Der Nordseehof – Als wir den Himmel erobern konnten - Regine Kölpin - E-Book
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Der Nordseehof – Als wir den Himmel erobern konnten E-Book

Regine Kölpin

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Beschreibung

»Wir müssen nach vorn sehen. Da liegt die Zukunft.« In diesem dritten Band ihrer Saga um den ostfriesischen Nordseehof erzählt Regine Kölpin – spannend, bewegend und voller norddeutscher Atmosphäre – den Abschluss einer dramatischen Emanzipationsgeschichte um drei Frauen aus drei Generationen.   1993: Eigentlich stehen Feemke alle Wege offen, jeder Beruf könnte ihrer, jedes Land ihre Heimat sein. Doch nur in der rauen Landschaft des Nordens fühlt sie sich zu Hause. Erst langsam wird ihr klar, dass bleiben manchmal genauso viel Mut kostet wie wegzugehen.   Der Nordseehof: Vor der stimmungsvollen Kulisse der norddeutschen Landschaft entfaltet sich eine opulente Familiensaga über die Macht der Träume und den Wunsch nach Freiheit, über verbotene Liebe und wahre Heimat.   Band 1: Der Nordseehof – Als wir träumen durften Band 2: Der Nordseehof – Als wir der Freiheit nahe waren Band 3: Der Nordseehof – Als wir den Himmel erobern konnten

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Zwei Dinge sollten Kinder

von ihren Eltern bekommen:

Wurzeln und Flügel.

unbekannte Quelle

© Piper Verlag GmbH, München 2021

Redaktion: Gisela Klemt, Lüra – Klemt & Mues GbR

Covergestaltung und -motiv: Johannes Wiebel | punchdesign,

unter Verwendung von shutterstock.com

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Inhalt

Cover & Impressum

Personenverzeichnis

1981–1982

Kapitel 1

Personenverzeichnis

Familie Eilers

Johanna Eilers – Tochter

Keno Eilers – Sohn †

Foline Eilers – Mutter †

Marten Eilers – Vater †

Familie Deeken

Eike Deeken – Erbe vom Nordseehof †

Thilo Deeken – Eikes Vater †

Lientje Deeken – Eikes Mutter †

Reent Deeken – Eikes Bruder †

Uwe Deeken – Sohn von Eike und Johanna

Adda Deeken – Tochter von Eike und Johanna

Sanne Müller – Freundin von Uwe

Paul Ehlers – Sohn von Reent und Manu Ehlers

Feemke Deeken – Addas Tochter

Piet Renken – Freund von Adda

Familie Menzel

Rolf Menzel – Sohn

Mine Menzel – Mutter †

Karl-Gerd Menzel – Vater †

Dagmar Menzel, geb. König – Ex-Frau von

Rolf Menzel

Familie de Vries

Ingo de Vries – Cousin von Johanna

Theda de Vries – Cousine von Johanna

Deike de Vries – Thedas Tochter

Hauke de Vries – Thedas Sohn

Melinda de Vries – Tochter von Deike

Weitere:

Manu Ehlers – Dagmars Freundin

Dirk Westerholt – Mann von Adda

Hermann Selig – neuer Freund von Theda, Sohn der im 1. Band aus Schlesien vertriebenen Magda Selig

Hauke Theilen – Mitarbeiter auf dem Nordseehof

Micha Theilen – Sohn von Hauke

Sina Waldmann – Bekannte von Adda

Peter Bass – Bekannter von Adda

Hendrik Frisch – Bekannter von Adda

Irmi Brede – Freundin von Paul

Bauer Brede – Vater von Irmi

Andreas Walz (Andi) – Freund von Feemke

Mirko – Mitschüler von Feemke

Frau Dorndorf – Putzfrau von Dirk

Frau Müller – Sekretärin Schule

Frau Drabant – Lehrerin von Feemke

Maja, Matze, Jan, Imke – Kolleginnen und Kollegen von Adda

Tjade – Mitarbeiter von Irmi

1981–1982

Kapitel 1

Die Rosen sehen traurig aus, dachte Johanna, und das lag nicht nur daran, dass der Herbst das Land schon voll im Griff hatte und sie mit verzweifelter und letzter Kraft blühten. Der ganze Rosengarten wirkte vernachlässigt und brauchte dringend eine ordnende Hand, damit die Stöcke wieder in voller Pracht erstrahlen konnten. Sie sollte sich bald mal darum kümmern – nur wann?

