»Duport, Sir«, antwortete Pallett. »John Duport.«

»Ja, genau der. Sehen wir doch mal, ob er einen Säbel oder irgend so etwas hat.«

Ich war inzwischen über und über mit Schlamm bespritzt und begann zu schaudern. Als ich mich noch einmal vorbeugte und Dora Hannigan das Haar aus dem Gesicht strich, bemerkte ich, dass an ihrem Hals etwas blinkte: ein silbernes Medaillon. Ich öffnete es.

Die Porträts im Inneren hatten das Wasser überstanden. Sie waren nicht gut getroffen, und hätte ich die lebenden Vorbilder nicht vor wenigen Tagen erst gesehen, hätte ich nicht erkannt, wen sie darstellen sollten: den finsteren Knaben und das neugierige Mädchen, jeweils auf einer Seite des Medaillons, wo sie einander über das Scharnier hinweg ins Gesicht sahen.

»Detective!«, rief ich Hooper nach.

Er sah sich nach mir um, runzelte die Stirn und wirkte überrascht darüber, dass ich noch da war. »Es heißt Detective Inspector.«

Ich hob das Medaillon an. »Sie hatte einen Sohn und eine Tochter. Wo sind die beiden jetzt?«

»Sie war unverheiratet, das hab ich doch gesagt.«

Ich ignorierte die schiere Idiotie der Bemerkung. »Sie sollten die Leute hier fragen, ob jemand die Kinder zu sich genommen hat.«

Er zog die Augenbrauen hoch und sah sich um, als könnten sie sich hinter einer Wassertonne versteckt haben. »Vermutlich, ja. Kümmern Sie sich drum, Pallett.«

Er stellte sich unter eine der Lampen, um seine Notizen durchzulesen. Bedankt hatte er sich nicht bei mir.

Ein Mann kam näher und streckte die Hand aus, um mich wieder auf die Füße zu ziehen, was ich ignorierte. Es war der wuchtige backenbärtige Kerl, der mir zuvor schon aufgefallen war.

»J.T. Whitford«, verkündete er. »Daily Chronicle. Und Sie sind –?«

»Durchgefroren«, antwortete ich. »Und nass. Und sehr erpicht aufs Nachhausegehen.«

Ich las kaum jemals eine Zeitung, aber hätte ich es getan, dann wäre es ganz sicher nicht die Daily Chronicle gewesen, ein Schmierblatt voller Klatsch über die neuesten Liebeleien irgendwelcher Schauspieler und hysterischer Warnungen vor Tollwutepidemien. Ich hatte keine Ahnung, warum irgendjemand sich für das Geschwätz interessierte.

Whitford zog ein Notizbuch und einen Bleistift aus der Tasche. Heute schien alle Welt aufschreiben zu wollen, was ich zu sagen hatte. »Wann sind Sie Mrs Hannigan zum ersten Mal begegnet?«

Er hatte einen ungehobelten Akzent, den ich vielleicht in Yorkshire angesiedelt hätte. Meine Schwester, die jeden Zungenschlag auf jede Grafschaft südlich des Hadrianswalls zurückführen konnte, hätte mir Genaueres sagen können – wahrscheinlich bis hin zur nächstgelegenen Kleinstadt.

»Gar nicht.«

»Sind Sie hier Mitglied, oder sind Sie einfach ein radikaler Sympathisant?«

»Was?«

Er verdrehte die Augen. »Sehen Sie mal, die Bullen werden für ein paar Pennys die ganze Geschichte ausspucken. Die meisten schon für eine Zigarette. Sie können mir auch gleich sagen, was Sie eigentlich hier treiben.«

»Es tut mir leid, aber da kann ich Ihnen nicht helfen.«

Ich schob mich an ihm vorbei, um endlich zu gehen, blieb dann aber wieder stehen. Der Mann, den ich erkannt hatte, der mit dem struppigen Bart und ausgebeulten Anzug, starrte mich an. Dann warf er einen schnellen Seitenblick auf Hooper, der immer noch dabei war, seine Notizen durchzugehen, und winkte mir zu: Ich sollte ihm folgen, weg von den anderen und in den Schatten der Galerie, wo auf dem Boden noch Eisreste von den Schneestürmen im Januar zu sehen waren. Ich ignorierte ihn zunächst, aber seine Gesten wurden nachdrücklicher, und ich fürchtete, er würde mich beim Namen rufen, wenn ich nicht reagierte. Und dieses Risiko konnte ich nicht eingehen.

Er stand an die Wand gelehnt, so tief im Schatten, dass ich ihn kaum noch sehen konnte. Er packte mich am Ärmel und zog mich näher heran, zischte mir beinahe ins Ohr.

»Warum bist du hier? Sag’s mir. Mach schnell.«

Trotz des drängenden Tonfalls war seine Redeweise kultiviert und knapp, jeder Konsonant mühelos hörbar.

»Ich denke nicht dran«, antwortete ich und versuchte Abstand zwischen uns zu bringen, ohne dass jemand es bemerkte.

