Der neue Sonnenwinkel 79 – Familienroman - Michaela Dornberg - E-Book

Der neue Sonnenwinkel 79 – Familienroman E-Book

Michaela Dornberg

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Beschreibung

Nicki hofft, den Mann im Arbeitsanzug zu sehen, doch der Weg hinauf zum ›Seeblick‹ ist richtig abgesperrt, das Schild ›Betreten verboten‹ ist nicht zu übersehen. Da kommt ihr der Zufall zu Hilfe. Sie lernt Paula kennen, die kleine Tochter von Lennart Hegenbach, dem Bildhauer, und dann trifft sie den Mann im Arbeitsanzug. Es ist Lennart. Zwischen ihm und Nicki scheint sich etwas anzuspinnen. Im Baumarkt will Simone eigentlich nur Wandfarben holen. Sie trifft auf einen Mann, der sich als der Geschäftsführer herausstellt. Er will ihr unbedingt helfen. Simone ist durcheinander, doch ihre Hauswirtin Hermine rät ihr, sich mit Ole, so heißt er, zu treffen, weil der einer von den besonders Guten sei. Nicki wartet derweil auf einen Anruf von Lennart, der ausbleibt. Sofort ist sie traurig, durcheinander. Dann klingelt es an der Haustür … Manchmal spielte sich etwas bei einem ab, geschahen Dinge, die man an sich nicht kannte, für die man keine Erklärung hatte und die dennoch geschahen. Eine solche Erfahrung machte gerade Werner Auerbach, der weltbekannte, geschätzte und manchmal auch ein wenig überheblich wirkende Herr Professor. Werner gehörte überhaupt nicht zu den Menschen, die sofort zur Hilfe eilten, die immer zur Stelle waren, auch wenn nur ein welkes Blatt vom Baum fiel. Werner hatte wirklich keine Ahnung, warum ausgerechnet er Heinz Rückert gesagt hatte, dass sie schnell zur Unfallstelle laufen sollten, um ihre Hilfe anzubieten. Ja, das hatte er tatsächlich gesagt. Das konnte doch nicht er sein! Darüber nachzudenken, lohnte sich nicht, und es drängte ihn wirklich zu dem Ort, an dem sich jetzt immer mehr Gaffer einfanden, die sich nichts entgehen lassen wollten, die am liebsten sofort fotografierten, um die Fotos dann auch gleich ins Internet zu stellen. Werner hasste das, und nun wollte er sich zu diesen Menschen gesellen, die er abgrundtief verachtete. Warum? Darauf hatte auch er keine Erklärung. Er und Heinz hatten die Unfallstelle erreicht. Heinz bahnte sich resolut einen Weg durch die Menschentraube, die sich angesammelt hatte. Werner war froh darüber, fühlte sich aber dennoch deplatziert. Er war ein Wissenschaftler, für den nur Fakten zählten, alles, was bewiesen werden konnte oder was bewiesen werden sollte. Jemand wie er glaubte nicht an Vorahnungen, an innere Stimmen. Das war Unsinn! Und warum war er dennoch hier? Er wusste es nicht. Ein furchtbar zertrümmerter PKW war offensichtlich gegen die Pfosten des Wartehäuschens für den Bus gefahren. Wie es aussah, war der Fahrer des Wagens wegen überhöhter Geschwindigkeit dagegen geprallt, hatte die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren.

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Der neue Sonnenwinkel – 79 –

Eine Romanze kommt selten allein

Der Sonnenwinkel hat einige Überraschungen zu bieten

Michaela Dornberg

Manchmal spielte sich etwas bei einem ab, geschahen Dinge, die man an sich nicht kannte, für die man keine Erklärung hatte und die dennoch geschahen. Eine solche Erfahrung machte gerade Werner Auerbach, der weltbekannte, geschätzte und manchmal auch ein wenig überheblich wirkende Herr Professor.

Werner gehörte überhaupt nicht zu den Menschen, die sofort zur Hilfe eilten, die immer zur Stelle waren, auch wenn nur ein welkes Blatt vom Baum fiel.

Werner hatte wirklich keine Ahnung, warum ausgerechnet er Heinz Rückert gesagt hatte, dass sie schnell zur Unfallstelle laufen sollten, um ihre Hilfe anzubieten. Ja, das hatte er tatsächlich gesagt. Das konnte doch nicht er sein! Darüber nachzudenken, lohnte sich nicht, und es drängte ihn wirklich zu dem Ort, an dem sich jetzt immer mehr Gaffer einfanden, die sich nichts entgehen lassen wollten, die am liebsten sofort fotografierten, um die Fotos dann auch gleich ins Internet zu stellen. Werner hasste das, und nun wollte er sich zu diesen Menschen gesellen, die er abgrundtief verachtete. Warum? Darauf hatte auch er keine Erklärung.

