Der neue Iran - Charlotte Wiedemann - E-Book

Der neue Iran E-Book

Charlotte Wiedemann

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Beschreibung

Intime Einblicke in ein faszinierendes Land Charlotte Wiedemann legt ein umfassendes Gesellschaftsporträt des modernen Iran vor: ein selbstbewusster Vielvölkerstaat, heute die wichtigste Macht im Nahen und Mittleren Osten. Das Buch führt von der großstädtischen Theaterszene zum schiitischen Volksislam, von der kurdischen Sufi-Zeremonie zum Sabbat in einer jüdischen Familie. Es erklärt, wie die Ansprüche der Frauen das Land verändert haben und welche subversive Lebenskunst die politische Willkür hervorgebracht hat. Und es analysiert das Weltbild der Iraner, ihre in Jahrhunderten kolonialer Bevormundung entstandenen Ängste, ihren manchmal obsessiven Nationalstolz. Ein schwieriges Land, beschrieben mit Behutsamkeit und Genauigkeit.

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Charlotte Wiedemann

Der neue Iran

Eine Gesellschaft tritt aus dem Schatten

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Mit farbigem Bildteil und einer Karte

Persischsprachige Namen von bekannten Persönlichkeiten wurden nach der deutschen Aussprache transkribiert. Sonstige Begriffe halten sich näher an der international üblichen Umschrift. Auf eine durchgehende wissenschaftlich korrekte Transkription wurde aus Gründen der Lesbarkeit verzichtet.

Vorwort: Selbstbild, Fremdbild

Von meiner ersten Reise durch Iran, rund fünfzehn Jahre ist das nun her, blieb mir eine Begegnung besonders in Erinnerung. Ich saß in einer großen Familienrunde, Ärzte, Ingenieure, obere Mittelschicht. Das Gespräch begann mit einem Auftrag: »Bitte schreiben Sie Folgendes«, sagte eine Kinderärztin resolut: »Die Iraner sind beleidigt über das Bild, das im Westen von unserem Land gezeichnet wird. Alles, was hier schlecht ist, wird bei Ihnen aufgebauscht, und was gut ist, erwähnen Sie nicht.«

Alle um den Tisch stimmten ein, verteidigten den Iran, kritisierten den Westen. Erst als ich dies auf gebührend vielen Seiten meines Blocks notiert hatte, nahm das Gespräch abrupt eine andere Wendung. Nun wurde auf das politische System geschimpft, in allen erdenklichen Tonlagen, und der schlimmste Vorwurf lautete: Die Mullah-Regierung ist die zweite Invasion der Araber.

Es gibt in Iran ganz andere politische Milieus, andere Meinungen, andere soziale Schichten. Doch viele Iraner teilen den Grundton, den ich von dieser Begegnung an einem Nachmittag in Isfahan mitnahm: Achtet uns!

Nationalstolz, ein waches Gefühl von Kränkung und eine Prise Hochmut: Diese Mischung habe ich immer wieder angetroffen.

Selbstbild, Fremdbild – wie die Iraner sich selber sehen und wie sie aus dem Westen betrachtet werden, das ist der Ausgangspunkt dieses Buches. Es ist ein Buch über ein oftmals missverstandenes Land: unverstanden in seinem Selbstbewusstsein wie auch in seinen Ängsten. Eine Nation von achtzig Millionen Menschen, auf Distanz und Autonomie ebenso bedacht wie auf Respekt und Anerkennung.

Ihren ausgeprägten Nationalstolz schöpfen Iraner vor allem aus der Ära vor der Ankunft des Islam. Das Persische Reich war das erste Großreich der Antike, daraus speist sich noch heute ein »imperiales Syndrom«, wie der iranische Philosoph Ramin Jahanbegloo sagt. Jedes Kind wächst in die kollektive Erinnerung an eine großartige Vergangenheit hinein und trägt sie weiter, in einer Gegenwart, die von Sorgen und Zweifeln geprägt ist.

Wir in Europa haben wiederum lange gebraucht, um unser Bild vom frühen Persien (das man auch den alten Iran nennen kann) von den Vorurteilen zu befreien, die aus griechischen und biblischen Quellen kamen und unseren Bildungskanon bestimmten. 333, bei Issos Keilerei, hieß es in der Schule, Griechen gegen Perser, und die Griechen waren unsere Leute. Heute wissen wir mehr darüber, welche kulturellen Leistungen das weite trockene Land zwischen Kaspischem Meer und Persischem Golf bereits im Altertum hervorgebracht hat, darunter die künstliche Bewässerung. Trotzdem fehlt uns das Gespür für die historische Geografie, für die gestaltende Rolle der iranischen Reiche in einem großen Teil der östlichen Welt.

Über viele Jahrhunderte war Iran weitaus größer als der heutige Staat, in dessen Fläche Deutschland immerhin noch viereinhalb Mal hineinpasst. Unter Iran verstanden die Menschen in der Antike auch Regionen, die nun längst zu anderen Staaten gehören, zu Afghanistan, Pakistan, Turkmenistan, Usbekistan, Tadschikistan und Kirgistan. In deren Namen klingt etwas Gemeinsames wieder, die Endung -stan bedeutet im Persischen Heimat, Land, Ort. Iran wurde zum Durchzugsgebiet von Völkern, zum Schmelztiegel von Zivilisationen. Und es ist heute ein Vielvölkerstaat, in dem zehn Sprachen oder mehr gesprochen werden.

Nur für jeden Zweiten ist Persisch die Muttersprache.

Das Fremde abwehren oder es verherrlichen, das sind oft zwei Seiten einer Medaille. Im 20. Jahrhundert wurde bei uns »Persien« zur Chiffre für Juwelen, Schönheit, Pracht, Verschwendung. Die Kaiserinnen Soraya und Farah Diba füllten die Seiten der Illustrierten; Glitzerbilder, die Herberes kaschierten: die westliche Kollaboration mit der Diktatur in Teheran.

Dann kam die Revolution. Iran schien zu einer Silhouette der Düsternis zu erstarren: unverständlich, unzugänglich, dämonisch.

Wer seitdem bei uns »persisch« sagt, oft mit einem schwärmerischen Unterton, will sich von diesem politischen Iran absetzen, in eine Welt von Rosenwasser, Safran, Teppichmustern; eine konsumierbare Exotik, die uns unsere Ruhe nicht raubt. Das mag vormodern klingen, ist es aber nicht. Dass gerade wir Deutsche so am Begriff »Perser« hängen, hat mit völkischen Ideologien zu tun, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts NS-Deutschland und Iran verbanden. Die Vorstellung, wir gehörten einer gemeinsamen arischen Rasse an, ist bei vielen Iranern noch in diesen Tagen anzutreffen. Sie leiten daraus eine Spezialbeziehung zu den Deutschen ab, die heute nicht anders als damals mancher Geschäftsbeziehung zugutekommt.

Mein Bild von Iran beruht vor allem auf meinen eigenen Erfahrungen. Es ist also der Natur nach subjektiv, auch wenn ich mich um etwas bemühe, was im Fall Iran selten eingefordert wird: Ausgewogenheit. Seit meinem ersten Besuch im Jahre 2004 habe ich das Land unter drei verschiedenen Präsidenten erlebt – wobei das Wort »unter« nicht ganz richtig ist, denn in Iran haben die Präsidenten nie die ganze Macht, manchmal kaum die halbe. Das galt auf je eigene Weise für Mohammad Khatami, einen gescheiterten Reformer, für Mahmud Ahmadinedschad, den Populisten in der beigefarbenen Windjacke, und danach für den moderaten Hassan Rohani: Sein außenpolitischer Triumph, der Abschluss des Nuklearvertrags, wurde ihm durch die US-Politik aus der Hand geschlagen; das nahm ihm innenpolitisch alle Statur. So wurde ich im jahrelangen Auf und Ab iranischer Emotionen nach einer Phase großer Hoffnung zuletzt wieder Zeugin erneuter Erschütterung, begleitet von Angst und Frustration.

