Der neue Koch - Julia Franck - E-Book

Der neue Koch E-Book

Julia Franck

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Beschreibung

Draußen die weite Bucht, drinnen der Empfangstisch des engen Hotels: dazwischen spannt sich eine Bühne, auf der sich die Stammgäste jedes Jahr ihre Einsätze zuflüstern. Das Hotel gehört einer jungen Frau, die es von ihrer Mutter geerbt hat und keinen Sinn hat für "Tanztee", und da ist Der neue Koch, der Pikantes liebt und von der Küche aus den Laden übernehmen will. Die Stammgäste hat er schon auf seiner Seite ...

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Julia Franck

Der neue Koch

Roman

Roman

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Erster Tag

Die Beine schwer, rot mit weißen Punkten, weil sich das Blut unter den Venenklappen staut und das Herz nur langsam in der Hitze pumpt. In ihren Augen sehe ich die Schwere der Beine, müde Augen, verquollene, mit Ringen darunter. Ich habe sie abgesetzt neben der Tür, sie fächelt sich Luft an die Lider, und ihre Knie zittern unter der Anstrengung, dem Versuch, sich zu berühren – sie kann schon längst ihre Beine nicht mehr schließen, wenn sie sitzt, Fleisch dazwischen hindert sie. Ihre Augen sehen auf mich herab, Schweiß rinnt in kleinen Bächen ihre Waden entlang, und auch zwischen den Schenkeln schimmert es klebrig, ihre Augen folgen mir träge, so gut sie können, das Gelb ums Braun ist zäh und dick und trüb, der Schleim, sie kommen mir nach, die ich auf dem Boden krieche und Glassplitter mit der Hand aufsammle. Ich muß aufpassen, mich nicht zu schneiden und meine Knie zu schützen, die nackt sind, weil immer noch Sommer ist und ich kurze Hosen trage. Sie wischt sich die Stirn mit einem Taschentuch, das sie in der geöffneten Hand hält, auch die kann sie nicht mehr ganz schließen. Mit der anderen Hand tastet sie neben sich an der Wand entlang, es gibt einige graue Flecken rund herum, um den Schalter für den Ventilator zu finden. Sie sitzt zu weit entfernt, läßt ihren Arm sinken. Bei jedem Atemzug bebt ihr Busen auf und ab, ich kenne sie, ich muß nicht mehr hinsehen, um zu wissen, wie das aussieht. Feine Glasplättchen bleiben an meinen Fingern und den Handflächen kleben.

Du mußt einen feuchten Lappen nehmen, sagt sie und deutet mit ihrem Arm zum Waschbecken. Ich stehe auf, mir fällt das Gehen leicht, trotzdem habe ich mir angewöhnt, in ihrer Gegenwart alles sehr langsam zu tun – also gehe ich langsam zum Schalter und stelle den Ventilator an, dann gehe ich zum Waschbecken hinüber, ich spüle das Glas von meinen Händen, hoffe ich, und nehme den Lappen, auf den sie gezeigt hat. Er riecht nach Schimmel. Bevor ich mich wieder bücke, biete ich ihr an, ein neues Glas mit Eistee zu holen. Sie möchte viel Eis, und ich bringe es ihr. Sie setzt an, sie leert jedes Glas in einem Zug, ein Teil läuft ihr daneben, tropft vom Kinn auf die Bluse. Als sie die Nässe auf dem Busen spürt, den Kopf senkt und, nichts erkennend, wieder hebt, um mich anzusehen, eile ich herbei, ihr zu helfen. Ich nehme ihr das Glas ab und tupfe mit dem feuchten Lappen behutsam den bebenden Busen, vorsichtig. Sie scheint keine Berührung zu bemerken. Ich gebe ihr erneut das Glas. Sie trinkt. Ich knie mich auf den Boden und nehme winzige Scherben auf. Ihr sandgelbes Kleid ist zerknittert, wirft Falten links und rechts, ausgedörrte Flußbetten zwischen ihren Armen und Beinen, der Schweiß tropft auf den Boden. Ich kann ihre Unterhose sehen, Kleid und Unterhose sind fast gleich lang, beide sind kurz.