»Oma!« Die Stimme ihrer Enkelin Feemke riss sie aus ihren Gedanken. »Ich hab dich schon überall gesucht!« Blonde Locken umtanzten das kleine erhitzte Gesicht.

»Ihr seid schon da?«, fragte Johanna erfreut und lief auf die Kleine zu, um sie in den Arm zu nehmen.

»Mama ist ganz schnell gefahren, weil sie ja gleich wieder los muss, um morgen zu demolieren!«, plapperte die Fünfjährige.

Johanna unterdrückte ein Kichern. Ihre Tochter Adda brachte Feemke vorbei, weil sie morgen nach Bonn zu der großen Friedensdemonstration fahren und die Kleine natürlich nicht mitnehmen wollte.

»Moin, Mama!«, sagte Adda, die nun ebenfalls in den Garten trat und auf ihre Mutter zueilte. Wie immer wirkte sie ein bisschen hektisch, das hatte sie sich angewöhnt, seit sie in der Großstadt lebte. Johanna wollte sie in den Arm nehmen, zuckte dann aber zurück, weil Adda das nicht mochte. Sie küsste ihre Mutter nur kurz auf die Wange und schaute sich nach Feemke um.

Johanna war bemüht, ihre Verletzung über die spröde Begrüßung ihrer Tochter nicht zu zeigen. Ihre Verbindung war schon immer problematisch gewesen, aber nachdem Adda erfahren hatte, dass nicht Johannas verstorbener Mann Eike, sondern ihre große Liebe Rolf Addas Vater war, hatte es einen tiefen Riss zwischen ihnen beiden gegeben.

»Möchtest du einen Tee? Du siehst müde aus«, fragte Johanna in der Hoffnung, dass Adda wenigstens ein bisschen Zeit mitgebracht hatte. Aber ihre Tochter schüttelte den Kopf. »Nein, mach dir bitte keine Mühe. Ich würde gern sofort wieder los.« Adda schaute Johanna an. Sie schien ihre Enttäuschung wohl doch zu bemerken. »Es tut mir leid, ich weiß, dass du es besser fändest, wenn ich ein bisschen bleiben würde, aber ich muss für morgen noch ein paar Sachen packen, und außerdem will ich zeitig ins Bett«, sagte sie entschuldigend.

»Ist schon gut. Für Feemke hast du alles dabei?«

Ihre Tochter nickte. »Die Tasche steht schon in der Küche auf der Bank.« Adda warf einen Blick zum Rosengarten. »Der hat echt auch schon bessere Tage gesehen! Ich würde ihn plattmachen.« Sie musterte ihre Mutter. »Okay, falsche Ansage. Du hängst daran, warum auch immer.«

»Ich mag diesen Teil des Gartens sehr«, bestätigte Johanna.

Adda zuckte mit den Schultern. »Musst du ja wissen. Dann hol dir einen Gärtner, es ist bestimmt mächtig viel Arbeit, ihn wieder in Ordnung zu bringen.«

Sie rief Feemke, die in den hinteren Bereich des Gartens gerannt war. Dort stand sie an der Graft und stocherte mit einem Stock im Wasser herum. »Süße, ich will los!«

Ihre Tochter drehte sich um, hüpfte auf sie zu, schlang die Arme um Addas Hals und küsste sie. »Ich wein auch nicht, weil ich nämlich gern auf dem Nordseehof bin. Du kannst ruhig fahren, Mami.«

»Ich weiß.« Adda gab Feemke einen liebevollen Klaps und lächelte, als sie schon wieder zum Wasser zurücklief und dabei merkwürdige Hopser machte.

»Sie ist ein bisschen zu gern hier«, sagte sie zu Johanna, die die beiden beobachtet hatte.