Meine erste Beschäftigung mit Iran liegt indes viel länger zurück: Als Studentin ging ich auf Demonstrationen gegen das Schah-Regime und bekam dafür von der Frankfurter Polizei den Kopf blutig geschlagen – so eng war die Freundschaft zwischen der alten Bundesrepublik und dem kaiserlichen Iran. Als ich mit verbundenem Kopf zu Hause lag, zog eine Prozession iranischer Kommilitonen an meinem Sofa vorbei, mit aufgeschnittenen Orangen und kleinen Geschenken. Ich war eine Art Märtyrerin und erlebte zum ersten Mal, wie Iraner das Leiden verehren, wenn es dem Kampf gegen Unrecht geschuldet ist.

Ein Jahrzehnt später begegneten mir die Opfer des neuen Regimes, in einem Deutschkurs, den ich für Asylbewerber gab. Es war Mitte der 1980er-Jahre, die schlimmste Phase der Islamischen Republik. Ich erinnere mich an die Melancholie im Klassenraum. Meine Schüler waren Akademiker mittleren Alters, bebrillte, bedächtige Menschen, die sich zu alt fühlten, um an einem verkratzten Schultisch ein neues Leben beginnen zu müssen. In der Pause brachten mir manche Männer aufgeschnittene Orangen.

Westliche Ausländer berichten oft überschwänglich von der Zuvorkommenheit, mit der sie in Iran behandelt wurden. Sie übersehen leicht, wie sich manchmal Iraner untereinander verhalten, wenn sie sich in der Anonymität des Alltags begegnen. Ein Teheraner Taxifahrer, der mich für eine Iranerin hielt, weil ich in der Nähe der Universität in seinen Wagen stieg, blaffte mich rüde an – und zerfloss im nächsten Moment vor Freundlichkeit, als er merkte, dass ich eine Ausländerin war, noch dazu eine Deutsche …

Das Selbstwertgefühl der Iraner weist viele Brüche auf; ihnen wird in diesem Buch immer wieder nachgegangen, denn sie scheinen mir ein Schlüssel zum Verständnis des Landes zu sein. So gern Iraner auf ihre großartige Geschichte verweisen, so gibt es doch immer wieder Momente, in denen sie sich vor Fremden, besonders Westlern, erstaunlich kleinmachen. Sich zugleich überlegen und unterlegen zu fühlen, ist ein typisch iranischer Komplex. Das Wort, das die Iraner dafür benutzen, Oghdeh, stammt aus dem Arabischen – eine Ironie der Sprachgeschichte: Denn den Arabern, von denen sie einst erobert wurden, fühlen sich viele Iraner ganz besonders überlegen.

Die Geringschätzung von Arabern begegnete mir sogar in der Pilgerstadt Maschhad, die von ihren schiitisch-arabischen Gästen profitiert. Zu meinen, religiöse Kategorien seien entscheidender als alle anderen, ist in diesem wie in so vielen anderen Fällen falsch. An der Rezeption meines Hotels, in dessen Lobby sich die Gäste aus dem Irak und aus Bahrein drängten, ergab sich folgender Dialog.

Rezeptionist: »Wie schön, dass mal eine Ausländerin da ist!«

»Aber Ihr Hotel ist doch voller Ausländer.«

»Das sind doch nur Araber! Die interessieren sich nicht für iranische Kultur.«

»Warum ist das so?«

»Weil sie selbst keine Kultur haben.«

Wenn westliche Besucher besonders zuvorkommend behandelt werden, hat dies noch einen anderen Grund: Viele Iraner wünschen sich sehnlich, die Isolation zu überwinden und wieder als geachtetes Mitglied der Gemeinschaft der Nationen zu gelten. Touristen aus Europa galten früher als Vorboten eines kommenden politischen Tauwetters; heute fungieren sie als Kronzeugen, dass die neue Zeit der Öffnung allen Widernissen zum Trotz anhalten möge.

In Kermanschah, wo sich in den Grotten von Taq-e Bostan berühmte Reliefs aus dem vierten Jahrhundert befinden, halten Iraner ihre Kinder, sogar Babys, fürs Foto erst hoch vor die Reliefs, damit sie eins werden mit den Herrschern und Göttern von damals. Alsdann werden die Kinder fürs Bild links und rechts neben den Touristen postiert, als ergäbe das die Reliefs der Gegenwart.

In derselben Parkanlage sah ich Soldaten in Camouflage-Uniformen, die sich in Blumenbeete hockten, damit ihre Kameraden sie so fotografierten. Blumen und Männlichkeit sind in Iran kein Widerspruch. Ein berühmtes historisches Foto zeigt Sattar Khan, einen Freiheitshelden des frühen 20. Jahrhunderts, mit einer Blüte in der Hand.

Iran fasziniert mich, weil es sich schnellen Deutungen immer entzieht. Dass der Staat die Arbeit ausländischer Journalisten stark einengt, macht die Sache nicht leichter. Die Erschwernisse stets zu benennen, wäre ermüdend; der Leser möge sie mitdenken, zwischen den Zeilen. Vieles konnte ich nur als Privatperson erleben und beobachten; zum Schutz der Betroffenen musste ich manchmal eine Kontur verwischen, die ich lieber klar gezeichnet hätte.

Doch auch jenseits solcher Hürden ist die Islamische Republik für jeden, der sie verstehen will, eine Herausforderung. »Keine andere Gesellschaft der Welt ist so komplex wie unsere.« Das hat Ezatollah Sahabi gesagt, ein prominenter national-religiöser Dissident, ein Häftling zweier Regime; er verstarb vor einigen Jahren. Sahabis Feststellung klang fast stolz; Iraner vermögen sogar darauf stolz zu sein, wie kompliziert sie sind.

Komplex sind die Machtstrukturen und Entscheidungsprozesse, der ständige Konflikt zwischen den theokratischen und den republikanischen Elementen des Systems. Dann die Rolle der Religion, die sich im politischen und im privaten Raum sehr unterscheidet; dazu kommen die Besonderheiten des schiitischen Islam, der bei uns zu Unrecht für fanatisch gehalten wird. Das System hält sich wie ein Perpetuum mobile in einem geheimnisvollen Gleichgewicht der Kräfte; diese Konstruktion gewinnt, wie ich im Kapitel über die Lebenskunst beschreibe, eine gewisse Stabilität unter anderem daraus, dass Vorschriften und Sittenregeln massenhaft verletzt werden.

So hat in einem verwickelten und langsamen Prozess der neue Iran sein Gesicht gewonnen: Er ist pragmatischer, weiblicher, nationaler und weniger religiös als der Iran der ersten Revolutionsjahre. Die verbreitete Vorstellung, ein neuer Iran käme erst als Folge westlicher Investitionen oder westlichen Einflusses, erscheint mir verächtlich gegenüber den Menschen in Iran. Die stille Macht ihrer alltäglichen Ansprüche, vor allem jener der Frauen, hat in den vergangenen Jahren entscheidend zum Wandel beigetragen.

