Der Himmel voller Geigen - Michaela Dornberg - E-Book

Der Himmel voller Geigen E-Book

Michaela Dornberg

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Beschreibung

Im Sonnenwinkel ist eine Familienroman-Serie. Schauplätze sind der am Sternsee gelegene Sonnenwinkel und die Felsenburg, eine beachtliche Ruine von geschichtlicher Bedeutung. Mit Michaela Dornberg übernimmt eine sehr erfolgreiche Serienautorin, die Fortsetzung der beliebten Familienserie "Im Sonnenwinkel". Michaela Dornberg ist mit ganzem Herzen in die bezaubernde Welt des Sonnenwinkels eingedrungen. Sie kennt den idyllischen Flecken Erlenried und die sympathische Familie Auerbach mit dem Nesthäkchen Bambi. Manchmal tat man sich schwer damit, eine Entscheidung zu treffen. Manchmal dauerte es nur Sekunden, und da wusste man, was zu tun war. Und genauso ging es Frau Dr. Claire Müller. Claire blickte den Mann, mit dem sie unbeabsichtigt zusammengestoßen war, kurz an, erkannte ihn sofort. Das erschütterte sie so sehr, dass sie das Gezetere von der jungen Frau an seiner Seite überhaupt nicht registrierte. Das konnte jetzt nicht wahr sein. In seinem Gesicht bemerkte sie so etwas wie eine leichte Unsicherheit, und genau das war der Moment, in dem sie eine Entscheidung traf. Sie murmelte erneut ein leises »Entschuldigung, war nicht meine Absicht«, dann wandte sie sich ab, ging. Und was für ein Glück, dass sie direkt um eine Ecke biegen konnte. Dort lehnte sie sich erst einmal gegen eine Hauswand, keine Frage, in dem Mann hatte sie Oskar Keppler erkannt, den Mann einer Patientin, den sie nur flüchtig kannte, doch das reichte aus, um ein Gedankenkarussell anspringen zu lassen. Oskar Keppler, der beruflich ständig unterwegs war, sehr zum Leidwesen seiner Ehefrau, die mit Selbstverletzungen begonnen hatte, nur um seine Aufmerksamkeit zu erringen und vor allem, seine Nähe zu bekommen. Und nun sah sie ihn hier, zusammen mit einer jungen Frau und einem kleinen Kind. Claire war Ärztin, sogar eine sehr gute, und sie war eine Marathonläuferin. Alles gut, das zählte jetzt nicht, auch wenn sie sich noch nie zuvor in ihrem Leben als Privatdetektivin betätigt hatte, beschloss sie, der Sache auf den Grund zu gehen. Es war zu offensichtlich gewesen, dass Mann, Frau und Kind zusammengehörten. Sie musste der Sache auf den Grund gehen. Sie hatte gute Chancen, unerkannt ans Werk gehen zu können, denn in seinen Augenblick war zwar flüchtig etwas aufgeblitzt, doch dann hatte er es abgetan, weil es ja nicht möglich sein konnte, die Frau seiner Ärztin in dieser anderen, weit vom Sonnenwinkel entfernt liegenden Stadt zu sehen. Eine Ähnlichkeit, wird er sich gedacht haben, denn Claire beobachtete, dass er unbekümmert und ganz offensichtlich sehr verliebt an der Seite der krakelerischen jungen Frau weiterging, und jetzt trug er das Kind auf seinem Arm, das sich vertrauensvoll und eng an ihn schmiegte.

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Der neue Sonnenwinkel – 48 –

Der Himmel voller Geigen

Warum wird das größte Glück immer wieder getrübt?

Michaela Dornberg

Manchmal tat man sich schwer damit, eine Entscheidung zu treffen. Manchmal dauerte es nur Sekunden, und da wusste man, was zu tun war.

Und genauso ging es Frau Dr. Claire Müller.

Claire blickte den Mann, mit dem sie unbeabsichtigt zusammengestoßen war, kurz an, erkannte ihn sofort. Das erschütterte sie so sehr, dass sie das Gezetere von der jungen Frau an seiner Seite überhaupt nicht registrierte.

Das konnte jetzt nicht wahr sein.

In seinem Gesicht bemerkte sie so etwas wie eine leichte Unsicherheit, und genau das war der Moment, in dem sie eine Entscheidung traf. Sie murmelte erneut ein leises »Entschuldigung, war nicht meine Absicht«, dann wandte sie sich ab, ging. Und was für ein Glück, dass sie direkt um eine Ecke biegen konnte.