»Sei froh, so sind solche Übergaben problemlos. Du holst die Lütte am Sonntag wieder ab?«

Adda nickte. »Ich denke, ohne Dirk. Er wird wohl mal wieder mit anderen Dingen beschäftigt sein. Wie immer.«

Um Addas Mund legte sich kurz ein trauriger Zug, doch sie ließ ihn nicht lange zu und verzog das Gesicht sofort wieder zu einem Lächeln.

Johanna ahnte, dass die Ehe ihrer Tochter noch weiter Schlagseite bekommen hatte und das Kentern inzwischen absehbar war. Feemke erzählte oft, wie sehr der Haussegen in Bremen schief hing.

»Gut, ich muss dann los.« Adda schabte mit der Schuhspitze über den Boden. Es schien ihr unangenehm zu sein, ihr Kind immer nur auf dem Nordseehof abzuliefern und ihrer Mutter nicht das geben zu können, was sie sich so sehr wünschte. Vergebung.

»Ist alles gut, wir kommen schon klar, Feemke und ich«, baute Johanna ihr eine Brücke. Sie wollte es Adda so leicht wie möglich machen, Liebe konnte man schließlich nicht erzwingen.

Adda nickte ihr zum Abschied zu und wandte sich ab.

Im Garteneingang kam ihr Rolf Menzel entgegen. Ihr leiblicher Vater, den Adda aber nicht als solchen anerkannte. Sie kam immer noch nicht darüber hinweg, dass Johanna ihren Mann Eike, den Adda bis vor ein paar Jahren für ihren Vater gehalten hatte, vor so vielen Jahren mit Rolf betrogen hatte.

Und prompt traf ihn nun Addas vernichtender Blick. Sie würde ihm diesen Verrat wohl nie verzeihen. Immerhin begrüßte sie ihn knapp, bevor sie zum Hof eilte und kurz darauf mit lautem Geknatter davonfuhr.

Rolf sah ihr mit einem traurigen Blick nach, wandte sich dann aber Johanna zu, deren Haut noch immer kribbelte, wenn sie ihn sah.

»Hallo, Hanna.« So begrüßte er sie seit vielen Jahren, mit der Abkürzung ihres Namens – nur er durfte sie so nennen. Und mit dem Blick, der nur ihm gehörte, und einem Lächeln, das ehrlicher nicht sein konnte. Das Lächeln des Mannes, den sie seit ihrer Jugend liebte.

Er nahm sie in den Arm. Wie immer eine Spur zu lange und eine Spur zu fest. Wie immer fühlte es sich gut an. Und wie immer genoss Johanna jede Sekunde seiner Berührung.

Dann schob Rolf sie fort. Das lockige, schwarze Haar kräuselte sich an seinem Kopf, und er zeigte ihr erneut sein typisches Lächeln, das das Blau seiner Augen förmlich explodieren ließ. Dabei wurde Johanna mal wieder deutlich, wie sehr Adda ihm glich.

Rolf fuhr sich mit einer flüchtigen Handbewegung durchs Haar und strich eine Strähne zurück, die ihm in die Stirn gefallen war. Gleich würde er sich sacht über die Oberlippe lecken. Johanna kannte jede seiner Bewegungen, seine gesamte Mimik.

Rolf tat genau das, und dann schweifte sein Blick zu Feemke, die sich inzwischen mit einem Entenpaar unterhielt. Ihre helle Stimme klang bis zu ihnen herüber.

»Wenn ich groß bin, dann werde ich euch sagen, wo ihr schwimmen dürft, weil mir dann die Schäferei gehört.« Sie kicherte. »Und ich fahr ganz bestimmt nicht zu einer Demolation. Da sind mir zu viele Leute.«

Rolf grinste. »Sie hat immerhin Zukunftspläne, unsere Enkeltochter.«

Johanna drückte flüchtig seine Hand. Sie wusste, dass Rolf sehr darunter litt, nicht als wirklicher Opa für Feemke zu gelten. Adda wollte das nicht.

»Das hat sie, aber ich denke, es wird sich in ihrem jungen Leben noch so viel ändern. Immerhin wächst sie in Bremen auf. Aber was soll’s? Das ist alles noch Zukunftsmusik.«

»Fee?«, rief Rolf. Er nannte sie stets bei ihrem Spitznamen, und sie liebte es.

»Rolf!« Feemke ließ das Stöckchen fallen und stürzte auf ihn zu.