»Dora muss deinen Namen und die Adresse behalten haben. So wird’s gewesen sein, oder nicht?« Er trat hinaus in den Lampenschein des Hofs, was seine Augen orange leuchten ließ. »Das könnte sogar gut für uns sein. Du könntest uns helfen. Das wirst du doch tun, oder?«

»Ich weiß nicht mal, wer Sie überhaupt sind.«

»Natürlich weißt du das. Wir haben uns in Enfield kennengelernt – Himmel, das muss jetzt zehn Jahre her sein. Unsre Mütter haben versucht … na ja, inzwischen kommt es einem reichlich albern vor, findest du nicht auch? Ich muss schon sagen, wenn man sich jetzt vorstellt, wie das hätte ausgehen können.«

»Ich kenne Sie nicht.«

»Doch, das tust du. Ich bin …« Seine Stimme sank zu einem Flüstern ab. »Ich bin John Thackery. Und du bist Lottie Pritchard. Oder warst es jedenfalls. Und ich bin mir sicher, du erinnerst dich sogar sehr gut an mich.«

Ich spürte, dass ich zitterte, und ich legte die Hände umeinander und kniff mich hart mit Daumen und Zeigefinger in die Haut. Ich wünschte, ich hätte mich geweigert, überhaupt herzukommen, und ich wünschte, ich hätte zugegeben, Dora Hannigan getroffen zu haben, und mehr als alles andere wünschte ich, diesem Mann nicht begegnet zu sein.

»Wovon reden Sie überhaupt?«

»Ich brauche ein Alibi für gestern«, sagte er. »Und wenn du nicht willst, dass ich dein Geheimnis gleich jetzt und hier vor diesen Polizisten dort ausposaune, dann wirst du mir eins liefern.«

2

Als ich fünfzehn Jahre alt war und noch in meinem Elternhaus in Enfield lebte, ließ sich ein Geschäftsmann mit seiner Familie in der Nachbarschaft nieder. Sie bezogen das stattlichste Haus am Ort, stellten ein Dutzend Dienstboten ein und paradierten in einem herrschaftlichen Zweispänner durch die Stadt, dessen Rappen die Hufe hoben, als wollten sie tanzen. Der Mann war im Jutegeschäft tätig, stellte billigen Stoff für Säcke und Planen her und hatte Anteile an einer Fabrik in Ponder’s End erworben, wo Dutzende Männer aus der Gegend arbeiteten. Mein Vater war tief beeindruckt und brachte ihn zur Sprache, wann immer wir beim Abendessen saßen.

»Mr Thackery sagt, die Juteernte sieht dieses Jahr wirklich sehr vielversprechend aus.«

»Habt ihr den ummauerten Garten gesehen, den Mr Thackery hat anlegen lassen? Es könnte der beste Garten in ganz Middlesex werden.«

»Mr Thackery glaubt nicht, dass die liberale Regierung sich noch lang halten kann.«

Und so weiter und so fort, bis wir alle das Thema herzlich satthatten.

Mein Vater begann auch, seine Predigten auf Mr Thackerys Interessen auszurichten, indem er seine Gemeinde ermahnte, hart zu arbeiten und der Herrschaft mit dem gebührenden Respekt zu begegnen. Zu jener Zeit dachte ich mir nichts weiter dabei, aber später kam ich zu dem Schluss, dass er auf eine erhebliche Geldspende für seine Kirche gehofft haben musste oder aber auf einen einflussreichen Gönner, der ihm eines Tages vielleicht den Weg zur Bischofswürde ebnen konnte.

Meine Mutter verfolgte andere Ziele. Die Thackerys hatten zwei Söhne. Einer von ihnen war noch sehr klein, aber der andere, John, war ein oder zwei Jahre älter als ich. Sie lud die ganze Familie zum Tee ein und ließ John und mich nebeneinander auf dem samtbezogenen Sofa Platz nehmen. Danach warf sie immer wieder verstohlene Blicke zu uns herüber, während Mrs Thackery sie über Häkelnadeln belehrte und die Männer sich über die Abtrennung der Kirche Irlands von derjenigen Englands unterhielten, die sie selbstverständlich missbilligten, sowie über die exorbitanten Lohnkosten.

John war ein sympathischer Kerl, dachte ich, und ausgesprochen amüsant dazu. So verwandte er keine Sekunde darauf, seinem Vater die gebührende Ehre zu erweisen. Stattdessen verdrehte er bei Mr Thackerys bombastischeren Ergüssen recht unverhohlen die Augen. Er deutete sogar mit einer verstohlenen Handbewegung das Durchschneiden seiner eigenen Kehle an, als er hörte, dass von ihm eine Armeelaufbahn erwartet wurde, was mir ein hörbares Prusten entlockte. Dies wiederum trug mir ein Stirnrunzeln meiner Mutter und ein kleines Grienen von meiner älteren Schwester Jane ein – sie war seit Kurzem verlobt und fand mein Unbehagen höchst erheiternd.

Den Sommer über bekam ich John kaum zu sehen, und es wurde Mitte Oktober, bevor wir die erste wirkliche Unterhaltung führten. Die Gemeinde stand nach dem Morgengottesdienst noch beisammen und schwatzte, und wir fanden uns auf ein und derselben Bank wieder und scharrten mit den Füßen im Herbstlaub. Wenn seine Eltern nicht in Sichtweite waren, wirkte er erstaunlich befangen, und eine Weile saß er da, verschränkte die Finger ineinander und starrte wortlos zu den Grabsteinen hinüber, bis er schließlich auf den Gedanken kam, den Toten Lebensläufe anzudichten.