Madame Piper hatte meine Mutter sehr verehrt, ich glaube, beide waren Freundinnen. Weil Madame oft den ganzen Winter bei uns gastierte, war sie anwesend, als meine Mutter starb. Sie fand sich sehr vertraut mit uns und fühlte sich vermutlich aus diesem Grund fortan für mich verantwortlich. Das zeigt sich darin, daß sie gern kontrolliert, ob ich im Hotel alles richtig mache, ebenso richtig wie meine Mutter. Meine Mutter mochte Freesien, es ist demnach falsch, wenn ich Lilien kaufe, und darauf weist mich Madame hin. Ich kaufe besonders häufig Lilien im Herbst und Winter, wenn Madame da ist, die gibt es oft, sie kommen aus deutschen und holländischen Treibhäusern, mit Duft. Madame mag den Duft nicht, sie erträgt ihn nicht, sagt sie und hustet. Ich verstehe nichts von Blumen, ich finde Lilien hübsch und günstig, ich sage, Freesien hätten sie nicht gehabt. Madame wird ihrer Hinweise nicht müde, so daß ich gelernt habe, mich auf ihre Abreise zu freuen. Meine Mutter ist jetzt knapp zehn Jahre tot, sie starb, als ich zwanzig war, und ich empfange Madame jedes Jahr mit größerer Geduld.

Madame Piper sagt, sie liebt mich wie meine Mutter. Ich weiß nicht, wie mich meine Mutter geliebt hat. Beim Treppensteigen braucht sie meine Hilfe. Ich spüle den Lappen aus, nehme ihr das Glas aus der Hand und greife ihr unter den Arm. Schon mehrmals habe ich Madame angeboten, das Zimmer Nr. 1 auszuprobieren, es liegt im Parterre, gleich neben dem Empfang, aber sie lehnt jedes Mal ab und besteht auf ihr Eckzimmer im ersten, das sie regelmäßig seit ihrem ersten Besuch vor einunddreißig Jahren bewohnt. Sie besucht mein Hotel schon länger, als ich lebe, das sagt sie mir häufig, sie kannte meine Mutter länger als ich, und ich behaupte, sie meint damit, sie kannte sie besser. Mir ist das recht, denn ich wollte meine Mutter nie genauer kennen, als ich ohnehin mußte. Das Bett unten in der Nr. 1 wäre für Madame Piper besser geeignet, es ist etwas größer und relativ neu, es ist stabil und quietscht nicht. Madame möchte kein anderes Bett, ich denke, sie hört es nicht quietschen. Wenn sie ankommt und ihre Koffer auspackt, holt sie als erstes ihr Handtuch heraus, das sie vorsorglich schon immer obenauf gepackt hat. Sie legt das Handtuch auf das Bett, und dort bleibt es liegen, solange sie hier weilt. Wir haben zwar Meer, aber keinen Strand hier, sie braucht es tagsüber nicht, wenn sie das Haus verläßt. Sie hat mir einmal gesagt, daß sie von den deutschen Urlaubern gelernt hätte, das Handtuch als Flagge, so, das sei und bleibe ihr Bett. Sie hat Angst, ich könnte sie hinter ihrem Rücken, wenn sie spazieren oder einkaufen ist, umquartieren. Neuerdings muß ich sie begleiten, weil sie nicht mehr so gut gehen kann.