Er nahm sie hoch und drehte seine Enkelin ein paarmal im Kreis. »So fangen wir den Feenstaub ein«, sagte er lachend, als er sie wieder absetzte. »Weißt du, wo ich herkomme, in Schlesien, da gibt es große Wälder, und wenn ich früher abends dort war, schwirrten so viele kleine Feen herum, dass ich völlig geblendet wurde.«

»Und die hatten alle Feenstaub?«

Rolf nickte. »Aber sicher. Wir sind immer hindurchgelaufen, denn wenn man eine Menge davon erhält, hat man Glück im Leben.«

Feemke musterte ihn verständig. »Du hast viel abgekriegt, denn du hast Oma. Und sie dich. Dann muss es hier in der Marsch auch Feen geben.«

Johanna und Rolf warfen sich einen liebevollen Blick zu. Ja, sie hatten sich, wenn auch nicht als Mann und Frau. Johanna konnte und wollte das nicht zulassen, denn sie hatte ihrem verstorbenen Mann Eike gegenüber noch immer ein furchtbar schlechtes Gewissen und befürchtete zudem, das inzwischen einigermaßen belastbare Verhältnis zu Adda wieder vollends zu zerstören, wenn sie und Rolf offiziell ein Paar wurden.

»Ich hab Krintstuut gebacken«, sagte Rolf jetzt und beugte sich zu Feemke hinunter. »Er liegt schon in der Küche. Den magst du doch so gern. Wie alle Feenkinder.«

Die Kleine schob ihre Hand vertrauensvoll in die von Rolf.

»Au fein, dann los!«

»Geht schon mal rein«, schlug Johanna vor, »und brüht den Tee auf. Ich muss noch schnell in den Hühnerstall.«

Gemeinsam verließen sie den Garten. Während Feemke und Rolf auf das Wohnhaus zusteuerten, überquerte Johanna den Hof und schaute zum Himmel.

Die noch gestern dicken Regenwolken hatte der kräftige Oktoberwind fast vollständig vertrieben, und der Himmel wurde lediglich von ein paar zerrupften Wattebäuschchen geschmückt, die wie wilde, kleine Schäfchen über das Blau tobten. Johanna liebte das Spiel der Wolken, das Unstete und Unerwartete, das ihr aber zugleich Sicherheit vermittelte, weil die Natur eine Konstante in ihrem Leben war und ihr Halt gab.

Johanna betrat den Auslauf, scheuchte die Hühner in den Stall und mischte das Futter zusammen. Sie mochte diese Arbeit, weil sie ihr ruhig und vertraut von der Hand ging. Genau wie die mit den Schafen. Dafür lebte sie, dafür hatte sie so viel in Kauf genommen. Johanna richtete sich auf und stützte ihr Kreuz, das ihr so manches Mal vom Bücken wehtat.

Aus der Ferne hörte sie Feemke kichern. Sie sollte sich beeilen, damit sie noch in Ruhe Tee trinken konnten. Gegen Abend wollte sie mit ihrem Mitarbeiter Hauke zum Deich fahren und schauen, ob es den Tieren gut ging. Bestimmt fieberte Feemke schon darauf hin, mit in den Bulli zu steigen und ihre Freunde zu besuchen.

Johanna schaute sich prüfend um, ob alles in Ordnung war, dann trat sie hinaus und verschloss die Stalltür. Nicht mehr lange, und sie würden die Schafe von den Wiesen und vom Deich reinholen, und es war vorbei mit der Ruhe auf dem Hof.

Klare, würzige Herbstluft schlug Johanna entgegen. Feucht geschwängert, mit einem letzten Hauch vom Sommer, und doch hing schon der Duft des Vergehenden darin. Johanna liebte den Herbst, weil er ebenso bunt war wie der Frühling. Nur waren die Farben satter, wärmer und nicht mehr so mutig wie zu Beginn des Jahres, wenn sich die Natur gegen die Umklammerung des Winters wehrte und mit allem aufbot, was sie hatte. Der Herbst war ruhiger, ein bisschen reifer, so als wüsste er, dass jegliches Aufbegehren gegen den Verfall sinnlos wäre.