»Edith Charm, viel geliebte Gattin und Mutter, siebzehnzweiundneunzig bis achtzehnfünfundfünfzig. Sie war die Dorfhexe, weißt du. Sie hat die Männer der Gegend verflucht und in Hunde verwandelt.«

Ich lachte, als ich mir vorstellte, was mein Vater dazu zu sagen gehabt hätte. »Was für eine fürchterliche Geschichte.«

»Es war wirklich fürchterlich. Sie sind mit Klauen und Reißzähnen aufeinander losgegangen, so lang, bis auch der Letzte von ihnen tot war.«

»Wie überaus unfreundlich von ihr.«

»Ganz und gar nicht.« Er versuchte, ohne jeden Erfolg, seine Krawatte gerade zu rücken. »Sie hatten es nicht besser verdient. Sie hatten ihr eine Falle gestellt, weißt du, und versucht, sie in einen Käfig zu sperren.«

»Aber nichtsdestoweniger.«

»Letzten Endes war es die beste Lösung.« Er zeigte zu den Wiesen und Feldern hinüber, die sich jenseits der Häuser in die Ferne erstreckten. »Sich selbst und ihre Freundinnen hat sie in Schafe verwandelt, und danach konnten sie in Frieden leben. Keine Hunde mehr, die sie hätten beißen können, und keine Menschen, die sie eingesperrt haben.«

Als es Zeit zum Aufbruch war, wurde er wieder befangen. Wahrscheinlich wusste er, was meine Mutter im Sinn hatte, und war verlegen, weil er glaubte, ich verfolgte das gleiche Ziel. Das Gegenteil war der Fall. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt schon angefangen, Geld für meine Flucht zu sparen – so verdiente ich Threepence pro Lektion damit, dass ich den Kindern aus der Nachbarschaft das Rechnen beibrachte. Aber ich war fasziniert von seiner Sprechweise, seiner Haltung, der Art, wie er sich auf der Bank breitmachte, wie er die Beine spreizte oder einen Fuß auf dem Knie ablegte. Er war mein Vorbild, mein Anschauungsobjekt, war es in einem viel höheren Maß als mein älterer Bruder Oliver, der eine Ausbildung bei der Armee machte und bereits ein Mann war. Oliver war gewissermaßen als Mann geboren worden. Die Körpergröße meines Vaters, über sechs Fuß, hatte er erreicht, als er sechzehn war, und mit neunzehn war er breitschultrig und kräftig genug, um eine Kirchenbank zu heben. Ich würde niemals so werden wie Oliver. John dagegen war schlank und knabenhaft, zurückhaltend im Umgang, aber mit trockenem Witz gesegnet. Ich konnte mir vorstellen, so zu sein wie er.

An dem Tag, an dem ich mein Elternhaus verließ, mich aus den Armen meiner Mutter riss und den Hügel hinunter in Richtung Bahnhof rannte, wobei mir doch tatsächlich mein Vater begegnete – er kam die Straße herauf, ohne den schlanken jungen Mann mit den rot geweinten Augen und dem schlecht geschnittenen Haar eines zweiten Blicks zu würdigen –, hatte ich nicht erwartet, John Thackery jemals wiederzusehen.

Und jetzt, elf Jahre später, stand er wieder vor mir, aufgestiegen wie ein Geist aus der Gruft meines früheren Lebens, dessen Ketten er hinter sich herschleifte.

In seinen weiten Hosen und einem Bowlerhut mit einer fußtrittförmigen Delle in der Krempe sah er so zerknittert aus, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Doch etwas an seiner Kleidung kam mir merkwürdig vor. Bei aller Derangiertheit hätte ich erwartet, dass sie teuer sein würde, aus gutem Stoff gefertigt und gefüttert, wie es sich für den älteren Sohn eines reichen Fabrikbesitzers gehörte. Aber dies war die Kleidung eines Mannes, der sich seinen Lebensunterhalt mit Arbeit verdiente. Er sah aus wie ein verarmter Universitätsprofessor.

»Wir müssen uns in Frieden unterhalten«, sagte er. Sein Tonfall war freundlich, aber bestimmt. »Ich habe ein Büro hier, dort können wir reden.«

»Ich habe wirklich zu tun«, antwortete ich und versuchte dabei, geschäftig und eine Spur gehetzt zu klingen wie ein Mensch von der Sorte, die keine Zeit zum Schwatzen hat. »Sie müssen mich mit jemandem verwechselt haben.«

»Wir werden ja sehen.« Er räusperte sich laut und machte Anstalten, Hooper heranzuwinken.

»Also schön«, sagte ich hastig und bereute die Worte, kaum dass sie heraus waren. »Ich höre mir an, was Sie zu sagen haben.«

»Gut.« Er hob die Hand, als wolle er mir auf die Schulter klopfen, ließ sie aber wieder sinken. »Komm mit.«

Es war Ende März, und über den Dächern schrien die Möwen, begannen sich zu Schwärmen zusammenzufinden, um an die Küste zurückzukehren. Ich sah sehnsüchtig zu dem hinteren Hoftor hinüber. Wenn ich jetzt einfach davonmarschierte – was konnte er schon tun? Ich beantwortete mir die Frage selbst: Er konnte der Polizei von mir erzählen. Und selbst wenn er es nicht tat, ich würde immer in der Furcht leben, dass es passieren könnte.

So folgte ich ihm durch eine der Türen in eine kleine Küche, in der zwei Frauen saßen und ihre Säuglinge wiegten, weiter einen Hausflur entlang, an dessen Wänden sich offene Säcke mit Lumpen und alten Kleidungsstücken stapelten, und in einen größeren Raum mit Dutzenden in Reihen angeordneter Stühle. Der Klang unserer Schritte hallte von den Wänden wider.

Das Gebäude war unverkennbar viel weitläufiger, als ich zunächst angenommen hatte. Ich war mir der Tatsache nur allzu bewusst, dass ich mich in Gesellschaft eines Mannes befand, den ich seit vielen Jahren nicht mehr gesehen hatte und der möglicherweise in einen Mord verwickelt war. Ich sah mich um, sah unsere nassen Fußabdrücke, die uns über den Dielenboden hinweg verfolgten, und versuchte, mich zu erinnern, auf welchen Umwegen wir hierhergekommen waren.

