Der Nachlass - Evelyn Grill - E-Book

Der Nachlass E-Book

Evelyn Grill

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Beschreibung

Mit gewohnter Lakonik und schwarzem Humor legt Evelyn Grill Zeugnis ab von der Einsamkeit in schwierigen Zeiten. Eine alte Frau sitzt in ihrem Lehnstuhl, ihre Gedanken gehen zu ihrer Tante Paula, von der sie dieses Möbelstück geerbt hat, und zu ihrer eigenen aufgezwungenen Einsamkeit. Denn es herrscht Pandemie und sie ist zur "vulnerablen Person" erklärt worden. Als solche wird sie vorsorglich abgesondert und "keimfrei aufbewahrt", vielleicht wird sie unter dieser Schutzglocke ja hundert Jahre alt. Tante Paula hingegen ist keine fünfzig geworden, sie wurde deportiert und der Lehnstuhl ist alles, was von ihr geblieben ist. Zwischen glasklarer Erkenntnis und zunehmender Verwirrung kreist das Denken der alten Frau um das Leben, das geschützt wird, und jenes, das als "unwert" bezeichnet wird, um gesellschaftliche Gewalt – und um das Glück, von niemandem behelligt zu werden.

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Evelyn Grill

Der Nachlass

Roman

Residenz Verlag

© 2022 Residenz Verlag GmbH

Salzburg – Wien

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

www.residenzverlag.com

Alle Rechte, insbesondere das des auszugsweisen Abdrucks und das der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten. Umschlaggestaltung: Sebastian Menschhorn

Typografische Gestaltung, Satz: Ekke Wolf, typic.at

Lektorat: Jessica Beer

Gesamtherstellung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN Print 978 3 7017 1753 8

ISBN eBook 978 3 7017 4683 5

Inhalt

DIE EWIGKEIT

KAPITEL 1

DIE EWIGKEIT

Sie sagen, daß wir uns im Tode nicht vermissen

Und nicht begehren. Daß wir hingegeben

Der Ewigkeit mit andern Sinnen leben

Und also nicht mehr voneinander wissen.

Und Lust und Angst und Sehnsucht nicht verstehen,

die zwischen uns ein Leben lang gebrannt,

Und so wie Fremde uns vorübergehen,

Gleichgültig Aug dem Auge, Hand der Hand.

Wie rührt mich schon das kleine Licht der Sphären,

Das wir ermessen können, eisig an,

Und treibt mich dir ans Herz in wilder Klage.

halt uns, Welt, im süßen Licht der Tage,

Und laß, solang ein Leben währen kann,

Die Liebe währen.

Marie Luise Kaschnitz

1

Wenn sie sich in den hölzernen Lehnsessel setzt, dann knarrt er. Er würde einmal unter ihr zusammenkrachen und ihre mürben Knochen – Osteoporose, dachte sie, ist ja altersgemäß – würden sich mit den hölzernen Streben der Rückenlehne in verhängnisvoller Weise verspreizen und ihr einen qualvollen Tod bereiten. Sie hat Fantasie, je älter sie wird, umso stärker wird ihre Vorstellungskraft. Es ist, als ob sich in ihrem Gehirn eine Parallelwelt auszubilden begänne. Sie findet das einerseits interessant, andererseits beunruhigend, und kann nur hoffen, dass sie die beiden Welten nicht zu verwechseln beginnt.

Sie ist allein und die reale Welt einerseits, die sie sich nicht vorzustellen braucht, denn die ist ja da, sozusagen begreifbar, wenn auch nicht angreifbar, d. h. nicht anzufassen, die hat sie vor Augen, und die Fantasiewelt andererseits, die ihr manchmal böse Streiche spielt und nur in ihrer Vorstellung existiert, sind für sie manchmal schwer auseinanderzuhalten. Sie fürchtet, dass sie das ihrer Umwelt schwer erklären kann, also versucht sie es erst gar nicht. Allerdings hat diese Umwelt, wie sie glaubt, ohnehin nicht das Bedürfnis, von ihr Erklärungen entgegenzunehmen. Anfängliche zaghafte Versuche, ihre beiden Welten zusammenzuführen, hatten lediglich nicht nur ihre Außenwelt, sondern auch ihre Innenwelt verwirrt.