Die Iranerinnen werden von mir deshalb nicht in ein gesondertes Kapitel gesperrt. Sie sind Teil des gesamten Panoramas der Gesellschaft.

Westliche Prognosen über die Entwicklung der Islamischen Republik haben sich so oft als falsch erwiesen, dass die Iraner daraus eine Gesetzmäßigkeit abgeleitet haben: »Nur eines weiß man sicher: Was ihr alle vorhersagt, wird garantiert nicht passieren.« Quelle vieler Fehldeutungen ist unser Hang zum binären Denken: Gut oder Böse; für uns, gegen uns; westlich-säkular gegen religiös-fanatisch. Alles, was uns vertraut und schön erscheint, wird als pro-westlich definiert: ob Lippenstift, verrutschtes Kopftuch oder Menschenrecht.

Tatsächlich hat die Frage, wie westlich sie sein wollen und wie sie sich zu einer westlich definierten Moderne verhalten, die Iraner seit mehr als einem Jahrhundert immer wieder umgetrieben. Die Frage begleitet deshalb auch dieses Buch.

Europas Literatur liegt übersetzt in Teheraner Buchhandlungen; Intellektuelle sind mit Kant, Habermas und Hannah Arendt vertraut. Doch die meisten würden die Annahme, sie seien verwestlicht, von sich weisen. Sie bestehen vielmehr darauf, dass sie mit ihrer kulturellen Offenheit die besten Traditionen Irans verkörpern. »Wir befinden uns in der Mitte zwischen Ost und West«, meint Bahman Ghobadi, ein angesehener iranischer Regisseur.

Künstler aus Iran, zumal Frauen, erfahren im Westen oft eine besondere Empathie. Jede Malerin, jede Fotografin erscheint als zerbrechliche Ausnahmefigur, deren Werk allein schon deshalb leuchtet, weil es aus einem vermeintlichen Reich der Finsternis kommt.

Verklärung ist die kleine Schwester der Dämonisierung. Die schöpferische Gestaltungskraft von Iranern wird in der Türkei, in Russland oder in China ebenfalls gewürdigt, doch im Westen haben Ehrungen im Fall Iran oft eine politische Färbung – viel mehr als bei Künstlern aus anderen Ländern, in denen gleichfalls Menschenrechte chronisch verletzt werden.

Die Sonderstellung resultiert aus westlicher Geopolitik, aber sie hat auch mit der iranischen Diaspora zu tun. Fünf Millionen Menschen mit iranischen Wurzeln leben im Ausland (einhundertzwanzigtausend in Deutschland), und viele sind der alten Heimat noch nach Jahrzehnten des Exils in Liebe wie in Hass eng verbunden. Vergleichsweise gut gebildet und oftmals wohlhabender als Migranten anderer Communities haben die Auslandsiraner Fernsehsender und Onlinemedien geschaffen, die nach Iran hineinwirken; sie sind in den »Iranian Studies« westlicher Universitäten präsent, in Thinktanks und politischen Parteien. Manche von ihnen haben allerdings das Land seit Kindertagen nicht gesehen und sind mit der heutigen Lebenswirklichkeit wenig vertraut. Ein Teil der Diaspora hat dazu beigetragen, ein veraltetes Iranbild zu konservieren, gezeichnet von Bitterkeit und enttäuschter Liebe.

Der US-iranische Iranistik-Professor Hamid Dabashi, der seine alte Heimat seit Jahren mit Büchern bombardiert, geht in seinem jüngsten Titel ›Iran Without Borders‹ so weit, die Landesgrenzen Irans als fiktiv zu bezeichnen, denn die iranische Nation existiere längst ebenso jenseits der physischen Grenzen und habe von Iranern im Ausland stets entscheidende intellektuelle Impulse bezogen. Ein »Gefühlsuniversum von Heimat«, wie Dabashi es nennt, haben Iraner in der Tat, und die Islamische Republik trägt dazu bei, indem sie niemanden aus der Staatsbürgerschaft entlässt. Der Revolutionsführer gratuliert zum Neujahrsfest den Iranern in aller Welt.

Es war bewegend zu sehen, wie sich außerhalb Irans Dissidenten, Exhäftlinge und Folteropfer für das Abkommen im Nuklearstreit einsetzten, gegen allen Widerstand durch die US-Republikaner und die israelische Regierung. Die Teheraner Staatsmedien berichteten nicht über den Patriotismus der verlorenen Söhne und Töchter, aber die meisten Iraner wussten durch die sozialen Medien Bescheid.

Die Führung der Islamischen Republik ist von der Vorstellung besessen, der Westen bediene sich fünfter Kolonnen, um das Land zu infiltrieren. Inwieweit es sich dabei um bloße Paranoia handelt oder auch um eine Folge geschichtlicher Erfahrungen, versuche ich anhand der nationalen Traumata zu beantworten. Iran wird bei uns immer wieder als aggressiv porträtiert, doch die historische Prägung des Landes ist eine ganz andere. Iran musste jahrhundertelang den Konkurrenzkampf imperialer Mächte auf seinem Territorium erdulden und schließlich 1953 einen britisch-amerikanisch orchestrierten Staatsstreich, den kein Iraner vergessen kann.

Die Lehren aus der Geschichte haben ein tiefes Misstrauen gegenüber den Mächten des Westens erzeugt, auch bei jenen Menschen, die dem System der Islamischen Republik fernstehen. Ein Misstrauen, das unweigerlich neue Nahrung gefunden hat, seitdem die USA zu einer Politik der Ausgrenzung und Konfrontation zurückgekehrt sind, obwohl Iran seine Verpflichtungen aus dem Nuklearvertrag erfüllt hatte. Viele Iraner wissen sehr wohl zwischen Europa und Amerika zu unterscheiden; mir wurde gesagt, die Gebildeten seien mehr Europa und seiner Kultur zugetan, weniger Gebildete bewunderten (heimlich) Amerika. Aber was nützt heute diese Differenzierung? Das Gefühl, am Ende von allen im Westen im Stich gelassen zu werden, hat sich erneut in viele Herzen eingegraben. Und zumindest von den USA wird auch nach 40 Jahren das Recht Irans, seinen Weg selbst zu bestimmen, nicht anerkannt.

Gewiss: Der Weg, den die Islamische Republik 1979 einschlug, hat die Mehrzahl der Iraner einen entsetzlich hohen Preis gekostet. Die blutigen Exzesse gegen die Gegner im Inneren wären vermeidbar gewesen; Isolation, Kriegsdrohung und Sanktionsdruck durch den Westen vermutlich nicht. Gleichwohl verkörpert Iran heute einen territorial gefestigten Vielvölkerstaat mit starkem Nationalbewusstsein – das ist rar in einer Welt, deren Kennzeichen gegenwärtig die ethnische und religiöse Parzellierung ist.

Es ist also an der Zeit, dass wir »unsere Augen waschen«, wie es in einer persischen Wendung heißt, und versuchen, dieses Land zu verstehen:

Vergegenwärtigen wir uns, wie groß Iran ist! Seine geografische Ausdehnung, seine ethnische Vielfalt und seine komplexe Geschichte machen dieses Land eher zu einem Kontinent. Unsere rein politische Sicht, fixiert auf Teheran, hat Iran künstlich verkleinert.

Die Islamische Republik ist nicht archaisch. Vom hohen Bildungsgrad der Frauen über die aktive Zivilgesellschaft bis zur medizinischen Spitzenforschung: Iran ist ein modernes, technikbegeistertes und dynamisches Land.