Er führte mich eine Treppe hinauf bis zu einem schmalen Treppenabsatz und zog unter einem niedrigen Türsturz den Kopf ein, alles mit den Händen auf dem Rücken, als schlendere er durch ein Museum. Irgendwann blieb er vor einer Tür stehen, die oben diagonal abgesägt worden war, um unter die Dachschräge zu passen.

»Vorsicht, stoß dir nicht den Kopf.«

Ich folgte ihm in den Raum hinein und wollte die Tür hinter uns schließen, aber er hielt sie mit einer Hand fest.

»Nein, bitte«, sagte er, während sein Gesicht rot anlief. »Ich lasse sie gern offen.«

Drinnen sah ich einen Schreibtisch unter dem Fenster, ein Tablett voll ungespülter Teetassen und zwei Sessel. Die Wände waren hinter Bücherregalen verborgen. Ich verspürte einen Stich der Eifersucht, als ich mir vorstellte, auch ich könnte ein solches Refugium haben, könnte meine Tage damit verbringen, zu lesen oder Schacheröffnungen zu studieren. Auf dem Fußboden und dem Schreibtisch stapelten sich weitere Bücher mit Titeln wie Fortschritt und Armut oder Grundsätze der politischen Ökonomie. Nicht gerade die Lektüre, die ich mir ausgesucht hätte.

Thackery setzte sich auf die Kante seines Schreibtischs, während ich stehen blieb. Ich wollte ihm nicht den Eindruck vermitteln, dass ich lang bleiben würde.

»Mittlerweile Leo, richtig?«, fragte er.

»Mr Stanhope«, antwortete ich. Selbst in meinen eigenen Ohren hörte ich mich unerträglich aufgeblasen an.

Er studierte mein Gesicht, den Kopf zur Seite gelegt, dann glitt sein Blick abwärts. Ich zog das Jackett vorn zusammen, aber sein Gesichtsausdruck verriet eher Staunen als Abscheu.

»Ich hätte es mir nicht vorstellen können«, sagte er. »Es ist wirklich bemerkenswert.«

»Was ist bemerkenswert?«

Ich hielt den Tonfall gelassen und freundlich, obwohl ich genau wusste, was er gerade dachte: dass ich das männliche Wesen in Anbetracht meiner naturgegebenen Grenzen recht gut nachahmen konnte, etwa so, wie man applaudiert, wenn ein Hund eine Weste trägt. Bravo! Fast besser als das Original!

Er ignorierte die Frage. »Du bist so plötzlich verschwunden damals, alle Welt hat sich das Maul zerrissen. Ich meine, das war ja nun nichts, was sich so ohne Weiteres erklären ließe.« Ich sagte nichts dazu, und er seufzte, wobei er mich immer noch musterte – vor allem schien ihn die Länge meiner Schuhe zu faszinieren. Dass ich sie mit Zeitungspapier ausgestopft hatte, konnte er ja nicht wissen. »Wir haben alles Mögliche zu besprechen, aber als Erstes musst du zugeben, dass wir einander kennen. Ich spreche nicht weiter, bevor du das nicht getan hast.«

Ich holte tief Atem und schloss die Augen. Wir waren unter uns, es hatte keinen Zweck, die Tatsachen zu leugnen. Und ich musste herausfinden, was er eigentlich von mir wollte.

»In Ordnung. Wir kennen einander. Und jetzt?«

»Nachdem du verschwunden warst, haben die meisten Leute das Nächstliegende angenommen, fürchte ich.«

»Was wäre das gewesen?«

»Dass sie dich aus Gründen der Wohlanständigkeit weggeschickt hatten – eine junge Dame, du verstehst schon, du wärst ja nicht die Erste gewesen. Mein Vater hat mich sogar gefragt, ob wir … nun ja, er hat gedacht, du hättest mich möglicherweise auf Abwege geführt. Ich glaube sogar, er hat insgeheim gehofft, du hättest es getan, obwohl er andererseits immer davon überzeugt ist, jeder Hinz und Kunz wäre auf sein Geld aus.« Sein Gesichtsausdruck wurde säuerlich. »Dein Vater hat aller Welt erzählt, du wärst in Frankreich, aber kein Mensch hat ihm geglaubt. Ausgerechnet die Pfarrerstochter, du weißt schon – es ist wie aus einem Witz, richtig? Und wenn es gestimmt hätte, warum wäre deine arme Mutter danach einen Monat lang im Bett geblieben? Es hat einfach nicht zusammengepasst.«

Ich spürte einen Kloß in der Kehle aufsteigen. Bevor ich mein Elternhaus verließ, hatte ich meiner Mutter versprochen, ich würde ihr schreiben, und in jenem Augenblick hatte ich das Versprechen ernst gemeint. Aber ich habe es nie getan. Viel später habe ich dann erfahren, dass sie sich nach ihrem jüngsten Kind, ihrem Nesthäkchen, verzehrt hatte – jeden Tag, den Rest ihres Lebens lang. Das schwierigste Kind ist immer das Lieblingskind.

»Ein paar Leute haben geglaubt, du wärst tot«, fuhr er fort. »Irgendwer hat sogar vorgeschlagen, wir sollten den Friedhof umgraben und sämtliche Särge öffnen.«

»Ich habe wirklich keine Zeit für nostalgische Erinnerungen.«

Ich drehte mich zur Tür um, und er hob beide Hände als Zeichen der Kapitulation.