Dort lehnte sie sich erst einmal gegen eine Hauswand, keine Frage, in dem Mann hatte sie Oskar Keppler erkannt, den Mann einer Patientin, den sie nur flüchtig kannte, doch das reichte aus, um ein Gedankenkarussell anspringen zu lassen.

Oskar Keppler, der beruflich ständig unterwegs war, sehr zum Leidwesen seiner Ehefrau, die mit Selbstverletzungen begonnen hatte, nur um seine Aufmerksamkeit zu erringen und vor allem, seine Nähe zu bekommen.

Und nun sah sie ihn hier, zusammen mit einer jungen Frau und einem kleinen Kind.

Claire war Ärztin, sogar eine sehr gute, und sie war eine Marathonläuferin. Alles gut, das zählte jetzt nicht, auch wenn sie sich noch nie zuvor in ihrem Leben als Privatdetektivin betätigt hatte, beschloss sie, der Sache auf den Grund zu gehen.

Es war zu offensichtlich gewesen, dass Mann, Frau und Kind zusammengehörten.

Sie musste der Sache auf den Grund gehen.

Sie hatte gute Chancen, unerkannt ans Werk gehen zu können, denn in seinen Augenblick war zwar flüchtig etwas aufgeblitzt, doch dann hatte er es abgetan, weil es ja nicht möglich sein konnte, die Frau seiner Ärztin in dieser anderen, weit vom Sonnenwinkel entfernt liegenden Stadt zu sehen. Eine Ähnlichkeit, wird er sich gedacht haben, denn Claire beobachtete, dass er unbekümmert und ganz offensichtlich sehr verliebt an der Seite der krakelerischen jungen Frau weiterging, und jetzt trug er das Kind auf seinem Arm, das sich vertrauensvoll und eng an ihn schmiegte.

Ein ungeheuerlicher Verdacht stieg in ihr auf, den sie versuchte, zu unterdrücken.

Mit sicherem Abstand, aber nur so weit entfernt, dass sie noch genug mitbekam, folgte Claire ihnen.

Claire ertappte sich dabei, dass sie Fotos machte, wenn die Gesichter von ihnen deutlich zu erkennen waren. Das war zwar ein Eingriff in die Privatsphäre von Menschen, aber solche Gedanken wollte sie sich überhaupt nicht erst machen. Hier ging es um mehr.

Es war unglaublich, welche Zufälle es gab und wie rasch man mit etwas konfrontiert wurde, mit dem man niemals gerechnet hätte.

Oskar Keppler, und er war es, daran gab es überhaupt keinen Zweifel, vergnügte sich mit einer anderen, zugegebenermaßen sehr attraktiven Frau, die allerdings Haare auf den Zähnen zu haben schien, während seine Ehefrau sich nach ihm sehnte, zu verzweifelten Handlungen neigte, mit denen es allerdings glücklicherweise jetzt ein wenig vorbei war, seit Astrid wenigstens stundenweise in dieser Boutique arbeitete.

Ihr schossen so viele Gedanken durch den Kopf, dass ihr beinahe entgangen wäre, dass das Paar mit dem Kind abbog, in eine kleine Seitenstraße schlenderte und dort nach wenigen Metern vor einem hübschen Haus anhielt. Die Frau zog einen Schlüssel aus der Tasche, beide lachten.

Claire konnte sich hinter dem Stamm einer auf der Straße stehenden dicken Akazien verbergen. Beinahe reflexartig fotografierte sie erneut, die Gesichter waren deutlich zu sehen, ehe sie das Haus betraten, küsste der Mann sie. Sie waren vertraut miteinander, und sie waren, das war nicht zu übersehen, sehr verliebt.

Was tat sie da?

Diese Frage stellte Claire sich nur ganz kurz. Man konnte daran fühlen, dass da etwas nicht stimmte. Oskar Keppler betrog seine Frau.

Warum regte sie das eigentlich so sehr auf? Weil sie selbst eine Betrogene war? Sie wusste doch, dass es Männer gab, die es einfach nicht lassen konnten, alles mitzunehmen, was sich ihnen bot. Die ihre Bestätigung darin fanden, möglichst viele Eroberungen zu haben. Sie hatte Oskar Keppler bei den flüchtigen Begegnungen eigentlich als einen selbstbewussten Mann erlebt, der es nicht nötig hatte, Bestätigung bei anderen Frauen zu suchen.