Entsorgen wir endlich die Floskel vom Gottesstaat! Materialismus greift um sich; die Kluft zwischen Arm und Reich ist oftmals tiefer als zwischen Religiösen und Säkularen. Und über die Frage, wie islamisch der Iran der Zukunft sein soll, gehen die Ansichten selbst innerhalb einer Familie häufig weit auseinander.

 

Die Inspektion dieser uns weithin unbekannten Gesellschaft muss mit einem Rückblick auf die tiefste Zäsur jüngerer iranischer Geschichte beginnen, auf 1978/79. Sie muss beginnen mit einer Frage, die in vielen Familien nur ein befangenes Schweigen der Älteren auslöst: Warum habt ihr diese Revolution gemacht? Wie wart ihr damals, und was wolltet ihr?

Ich suchte nach der Revolution in den Erinnerungen der Beteiligten und hörte von Glück und von Schmerz.

Erinnerungen an 1978/79. Über Glück, Schmerz und Schweigen

Ahmad Moqadassi blickte durch das Schaufenster seiner Apotheke hinaus auf den Märtyrerplatz. Er schwieg einen Moment, dann sagte er, ohne mich anzusehen: »Angst bedeutete damals nichts.« Ein Satz, der pompös klänge, würde man ihn nicht zwischen Regalen mit Aspirin und Kinderpuder hören.

Moqadassi war Anfang sechzig, als ich ihn traf; sein Haar war weiß, die Lesebrille baumelte an einer Schnur.

Dort draußen vor seiner Apotheke war die iranische Monarchie zugrunde gegangen, an einem Septembermorgen des Jahres 1978. An den Tagen zuvor hatten sich Millionen Menschen durch die Straßen Teherans geschoben, friedlich, fast heiter. Sie verlangten politische Freiheiten, steckten Blumen auf die Gewehrläufe der Soldaten, und die Soldaten lächelten.

An diesem Morgen jedoch wurde alles anders. Der Schah hatte Kriegsrecht verhängt; die Leute, die zur Kundgebung auf den Platz vor der Apotheke kamen, wussten es nicht – oder es war ihnen gleichgültig. Die Soldaten rückten aus den Nebenstraßen an. Wenig später lagen zweihundert Tote auf dem Platz.

Dieser 8. September 1978 wurde später Teherans »Schwarzer Freitag« genannt. Es war ein Tag, wie es ihn in allen großen Erhebungen gibt, der Tag eines symbolträchtigen Verbrechens, mit dem sich das herrschende Regime so offensichtlich ins Unrecht setzt, dass es sich davon nicht mehr erholen kann. In den Gerüchten, von Mund zu Mund, von Flugblatt zu Flugblatt, stieg die Zahl der Toten später immer weiter an, am Ende auf mehr als zehntausend. Vier Monate später floh der Schah aus dem Land.

Moqadassi, der Apotheker, war an jenem blutigen Freitagmorgen durch sein Stadtviertel gefahren, um Schwerverletzte zu versorgen. Zur Tarnung saßen Frau und Kinder mit im Wagen. Moqadassi hatte begonnen, gegen den Schah zu kämpfen, als er sechzehn war. »Bitte denken Sie nicht, wir Iraner würden die Gewalt lieben«, fügte er unvermittelt hinzu. »Ich habe meinen Kindern nie eine Ohrfeige gegeben.«

Draußen vor der Apotheke ist das Gedenken an die Toten der Revolution längst in Abgaswolken verweht. Der berühmte Platz ist heute eine Straßenkreuzung; Teherans Stadtplaner haben den historischen Ort zerschnitten und damit auch die Erinnerung an eine Zeit, als die Revolution noch nicht allein den Religiösen gehörte, sondern den vielen, dem Volk, den Apothekern, den Studenten, den Namenlosen.

Wenn Moqadassi aus dem Fenster sah, spürte er den Verlust stets aufs Neue, wie einen Schmerz, der in all den Jahren nicht vergangen war. »Es ist unfair, was sie dem Platz angetan haben.« Wir wussten beide, dass hier von viel mehr als einem Platz die Rede war.

Der Sieg der Revolution, sagte Moqadassi, waren die schönsten Tage seines Lebens. »Um das verstehen zu können, muss man die Schah-Zeit erlebt haben. Fast jeder, den ich auf der Straße treffe, ist jung und hat keine Erinnerung. Es ist schwer, die Revolution zu verteidigen, obwohl wir doch nichts Unrechtes getan haben.«

Der Apotheker schwieg einen Moment. Dann sagte er: »Man fühlt sich manchmal sehr allein.«

Moqadassi war der Erste, bei dem ich etwas von der Einsamkeit der alten Revolutionäre begriff. Es mag seltsam klingen, dass Menschen mit ihrer Erinnerung an ein Ereignis alleine sind, dessen Lobpreisung doch Staatsdoktrin ist. Aber das ist es gerade. Iraner wie Moqadassi fühlen sich gleichsam doppelt enteignet. Weil die Revolution bald einen Verlauf nahm, den nur die wenigsten gewollt hatten. Und weil jene Tage, die sie insgeheim noch immer mit Stolz erfüllen, ihnen in den Augen ihrer Kinder oft nur einen stummen Vorwurf eintragen.

Von den Rissen, die sich durch die iranische Gesellschaft ziehen, ist jener zwischen den Generationen der schmerzlichste. Die Bevölkerung hat sich seit 1979 mehr als verdoppelt. Jeder Zweite ist unter dreißig, und in dieser großen jungen Bevölkerung finden viele unbegreiflich, wofür sich ihre Eltern begeisterten. Die allermeisten Iraner und Iranerinnen, die heute über fünfzig sind, haben als junge Männer und Frauen die Revolution unterstützt, waren zumindest Sympathisanten. Warum das so war, darüber wissen ihre Kinder erstaunlich wenig. In den Familien haben viele Ältere den Jüngeren nichts von ihrer Erfahrung erzählt, aus Scham darüber, was aus der Revolution geworden ist, oder aus Angst, nur auf Unverständnis zu stoßen.

Im Schulunterricht werden Namen und Daten auswendig gelernt, dann rasch vergessen. Von der Vergangenheit bleibt ein Holzschnitt, ohne Farbe, ohne Leben: Der Schah wurde gestürzt, weil alle den Islam wollten. Übersättigt mit Parolen, erdrückt vom staatlichen Märtyrerkult vermögen viele Jüngere nicht zu erkennen, dass ihre Eltern, Tanten, Onkel für einige Tage ihres Lebens kleine Helden waren.

Auf alten Fotos, in vergilbtem Schwarzweiß, ist noch zu sehen, wie breit die Opposition gegen den Schah tatsächlich war, bevor sich auf alles der übermächtige Schatten von Ayatollah Khomeini legte. Junge Männer in dandyhaften taillierten Jacketts, manche mit langen Haaren. Junge Frauen ohne Kopftuch, das Haar modisch toupiert.

Der Grad aktiver Beteiligung unter den damals siebenunddreißig Millionen Iranern macht die iranische Revolution zu einer der großen Erhebungen der Weltgeschichte. Und sie führte tatsächlich zu einem profunden Wechsel von System, Macht und Eliten – ganz anders als später die Stürze von Diktatoren während des sogenannten arabischen Frühlings. Ihnen folgten Restauration, Staatszerfall oder allenfalls bescheidene Reformen. Solche Ereignisse Revolutionen zu nennen, ist nur eine Marotte des Zeitgeistes. Die iranische Revolution hingegen verdient diese Bezeichnung; sie spielt aus historischer Sicht in einer Liga mit der Französischen und der Russischen Revolution. Im Vergleich mit diesen beiden war der Umsturz in Iran populärer und weniger blutig.