»Bitte, setz dich, Lott… Leo.« Ich blieb stehen, den Bowler in der Hand. Er war neu und glänzte. Wassertropfen hatten sich an der Krempe gesammelt wie Edelsteine. »Es gibt da einiges, das du wissen musst. Für alles bleibt uns jetzt keine Zeit, das bringen die Umstände mit sich.« Seine Stimme stockte, einen winzigen Augenblick lang nur. »Aber wir sollten uns wirklich diesbezüglich treffen, und zwar bald. Es gibt den Begriff des übergeordneten Wohls. Weißt du, was das bedeutet?« Er machte eine Pause, als erwartete er eine Antwort, aber ich schwieg. Er lächelte dünnlippig, um mir zu verstehen zu geben, dass er die Absicht dahinter bemerkt hatte. »Es bedeutet, dass wir gelegentlich Dinge tun müssen, die falsch zu sein scheinen, die aber durch das Gute gerechtfertigt sind, das in der Zukunft aus ihnen erstehen wird.«

»Wovon redest du eigentlich?«

»Ich rede davon, dass du mir wirklich bei meinem Anliegen helfen musst. Wenn du dich weigerst, schadest du dir nur selbst. Ich würde dann aller Welt erzählen, wer und was du bist. Wenn ich enttarnt werde, dann wirst du es auch.«

Er wirkte vollkommen ernst dabei, und trotzdem konnte ich immer noch nicht recht fassen, dass er mir gerade ganz offen drohte. Was hatte ich ihm eigentlich getan, um mir seinen bösen Willen zuzuziehen? Nach all der Sorgfalt, die ich Tag für Tag walten ließ, der Mühe, die es mir machte, die richtige Kleidung zu finden, dem endlosen Waschen und Trocknen von Monatstüchern, der Salbe, die ich mir auf die blutenden Hautstellen strich, wenn das Brustband mich wund gerieben hatte? Mehr noch, nach der ständigen Wachsamkeit, mit der ich meine Stimme und meine Haltung beobachtete, die Art, wie ich die Hände bewegte, die Herzlichkeit meines Lachens, all die Dinge, für die er mir als Vorbild gedient hatte? Nach all dem würde er mich verraten? Wenn es nicht so tragisch gewesen wäre, hätte es komisch sein können.

Ich holte tief Atem. »Was genau willst du also von mir?«

»Du musst der Polizei erzählen, dass wir gestern den ganzen Tag zusammen verbracht haben – einschließlich des Abends.«

»Das haben wir aber nicht.«

»Das weiß ich auch, aber ich will, dass du sagst, es wäre so gewesen. Nicht hier, sondern irgendwo anders.« Er kratzte sich am Kopf und überlegte. »Sagen wir, wir sind zum Alexandra Park rausgefahren. Da findet gerade ein Reitturnier statt, und wir haben den Tag dort verbracht und sind hinterher noch einen trinken gegangen.«

»Ich habe der Polizei aber schon die Wahrheit gesagt.«

Er schenkte mir ein nachsichtiges Lächeln. »Ja, aber das Gedächtnis kann einem ja schließlich Streiche spielen, nicht wahr, vor allem, wenn man ohnehin schon ein bisschen verstört ist. Plötzlich eine Leiche zu sehen, in so einer Situation kann es schon mal vorkommen, dass man Tage und Uhrzeiten und so weiter verwechselt. Sag ihnen, wir waren zusammen unterwegs, und ich erzähle ihnen das Gleiche, und die Geschichten stimmen überein.«

Er benahm sich, als wären wir eng befreundet und überlegten uns gerade eine Entschuldigung für eine nächtliche Sauftour, dabei kannten wir einander kaum, und Dora Hannigan war wenige Schritte von diesem kleinen Zimmer entfernt verscharrt worden.

»Ich lüge nicht, um deinen Mord zu vertuschen.«

»Was?« Er sah aufrichtig entsetzt aus. »Nein, natürlich nicht. Gott im Himmel, ich hatte gedacht … Ich meine, du kannst doch nicht allen Ernstes glauben, dass ich so etwas tun würde, und schon gar nicht …« Wieder geriet er ins Stocken, und diesmal musste er sich unterbrechen, um krampfhaft zu schlucken. »Schon gar nicht, wenn es Dora ist.«

Ich runzelte verständnislos die Stirn. »Warum soll ich dann also lügen?«

Obwohl er behauptet hatte, wir hätten nicht viel Zeit, schien er sich jetzt sehr viel davon zu lassen. Er strich mit dem Finger an der Kante einer Teetasse entlang, als wollte er sie zum Singen bewegen. Ich fragte mich, ob er sein schmutziges Geschirr selbst spülte oder ob er auf ein Zimmermädchen wartete, das hereinkam und die Hausarbeit für ihn erledigte.

»Die Dinge, an denen meinem Vater liegt, interessieren mich nicht. Hast du gewusst, dass er letztes Jahr den Ritterschlag bekommen hat? Jetzt ist er Sir Reginald Thackery, obwohl er sein Vermögen bis zum letzten Penny mit der Ausbeutung der Männer verdient hat, die für ihn arbeiten – unter Bedingungen, die du mir nicht glauben würdest. Er selbst hat im ganzen Leben keine Jutefaser ausgelöst. Die neue Fabrik hat keine Ähnlichkeit mit der, an die du dich erinnerst. Jene war vergleichsweise fast erfreulich. Die neue ist in Whitechapel, und sie ist riesig und schwarz, und das Dröhnen hört Tag und Nacht nicht auf. Es ist, als wäre man in der Hölle.« Er starrte geradeaus ins Leere, und ich hatte den Eindruck, dass er nicht mehr ganz anwesend war, dass er in seiner Erinnerung wieder in der Fabrikhalle stand, überwältigt von dem Grauen, das er gesehen hatte. »In dem Staub und den Dämpfen sieht man kaum die Hand vor Augen. Und der Lärm! Nur eine Stunde dort, und hinterher hört man die eigene Stimme nicht mehr. Und trotzdem müssen die Männer ihr ganzes Leben dort verbringen!«