Wenn ich mit Madame die Treppen emporsteige, vibriert das Holz unter jedem Schritt, den wir machen. Mit der linken Hand zieht sie sich am Geländer hinauf, mit der rechten stützt sie sich auf mir ab. Das Taschentuch entfällt ihren Händen, ich hebe es auf. Ich kenne den Geruch ihres Schweißes wie den meiner Mutter. Madame Piper glaubt, sie sei Französin, weil sie mal drei Jahre in Frankreich gelebt hat. Sie sagt, sie hätte ein aufregendes Leben gehabt, sie war Fremdsprachenkorrespondentin. Ich mache ihr eine Freude, wenn ich sie Madame nenne. Ich setze sie, im Zimmer angekommen, auf ihrem Bett ab. Erst hält sie sich, weniger als einen Augenblick, dann fällt sie nach hinten, ein großes Baby. Ich nehme ihre Beine und drehe sie ein wenig, daß auch die zu liegen kommen. Das Licht stört sie, ich ziehe die Gardinen zu, sie möchte, daß ich den Raumbefeuchter anstelle. Ich soll noch ein wenig von dem Eukalyptusöl hineinschütten, das in einer Flasche danebensteht. Ihre Augen sind zugefallen, sie murmelt noch, das Einkaufen sei ihr erschöpfend vorgekommen, sie entläßt mich. Ich bin froh, als ich die Tür hinter mir schließe.

Ich gehe die Treppe hinunter und setze mich an meinen Empfangstisch, er ist schmal. Ein Tischler mochte meine Mutter sehr und hat ihr sein Meisterstück gleich nach dem Verschwinden meines Vaters geschenkt. Mein Vater ist auf den Tag fünfzehn Jahre vor dem Tod meiner Mutter geflohen, ich weiß nicht wohin und denke darüber nicht mehr nach.

Das Geräusch des Ventilators stört mich. Ohnehin ist es nicht besonders warm, wird es hier nie, nur Madame schwitzt, und ich habe gehört, daß viele Menschen allein durch den Anblick eines Ventilators den Eindruck bekommen, es sei heiß. Das macht ein Hotel reizvoll. Ich habe am Empfangstisch einen Knopf, der Tischler hat an alles gedacht, mit dem ich ihn abstellen kann. Ich habe mehrere Knöpfe, ich kann die Tür von hier aus öffnen, kann das Mädchen rufen, es heißt Berta, kann die Rolläden runterlassen und Feueralarm auslösen. Ich stelle den Ventilator aus. Meine Mutter hatte dem Tischler im Gegenzug eine Nacht im Hotel geschenkt. Das gefiel ihm gut. Er fragte, ob er die Fensterrahmen abziehen solle. Meine Mutter hatte genickt, das hätte sie schon lange mal wieder gebraucht. Er machte allerhand im Haus. Meine Mutter hatte auch einen Freund, der Blumenverkäufer war und ihr die Freesien brachte. Dem hatte sie ebenso gesagt, er könne eine Nacht im Hotel schlafen, wenn er wolle, und er wollte. Den Tischler wollte meine Mutter bald darauf an Madame abgeben, aber der wollte sie nicht, er wollte nur meine Mutter, sagte er und ging lieber ganz. Als meine Mutter dann gestorben war, erschien der Tischler, stellte sich vor mich an den Empfangstisch und fragte, ob er den Sarg zimmern dürfte. Ich nickte, denn ich dachte mir, das hätte meine Mutter gefreut, die gerne alles annahm, was man ihr schenkte.

Wenn ich den Kopf drehe, kann ich hinter mir an der Wand meinen Vater und meine Mutter auf zwei Gemälden sehen, die beiden haben sie selbst malen und dort anbringen lassen, die sollten immer an sie erinnern.