Offensichtlich hatte sie sich geirrt. Ihrem Lebensabschnittsgefährten Fabio Belani hätte sie das auch nicht zugetraut, sonst wäre sie ihm nicht nach Rom gefolgt. Und Roberta hätte ganz gewiss nicht Max Steinfeld geheiratet, der hinter jeder Frau her war, die nicht bis drei auf einen Baum geklettert war.

Nun also hatte sie diesen Herrn Keppler dabei ertappt, dass er seine sehr nette Ehefrau betrog.

Und was hatte sie davon?

Nichts! Sie konnte nicht jedem Ehebrecher nachjagen, und die Fotos, die löschte sie am besten sofort wieder, denn sie konnte sie unmöglich Astrid unter die Nase reiben. Außerdem wusste Claire ja nicht einmal, ob Astrid nicht sogar wusste, dass ihr Ehemann es mit der ehelichen Treue nicht so genau nahm und dass sie es in Kauf nahm, um ihn nicht zu verlieren.

Fragen über Fragen drängten sich ihr auf, und aus allem kristallisierte sich heraus, dass sie sich besser in ihr Auto gesetzt und nach Hause gefahren wäre, dann hätte sei auf jeden Fall die Autobahn erreicht.

Sie nahm ihr Handy aus der Tasche, wollte die Fotos löschen, etwas hinderte sie daran. Das konnte sie später auch noch tun.

Sie warf einen letzten Blick auf das Haus, dann trat sie den Rückweg an, doch schon nach ein paar Schritten hielt sie inne, drehte sich um, ging den Weg zurück.

Es ging sie alles nichts an.

Sie machte sich erneut klar, dass sie eine gute Ärztin, eine nicht so schlechte Marathonläuferin war. Als Privatdetektivin hatte sie sich noch nie zuvor betätigt, und jemand, der diesem Beruf nachging, würde vermutlich wegen ihrer Vorgehensweise die Hände über dem Kopf zusammenschlagen.

Claire blieb stehen.

Warum tat sie das?

Sie hatte keine Ahnung, warum sie zielstrebig auf das Haus zulief, das Törchen aufstieß, den gepflasterten Weg entlanglief, die drei Treppen zur Haustür hinaufstieg.

Claire hatte ihren Verstand ausgeschaltet, die agierte einfach, dann blickte sie auf das Namensschild neben der Klingel. ›Frieder Sanders‹

Claire war wie gelähmt, starrte auf das Namensschild, ihre Hand zitterte, als sie ihr Handy herausholte, mehrere Fotos machte.

Vermutlich hätte sie noch eine ganze Weile vor der Haustür gestanden, wäre nicht seine Stimme zu ihr herausgedrungen. Er erkundigte sich bei der Frau: »Herzblättchen, und du bist dir ganz sicher, dass ich etwas vom Thai holen soll und nicht doch Essen vom Inder?«

Claire drehte sich abrupt um. Um Gottes willen, sie durfte nicht ertappt werden, denn was sollte sie denn sagen, warum sie hier herumspionierte?

Sie hatte Glück, ihr Gleichgewicht zu behalten, denn sie hatte sich so schnell herumgedreht, dass sie beinahe die Treppe heruntergefallen wäre.

Sie rannte zurück, hockte sich hinter ein in der Nähe stehendes Auto, gerade rechtzeitig genug, denn er kam aus dem Haus, pfiff bestens gelaunt vor sich hin, und eilte auf die Hauptstraße.

Als sie sicher sein konnte, von niemandem gesehen zu werden, erhob Claire sich, wechselte die Straßenseite, dann ging auch sie zurück. Jetzt hatte sie erst einmal die Orientierung verloren und musste nachdenken, welche Wege sie bis zum Haus genommen hatte. Sie hatte auf nichts geachtet, sondern hatte nur Oskar Keppler im Sinn gehabt.

Sie blieb stehen.

Und wenn sie sich nun in etwas hineingesteigert hatte, was überhaupt nicht der Realität entsprach?

Wenn sie überhaupt keiner Ungeheuerlichkeit auf der Spur war, sondern dass Oskar Keppler so etwas wie einen Doppelgänger hatte? So genau kannte sie den Mann ihrer Patientin schließlich nicht. Und hätte er bei ihrem unverhofften Anblick nicht verschreckt oder irritiert blicken müssen? Sie hatte nichts weiter als so etwas wie einen Hauch von Insicherheit bemerkt.

Das, was da gerade geschehen war …, damit durfte sie mit niemandem reden, auch nicht mit Roberta, vor der sie überhaupt keine Geheimnisse hatte, die würde glatt an ihrem Verstand zweifeln.