Er und Heinz hatten die Unfallstelle erreicht. Heinz bahnte sich resolut einen Weg durch die Menschentraube, die sich angesammelt hatte. Werner war froh darüber, fühlte sich aber dennoch deplatziert. Er war ein Wissenschaftler, für den nur Fakten zählten, alles, was bewiesen werden konnte oder was bewiesen werden sollte. Jemand wie er glaubte nicht an Vorahnungen, an innere Stimmen. Das war Unsinn!

Und warum war er dennoch hier?

Er wusste es nicht. Ein furchtbar zertrümmerter PKW war offensichtlich gegen die Pfosten des Wartehäuschens für den Bus gefahren. Wie es aussah, war der Fahrer des Wagens wegen überhöhter Geschwindigkeit dagegen geprallt, hatte die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren.

Was konnten sie hier eigentlich tun?

Gemeinsam einen Kaffee zu trinken, in aller Ruhe miteinander zu reden, wäre gescheiter gewesen. Die Polizei sicherte den Unfallort, Ärzte und Sanitäter wuselten herum.

Es war verrückt gewesen, herzukommen. Was war bloß in ihn gefahren?

Schon wollte er Heinz bitten, mit ihm umzukehren, als der plötzlich ganz aufgeregt wirkte. Eine Person wurde auf eine Krankenbahre gelegt. Das war schlimm, aber so etwas sah man leider immer wieder. Und solange die Menschen nicht zu Verstand kamen, würde es auch nicht aufhören angesichts der Raserei im Straßenverkehr.

Warum also war Heinz plötzlich so durch den Wind?

Heinz packte Werner am Arm, ziemlich heftig, es tat richtig weh.

»Werner …«, er deutete auf die Trage, »das ist …, da liegt … Pamela.«

Was redete Heinz für einen Unsinn. Das konnte doch nicht wahr sein.

Werner war oftmals das, was man einen zerstreuten Professor nannte, doch jetzt war er hellwach, er merkte, dass er eine Gänsehaut bekam, er merkte, wie sein Herz anfing wie wild zu schlagen. Auf der Liege war …, nein, das konnte doch nicht wahr sein …, aber es war wahr!

Die Verletzte, um die man sich­ bemühte, war seine jüngste Tochter Pamela.

Hatte es ihn deswegen wie magisch hergezogen?

Er hatte keine Zeit, darüber jetzt nachzudenken. Er wollte zu seinem Kind!

Pamela lag dort, blass, mit geschlossenen Augen.

War sie etwa …?

Nein!

Sie war nicht tot, denn Unfalltote transportierte man nicht mit dem Krankenwagen ab, für die gab es ein anderes Fahrzeug, und um Tote kümmerte man sich auf gänzlich andere Weise, um ihnen ihre Würde zu lassen, um sie vor den Augen der Neugierigen zu schützen.

Er wollte zu Pamela eilen, ein Polizist hielt ihn gewaltsam zurück, es gelang Werner nicht, sich loszureißen.

»Lassen Sie mich los«, schrie er aufgebracht und verzweifelt zugleich, »das da ist mein Kind.«

Betroffen trat der Polizist beiseite, ließ Werner durch, Heinz folgte ihm.

Er wollte sich auf die Knie fallen lassen, ganz dicht neben Pamela sein, aber ein Arzt, es konnte auch ein Rettungssanitäter sein, der alles mitbekommen hatte, hielt ihn zurück. »Wir bringen Ihre Tochter jetzt ins Krankenhaus, wenn Sie wollen, dann fahren Sie direkt mit.«

»Was … was fehlt ihr?« wollte Werner wissen, seine Stimme war voller Angst.