»Aber was hat das Ganze mit mir zu tun?«

Er sah mich mit einem Ausdruck an, der an Fassungslosigkeit grenzte. »Es hat mit jedem Menschen zu tun! Das ist es, was wir hier versuchen – unsere Wirtschaft zu verändern. Unsere Gesellschaft zu verändern. Henry Hyndman hat hier schon gesprochen und Johann Most auch.« Er zog ein Pamphlet von einem Bücherbrett, höchstwahrscheinlich ein Werk dieses Johann Most, und wedelte damit vor meiner Nase herum. »Bemerkenswerte Männer. Sie postulieren, dass jedweder Besitz in Wirklichkeit Diebstahl ist, weil er dem einfachen Volk durch die Reichen genommen wurde, und dass die Arbeiter sich erheben werden, um sich zurückzuholen, was ihnen gehört.«

»Ich bezweifle, dass mir das behagen würde.«

Es interessierte mich nicht, wer gerade an der Regierung war. Beide Seiten hätten für mich nichts als Verachtung übriggehabt.

Er schloss die Augen und schien etwas vor sich hinzumurmeln wie ein Kind, das sich ein Gedicht einzuprägen versucht. »Es tut mir leid, das gehört im Grunde nicht zur Sache. Aber es ist mir so ungeheuer wichtig, dass der Gerechtigkeit Genüge getan wird. Es war mein Vater, der Dora ermordet hat. Er hat sie umgebracht, so sicher, als wäre er selbst zu diesem Zweck hergekommen, obwohl er das natürlich niemals tun würde. Selbst die Aufgabe des Mordens kann einem anderen Mann aufgebürdet werden.«

Trotz allem machte mich das neugierig. »Warum glaubst du, er wäre es gewesen?«

Thackery wischte sich über die Augen und brauchte einen Moment, um seinen Atem zu kontrollieren. »Dora hat bei meiner Familie gearbeitet, es ist Jahre her – es war, bevor wir nach Enfield gezogen sind. Sie hatte gute Gründe, ihn zu hassen, das kannst du mir glauben.«

Sir Reginald wäre nicht der erste Gentleman gewesen, der einer Hausangestellten Gewalt antat, dachte ich. Aber es hätte vor mindestens zwölf Jahren geschehen sein müssen, und für einen gerade erst begangenen Mord kam es mir als Motiv nicht eben wahrscheinlich vor.

Andererseits war es auch nicht ganz und gar unvorstellbar. Was das rein Körperliche anbetraf, war Sir Reginald unauffällig gewesen – ein Mann von durchschnittlicher Größe, durchschnittlichem Körperbau, Stirnglatze, in keiner Weise besonders eindrucksvoll. Und nichtsdestoweniger hatte er eine Aura der Selbstsicherheit verströmt, wie ich sie weder zuvor noch seither jemals wieder erlebt hatte. Es war, als sei alles, was er tat oder sagte, richtig und zutreffend und als sei jede seiner Ansichten, selbst wenn er sie als beiläufige Bemerkung formulierte, etwas Beachtens- und Befolgenswertes. Seine Gewissheit war beinahe mit Händen zu greifen. Ich sah ihn noch vor mir, wie er nach einem von Vaters Gottesdiensten in der Kirche stand und die anderen Gemeindemitglieder grüßte wie ein zu Besuch weilender Würdenträger, dessen Handschlag für jeden eine Auszeichnung darstellte.

Ja, dachte ich. Er könnte fähig sein, einen Mord anzuordnen.

»Die Polizei glaubt, dass ein Kerl namens Duport etwas damit zu tun hat«, sagte ich. »Er ist derjenige, mit dem sie als Nächstes reden wollen, haben sie gesagt.«

»Ach, ist das so? Sie haben einen Duport namentlich erwähnt?«

»Ja. Könnte er im Auftrag deines Vaters gehandelt haben?«

Thackery wurde rot, zog ein weiteres Buch aus dem Regal und begann, darin zu blättern. »Sag mal, erinnerst du dich an diese Buchhandlung in Enfield – in der London Road? Bist du jemals dort hingegangen?«

»Ich nehme es an.«

Inzwischen fror ich wirklich, und gereizt war ich außerdem. Selbstverständlich war ich dort gewesen – es war die einzige Buchhandlung am Ort, und ich hatte jede Ecke und jeden Winkel des Ladens gekannt. Mr Heffernan hatte mich behandelt wie seine eigene Enkelin. Manchmal hatte er mir Kuchen aufgehoben.