Schuster, bleib bei deinen Leisten …

Dieser Satz fiel ihr flüchtig ein, als sie ihren Weg fortsetzte, um zu ihrem Auto zu gehen, das sie erst einmal finden musste.

Und die Fotos?

Eigentlich müsste sie die sofort löschen, doch irgendwie brachte sie das nicht fertig. Und vielleicht war das auch überhaupt nicht so verkehrt.

Da hatte sie einen Beweis dafür, dass man erst einmal seinen Verstand einsetzen sollte, ehe man sich in ein Abenteuer stürzte, das, wie es jetzt ganz offensichtlich war, peinlich war. Zumindest peinlich für eine angesehene Ärztin, wäre sie Schriftstellerin, die bevorzugt Kriminalromane schrieb, hätte das gut eine Vorlage für einen neuen Roman sein können.

Sie hätte jetzt gern über sich selbst gelacht, doch Claire war dazu nicht in der Lage. Ihr Verstand sagte ihr zwar, wie töricht alles gewesen war, was sie da veranstaltet hatte, aber ganz tief in ihrem Inneren …

Claire zwang sich, diese Gedanken nicht zuzulassen, die ihr nur vor Augen führen würden, wie sehr sie sich blamiert hatte. Und wenn es kein Zufall war, dass sie ausgerechnet mit ihm zusammegestoßen war?

Am liebsten hätte Claire sich jetzt die Ohren zugehalten.

Nicht so etwas!

Sie wollte sich jetzt bloß nicht eingestehen, wie dilettantisch sie sich verhalten hatte.

Claire beschleunigte ihre Schritte und atmete insgeheim erleichtert auf, als sie irgendwann wieder vor dem Frauenhaus stand, und jetzt erinnerte sie sich auch, dass sie die andere Richtung nehmen musste, um zu ihrem Auto zu gelangen.

Und …

Nein, sie wollte jetzt nicht weiterspinnen, dass es so hatte kommen müssen, weil …

Sie zwang sich, diesen Gedanken nicht zu Ende zu bringen, denn es gab eine ganz einfach Erklärung. Sie war losgerannt und hatte nicht nachgedacht. Jetzt hatte sie die Quittung dafür, die Detektivin Dr. Claire Müller.

Also, eines wusste sie jetzt. Auf diesem Gebiet würde Claire sich gewiss nicht mehr betätigen. Was für ein Glück, dass sie fremd in der Stadt war, dass niemand sie hier kannte, es wäre ja wohl mehr als nur peinlich gewesen, wenn jemand sie in ihrer geheimen Mission beobachtet hätte.

Und was für ein Glück, dass dieser Frieder Sanders keine Ahnung davon hatte, was sie ihm unterschieben wollte.

Schluss!

Als sie um die nächste Ecke bog, entdeckte sie auch den Parkplatz, auf dem ihr Auto stand. Sie atmete erleichtert auf, als sie sich endlich hineinsetzen und nach Hause fahren konnte.

Nein!

Über dieses Abenteuer würde sie wirklich mit niemandem reden, dazu war es einfach zu peinlich, was sie da getan hatte.

Und dabei war alles Schöne untergegangen, weswegen sie überhaupt in die Stadt gekommen war. Sie hatte dem neu gebauten Frauenhaus nicht nur reichlich Unterstützung zugesagt, sondern sie hatte auch gleich das benötigte Geld vor Ort gelassen. Und es hatte sich so gut angefühlt, nicht nur in die glücklichen Gesichter der beiden Leiterinnen zu sehen, sondern auch zu wissen, dass sie dazu beigetragen hattet, dass die in vielfacher Hinsicht gequälten Frauen, sei es nun physisch oder psychisch, wenigstens in ansprechenden, gut ausgestatteten Zimmern untergebracht wurden, wenn sie als letzte Möglichkeit für sich nur die Flucht in ein Frauenhaus sahen.

Es fühlte sich so gut an, helfen zu können, auch wenn das meiste Geld nicht von ihr selbst stand, sondern aus dieser großen Geldspende von Gloria Weitz, der sie das Leben gerettet hatte. Und auch Julia Herzog, die patente Wirtin des ›Seeblicks‹, hatte sich beteiligt.

Es fühlte sich wirklich gut an, helfen zu können, doch besser wäre es, niemand müsse Zuflucht in einem Frauenhaus suchen.