»Das kann ich Ihnen nicht sagen, das werden erst die genauen Untersuchungen zeigen, also bitte, lassen Sie uns unsere Arbeit tun.«

»Das stimmt, Werner«, sagte Heinz, »die Hauptsache ist doch, dass Pamela lebt. Soll ich mitkommen? Oder soll ich dich im Krankenhaus später abholen? In deiner Verfassung kannst du dich doch nicht selbst ans Steuer setzen.«

Schon wollte Werner zustimmen, als sein Blick auf und über die Menge fiel, er bekam gerade noch mit, wie eine Frau sich ganz eilig entfernte. Er hatte sie erkannt, Inge hatte ihn einmal auf diese Frau aufmerksam gemacht, die im ganzen Sonnenwinkel als die Morgenpost verschrien war, nicht nur das, sondern dass man sich vor ihr in Acht nehmen musste, weil sie die Tatsachen verdrehte, um wichtig zu erscheinen, um Sensationen zu verkünden, die eigentlich keine waren. Sie wollte immer nur prahlen, wichtig sein. Und ausgerechnet diese Person hatte alles mit angesehen.

Nicht auszudenken, wenn diese Frau zu Inge gehen würde, und das würde sie tun, daran zweifelte Werner nicht einen Augenblick, sie würde Inge zu Tode erschrecken, denn nach deren Schilderungen würde Pamela eigentlich fast schon gestorben sein.

So war es zwar nicht, aber dennoch blieb Werner alarmiert, denn innere Verletzungen konnten sehr schlimm sein.

Rasch erzählte er Heinz von seiner Beobachtung.

»Heinz, du musst unbedingt vor dieser Person bei Inge sein, erzähl ihr bitte, was geschehen ist, berichte ihr schonend von dem Unfall. Ich melde mich dann, wenn ich Genaueres erfahre, ich werde auf jeden Fall bei Pamela bleiben. Also bitte, Heinz, spute dich, laufe zu deinem Wagen.«

Heinz schüttelte den Kopf.

»Das dauert viel zu lange, sieh mal, Werner, dort drüben ist ein Taxistand, ich fahr mit dem Taxi, das geht am schnellsten, und ich werde dem Fahrer sagen, dass ich bereit bin, jeden Preis zu zahlen, wenn er nur ordentlich aufs Gas drückt.«

Insgeheim atmete Werner auf, ein klein wenig nur, denn noch wusste man nicht, wie schlimm es um Pamela stand, die jetzt in den Krankenwagen verfrachtet wurde. Wollte er mitfahren, musste er jetzt einsteigen.

»Danke, Heinz, das ist eine ganz großartige Idee, und bitte, bleib ein wenig bei Inge, muntere sie auf, oder besser noch, schick ihr Rosmarie, die beiden Frauen können es ja ganz hervorragend miteinander.«

Ein Mann kam auf sie zu.

»Wenn Sie jetzt nicht einsteigen, dann fahren wir ohne Sie los.«

Oh Gott, nur das nicht!

Werner klopfte Heinz auf die Schulter, sagte noch mal: »Danke, Kumpel«, dann stieg er in den Krankenwagen, und Heinz rannte mit erstaunlicher Geschwindigkeit auf die andere Straßenseite, ließ sich in das Taxi fallen, und er musste dem Fahrer ein bemerkenswertes Angebot gemacht haben, denn das Taxi raste sofort los, und das vor den Augen der Polizei, doch die war noch immer mit der Sicherung des Unfallortes beschäftigt, sie hatte das Taxi nicht im Visier.

*

Inge war mit sich zufrieden. Heute war ihr alles schnell von der Hand gegangen, es war nicht einmal mehr Bügelwäsche im Korb. Das Essen stand auf dem Herd, Pamela und Werner konnten kommen. So entspannt wie jetzt war Inge lange schon nicht mehr gewesen. Sie hatte es sich mit einem Buch gemütlich gemacht, das sich seit einiger Zeit in ihrem Besitz befand, was sie aber noch nicht hatte lesen können, weil einfach die Zeit dazu gefehlt hatte. Dabei war es spannend, der Buchhändler, bei dem sie sich immer gern beraten ließ, hatte ihr nicht zu viel versprochen. Man konnte sich auf das, was er sagte, hundertprozentig verlassen. Er übte seinen Beruf voller Leidenschaft und Hingabe aus. Er kannte die Inhalte der meisten Bücher, die zu seinem Aufgabenbereich gehörten, las nicht nur den Klappentext, las die Bücher zumindest an. Er liebte die Bücher. Und er konnte auf Anhieb sagen, wo man ein gewünschtes Buch fand, musste nicht erst im Computer nachsehen, ob es überhaupt vorrätig war. Buchhändler oder Buchhändlerin war ein wunderschöner Beruf, den hätte Inge sich für sich selbst auch durchaus vorstellen können. Leider bekam sie immer mehr den Eindruck, dass es meistens reine Buchverkäufer waren, die sich heutzutage immer mehr in den Buchhandlungen tummelten, die man mittlerweile auch eher als Buchfabriken bezeichnen konnte. Es gab kaum noch inhabergeführte Buchhandlungen, die wurden von gigantischen Ketten übernommen oder mussten aufgeben, weil sie es finanziell nicht mehr durchhalten konnten. Es war keine schöne Entwicklung auf dem Buchmarkt. Die Anforderungen an das Personal hatten sich verändert, nicht die Literatur zählte, sondern der Umsatz war wichtig, und deshalb gab es in den meisten dieser unpersönlichen Läden halt lustlose Buchverkäufer und Verkäuferinnen, die sich mit dem, was sie taten, lange schon nicht mehr identifizierten, die keine Leidenschaft für diesen wundervollen Beruf besaßen. Dabei musste zur Ehrenrettung der -verkäuferinnen allgemein gesagt werden, dass die wussten, wo man die Dose Sauerkraut finden würde, wenn man danach fragte. Aber darum ging es nicht.