Doch seit kurzem scheint vor allem ihre Außenwelt verwirrt zu sein, nämlich derart, dass die alte Frau nicht mehr weiß, ob sie sich jetzt in der Außen- oder in ihrer Innenwelt befindet. Auch das kann sie natürlich niemandem erklären, kann sie es doch nicht einmal sich selbst plausibel machen. Irgendwann hatte man zu ihr gesagt, sie sei alt, sie bliebe besser zu Hause. Es hieß plötzlich, sie sollte geschützt werden. Ihr Leben sei in Gefahr, sobald sie sich auf die Straße und zum Einkaufen begebe. Andere Menschen, der Mensch an sich, sei für sie eine Bedrohung. Es lag ein Brief vor ihrer Wohnungstür, ein rührender, ein freundlicher Brief, die Nachbarin von Wohnung 29 erklärte sich bereit, für sie Einkäufe zu erledigen, sie brauche nur auf einen Zettel ihre Wünsche zu schreiben, ihre Bedürfnisse zu notieren, Milch, Brot, Eier, Salat, Bananen usw. usw., denn sie sei gefährdet. Sie sei alt und deswegen gefährdet, das erfuhr sie schließlich auch aus einer Gratiszeitung, die vor ihrer Tür lag. Sie ist alt, na und? Jedenfalls kann sie das auf Grund der gelebten Jahre nicht bestreiten. Doch Leben ist immer lebensgefährlich, hatte einmal ein gescheiter Mann? Frau? gesagt, das fällt ihr jetzt wieder ein. Aber auch an Hobbes denkt sie, der sagte, dass der Mensch des Menschen Wolf sei. Irgendwie denkt sie, dass die beiden Sätze gut zusammenpassen. Eigentlich bedingen sie einander. Ich werde philosophisch, denkt sie. Es wäre schön, wenn sie mit einem Philosophen ins Gespräch kommen könnte. Doch das ist aussichtslos in dieser Zeit. Muss auch nicht sein, sie hat Bücher, aus denen sie genug philosophische Weisheit heraussaugen kann. Sie lebt allein, sie lebt gerne in ihrer freundlichen, bequemen Wohnung, sie sagt zu sich selbst: Ich bin zu sterben bereit und bitte nicht um mein Leben, doch wollt ihr Gnade mir geben, so flehe ich um drei Jahre, oder vielleicht doch zehn Jahre Zeit, bis ich des Lebens müde bin, dann magst du kommen und mich erwürgen. Das ist ein Zitat. Nein, nicht erwürgen, besser einschläfern. Vielleicht hört sie allmählich auf zu denken und beginnt zu zitieren. Eigentlich muss man in ihrem Alter, mit beinahe achtzig, nicht mehr denken können, ihre eigenen gedachten Gedanken, die sie gelegentlich in Gesprächen, doch eigentlich gibt es gar keine Gespräche, das Reden also, sagen wir einfach das Reden, manchmal hat sie ja etwas zum Reden oder zum Antworten, sie muss Fragen beantworten, beim Bäcker, in der Straßenbahn, am Fahrkartenschalter, dann beantwortet sie alles, was nötig ist. Sie wird manchmal eigenartig angeschaut, wenn sie etwas gesprochen hat, dann war ihr Gesprochenes wahrscheinlich nicht verständlich, und damit sie ihr Gegenüber nicht noch weiter verwirrt, schweigt sie dann und beginnt zu denken und beginnt zu zitieren. Etwas wie Morgenstund hat Gold im Mund. Sie weiß, dass es Abend ist, doch für abends fällt ihr nichts ein. Jedenfalls hängt es mit der Zeit zusammen. Das ist ja ihre Sache, sie kann tun, was sie will, vor allem, ja, besser einschläfern, so wie man Babys einschläfert in den Armen der Mutter oder Großmutter, jedenfalls einer Frau, meistens, doch das war ja nicht gemeint. Man erstickt, qualvoll, so hörte man es aus dem Radio und aus den Mündern mancher Mediziner und Politiker, im Fernsehen klang es drohend, und obwohl man sie nicht namentlich nannte, fühlte sie sich gemeint, sie wäre darüberhinaus eine Gefahr für ihre Umwelt, wenn sie wieder einmal einen Schritt aus dem Haus wagen würde, also bleibt sie zu Hause. In ihrem gemütlichen Heim, sie lebt ja nicht in einem Kerker. Sie verhungert nicht, sie erstickt auch nicht, weil sie nicht aus dem Haus geht, sie lebt weiter, sie wird beschützt, sie könnte es sich gemütlich machen, sie könnte es nicht besser haben. So ganz allein ist sie ja nicht, sie hat das Fernsehen, ja, das Fernsehen kann schon ein Tröster sein, sie braucht also keinen Trost, es fehlt ihr an nichts.

Sie lebt nicht auf der Straße. Es gibt Aufrufe in manchen Zeitungen und im Rundfunk, man solle sich um die Obdachlosen kümmern, sie frieren, sie erfrieren sogar. Sie dachte nach, wie sie helfen könnte, sie litt mit den Obdachlosen, sie überlegte, sie hatte einen alten Nerzmantel, den würde sie nie mehr anziehen, er war schon abgetragen, doch er wärmte noch immer. Ihn würde sie gerne einem Obdachlosen zukommen lassen, als Decke, vielleicht für die Beine und Füße. Sie fragte bei der Obdachlosenhilfe nach, ob sie dort ihren alten Nerzmantel vorbeibringen dürfe, dann erklärte sie sich bereit, ihren Pelz einem auf der Straße oder unter einer Brücke liegenden Frierenden um die Schultern zu legen. Sie würde sich dann auch gleich wieder entfernen, denn sie wolle keinen Dank. Die Stimme am Telefon, sie klang ungläubig, antwortete mit einer Frage und einer gewissen Schärfe: Sie wollen einem Obdachlosen einen Nerz um die Schultern legen? Ja, er ist nicht mehr neu, ein bisschen abgetragen, sie entschuldigte sich fast, aber er wärmt immer noch gut.