Ich bin froh, daß ich keinen Grund habe, Berta zu rufen. Berta habe ich mit dem Hotel geerbt. Sie hat einen langen Stock mit einem Federbüschel oben dran, mit dem sie mehrmals am Tag durch das Haus eilt und geschäftig tut, sie wedelt damit an den Gardinenstangen und in den Nischen zwischen Heizung und Wand. Berta putzt die Tassen servil, das heißt, sie hebt den Kopf dabei nicht, krümmt demütig den Rücken und schaut mich nicht an, wenn ich in die Küche komme. Ich habe ihr gesagt, sie soll die chinesischen Tassen mit der Hand waschen, weil ich aus der Spülmaschine schon zwei kaputt geborgen habe. Sie putzt die Tassen erst innen, dann außen. Sie nimmt dabei die Kratzseite der Schwämme und hat inzwischen fast alle Bildchen von dem Porzellan abgeputzt. Sie sagt nichts darüber, entschuldigt sich nicht, daher glaube ich, daß sie die Bildchen entweder nie gesehen hat oder keinen Zusammenhang zwischen ihrer Emsigkeit und dem Verschwinden der Bilder sieht. Herr Hirschmann, ein sehr seltener Gast, der, wie er mir gesagt hat, nur kommt, wenn es nötig ist, meint, Berta hätte den Polenbonus und sei deshalb von meiner Mutter eingestellt worden, sie sei billig. Billig finde ich sie nicht. Herr Hirschmann macht keinen Hehl daraus, daß er meine Mutter für eine Sklavenhalterin hielt, aber da er sie wiederum billig fand, kam er immer wieder.

Ich traue mich nicht, Berta etwas über die Bildchen auf den Tassen zu sagen, weil sie im Gegensatz zu dem Bonus, den sie bei meiner Mutter gehabt haben soll, bei mir einen anderen hat: Sie ist unverhältnismäßig alt, wohl um die fünfundsechzig, und ich wage es nicht, ihre Arbeit zu kritisieren. Ich denke, sie könnte mich für unhöflich halten. Vielleicht, so denke ich, geht sie eines Tages von selbst. Sie ist rüstig, sie könnte mit ihrem Leben noch etwas machen. Ferner ist Herr Hirschmann nicht der einzige Gast, dessen einziger Lichtblick Berta ist. Berta entschuldigt sich ständig, außer, wie gesagt, nach dem Wegputzen meiner Bilder von den Porzellantassen. Wenn eine Tür hinter ihr laut zuschlägt oder wenn ich ihr versehentlich auf den Fuß trete, bittet sie um Verzeihung, ebenso wenn ich ihr im zweiten Stock auf dem Flur begegne. Der Flur ist dort wegen des anschließenden Daches so schmal, daß sich beide Menschen, die sich dort begegnen, leicht seitlich stellen müssen, um ohne Berührung aneinander vorbeizukommen. Sie entschuldigt sich auch, wenn sie ein Zimmer betritt, in dem ich bin. Das passiert häufig, jedenfalls empfinde ich es so. Berta riecht nach Vanille, als trüge sie ein Duftbäumchen unter der Schürze, eins von denen, die man im Auto an den Rückspiegel oder in das Badezimmer hängt, wenn man den eigenen Gestank nicht ertragen oder Fremden vorführen mag. Berta arbeitet hastig und daher oft flüchtig – sie eilt, als würde sie ihre Kündigung in den Gliedern rennen spüren, aber das nützt ihr nichts. Und ich, obgleich ich häufig an ihre Kündigung gedacht habe, einzig aus dem Wunsch, mich endlich allein im Haus zu fühlen, kann ihr keine beruhigenden Worte spenden, weil ich allein durch die Erwähnung ihrer Ahnung recht geben würde. Also lasse ich sie an mir möglichst unbemerkt vorübereilen. Es gibt Tage, da ertrage ich den Klang ihrer Schritte nicht, da antworte ich nichts, wenn der Wind eine Tür zuschlägt und sie sich dafür entschuldigt, ich schweige auch, wenn sie sich durch die Stille aufgefordert fühlt, neue Entschuldigungen vorzubringen, oder sich entschuldigt, sobald sie den Staubsauger in Betrieb nimmt. Ich flüchte vor Berta, das ist der Grund, warum sie mich häufig in Zimmern aufschreckt, die für einige Stunden um die Mittagszeit unbewohnt sind.

Viele der Gäste kommen seit Jahren, manche von ihnen regelmäßig zu einer bestimmten Jahreszeit, in einem bestimmten Monat, manche bleiben mehrere Wochen und nur wenige für eine einzige Nacht.