Doch der Nachwelt blieb von diesem großen Freiheitskampf ein irriges, ein ungerechtes Bild. Das gilt für den Westen, und es gilt ebenso für die offizielle iranische Sicht: Auf beiden Seiten wird die Revolution in der Rückschau auf eine religiöse Bewegung reduziert – und die religiösen Motive auf wenige Phrasen. So kommen sich zwei Propagandabilder erstaunlich nahe, auch wenn ihnen ganz unterschiedliche Motive zugrunde liegen.

Im Westen begann 1979, nach einem flüchtigen Moment der Faszination, die Islamophobie neuerer Zeit. Die Figur Khomeinis schien dafür wie geschaffen; »Ayatollah« wurde zum Synonym für einen gefährlichen Spinner. Viele westliche Medien reduzieren die Revolution bis heute auf die suggestive Macht Khomeinis: Als seien Millionen Iraner nur ein fanatisiertes Gefolge gewesen. Damals hat sich in der Berichterstattung eine Sicht auf Muslime etabliert, die bis heute wirksam ist: Sie werden primär als eine bloße Masse betrachtet, selten als handelnde, denkende Subjekte.

Historikern und Sozialwissenschaftlern fällt es bis heute schwer zu erklären, was 1978/79 in Iran geschah. Binnen weniger Monate stürzte eine überwiegend unbewaffnete Bewegung ein Regime, das sich auf eine der bestausgestatteten Armeen der Welt stützte und auf den Rückhalt der USA. Es war »The Unthinkable Revolution«, so formulierte es der amerikanische Soziologe Charles Kurzman.

Gewiss, auf dem Land darbten die Iraner. Eine verfehlte Agrarreform hatte vielen die Existenz geraubt; verarmte Bauern flohen in die wachsenden Slums der großen Städte. Eine kleine Oberschicht lebte derweil mit Dior, Juwelen und Champagner wie in einem Bilderbuch westlicher Dekadenz. Entscheidender war jedoch etwas anderes: Der Schah war in den Augen des Volkes zugleich Despot und Marionette – brutal nach innen, willfährig nach außen. Dies stellte den Monarchen in eine Reihe mit früheren Herrscherfiguren, und es stellt die Revolution von 1979 in den Kontext früherer Kämpfe für Emanzipation.

Iran hat im Nahen und Mittleren Osten im 20. Jahrhundert die Rolle »eines unruhigen, aber fortschrittlichen Landes« gespielt, so hat es der Schriftsteller Amir Hassan Cheheltan einmal formuliert. Vor 1979 gab es bereits zwei Versuche, asadi, Freiheit, zu erlangen, und beide wurden durch ausländische Mächte oder zumindest mit deren Hilfe erstickt. 1906 erkämpften die Iraner als Erste in der Region ein Parlament. Diese Konstitutionelle Revolution, ein Jahre währendes Ringen, wurde schließlich mit russischer Hilfe zusammengeschossen.

1953 folgte dann der Sturz des beliebten Premierministers Mohammed Mossadegh durch einen Staatsstreich, den Amerika mit britischer Hilfe orchestrierte. Warum? Weil Mossadegh das iranische Erdöl verstaatlicht hatte und damit westliche Interessen flagrant verletzte. Der promovierte Jurist hatte seine Ausbildung in Frankreich und der Schweiz absolviert; er war in Ländern der Dritten Welt ein Vorbild für nationale Emanzipation, lange bevor der Name Khomeini zu dunklem Ruhm gelangte. Bei uns ist der Ägypter Gamal Abdel Nasser bekannter, weil er den Suezkanal nationalisierte. Doch Mossadegh war dabei Nassers Vorbild.

Die Demütigungen nach diesem ersten und zweiten Anlauf zu nationaler Selbstbestimmung hatten Weltbild und Selbstverständnis vieler Iraner geprägt, gerade unter den Gebildeten, und sie bereiteten den Boden für den neuen, dritten Anlauf. Wieder ging es, unter veränderten Zeitumständen, um Bürgerrechte und um Unabhängigkeit von ausländischer Einmischung.

Kein Zufall also, dass im Februar 1978 die Stadt Tabriz im Nordwesten Irans zur ersten Bühne des Volksaufstands wurde. Hier war bereits zu Beginn des Jahrhunderts besonders leidenschaftlich für die Verfassungsrevolution gekämpft worden. Aserbaidschan, wie diese Region heißt, war stets ein Tor zu Europa und zum Kaukasus und brachte in der Geschichte Irans wichtige Erneuerer hervor, Denker, Dichter, Pädagogen. Nun wurde Tabriz zum zweiten Mal Hochburg einer Revolution: Generalstreik im Basar, Banken gingen in Flammen auf, fünfzigtausend Menschen harrten zwei Tage lang auf den Straßen aus.

Ab diesem Februar 1978 währte die heiße Phase des Volksaufstands noch ein ganzes Jahr, mit erstaunlichen Kampfformen, etwa wenn die Beschäftigten von Kraftwerken für mehrere Stunden täglich den Strom abschalteten. Im Januar 1979 floh schließlich der Schah mit seiner Familie; zwei Wochen später, am 1. Februar, kehrte Khomeini aus dem französischen Exil zurück, in einer gecharterten Boeing 747, begleitet von hundertfünfzig ausländischen Journalisten. Die Menschenmassen, die Khomeini empfingen, wurden auf bis zu vier Millionen geschätzt. Noch war die Machtfrage nicht entschieden; auf einem Luftwaffenstützpunkt beschossen sich Schah-treue und aufständische Einheiten. Erst als sich die Streitkräfte für neutral erklärten, am 11. Februar 1979, hatte die Revolution gesiegt.

Als ich mich auf die Suche machte, um aus Erinnerungen von Beteiligten ein nichtoffizielles Bild der Geschehnisse zu rekonstruieren, interessierte mich vor allem die Zeit vor diesem Sieg. Weil viele Iraner die Phase vor der Rückkehr Khomeinis als einen Frühling der Freiheit erlebt haben, als eine Zeit der Selbstermächtigung, während derer sie Dinge taten, die sie nie wieder in ihrem Leben tun würden.

Kaum jemand stand damals abseits. Viele Iraner benutzten im Gespräch mit mir die Formulierung, sie seien »mitgerissen« worden. »Ich ging demonstrieren, weil alle gingen. Ich streikte, weil alle streikten.« Selbst Desertion aus der Armee wurde ein Massenphänomen. Und damit die Deserteure mit ihrem militärisch gestutzten Haar besser untertauchen konnten, rasierten sich zivile junge Iraner solidarisch den Schädel.

Mohammed Hassan Inalu stand damals als Wachsoldat vor dem Schah-Palast; er war zwanzig, seine Uniform sah amerikanisch aus, und auch in seinem Schlafsack stand: Made in US. Es waren die Tage zitternder Erwartung, die kaiserliche Familie war bereits geflohen, aber die Monarchie noch nicht gestürzt. Eines Morgens flogen die Tore zum Palastgelände auf, und Inalu erlebte voller Glück seine Entwaffnung.