Claire hatte die Autobahnauffahrt erreicht, insgeheim atmete sie erleichtert auf, und dann gab sie Gas, jetzt wollte sie nur noch nach Hause kommen.

Und sie wollte nicht mehr an Oskar Keppler …, an Frieder Sanders denken.

Sie wusste doch, dass sie sich gründlich blamiert hatte, warum also wurde sie dennoch diese Gedanken nicht los, die peinlich waren, wie sie peinlicher nicht sein konnten …

Claire beschleunigte das Tempo, wechselte die Fahrspur, dann fuhr sie links weiter. Als sie das für sie angenehme Tempo gefunden hatte, machte sie das Radio an, um sich von Musik berieseln zu lassen, doch auf einem der Sender gab es eine Gesundheitsstunde, in der es um Cholesterinwerte ging.

Lange hörte sie nicht zu, denn es war ja nicht verkehrt, wenn über Gesundheitsrisiken breite Bevölkerungskreise aufgeklärt wurden, doch dann musste zuvor gründlich recherchiert werden. Das war leider hier nicht der Fall, leider war es kein Einzelfall, und dann war es besser nichts zu sagen, als falsche Informationen zu verbreiten.

Wütend stellte Claire das Radio aus, auf Musik hatte sie auch keine Lust mehr.

Sie wechselte erneut die Fahrbahn, drosselte das Tempo, dann angelte sie aus dem Handschuhfach eine Tafel Schokolade heraus.

Das sollte man während des Fahrens nicht tun, aber sie wollte sich jetzt deswegen kein schlechtes Gewissen machen.

Sie packte die Schokolade aus, und dann begann sie, die genüsslich zu verspeisen, die ganze Tafel.

Das war dumm gewesen, und sie konnte sich auch nicht damit­ herausreden, dass man bitterer Schokolade von mindestens 75% Kakaoanteil positive Eigenschaften für die Gesundheit nachsagte, denn mit dem Effekt war es vorbei, wenn man eine ganze Tafel in sich hineinstopfte.

Sie beschleunigte erneut das Tempo, wechselte die Fahrbahn, machte das Radio an, doch diesmal zappte sie nicht herum, sondern hörte sich die CD an, die sich im Gerät befand, und die klassische Musik von Bach beruhigte Claire.

*

Claire war froh, endlich zu Hause angekommen zu sein, jetzt wollte sie sich nur noch entspannen, nichts sehen, nichts hören, und essen würde sie nichts mehr, die Schokolade musste reichen. Ein Gläschen Wein würde sie vielleicht noch zur Entspannung trinken.

Was war das für ein Tag gewesen!

Zu ihrer komfortablen Wohnung gehörte eine Garage, doch Claire hatte keine Lust, den Wagen hineinzufahren, sie parkte auf der Straße, stieg aus, und genau in diesem Augenblick kam Achim Hellenbrink, der Hauseigentümer, aus der Wohnung seiner Ex-Schwiegermutter, um die er sich rührend kümmerte.

Er freute sich, Claire zu sehen, begrüßte sie herzlich, es war schön, dass sie wieder freundschaftlich miteinander umgehen konnten.

»Geht es Hulda nicht gut?«, erkundigte sie sich sofort, denn für einen Besuch war es eigentlich bereits zu spät.

»Nein, es geht ihr bestens, wir haben uns ein wenig verplaudert, und ich kam auch erst sehr spät an, um ihr etwas vorbeizubringen, worum sie mich gebeten hatte. Es war ein langer Arbeitstag.«

Er blickte sie an. »Und wie ist deine Aktion verlaufen?«, wollte er wissen, denn Claire hatte ihm von dem Besuch im Frauenhaus erzählt, und er war auch dabei gewesen, als Claire Gloria Weitz das Leben gerettet hatte, das ihr gieriger Ehemann auslöschen wollte, indem er gehofft hatte, während des Hohenborn-Marathons, den sie gelaufen waren, den perfekten Mord begehen zu können.

Es lag eine Weile zurück, doch so etwas vergaß man wohl nie in seinem Leben, auch nicht als Ärztin, dem Beruf, in dem man es gewohnt war, mit Leben und Tod umzugehen. Es waren ja nicht die Verletzungen, die geblieben waren, sondern vielmehr die Tatsache, dass man jemanden, den man aus Liebe geheiratet hatte, kaltblütig umbringen wollte. Es waren tiefe menschliche Abgründe, die sich da auftaten. So etwas konnte niemand vergessen.