Einer der Gäste, den ich seit meiner Kindheit kenne, ist Anton Jonas. Er trägt ausschließlich schwarze Anzüge, die aussehen, als seien sie an ihm gewachsen, sie rahmen seine Blässe und die Schatten unter den Augen, daß meiner Mutter feierlich zumute geworden ist, als sie ihn zum ersten Mal sah. Das hat sie ihm, Berta und mir, vielleicht auch noch anderen gesagt. Er ist ein eher schweigsamer Mensch, dem nur seltene Augenblicke geeignet scheinen, etwas zu erzählen. Bisweilen kann man den Eindruck haben, er sitzt so still auf seinem Stuhl beim Essen oder wartet scheinbar ohne jede Motivation in dem Sessel neben der Eingangstür, in dem er trotz seiner Größe versinkt, um eben solch einen Augenblick nicht zu verpassen. Er ist ein ständig Wartender, der legt beim Abendessen dann die Serviette von links nach rechts und wieder von rechts nach links, vergißt, seinem Tischnachbarn die mindeste Aufmerksamkeit zu schenken, und spürt selbst bei Fragen desselben nicht, daß er angesprochen wird. Diese Augenblicke, auf die er in den langen Zeiträumen zwischen dem einen und dem nächsten wartet, sind ihm sehr teuer, und er läßt sich in ihnen ungern unterbrechen, so daß sie auch mal zwei, drei Stunden andauern können und er sie gerne noch um weitere Viertelstunden verlängert, wenn die Bitte um Zugabe es ihm erlaubt. Seine Horde von Worten galoppiert erst über aller Köpfe hinweg, um sich sogleich wie ein Netz über die Beisitzenden zu stülpen, an den Hufen der Worte kleben Fäden, das Netz wird fester, ein Mantel, in dem sich die meisten meiner Gäste überaus geborgen fühlen. Mir war er oft eng, so daß ich es seit geraumer Zeit ablehne, ihn länger zu tragen. Die anderen bemerken das nicht, sie schenken ihm unaufgefordert Applaus und berauschen sich an seiner Darbietung, in der er neben Meinungen auch manchen Schenkelklopfer zum besten gibt.

In der freien Zeit dazwischen dichtet Anton Jonas. Diese Tatsache hatte meine Mutter mit einem gewissen Stolz erfüllt, und sie nannte ihn, wenn sie von ihm sprach, ›der Dichter Anton Jonas‹, damit signalisierte sie ihrem Gegenüber, daß von einer wichtigen Person die Rede war, und sogleich hatte sich bei dem ein oder anderen das Gefühl eingestellt, er hätte den Namen schon einmal irgendwo gehört. Um so glücklicher schätzen sich diejenigen, die als Gäste in meinem Hotel seine Geschichten aus erster Hand hören und seine Gegenwart atmen dürfen.

Ich erinnere mich, wie ich den Dichter Anton Jonas kennenlernte. Es war abends und ich hatte in meinem Zimmer gesessen, weil ich vorgeben mußte, Schularbeiten zu machen. Das Abendessen war die Erlösung, der Gong in den Lautsprechern rief nicht nur die Gäste, sondern auch mich. Als ich im Eßzimmer eintraf, saß ein magerer Mann auf meinem Stuhl. Ich sah meine Mutter an, die nichts zu bemerken schien, und weil ich gut erzogen sein wollte, sagte ich nichts und setzte mich gegenüber hin. Meine Mutter, die sich sehr für Dichterei interessierte und besonders gern Kunstkalender mit Spitzwegbildchen und kleinen Sprüchen hatte, war nun sehr neugierig auf den kunstschaffenden Menschen neben sich. Gewöhnlich paßten sich die Gäste dem Interesse ihrer Herrin, als solche wurde meine Mutter bedingungslos akzeptiert, an und also lauschten auch sie andächtig dem Zwiegespräch, das sich zwischen meiner Mutter und dem mageren Mann entwickelte. Meine Mutter fragte: Und was dichten Sie denn Schönes?