»Eine riesige Menge stürmte herein, unter ihnen waren bewaffnete Revolutionäre. Sie griffen mich und die anderen Soldaten und sperrten uns in einen Raum. Ich sah noch, dass manche begannen, Antiquitäten wegzuschleppen. Nach zwei Stunden kamen ein paar ganz normale, unbewaffnete Leute; sie ließen uns frei. Wir mussten unsere Uniformen ausziehen, sie gaben uns Zivilkleider und sagten: ›Haut ab!‹ Ich war froh, denn ich wollte mit dem Volk sein. Ich hätte gerne mein Gewehr mitgenommen und es der Revolution gegeben, aber das durfte ich nicht.«

Inalu, der zum Zeitpunkt unserer Begegnung als Fahrer arbeitete, erzählte mit einer Frische, als sei alles gestern gewesen. »Es war ein einzigartiger Tag in meinem Leben. Ich werde ihn nie vergessen.«

Das Gefühl, von einer Massenbewegung getragen worden zu sein, hat im Rückblick sogar eine physische Dimension. Eine Hausmeisterin berichtete mir vom Fußmarsch der Millionen bei der Rückkehr Khomeinis: »Manche wurden ohnmächtig, und sie wurden auf Händen weitergetragen.« Womöglich sind Jugenderinnerungen immer von Nostalgie geprägt. Doch war dies im Fall der Hausmeisterin jene Sorte von Nostalgie, die Menschen empfinden, die nicht auf der Gewinnerseite der Geschichte stehen. Sie arbeitete im selben Kabuff wie damals.

Roya Hakakian, eine iranische Jüdin, erlebte die Revolution als Teenager und emigrierte später mit ihren Eltern in die USA. Politische Beschönigung lag ihr also fern, als sie in ihrem Buch ›Bitterer Frühling‹ schrieb, dies sei »eine ehrenvolle Revolution« gewesen. »Was verstand ich von Revolution? Nichts, was sich in Worte fassen ließ. Aber ich wusste, jetzt war sie da. Sie lag in der Luft. Ich atmete sie. (…) Selbst Betrunkene hörten auf, über ihr Elend zu schimpfen. Nachbarn legten ihre Streitigkeiten bei. (…) In den Kanälen schwamm das, was von der Tapferkeit der Bewohner Teherans zeugte: Flugblätter, blutige Socken, zerrissene Ärmel.«

Musik befeuerte das Aufbegehren. Besonders populär war das Lied »Iran, ey saray-e omid« (Iran, Land der Hoffnung) von Mohammad Reza Shajarian, Irans bedeutendstem klassischen Sänger. Es handelt, wie er sagte, »von der Wiederauferstehung der Menschen, von ihrem Streben nach Demokratie«. Noch lange nach der Revolution wurde das Lied im Radio gespielt. Später verbot Shajarian dem staatlichen Rundfunk die Verwendung: »Ich habe dieses Lied nicht für euch gesungen, es war für eine andere Zeit gedacht.«

Die Phase des Umsturzes, bevor sich die Islamische Republik als Machtsystem endgültig etablierte, hatte sogar ihre eigene Nationalhymne. Das patriotische Lied »Ey Iran« war während des Zweiten Weltkriegs gedichtet worden, als Teile Irans von britischen und sowjetischen Truppen besetzt waren, um die Nachschublinie der Alliierten im Kampf gegen die deutsche Wehrmacht zu sichern. Der Text schwelgt in Metaphern über die Schönheit Irans und den Reichtum seiner Geschichte (»Oh, die Kunst entsprang deiner Hand«). Gott wird nur beiläufig in der dritten Strophe erwähnt.

Besuche bei den Revolutionären von einst

Wie würde sich die Erinnerung in einem so einschlägig geprägten Ort wie Khomein darstellen, dem Geburtsort Khomeinis?

Ich verließ Teheran in südwestlicher Richtung. Die Route führte an einer Salzwüste entlang und dann in ein karges braunes Bergland hinein. Geistliche bekamen früher ihrer Herkunft zufolge einen Beinamen; so war es auch bei Khomeini, der eigentlich Ruhollah Musavi hieß. Das Städtchen, dessen berühmtester Sohn schon seit 1946 zum Sturz der Monarchie aufrief, wurde dafür während der Schah-Zeit mit Vernachlässigung bestraft. Auch heute wirkte Khomein keineswegs privilegiert.

Um einen Zeitzeugen zu finden, sprach ich mit Hilfe meiner Dolmetscherin aufs Geratewohl einen Mann an, der gerade mit dem Ausbau seines Hauses beschäftigt war. Bereitwillig legte er seine Schaufel beiseite und begann zu erzählen.

Er hatte die Schule noch nicht beendet, damals. Khomein war ein Zentrum für die Verbreitung verbotener Bücher und Kassetten; in diesem klandestinen Netzwerk war er zuerst aktiv. »Irgendwann haben wir begonnen, Molotowcocktails zu basteln, wir haben sie auf Banken und Polizeiposten geworfen. Schütteln, schmeißen, so ging das.« Der Mann lachte kurz auf.

»Es gab viele umliegende Dörfer, dort haben wir uns dann versteckt. Und wenn jemand eine Rede gehalten hatte, wurde er sofort von der Menge umringt, damit er verschwinden konnte.« Einige hatten Waffen und brachten anderen das Schießen bei. »Mit unserer Clique haben wir später Stück für Stück die Stadt besetzt, wir haben Straßenkontrollen eingerichtet und sind Streife gegangen. Es war eine großartige Zeit.«

Der Mann war nun Ausbilder für Krankenschwestern. »Manchmal erzähle ich meinen Schülerinnen etwas und sage ihnen: ›Ihr müsst das wertschätzen!‹ – Meine Kinder? Sie hören mir zu, aber irgendwie ist das alles für sie nicht fassbar.«

Erst nachdem wir uns verabschiedet hatten, fiel mir auf: Selbst hier, in Khomein, hatte mein Gesprächspartner die Religion nicht erwähnt bei der Erinnerung an dieses andere Leben, damals.

Und wie war es mit den Frauen?

Angesichts ihrer Benachteiligung in der Islamischen Republik mag die Vorstellung naheliegen, ihnen sei der Systemwechsel aufgezwungen worden. Tatsächlich haben jedoch viele Iranerinnen für die Revolution gekämpft, manche früher und couragierter als ihre Männer oder Brüder. Die Gründe dafür sind in den Jahrzehnten davor zu finden.

Im frühen 20. Jahrhundert, zur Zeit der Verfassungsrevolution, hatte eine winzige Minderheit gebildeter Iranerinnen begonnen, sich in politische Angelegenheiten einzumischen; erste Frauenorganisationen entstanden. Wäre ihnen die Zeit für eine allmähliche Verbreitung ihrer Ideen geblieben, hätte die spätere Geschichte Irans anders aussehen können. Doch bald schon wurde die Masse der Iranerinnen, zum allergrößten Teil Analphabetinnen, mit einer Politik der gewaltsamen Modernisierung konfrontiert, die fatale Folgen haben sollte.

Reza Khan, ein Kavallerieoffizier, hatte sich zum autokratischen Machthaber aufgeschwungen; 1925 begründete er aus dem Handgelenk eine neue Königsdynastie, die er altpersisch »Pahlavi« taufte, um ihr einen Anschein von Tradition zu verleihen. Damit begann, was wir »die Schah-Zeit« im engeren Sinne nennen, die turbulenten letzten fünfzig Jahre der Monarchie. Reza Schah zwang dem Land einen Galopp in den Fortschritt auf, so wie er ihn verstand. Dazu gehörte wie für Kemal Atatürk im Nachbarland Türkei das Verbot traditioneller Kleidung. 1935 wurde den Iranerinnen von einem Tag auf den anderen untersagt, in der Öffentlichkeit den Tschador zu tragen, jenes große, meist schwarze Tuch (wörtlich »Zelt«), das nur Gesicht und Hände sehen lässt.