Ach, es hatte keinen Sinn. Sie würde die Welt nicht mehr verändern, wollte es auch nicht, und solange es noch jemanden gab wie diesen liebenswerten Herrn Krumbiegel, war ihre Welt in Ordnung.

Würde dieser Typ sich besinnen und erkennen, dass die Frau, die er gerade zum Teufel gejagt hatte, im Grunde die einzig Richtige für ihn war? Sie las ihr Buch mit Spannung.

Inge blätterte um, sie wollte es erfahren, als es klingelte. Sie legte ein Lesezeichen zwischen die Seiten, klappte das Buch zu, legte es beiseite. Sie hasste die Unart mancher Menschen, einfach Eselsohren in ein Buch zu machen.

Wer wollte denn jetzt schon wieder etwas von ihr? Mit der Beschaulichkeit war es schon jetzt vorbei, obwohl die ersten Möbelwagen im Neubaugebiet noch nicht einmal angerollt waren. Es hatte sich bei den Handelsvertretern jetzt schon herumgesprochen, dass es im Sonnenwinkel rund ging.

Nun, sie würde keine Zeitungen kaufen, einen neuen Staubsauger benötigte sie nicht, auch keine Versicherung, und spenden an Fremde, für etwas, wovon sie noch nichts gehört hatte, würde sie ebenfalls nicht. Die Auerbachs waren bekannt dafür, großzügig zu sein, und sie gaben wirklich gern. Aber nicht für irgendwelche dubiosen Kanäle. Es waren genügend Betrüger unterwegs. Inge konnte es noch immer nicht fassen, dass es sogar hier im Sonnenwinkel möglich gewesen war, auf einen dieser schäbigen Enkeltricks hereinzufallen.

Sie machte die Tür auf.

Es war kaum zu glauben, was sie da sah. Heinz stand davor, ein wenig atemlos, ein Taxi stand quer vor dem Eingang, und eine Person, die sie nicht mochte, die ihr unangenehm war, stand hinter dem Taxi.

»Heinz«, sagte Inge gedehnt, überrascht zugleich, denn Heinz Rückert gehörte nicht unbedingt zu den Menschen, die sich bei den Auerbachs die Türklinke in die Hand gaben.

Er war ein wenig verlegen, sagte nichts, und deswegen fragte Inge: »Was hat das zu bedeuten? Wieso steht das Taxi dort, und wie kommt diese unangenehme Frau Schulze hierher?«

Inge erwartete eine Erklärung von ihm, die konnte er ihr nicht vorenthalten. Aber diese Frau war so penetrant, die wich nicht von der Stelle, und der Taxifahrer konnte sie nicht einfach über den Haufen fahren.

»Mit dem Taxi bin ich gekommen, und dass der Wagen so schräg in der Einfahrt steht, liegt daran, dass ich verhindern wollte, dass diese grässliche Person vor mir bei dir klingelt, sie war schon drauf und dran. Ich konnte das gerade noch im letzten Augenblick verhindern.«

Da stimmte doch etwas nicht!

Inges Stimmung veränderte sich augenblicklich, von wegen Gelassenheit und Entspannung, sie war jetzt vielmehr gespannt wie ein Flitzebogen.