Nichts, sagte der Dichter, ich dichte nichts Schönes. Sehen Sie, das war das erste, was ich auf der Kunstakademie gelernt habe, nichts Schönes mehr dichten zu wollen. Denn erstens sind die schönen Motive die Uninteressanten und zweitens gibt es Schönheit nicht, zumindest nicht in der Kunst.

Ja? meine Mutter vergaß für wenige Augenblicke, den Mund zu schließen, was ihr häufig geschah. Wenn sie sich Mühe gab, mitzudenken, sah sie aus, als würde sie rechnen, sie spreizte ihre Finger und zählte etwas daran ab. So, dann gibt es ja nichts Uninteressantes zu dichten, worüber dichten Sie dann?

Licht. Der Dichter steckte sich einen Rollmops in den Mund und kaute auf dem Fisch, alle beobachteten ihn, sie warteten auf eine Erklärung. Ich beobachtete ihn auch, allerdings war ich noch zu klein, um auf eine Antwort zu hoffen, nicht mal den Beginn des Gespräches verstand ich, ich fand ihn unlogisch und machte mir langsam Gedanken. Als Kind habe ich alles langsam gemacht, ich war etwas dicklich, deshalb blieb mir nichts anderes übrig. Besonders langsam war ich zu der Zeit, als ich Anton Jonas zum ersten Mal begegnete, es war nämlich kurz vor Einbruch der Pubertät und von daher eine Zeit, in der ich besonders dicklich und langsam wurde, zumindest nach außen hin. Der Dichter erklärte, er würde Erklärungen nicht mögen, deshalb wollte er nicht weiterreden. Heute bin ich mir sicher, so wie ich Anton Jonas kenne, daß er auch das nur gesagt hat, um unsere Neugierde zu schüren. Keiner von uns hatte bislang mit einem Dichter gesprochen, er war unser aller erster und wußte das. Ich glaube, die Gäste und allen voran meine Mutter drängten ihn sehr. In seiner Not fiel sein Blick auf mich.

Nun, Kleines, du hast doch sicher auch schon ein Gedicht geschrieben?

Mir wurde sehr heiß, aber ich vergaß nicht, eifrig zu nicken. Es freute mich, daß einer Notiz von mir nahm, und daß er ein wichtiger Dichter war, beglückte mich zusätzlich. Meine Mutter sah mich an, Skepsis ließ sie die Brauen verziehen, sie lachte und legte mir ihre Hand in den Nacken, sie sagte, ich bräuchte doch nicht erröten, und gab bekannt, daß sie von den Schreibseleien ihrer Tochter noch nichts gewußt hatte. Meine Mutter sprach sich gerne selbst unschuldig, gerne auch vorab.

Geh, und zeig uns dein Gedicht, sagte der Dichter zu mir, und ich fühlte mich ermutigt, legte die Serviette beiseite und rannte hinauf in mein Zimmer. Ich holte ein kleines, in Stoff geschlagenes Buch, in dem ich bereits alle Seiten numeriert und auch ein Inhaltsverzeichnis angelegt hatte. Eine Seite hatte ich schon vor längerer Zeit beschrieben. Das Gedicht hatte den Titel »Hundeglück«, und nachdem ich eine kurze Pause hinter dem Titel gelassen hatte, wie in der Schule gelernt, begann ich hastig zu lesen:

Ein Hündlein lief alleine durch den Wald

Es hatte bitter Angst und ihm war kalt

Da sah es in der Ferne ein Lichtlein brennen

Und begann sofort drauflos zu rennen

Als es ankam war es sehr glücklich

Denn ein Huhn hing überm Feuer und roch vergnüglich

 

Ich klappte in wohlerzogener Verlegenheit mein Buch zu und wartete den Applaus ab, der freundlich war und den mir selbst meine Mutter aus Gesellschaft schenkte. Naja, sagte meine Mutter, alle wendeten sich von mir ab und wieder dem Dichter Anton Jonas zu, und meine Mutter wollte beginnen, eine Erklärung für mein Gedicht zu finden, da sagte Anton Jonas: Und? Haben Sie etwa das Licht gesehen? Haben Sie? Haben Sie nicht, und ich will Ihnen verraten, warum nicht. Der Dichter reimt heutzutage erstens nicht mehr, was ein Kind natürlich nicht wissen kann, zweitens aber, und das erscheint mir wichtiger: Ein Dichter würde niemals Lichtlein sagen, wenn er Lichtlein meint.