Sie genoss diesen kurzen Moment, stieg dann die Treppe zum Haupthaus hoch und ließ ihren Blick noch einmal über den Hof schweifen. Sie mochte den Anblick über das Gehöft, der sich hier von der Treppe aus bot. Rechts von ihr befand sich das Kontor, dahinter schloss sich die Scheune an. Links waren die Stallungen der Schafe, die Remise und die inzwischen leer stehenden Pferdeställe, in denen alle möglichen Gerätschaften untergebracht waren. Sie würde sich im nächsten Jahr von ein paar Dingen trennen müssen, wenn sie nicht wollte, dass diese Räumlichkeiten vermüllten.

Nun aber schnell rein in die Küche, dachte sie. Dort wartete der leckere Krintstuut. Er war sicher noch warm und würde dick mit Butter bestrichen köstlich sein. Johanna lief das Wasser im Mund zusammen, als sie sich vorstellte, wie sie auf die erste Rosine biss.

Zwei Tage mit Rolf und Feemke lagen vor ihr.

Ihre Enkelin hatte recht, auch sie hatte trotz allem eine gehörige Portion von diesem Zauberglücksstaub abbekommen.

Adda fuhr erschrocken hoch. Sie schaute auf die Uhr und sprang auf. Nein, sie hatte glücklicherweise nicht verschlafen, aber gleich würde ihr Wecker klingeln, also konnte sie auch schon aufstehen. Adda freute sich auf die große Friedensdemo gegen den NATO-Doppelbeschluss. Aktion Sühnezeichen und die Aktionsgemeinschaft Dienst für Frieden sowie viele weitere Bündnisse hatten zu der Demonstration aufgerufen, und natürlich führte für sie als Anhängerin der Friedensbewegung kein Weg daran vorbei, mitzumachen. Weil sie nicht allein fahren wollte, hatte Adda mit anderen Aktivisten eine Fahrgemeinschaft gebildet. Um sieben Uhr war Abfahrt am Bremer Hauptbahnhof.

»Dann beeil dich mal«, sagte Adda zu sich und setzte sich auf die Bettkante, wo sie sich kurz reckte, um richtig wach zu werden. Mann, war sie müde, obwohl sie als Krankenschwester das frühe Aufstehen doch gewohnt war. Trotzdem fiel es ihr oft schwer, denn es war anstrengend, Kind und Vollzeitjob unter einen Hut zu bekommen. Dazu noch ihre politischen Aktivitäten. Ein bisschen Ruhe und ein wirklich freies Wochenende wären wirklich mal gut gewesen. Aber es ging eben nicht. Adda stand auf, gähnte und fuhr sich mit den Händen durchs Haar.

Da hörte sie es in der Küche rumoren.

Dirk war auch an diesem Samstag wie immer schon um Punkt fünf aufgestanden. Dazu brauchte er nicht einmal einen Wecker, das bekam er auch so hin. Er hatte einen gleichmäßigen und unverrückbaren Tagesablauf. Nach dem Aufstehen stellte er die Kaffeemaschine an und ging ins Bad. Anschließend trank er zwei Tassen Kaffee mit etwas Milch, las den Politikteil der Zeitung und ließ sich dabei in der Regel von nichts stören. Diese frühe Morgenstunde war ihm heilig, und er reagierte stets unwirsch, wenn er sie nicht so verbringen konnte, wie er es sich angewöhnt hatte, seit er Teilhaber in der Anwaltskanzlei Evenburg&Partner war.

Bevor Adda sich anzog, schlurfte sie in die Küche. Dirk hatte sich hinter seiner Zeitung verschanzt und senkte sie auch nicht, als Adda hereinkam.

»Morgen«, begrüßte sie ihn betont freundlich.

»Morgen«, murmelte er.

Schweigen. Ihr Mann hatte mal wieder keine Lust, sich mit ihr zu unterhalten.

Adda zuckte mit den Schultern und trollte sich. Dann eben nicht. Vielleicht war er ja gesprächiger, wenn sie nicht im Schlabber-T-Shirt vor ihm stand. »Ich mag es nicht, wenn du dich so nachlässig kleidest«, hatte er erst letzte Woche zu ihr gesagt. Adda verdrehte noch immer die Augen, wenn sie an diese blöde Bemerkung dachte.