»Heinz, was ist passiert? Wieso bist du hier? Und was wollte diese Frau?«

»Inge, können wir bitte erst einmal ins Haus gehen? Dann erzähle ich dir, was geschehen ist.«

Seine Stimme klang ernst, Inge trat stumm beiseite, um ihn vorbeizulassen. Ehe sie die Tür schloss, sah sie, wie diese grässliche Frau Schulze sich endlich bewegte, der Wagen konnte losfahren. Das Gesicht von Frau Schulze sprach Bände, sie war wütend, dass sie nicht das Rennen gemacht hatte, um eine Sensation loszuwerden!

Was für ein Jammer für diese törichte Frau!

Die Auerbachs waren für ihre Gastfreundschaft bekannt, doch Inge spürte, dass das jetzt kein Besucher war, dem sie Kaffee anbieten konnte, zumindest in diesem Augenblick nicht. Sie bot ihm Platz an, und Heinz ließ sich auf einen der Stühle plumpsen.

Luna und Sam hatten wohl gespürt, dass Besuch gekommen war, sie waren zur hinteren Terrassentür gerannt, kratzten, bellten, wollten hereingelassen werden. Normalerweise hätte Inge das auch getan, denn die Hunde mochten Heinz, auch wenn sie ihn nicht so oft sahen. Beauty und Missie von den Rückerts waren ihre Freunde, sie tobten oft miteinander herum. Und weil es so war, liebten Sam und Luna auch Rosmarie und Heinz, schnupperten an ihnen herum, ließen sich streicheln. Diesmal blieb Inge allerdings hart. Die Hunde mussten draußen warten, und die waren auch klug genug, um sehr schnell zu begreifen, dass sie keine Chance hatten. Also trollten sie sich, rannten in den Garten zurück, in dem sie mehr als genug Auslauf hatten.

Inge wollte wissen, was geschehen war. Nichts Gutes, befürchtete sie, und aus diesen Gedanken heraus erkundigte sie sich angstvoll: »Heinz, ist etwas mit Rosmarie?« Diese Frage war berechtigt, denn warum sonst sollte Heinz jetzt bei ihr sein. Aber wie passte das Taxi in das Schema, und die neugierige Frau Schulze, was hatte die damit zu tun? Es machte alles keinen Sinn, aber warum war Heinz dann hier?

Inge setzte sich ebenfalls, sie war jetzt auf alles gefasst, nachdem Heinz zuvor mit dem Kopf geschüttelt hatte. Also war mit Rosmarie alles in Ordnung.

Ehe sie weitere Fragen stellen konnte, musste er ihr ganz behutsam beibringen, weswegen er gekommen war. Doch wo und wie sollte er beginnen? Heinz Rückert war ein Notar, noch dazu ein verdammt guter. Er kannte sich mit Gesetzestexten allerbestens aus, wusste, wie man Verträge aufsetzte. Als Überbringer von Hiobsbotschaften war er dagegen vollkommen ungeeignet. Er wand sich wie ein Wurm, doch es ließ sich nicht länger hinauszögern, Inge saß da wie auf heißen Kohlen, und er wollte es endlich hinter sich bringen. Aber wie sollte er es ihr sagen, ohne dass sie in einen Schockzustand verfiel? Er wusste doch, wie sehr sie Pamela liebte, ihr Nesthäkchen.

»Bitte, Heinz«, rief sie, und ihre Stimme klang kläglich.

»So rede doch endlich, du kommst doch nicht einfach nur hier vorbei, um mit mir Kaffee zu trinken.«

Er zierte sich nicht länger, überlegte sich auch nicht seine Worte, es sprudelte nur so aus ihm heraus. Als er fertig war, schaute er sie betroffen an.

Hatte Inge nicht richtig mitbekommen, was er ihr gerade erzählt hatte? Warum schrie sie nicht, warum saß sie wie versteinert auf ihrem Stuhl?

»Inge …«

Nur die Erwähnung ihres Namens löste die Schockstarre in ihr, in die sie verfallen war. Jetzt reagierte sie, sie wollte sofort ins Krankenhaus zu ihrer Tochter.

»Inge, und das ist es, was Werner nicht möchte. Warum sollt ihr beide dort herumsitzen? Jetzt werden erst einmal alle Untersuchungen bei Pamela gemacht, und das kann dauern. Über den genauen Unfallvorgang werdet ihr auch erst alles erfahren, wenn er abgeschlossen ist.«

Sie hörte ihm kaum zu.