»Ich war auch ein paar Mal dort. Der alte Herr hatte es mit dem Chartismus. Weißt du, was das ist?«

»Politik.«

Ein ungeduldiger Ausdruck ging über sein Gesicht. »Es war eine Bewegung. Sie hat sich dafür eingesetzt, dass alle Menschen gerecht behandelt werden, einen gerechten Lohn erhalten und unter menschenwürdigen Bedingungen arbeiten können. Der alte Herr hatte Dutzende von Büchern darüber.« Er seufzte bei der Erinnerung. »Alles in allem kann ich mir nicht recht vorstellen, dass er in Enfield viele davon verkauft hat – außer an mich. Angefangen habe ich mit Carlyles Französischer Revolution.« Er hob das Buch, um mir den Titel auf dem Rücken zu zeigen. »Nicht diesem Exemplar – es war der erste Band, und das hier ist der zweite.«

»Hat diese Geschichte auch eine Pointe?«

Er warf mir einen weiteren ungeduldigen Blick zu. Offenbar konnte er sich wirklich nicht vorstellen, dass es Menschen gab, die sich nicht für die gleichen Themen interessierten wie er selbst. »Ich bin mit dem Buch geradewegs in den Park gegangen und habe stundenlang dort gesessen und gelesen. Die Ideen, die Carlyle geäußert hat! Dieser unglaublich klare Blick! Ich hatte noch nie im Leben etwas in dieser Art gelesen. Ich war vollkommen gebannt.«

»Das ist schön für dich, aber ich habe wirklich keine Zeit für all das.«

Ich setzte den Hut auf und erhob mich. Auch Thackery sprang auf, legte das Buch auf den Schreibtisch und bedeckte es mit der Hand, als leiste er einen Eid auf die Bibel.

»Du solltest noch bleiben. Es gibt da Dinge, die du wissen musst.«

»Ich habe schon genug gehört.«

Ich war bereits am Gehen, als er hinter mir herrief: »Vergiss nicht, wir haben gestern den ganzen Tag zusammen beim Reitturnier verbracht. Wenn du etwas anderes sagst, erzähle ich der Polizei von dir. Notfalls habe ich einen Beweis dafür, wer du wirklich bist.«

 

Ich rannte den Flur entlang, um so viel Abstand zwischen John Thackery und mich selbst zu bringen wie nur irgend möglich.

Wenn er seine Drohung wahr machte, würde jeder Freund und Bekannte, den ich hatte, mich in Zukunft meiden. Selbst Jacob, der genau wusste, was ich war, würde es abstreiten müssen, um sich nicht selbst in Schwierigkeiten zu bringen.

Man würde mir den Prozess machen, möglicherweise wegen Sittlichkeitsdelikten und mit Sicherheit wegen Betrugs. Ich hatte meine Stelle im Krankenhaus als Mann angenommen – von meinem Zimmer bei Alfie gar nicht zu reden. Die Polizei würde sagen, dass ich mich als einen Menschen ausgegeben hatte, der ich nicht war. Ich würde als Lottie Pritchard in ein Frauengefängnis gesperrt werden, und sie würden versuchen, mich zu heilen. Sie würden mir Medikamente verabreichen, die meine Sinne betäubten, und wenn das nicht wirkte, würden sie mir elektrischen Strom durch den Schädel jagen. Aber selbst das war nicht das Schlimmste. Wenn ich nachts schwitzend aus dem Schlaf fuhr, die Finger in die Decke gekrallt und mit heiserer Kehle, dann war es eine andere Befürchtung, die mir durch die Eingeweide kroch und mir die Finger bis in die Kehle schob: die Kauterisation.

Ich hatte davon gehört, dass Ärzte in der Lage waren, die Knospe, das innerste Zentrum des sexuellen Vergnügens herauszubrennen, sodass nichts davon blieb. So konnte einer Frau, die andere Frauen begehrte – und die Ärzte würden glauben, dass ich eine solche war –, dieser Drang auf immer ausgetrieben werden. Es hieß, auf diese Art begegne man unkeuschen Gedanken und gestatte dem Wahn, abzuklingen, aber wie war das auch nur möglich? Wenn der Arzt einen Teil eines Menschen in Brand setzte, wie konnte er dann sicher wissen, dass es der Wahn war, der in der Hitze verdampfte, und nicht etwas anderes, etwas Kostbareres? Was, wenn es stattdessen das Selbst war, das verloren ging, jenes nicht zu definierende Etwas, das uns zu dem macht, was wir sind?

Was würde zurückbleiben, wenn mein Selbst herausgebrannt wurde?

Bei der Überlegung wurde mir beinahe übel.

Ich blieb stehen. Inzwischen hatte ich die Orientierung verloren und stand jetzt in einem mir völlig unbekannten Raum mit einem Gerät, das aussah wie eine kleine Druckerpresse. Ich drehte mich um und verließ ihn durch eine andere Tür, diesmal hinaus in einen Gang und weiter in einen Schlafsaal voll leerer Betten. Am Fenster stand eine alte Frau, und sie fuhr zusammen und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Es ist alles gut«, versicherte ich. »Aber wie komme ich hier raus?«

Sie schüttelte den Kopf und begann, etwas in einer Sprache zu stammeln, die ich nicht verstand. Dann hob sie beide Hände und sagte auf Englisch, allem Anschein nach das einzige Wort, das sie beherrschte: »Italienerin.«

»Ach so. Ich verstehe. Entschuldigen Sie.«

Ich ging zum Fenster hinüber und versuchte, mich zu orientieren. Es blickte auf den Hof hinaus, wo zwei Polizisten gerade dabei waren, Dora Hannigans Leiche auf einer Bahre hinauszutragen. Hooper stand mit einem Bündel Papier unter einer Laterne, blätterte Seiten um und schien von Blatt zu Blatt wütender zu werden. Als er zum Ende kam, brüllte er: »Durchsuchen Sie das Haus. Jeden einzelnen Raum.«

Dann sah er zu meinem Fenster hinauf, und ich hatte das Gefühl, er könnte mich bemerkt haben. Ich wich in den Schatten zurück und machte mich in aller Eile auf den Weg ins Freie, eine ganze Reihe von Fluren entlang bis zu einer Treppe, wo ich beinahe mit Pallett zusammengestoßen wäre.