Auf traditionell eingestellte Iranerinnen wirkte das Schleierverbot, als zwänge man sie, nackt auf die Straße zu gehen. Die weiblichen Angehörigen religiöser Familien verließen das Haus nun oft gar nicht mehr. Es wurden sogar Busfahrer bestraft, die es gewagt hatten, eine Frau im Tschador einsteigen zu lassen. Viele Eltern behielten ihre Töchter nun lieber zu Hause als sie zur Schule gehen zu lassen.

In späteren Jahren wurde das Tschadorverbot wieder aufgehoben, doch seine Folgen gruben sich tief in Irans politische Kultur. Religiöse Iranerinnen waren nun überzeugt, dass ihnen das westliche Frauenbild, aufgezwungen im Namen des Fortschritts, den Respekt versagte. Sie fühlten sich stigmatisiert als rückwärtsgewandt und unzivilisiert.

Nach einer Empfehlung von Khomeini, sich am Kampf zu beteiligen, empfanden sich 1978 vor allem die religiösen Frauen der ärmeren Schichten zum ersten Mal als gleichwertige Bürgerinnen. Sie wurden für den Sturz der Monarchie gebraucht, und zumindest für eine kurze Zeit konnten sie selbst bestimmen, was sie unter Gerechtigkeit und Freiheit verstehen wollten – und unter Weiblichkeit. Eben nicht jene von der Schah-Familie propagierte Kombination von perfekter Schönheit und politischer Abstinenz. Modern gesprochen: Wer sich am Umsturz beteiligte, wehrte sich dagegen, auf ein Sexualobjekt reduziert zu werden.

Es gab damals sogar einige säkulare Iranerinnen, die sich aus Solidarität auf Demonstrationen einen Tschador überwarfen, obwohl sie gewöhnlich nicht einmal ein kleines Kopftuch trugen. Der Tschador war wie das Fanal eines gemeinsamen Protests. Noch ahnte keine der Demonstrantinnen, dass bald nach der Revolution eine erneute Kleidervorschrift, diesmal der Bedeckungszwang, den weiblichen Körper wiederum einem männlich bestimmten politischen Programm unterwerfen würde.

Wie selbstverständlich der Platz war, den moderne Frauen in der Opposition gegen den Schah einnahmen, wird auf bedrückende Weise in einem früheren Gefängnis des Savak-Geheimdienstes sichtbar. In dem Gebäude, das nun als Museum fungiert, ist eine ganze Wand mit den Porträtbildern von Frauen bedeckt, die in diesem Foltergefängnis zu Tode kamen. Frauen mit modischen Frisuren, das Haar unbedeckt.

Das Gefängnis war nach deutschen Plänen gebaut worden; 1971 wurde es zum Untersuchungsgefängnis der berüchtigten Savak-Einheit gegen die politische Opposition. Die Folterer waren von der CIA geschult worden. In den Räumen des Schreckens hingen Fotos vom Schah und seiner Gattin Farah Diba; die Schöne mit glitzernder Krone und schmeichelnder Pelzstola – das Illustriertenbild. Die Fenster des Gefängnisses waren schwarz gestrichen und schalldicht.

Shirin Ebadi war damals die erste Richterin in der Geschichte des Landes. Sie hätte, könnte man meinen, dem Schah-Regime dankbar sein können. Doch so war es nicht; Ebadi kämpfte für seinen Sturz.

Als ich die Juristin kennenlernte, hatte sie kurz zuvor, im Jahr 2003, den Friedensnobelpreis bekommen für ihre Verteidigung der Menschenrechte in der Islamischen Republik. Die Kanzlei der Anwältin befand sich im Erdgeschoss eines gesichtslosen Teheraner Klinkerbaus. Ebadi erhielt Morddrohungen, und den Polizisten, die das Haus bewachten, vertraute sie wenig. Im Flur hing als Kalligrafie ein bekannter Vers des Dichters Saadi: »Du, der dich das Leiden anderer nicht kümmert, bist unwürdig, dass man dich einen Menschen nennt.« Koran-Ausgaben standen neben rechtlichen Werken.

Ebadi, klein von Gestalt, saß auf einem erhöhten Stuhl hinter einem gewaltigen Schreibtisch; ich versank davor in einem durchgesessenen Besucherfauteuil und saß wie zu ihren Füßen. Die Anwältin wirkte blass und erschöpft; der Nobelpreis zehrte an ihren Kräften, exponierte sie noch mehr. Einige Zeit später würde sie ins Exil nach Großbritannien gehen.

In ihrer Autobiografie ›Mein Iran‹ erzählt Ebadi am Beispiel ihrer Familie minutiös vom anschwellenden Groll der Mittelschicht in den Jahrzehnten vor der Revolution. Ihr Vater verlor 1953 seinen Ministerposten, als der Premier Mossadegh gestürzt und seine Politik der Nationalisierung gestoppt wurde. Schon als Jurastudentin ging sie in den 1960er-Jahren regelmäßig auf Demonstrationen. 1971, sie war nun Richterin, verfolgte sie angewidert, wie der Schah für eine Zweitausendfünfhundert-Jahr-Feier des Reiches aus Paris Wein und Speisen für fünfundzwanzigtausend Gäste einfliegen ließ, während in Teheran Landflüchtige hungerten. Beim Aufstand 1978 kletterte Ebadi dann wie Millionen andere Teheraner jeden Abend um 21 Uhr auf das Dach ihres Hauses, um als Protest gegen die Ausgangssperre eine halbe Stunde lang »Allahu akbar!« zu brüllen.

»Es schien mir – einer gebildeten, berufstätigen Frau – kein Widerspruch zu sein, eine Opposition zu unterstützen, die ihren Kampf gegen Missstände im Gewande der Religion führte. Der Glaube spielte im Leben der Mittelschicht eine zentrale Rolle.« Sie beteiligte sich am Sturm auf das Büro des Schah-treuen Justizministers und erlebte den Sieg der Revolution als ihren eigenen. Die Freude währte nur kurz: Bald entzogen ihr die Mitrevolutionäre das Richteramt, weil sie eine Frau war.

Ich fragte Ebadi, warum der Widerstand gegen Unterdrückung in der Schah-Zeit so viel heftiger war als später. »Gegen eine irdische Herrschaft nehmen die Menschen anscheinend viel leichter den Kampf auf als gegen eine Unterdrückung, die sich der Religion ihrer Vorfahren als Legitimation bedient.«

*

Der 4. November 1979 war ein kalter, bewölkter Tag. Die hundertfünfzig Studenten, die sich um 10 Uhr in der Nähe der amerikanischen Botschaft versammelten, gaben sich unauffällig. Einige Frauen verbargen Bolzenschneider unter dem Tschador. Dann ging alles ganz schnell: In wenigen Minuten überwältigten die unbewaffneten Studenten die Marines am Tor der US-Botschaft, besetzten das Gelände, nahmen alle sechsundsechzig Diplomaten als Geiseln. Ihre Forderung: Amerika sollte den Schah, der sich in einer New Yorker Klinik aufhielt, an die iranische Justiz ausliefern. Die USA weigerten sich und erlebten eine Demütigung von historischem Ausmaß: Ihre Diplomaten blieben vierhundertvierundvierzig Tage in Gefangenschaft.

Die Fotos der Geiseln entfalteten 1979 eine Wirkung, die heutzutage, angesichts eines ungleich schwächeren Amerika, kaum mehr vorstellbar ist. Ein weltweites islamisches Wiedererwachen hatte bereits vorher begonnen, doch nun widersetzte sich eine islamisch inspirierte Volksbewegung derart dreist der mächtigsten Nation der Welt.