»Heinz, danke, dass du gekommen bist, um es mir zu sagen, doch ich muss jetzt sofort zu meinem Kind.«

Sie sprang auf, Heinz hatte Mühe, sie zurückzuhalten.

»Inge, in diesem Zustand kannst du unmöglich selbst mit dem Auto fahren, und das Taxi ist weg. Lass mich versuchen, Rosmarie zu erreichen, die kann mit dir nach Hohenborn fahren. Wenn du einverstanden bist, rufe ich Rosmarie jetzt an und bitte sie zu kommen, ja?«

Inge war nicht in der Lage, auch nur einen einzigen klaren Gedanken zu fassen. Sie war nur voller Angst. Pamela hatte einen Autounfall gehabt, war von einem Auto angefahren worden, ihre leiblichen Eltern waren bei einem Autounfall ums Leben gekommen, weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen waren.

Wieder ein Auto …

Wiederholte sich das Schicksal? Auf die gleiche grauenhafte Weise wie damals?

Inge war so durcheinander, dass sie über nichts geordnet nachdachte. Warum regte sie sich so auf? Pamela war nicht tot, nur verletzt, und niemand wusste, ob leicht oder schwer.

Sie hatte nicht mitbekommen, dass Heinz Rückert seine Frau angerufen hatte, dass er ihr knapp erzählt hatte, was vorgefallen war.

Auf jeden Fall musste Rosmarie geflogen sein, so schnell erreichte sie die Villa Auerbach. Sie war nicht zurechtgemacht, trug eine einfache Baumwollhose, ein Sweatshirt. Früher hätte sie so niemals das Haus verlassen, hätte in dieser Kleidung nicht einmal die Post aus dem Briefkasten geholt. Früher, das waren andere Zeiten gewesen. Sie stand jetzt über den Dingen. Es zählten in ihrem Leben ganz ­andere Dinge als früher, wo sie so oberflächlich gewesen war. Heinz machte ihr die Haustür auf, sie wechselten einen kurzen Blick miteinander, dann war Rosmarie bei Inge, nahm sie in ihre Arme und sagte: »Komm, Inge, ich fahre dich jetzt ins Krankenhaus.«

Rosmarie war gekommen!

Inge warf ihr einen dankbaren Blick zu, dann ließ sie sich hinausführen, wie eine Puppe in Rosmaries schnittigen Sportwagen setzen, ein Überbleibsel aus Rosmaries Vergangenheit. Rosmarie liebte schnelle Autos, und einen Spaß musste man sich doch erlauben.

Rosmarie achtete darauf, dass Inge angeschnallt war, und dann raste sie los, als gelte es einen Grand Prix zu gewinnen. Sie sprachen kein Wort miteinander, Inge saß zusammengesunken auf ihrem Platz, und ihre Gedanken kreisten nur darum, dass Pamela im Krankenhaus lag, angefahren von einem Auto und das auch noch an der Bushaltestelle.

*

Heinz hatte Werner vorgewarnt, und so war der überhaupt nicht erstaunt, als Inge und Rosmarie auftauchten. Inge fiel ihrem Mann in die Arme, und jetzt löste sich ihre unnatürliche Starre, sie begann haltlos zu schluchzen.

Rosmarie stand dabei, sie wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte.

Obwohl Pamela nicht ihr ei­genes Kind war, konnte sie hundertprozentig nachvollziehen, was die arme Inge gerade durchmachte.

Irgendwann beruhigte Inge sich ein wenig, wollte wissen, was mit Pamela nun eigentlich sei, doch wie von Heinz vorausgesagt, konnte Werner seiner Frau nichts Genaues sagen. Pamela wurde immer noch untersucht.

»Rosmarie, wenn du dich um Inge kümmerst, dann versuche ich mal, einen Arzt zu erreichen.«

Rosmarie versprach es, sie setzte sich mit Inge auf eine Bank, hielt deren Hand, während Werner eilig davonging. Irgendwie hatte man das Gefühl, dass er froh war, jetzt etwas tun zu können.

Werner kam nicht zurück, vom Klinikpersonal zeigte sich niemand, und die Zeit ging sehr zäh dahin. Die Zeiger der großen Wanduhr schienen sich nicht zu bewegen.

Rosmarie war froh, dass Inge keine Fragen stellte, und andererseits freute Inge sich, dass Rosmarie nicht versuchte, sie aufzumuntern. In gewissen Situationen war es einfach besser, zu schweigen, da reichte es zu spüren, dass es an seiner Seite jemanden gab, der mitfühlte.