»Himmel«, sagte ich zu ihm. »Der Laden hier ist unmöglich!«

Er nickte ernsthaft. »Ein richtiger Kaninchenbau, das kann man wohl sagen.«

»Ich hatte gedacht, dies wäre so eine Art Klub. Warum leben diese Leute hier?«

»Das sind Radikale, Sir.«

Er schien dies für eine vollkommen ausreichende Erklärung zu halten.

Im Hof zeichneten Fledermäuse Muster in das Laternenlicht über unseren Köpfen, während sie die Mücken aus der Luft fingen. Zu meinem Entsetzen sprach John Thackery gerade mit Hooper. Dann zeigte er in meine Richtung. »Natürlich, Detective Inspector«, hörte ich ihn sagen. »Ich war den ganzen Tag mit Mr Stanhope zusammen, wir haben uns das Reitturnier im Alexandra Park angesehen und sind hinterher in den Pub gegangen. Wir waren bis spätabends dort, stimmt’s, Leo?«

»Entspricht das den Tatsachen, Mr Stanhope?«, fragte Hooper.

Ich stand mit offenem Mund da, es kam mir vor wie eine Ewigkeit. »Ich … an welchem Tag?«

»Gestern. Waren Sie bei dem Reitturnier oder nicht?«

Ich nickte, ohne mir wirklich bewusst zu sein, dass ich es tat.

Hooper zog seinen Stift und das Notizbuch heraus. »Haben Sie vorhin nicht gesagt, Sie hätten mit Ihrem Zimmerwirt Whisky getrunken?«

»Äh … ja, nein, das heißt, ich habe mich vertan. Das war am Abend zuvor. Es tut mir leid.«

Er machte sich eine Notiz und sah nacheinander Thackery und mich an.

»Wenn Sie nicht die Wahrheit sagen, werde ich es herausfinden«, sagte er. »Ich werde jede Einzelheit überprüfen. Ich habe schon nach zusätzlichen Leuten geschickt. Dieser Fall ist für uns von größter Wichtigkeit.«

»Warum das? War Miss Hannigan eine bedeutende Persönlichkeit?«

Morde waren in der Hauptstadt alltägliche Vorkommnisse. Ich konnte mir nicht vorstellen, warum die Polizei diesem hier ihre besondere Aufmerksamkeit schenkte.

Hooper trat näher an mich heran und kam mir dadurch noch größer vor. Ich konnte ihm in die Nasenlöcher sehen. »Kümmern Sie sich lieber um Ihre eigenen Angelegenheiten. Ich werde auf Sie beide zurückkommen.« Er tippte sich zwei Mal an den Hut. »Mr Stanhope. Mr Duport.«

Mr Duport?

Nachdem Hooper verschwunden war, fuhr ich herum und starrte Thackery wütend an. »Du bist Mr Duport? Du bist der Mann, von dem die Polizei annimmt, dass er der Mörder ist?«

»Ja, nun, ja, das ist schon richtig. Aber ich habe es nicht getan.«

Ich schlug mit einer Faust gegen die Mauer. »Warum hast du mir das nicht gesagt? Und warum gehst du unter einem falschen Namen?«

»Das habe ich dir vorhin zu erklären versucht, aber du bist ja rausgestürmt. Das Buch, das ich damals in Enfield gekauft habe, von Thomas Carlyle? Als ich damit nach Hause gekommen bin, hat mein Vater es weggeworfen. Er hat mir gesagt, ich dürfte mir solchen aufwieglerischen Unsinn nie wieder ansehen, und er hat sogar an den Bürgermeister geschrieben und nahegelegt, die Buchhandlung sollte geschlossen werden. Er war überzeugt, der Buchhändler hätte gewusst, wer ich war, und mir das Buch aufgedrängt, um dem Fabrikantensohn seine Meinungen kundzutun. Aber darin hat er sich geirrt – der alte Knabe hatte keine Ahnung. Als ich das nächste Mal hingegangen bin, habe ich mich mit einem anderen Namen vorgestellt: John Duport. Als ich dann vor ein paar Jahren nach London gekommen bin, wollte ich nicht, dass alle Welt weiß, mit wem ich verwandt bin, und dabei ist mir der Name wieder eingefallen. Du wirst also verstehen, dass wir gar nicht so unterschiedlich sind, du und ich. Wir haben uns beide dafür entschieden, ein neuer Mensch zu sein.«

Ich starrte ihn an und glaubte meinen Ohren nicht zu trauen. Ich hatte ihm gegenüber den Namen Duport erwähnt, und er hatte nicht zugegeben, dass dies sein eigener Deckname war. Er hatte mich angelogen, mitten ins Gesicht hinein.

Jetzt zog er eine Taschenuhr aus der Westentasche. »Bleib einfach bei unserer Geschichte, dann sind wir beide aus dem Schneider. Sieh mal, es ist ziemlich spät, und ich muss los, aber wir müssen in Frieden miteinander reden, und zwar bald.«

»Ich will nichts mit dir zu tun haben«, sagte ich. »Überhaupt nicht mehr. Niemals.«

Ich betonte das letzte Wort, indem ich mit der Hand eine Kerbe in die Luft zwischen uns schlug, aber er bemerkte es nicht – und wenn er es tat, dann störte es ihn nicht weiter.

»Es gibt da Dinge, die ich dir sagen muss. Sehr wichtige Dinge. Wir müssen uns unterhalten können wie zivilisierte … nun ja, Männer. Komm in den Pub Marquis of Granby in der South Audley Street. Kennst du den? Gut, ich seh’s dir an, du kennst ihn. Morgen Abend um halb acht.«