Für westliche Beobachter waren die Geiselnehmer ein fanatisches Sturmkommando von Khomeini, Studenten allenfalls in Anführungszeichen. Wenige verstanden, was die Iraner befürchteten: Dass die USA ihnen erneut nicht erlauben würden, einen eigenen Weg zu gehen. Und der Schah war zwar gestürzt, verweigerte aber einen Rücktritt.

Massoumeh Ebtekar war Studentin im zweiten Semester, sie stieß nachträglich als Dolmetscherin zu den Besetzern der Botschaft. Die Neunzehnjährige sprach fließend Englisch, sie hatte mit den Eltern eine Weile in Massachusetts gelebt. Ebtekars schmales Gesicht mit den leicht umschatteten Augen wurde für die Welt das Gesicht der Geiselnehmer. Sie nannte sich »Mary«. Viele Jahre später schrieb sie ein Buch über die Besetzung, ›Takeover in Tehran‹; es korrigiert den Eindruck, die Studenten seien nur fanatisierte Handlanger Khomeinis gewesen. »Wir waren eine gut informierte Generation«, erzählte mir Ebtekar. »Wir wussten, was los war in der Welt.« Für sie selbst galt das gewiss: Sie hatte in Teheran eine internationale Schule besucht, schrieb Arbeiten über Sartre und Camus.

Als ich Ebtekar aufsuchte, war sie längst eine viel beschäftigte Karrierefrau der Islamischen Republik geworden: Professorin der Immunologie, zweifache Vizestaatspräsidentin, Leiterin der staatlichen Umweltpolitik. Wie andere ehemalige Botschaftsbesetzer war Ebtekar zu einer prominenten Figur im Lager der Reformer geworden. War dies der Grund, warum sich die Messingklinke ihrer Bürotür nicht von außen hinunterdrücken ließ? Auch der Aufzug hielt nicht in ihrer Etage – Sicherheitsmaßnahmen. Ebtekars Gesicht war immer noch schmal, die Augen umschattet. Im reifen Alter strahlte sie nun eine damenhafte Milde aus, dahinter verbarg sich Festigkeit, vielleicht sogar Härte. Sie sprach distanziert und überaus kontrolliert.

Über einem hellen Seidentuch trug sie den schwarzen Tschador, wie es der Staat von Politikerinnen erwartet. Ich fragte sie nicht, ob dies auch ihrer persönlichen Vorliebe entsprach. Ich habe mir abgewöhnt, Iranerinnen nach ihrem Kleidungsstil zu fragen, solange ich sie nicht gut kenne. Meistens verschlechtert diese Frage, wenn man sie zu früh stellt, die Atmosphäre des Gesprächs, weil sie entweder eine Diskussion über westliche Vorurteile heraufbeschwört oder aber als zudringlich, als zu privat, empfunden wird. Massoumeh Ebtekar öffnete sich während unseres Gesprächs nur allmählich.

Den entscheidenden Impuls fand sie, wie viele junge Iraner der Revolutionsgeneration, bei einem an der Sorbonne promovierten Soziologen: Ali Schariati.

Der schillernde Utopist, westlich in seiner Erscheinung und in der Methodik seines Denkens, war immens populär; ohne ihn wäre das Geschehen 1978/79 kaum zu verstehen. Seine Botschaft, die ganze Schulklassen für den Islam gewann, lautete sinngemäß: Weg mit dem Muff unter den schiitischen Talaren! Schluss mit religiöser Unterwürfigkeit. Erlösung nicht durch rituelle Selbstgeißelung, sondern durch Kampf, Kritik, Aufklärung. Schariati propagierte eine »Religion des Protests«, einen »lebensbejahenden, kraftvollen und gerechten« Islam als Alternative zu westlicher Dekadenz.

Heute klingt das vertrauter als damals. Schariati war ein Vorläufer, er nahm auf, was in der Luft lag: das Bedürfnis nach einem identitätsstiftenden Islam, der aufbegehrt sowohl gegen einheimische Despoten wie gegen den Westen. Schariati erlebte die iranische Revolution selbst nicht; er starb bereits 1977. Die Botschaftsbesetzer waren indes überzeugt, in seinem Sinne zu handeln.

Neun Stunden sägten sie an jedem erbeuteten Tresor, riefen »Allahu Akbar«, wenn er endlich die Akten preisgab. Monate puzzelten sie an der Rekonstruktion zerschredderter CIA-Dokumente. Die Funde wurden zu Dynamit: Fast alle prominenten bürgerlichen Schah-Gegner hatten irgendwann Kontakt zu den Amerikanern gehabt; nun wurden sie als Spione denunziert, waren politisch diskreditiert, viele wurden verhaftet. Bis zu jenem schicksalsträchtigen 4. November 1979 waren noch alle disparaten Kräfte, die am Sturz der Monarchie beteiligt waren, auf Irans Bühne gegenwärtig. Auch wenn das Ursprungsmotiv der Botschaftsbesetzung ein anderes war: Sie trug entscheidend dazu bei, all jene auszuschalten, die ein anderes Konzept von Gesellschaft hatten als Khomeini.

Massoumeh Ebtekar bedauerte aus ihrer jetzigen Warte, dass durch die Besetzung eine so lang anhaltende Eiszeit mit den USA entstanden war. Sie mochte Amerika, wie so viele Iraner, und hätte gern viel früher eine Wiederannäherung gesehen. Aber wie nahezu alle, die heute prominente Reformer sind, tat sich diese kluge Frau schwer, ihre Vergangenheit zu reflektieren. Stattdessen nahm sie Zuflucht zu einer gewagten These: Die Botschaftsbesetzer seien eine frühe Form von »civil society« gewesen, die spätere Reformbewegung deren »natürliche« Folge. »Natural«, das sagte Ebtekar oft in ihren glatten, druckreif formulierten Sätzen. In einem Zimmer, dessen Türklinke sich von außen nicht bewegen ließ.

Im Norden Teherans führt eine kurvige Straße am berüchtigten Evin-Gefängnis vorbei. Fast nichts davon ist zu sehen, nur ein paar Wachtürme. Das Gefängnis wurde in den braunen Berghang hineingebaut, nie erblicken die Häftlinge Tageslicht. Der Taxifahrer, der mich fuhr, gab Gas, er hatte Angst aufzufallen. Auch Evin erlebte einen kleinen Frühling der Freiheit, als im Februar 1979, beim Sieg der Revolution, die Häftlinge herausstürmten, irre Freude in den graubleichen Gesichtern. Manche politischen Gefangenen hatten hastig ihre Akten in der Registratur gesucht, hielten sie nun triumphierend hoch für eine jubelnde Menge.

Emaddedin Baghi war damals siebzehn, ein überzeugter Jungrevolutionär; er strolchte über das Gefängnisgelände, blickte in die Zellen, wo seine Idole eingesessen hatten, und dachte: Was wird aus Evin werden, vielleicht ein Park? So waren die Träume damals. Später saß Baghi selbst in diesem Gefängnis, mehrmals sogar. Als Historiker und Journalist hatte er sich durch furchtlose Veröffentlichungen hervorgetan, vor allem über die sogenannten »Kettenmorde«: Ihnen fielen in den 1990er-Jahren mehr als achtzig Schriftsteller und säkulare Intellektuelle zum Opfer. Evin – der Name wurde zum Symbol für die Kontinuität politischer Repression.