Sie reden immer drumherum? fragte eine junge Frau, und Anton Jonas zeigte mit dem nackten Finger auf sie. Er sagte: Richtig. – Als wären wir in der Schule beim Ratespiel, ich haßte ihn fortan. Den Rest, den er von sich gab, hörte ich nicht mehr. Ich beeilte mich, unbemerkt aus dem Eßzimmer zu verschwinden. Tränen der Schande und Verzweiflung liefen über mein Gesicht. Ich hatte mich selbst zum Huhn gemacht. Ich nahm mir aus dem Gäste-WC, das direkt neben meinem Zimmer lag, die Rolle Klopapier, die zum Nachfüllen auf der Fensterbank stand, und verkroch mich mit ihr ins Bett, ich schneuzte lang. Ich dachte an viele Dinge, die mich noch mehr und immer wieder neu zu Tränen veranlaßten. Besonders beherrschte mich die Empörung, daß Anton Jonas es gewagt hatte, mich Kind zu nennen, obgleich ich keines mehr war, sehr unpassend, wie ich fand. Ich hätte ihm gerne gesagt, daß in meinem Gedicht mit Lichtlein auch kein Licht, sondern ein Feuer gemeint war, aber ich fürchtete mich vor der Ansammlung fremder Menschen, die unten im Eßzimmer lachten und johlten, ich fürchtete auch meine Mutter, die mir fremd erschien. Ich beschloß, mich nicht der Meinung von Anton Jonas anzuschließen. Ich wollte nicht den für einen Dichter halten, der immer drumherum redet, und wollte erst recht keine Dichterin werden. Ich halte Anton Jonas seither für einen Lügner, leider für einen schlechten. Tatsächlich liebt Anton Jonas seine Erklärungen und wird ihrer nicht überdrüssig.

Heute muß ich an ihn denken, das ärgert mich, denn er hat sich für die letzten Tage im September, den ganzen Oktober und den halben November angemeldet. Er hat ein Fax geschickt, mit dem er angekündigt hat, daß er heute kommen würde. Ich mag es nicht, ihn zu empfangen, ich ahne, wie das sein wird.

Eine Frau, deren Namen ich mir nicht merken kann und die ich deshalb in Gedanken Spätmutter nenne, schreitet die Treppe herunter. Sie gastiert mit zwei kleineren Kindern. Die Kleinen laufen hinter ihr. Sie selbst ist etwa Mitte vierzig, der Junge in der Vorschule, vermute ich, und das Mädchen etwas älter. Die Spätmutter übt Zurückhaltung, sie redet nur das Nötigste mit mir. Sie spricht leise und ohne jeden Akzent. Ihre Zurückhaltung läßt sie auch ständig die Kinder ermahnen, sich ebenso wie sie, und zwar tonlos, zu bewegen. Die Kinder haben das noch nicht richtig gelernt, besonders das Mädchen macht alles falsch. Es möchte auf dem Treppengeländer nach unten rutschen, das sehe ich ihm an, und am liebsten würde die Kleine ihr kleines Brüderchen dazu anstacheln, es ihr nachzumachen, vielleicht schubst sie es sogar vor. Sie hüpft an dem Geländer entlang und streicht über das Gerüst. Die Spätmutter schreitet, davon kann sie nichts abbringen, und sieht eben nach rechts, hinter sich, wo sie das Mädchen straft, und dann nach links, wo sie nach der Hand des Jungen greift, um ihn vor dem schädigenden Einfluß seiner Schwester zu schützen. Das Mädchen turnt einen halben Schritt hinter der Spätmutter, will dann auch ihre Hand fassen, die es aber nicht bekommt. Das Mädchen kennt das Verhalten ihrer Mutter, es weint nicht, ist auch nicht laut enttäuscht, gibt sich lediglich Mühe, nun ordentlich hinter ihr herzulaufen. Sie sind am Fuß der Treppe angelangt und gehen an mir vorüber. Die Spätmutter wendet ihren Kopf während des Schreitens ganz leicht zu mir hin, nickt und schreitet zur Tür hinaus. Das Mädchen hat sich auch kurz getraut, zu mir hinzukucken, muß dann aber einen Schritt schneller gehen, um den Anschluß an seine Mutter nicht zu verpassen.