Sie erzählte ihm von der Freude, die sie gemacht und die sie auch selbst dabei empfunden hatte. Über den peinlichen Zwischenfall erwähnte Claire natürlich kein Wort.

Ausgerechnet Achim würde sie nichts sagen, denn sie wusste schon, dass er sie noch immer liebte, sich aber zurückhielt und vielleicht auch darauf hoffte, dass aus ihnen irgendwann doch noch ein Paar werden würde.

Die Liebe war wirklich ein seltsames Spiel.

Da gab es einen Mann, der einer von den Guten war, bei dem sie den Himmel auf Erden hätte, und dennoch ließ sie sich nicht auf ihn ein. Sie mochte ihn, konnte sich gut mit ihm unterhalten, sie hatten viele Gemeinsamkeiten, und ganz besonders der Marathon verband sie miteinander, den sie beide liebten.

Gewiss war sie ein gebranntes Kind, nachdem das mit Fabio so gründlich schiefgelaufen war. Aber deswegen musste man danach nicht einen Zaum um sich ziehen. Achim war perfekt, er war der Traum aller Schwiegermütter. Warum ließ sie sich nicht auf ihn ein? Sie war doch wohl nicht so töricht, auf die große Liebe zu warten? So, wie man sich die erträumte, musste man sie in Romanen nachlesen, denn im wahren Leben gab es so etwas leider nicht.

Ihr wurde bewusst, dass sie noch immer auf der Straße standen, und weil er ein so Netter war, erkundigte sie sich: »Hast du Lust, mit mir etwas zu trinken? Dann können wir weiter miteinander plaudern, hier auf der Straße ist es nicht gerade gemütlich.«

Er zögerte, ihm war deutlich anzusehen, wie gern er jetzt diese unverhoffte Einladung angenommen hätte. Er tat es nicht, und das bestätigte letztlich auch, was für ein großartiger Mann Achim Hellenbrink doch war, der Bruder der tüchtigen Ursel aus der Praxis.

»Danke für die Einladung, Claire«, sagte er, »aber ich denke, es wäre jetzt sehr egoistisch von mir, diese anzunehmen. Du hast einen langen Tag hinter dir, eine lange Fahrt, das Treffen mit den Damen vom Frauenhaus. Du brauchst Ruhe, denn morgen liegt erneut ein arbeitsreicher Tag vor dir. Du hast zwar einen ganz wundervollen Beruf, aber tauschen möchte ich nicht mit dir.«

»Achim, das sagst du? Du arbeitest gewiss mehr als ich, und deine Arbeit ist anstrengender.«

Er lächelte sie an.

»Aber bei mir können allenfalls ein paar Steine falsch verbaut werden, die man wieder abreißen kann, ohne einen Schaden anzurichten. Du hast mit Menschen zu tun, und da kann eine einzige, noch so kleine Fehlentscheidung, einen ganz großen Schaden anrichten …, ein andermal nehme ich deine Einladung sehr gern und ohne Gewissensbisse haben zu können, gern an. Wir können aber auch miteinander essen gehen. Im ›Seeblick‹ werden gerade besondere Fischgerichte angeboten, und trainieren müssen wir auch wieder, wenn wir bei dem nächsten Marathon erfolgreich sein wollen.«

Er war so nett, sie mochte ihn sehr, deswegen sagte sie ganz spontan: »Achim, ich bin zu allem bereit.«

Da ließ er es sich natürlich nicht zweimal sagen was er tun sollte. Achim Hellenbrink machte Nägel mit Köpfen, und so verabredeten sie sich schon für den nächsten Abend zum Essen, und ein wenig trainieren wollten sie direkt in den frühen Morgenstunden, und das war ein Vorschlag von Claire. Er konnte ja nicht ahnen, dass es ihr nicht in erster Linie darum ging, gut beim Marathonlauf abzuschneiden, sondern dass sie sehr darauf hoffte, die törichten Gedanken aus dem Kopf zu bekommen, sie wollte die Peinlichkeit vergessen, in die sie sich so unüberlegt hineinbegeben hatte.

Ihm war deutlich anzusehen, wie sehr er sich freute, dass er sein Glück kaum fassen konnte, und Claire schämte sich ein wenig, dass sie nicht mit fliegenden Fahnen zu ihm überwechseln konnte.

Sie verabschiedeten sich voneinander mit einer Umarmung, das war nicht neu, Claire wusste nicht, was er dabei empfand, für sie waren es angenehme freundschaftliche Gefühle, die sie durchströmten.