Sie wollen wirklich einem Obdachlosen, der auf der Straße oder unter einer Brücke liegt, einen Nerz um die Schultern legen?

Der Klang der Stimme hätte sie misstrauisch werden lassen können, er war irgendwie drohend, doch sie wurde nicht misstrauisch, sondern bestätigte stattdessen ihren Wunsch und begründete ihn sogar: Wissen Sie, ich trage ihn nicht mehr, er ist schon abgewetzt, doch er wärmt noch immer. Sie hörte am anderen Ende der Telefonleitung heftiges Atmen, dann kam eine gepresste Antwort: Nein, vielen Dank, wir nehmen keine Nerze, aber Sie können uns Geld spenden, die Kontonummer können Sie leicht erfragen. Aufgelegt.

Sie war perplex, so erzählte sie es einer Freundin am Telefon. Von der erfuhr sie, dass das wirklich nicht ginge.

Sie verstand es immer noch nicht, es war nicht schlüssig. Also ließ sie ihren abgetragenen Nerz im Schrank hängen, streichelte über seinen Ärmel und zuckte mit den Schultern, na dann nicht.

Manchmal schaltet sie das Fernsehen ein. Ein Unterhalter kann das Fernsehen schon sein, oder ein Informant, ja, sie wird in ihrer Abgeschiedenheit sogar informiert, manchmal liegen Gratiszeitschriften vor ihrer Tür, damit sie weiß, dass es zu Hause am schönsten ist, besonders, wenn man allein und alt ist, wenn niemand stört, wenn man niemanden stört und wenn man tun und lassen kann, was man will, und vor allem, wenn man schön zu Hause bleibt.

Der Ton der Türglocke überraschte sie. Wie lange hatte sie ihn schon nicht mehr gehört, sie erschrak, fühlte sich überrumpelt. Sie hätte die Frau wegschicken sollen, nein, müssen, denn sie durfte ja keinen Besuch empfangen, sie war eine Vulnerable; doch wenn die Frau schon einmal da war, wäre es ungehörig, sie nicht hereinzulassen. Vielleicht war vereinbart, dass die Putzfrau an diesem Tag kommen sollte, vielleicht hatte sie es in ihrem abgekapselten Dasein einfach vergessen? Das wagte sie allerdings nicht laut zu sagen, denn wenn alte Leute etwas vergessen, dann nennt man sie gleich dement, nicht nur vergesslich und nicht nur vulnerabel, dann sind sie noch vulnerabler als nur alt. Nein, sie hatte die Putzfrau nicht vergessen, sonst wäre der Termin ja in ihrem Kalender vermerkt gewesen, doch da war nichts vermerkt, also war die Putzfrau unverhofft gekommen, und die alte Frau freute sich, dass sie gekommen war und nicht darauf vergessen hatte. In diesen Zeiten kam so vieles unverhofft und das wenigste war erfreulich. Die Putzfrau sagte, sie komme heute unverhofft, das wisse sie, doch sie wisse nicht, ob sie das nächste Mal überhaupt noch kommen dürfe wegen der Ansteckung, man wisse ja nicht, welche neuen Gesetze oder Anweisungen noch herauskämen von der Regierung, die Regierung sei sehr fleißig und man müsse auf jedes neue Gesetz vorbereitet sein. Die alte Frau streckte ihr die Hand entgegen, doch die Putzhilfe wich zurück. Nein, sagte sie, das ist jetzt verboten. Sie streckte der alten Frau ihren Ellenbogen hin, diese solle ihr den ihren reichen, doch das wollte sie nicht, mit dem Ellenbogen gegen den der Putzfrau stoßen – oder eine Faust machen. Faust an Faust. Das durfte man anscheinend. Seltsame Zeiten.

Die Putzhilfe brachte wieder Ordnung in die Wohnung, sie kannte sich aus, sie war professionell, das war angenehm, später lud die alte Frau Zita, so nannte sie die Putzhilfe, sie hatte einen anderen Namen, doch Zita passte zu ihr und sie hatte nichts dagegen, also lud sie Zita zu Kaffee und Kuchen auf den Balkon ein. Dort saßen sie in gesetzeskonformem Abstand (den Kuchen hatte sie rasch aufgetaut) und Zita erzählte, es war kein Wort von Corona dabei, von ihrer Tochter, die wunderbar kochen konnte, gefüllte Champignons mit Nüssen und andere exquisite Leckerbissen würde Zita unter anderem