Ich feile meine Fingernägel und schiebe die Haut zurück. Madame hatte einmal erschrocken zu mir gesagt: Kind, du leidest ja an Liebesmangel, du knabberst an den Nägeln!

Das wollte ich mir nicht zweimal sagen lassen und habe damit aufgehört. Es stört mich, zu wissen, daß Madame intime Gedanken über mich hegt. Ich schlage die Beine übereinander. Es ist zwei Uhr dreiundzwanzig. Anton Jonas ist vor einer halben Stunde gelandet. Der Koch, seit einer Woche ist wieder ein neuer hier, hat mir aufgetragen, noch Haifischfilets zu kaufen. Der hat muntere Ideen, ich werde ihn wohl auch nicht lange behalten können. Ich soll auch Schalotten und frischen Estragon kaufen. Ich weiß nicht, wo ich überall hinmuß, um so was zu kriegen. Ich will nirgendwohin. Weil er mir sportlich erscheint, schlug ich ihm vor, selbst diese Dinge zu erledigen, immerhin bezahle ich ihn eigentlich auch dafür. Das verstand er nicht, er meinte, für Botengänge ließe er sich weder einstellen noch bezahlen. Er würde sich hier nicht auskennen, sei doch erst zugezogen.

Vielleicht, sagte er, und zwinkerte mit einem Auge, leiste ich dir mal Gesellschaft beim Einkaufen. Ich habe ihm das Du nicht angeboten.

Die Tür geht auf, die magere Gestalt tritt ein, er stolziert nicht mehr wie früher, als er noch meine Mutter beeindrucken konnte, Anton Jonas schleppt sich.

Sie wünschen? frage ich ihn, er antwortet nicht, stellt seinen Koffer vor meinem Empfangstisch ab und blickt sich um, als hätte er mich weder gesehen noch gehört – sein Blick geht über mich hinweg zur Treppe, die in die beiden oberen Stockwerke führt, dann wieder zurück zu mir, als falle ihm erst jetzt auf, daß ich hinter dem Empfangstisch stehe. Er nickt. Berta kommt die Treppe herunter, sie lächelt und klatscht die Hände zusammen, um ihrer Freude Ausdruck zu verleihen. Anton Jonas kennt sie seit seinem ersten Besuch bei uns. Er gibt ihr die Hand, erkundigt sich nach dem Wohlergehen, gut, gut, sie sich nach seinem, bestens, man lacht über das Wetter, es geht einem gut, und er fragt nach dem Schlüssel. Sie kommt um meinen Empfangstisch herum, schiebt mich ein wenig zur Seite, um mit ihrer Hand an das Schlüsselbord zu reichen, entschuldigt sich leise, lächelt immerzu vor sich hin und wackelt mit dem Kopf, nickt vielleicht, während er von der Beschwerlichkeit seiner Reise erzählt. Sie bückt sich und will seinen Koffer nehmen, aber er verbietet es ihr. Er sagt: Berta, meine Gute, ich sehe vielleicht nicht kräftig aus, habe aber bestimmt mehr Kraft als Sie. Dazu lacht er aus vollem Hals und läßt sie nur das lederne Täschchen nehmen, in dem er gewiß seine Zeilen transportiert. Sie geht voran, und er folgt ihr.