Hatte Dirk früher in einer absoluten Chaos-WG gelebt, wo, bis auf in seinem Zimmer, Sauberkeit und Ordnung Fremdwörter gewesen waren, so lebte er jetzt als Anwalt exakt das Gegenteil. Unordnung war ihm ein Graus. Seine Klamotten kamen nicht von der Stange oder aus einem Secondhandladen, sondern hatten Embleme von Armani und anderen teuren Firmen. In seinem Schrank herrschte geradezu militärischer Drill, so genau war jedes Shirt Kante auf Kante gefaltet. Adda durfte die Wäsche allenfalls aufs Bett, nicht aber in den Schrank legen. Seine Macken wurden wirklich immer schlimmer. Sie bekam eine leise Ahnung davon, wie er früher bei seinen Eltern gelebt haben mochte.

Adda ging ins Bad und putzte ihre Zähne. Als sie auch noch geduscht hatte, fühlte sie sich merklich wohler. Sie verbarg ihre feuchten Haare unter einem Handtuch, ging zurück ins Schlafzimmer und öffnete den Schrank. Sie war unschlüssig, was sie zur Demo tragen wollte. Am besten Zwiebellook. Schließlich konnte sie nicht sagen, wie warm es in Bonn sein würde.

Schließlich zupfte sie eine Flickenjeans, ein T-Shirt und einen Kapuzenpulli heraus und verteilte alles auf dem Bett. Die dicke Strickjacke wollte sie noch einpacken, falls es doch kühl wurde.

»Adda?«, hörte sie. Er spricht also doch mit mir, dachte sie gehässig.

»Ja?« Sie streckte den Kopf aus der Schlafzimmertür.

»Willst du noch frühstücken? Sonst räume ich jetzt alles weg.«

»Natürlich will ich was essen«, antwortete sie.

»Dann beeil dich. Ich möchte, dass es hier sauber ist, wenn ich gehe, und nicht wieder überall Krümel herumliegen!«

Adda stöhnte innerlich auf. Niemals hatten sie Spießer sein wollen, und nun?

Mein Mann ist zu einem Mr Perfektus mutiert, seit er in dieser blöden Kanzlei arbeitet, dachte sie. Und die Klienten sind zum Mittelpunkt seines Lebens geworden. Da blieb für sie und Feemke nicht mehr viel Platz.

Zu Beginn ihrer Beziehung hatten sie Träume gehabt, an die große Liebe geglaubt und sehr gut harmoniert. Mit einem warmen Gefühl erinnerte sich Adda an ihre erste Zeit. Damals, als er noch Feuer und Flamme gewesen war, wenn sie die Welt retten wollten. Flugblätter hatten sie konzipiert, an vielen Aktionen teilgenommen. Auch als Adda dann auf dem Nordseehof dieses schreckliche Erlebnis gehabt und sie zudem die Wahrheit über ihren leiblichen Vater erfahren hatte, war Dirk zur Stelle gewesen. Er hatte sich der Verantwortung gestellt, als sie nach dem zweiten Jahrhundertorkan, bei dem sie von Wassermassen umgeben in einem kleinen Haus im Kehdinger Land festsaßen, plötzlich schwanger geworden war, und Adda wusste auch, dass sie ohne ihn ihre Ausbildung zur Krankenschwester nie hätte vollenden können.

»Was ist denn nun?«, riss Dirk sie aus ihren Gedanken.

»Ich komm gleich!«, rief sie. »Muss noch packen!«

Sie überlegte, was noch dringend in den Rucksack gehörte, doch Dirks Stimme gewann an Schärfe. »Beeil dich bitte, ich möchte gleich los.«

Dass Dirk auch am Wochenende ständig in die Kanzlei fuhr, war ein häufiger Streitpunkt zwischen ihnen. Früher waren sie ein Dream-Team gewesen, von allen beneidet, weil bei den meisten keine Beziehung länger als ein halbes Jahr dauerte. Dirk war immer für sie da gewesen. Hatte Verständnis für alles gehabt, und sie hätte sich damals in ihren kühnsten Albträumen nicht ausmalen können, dass sich der Zustand einmal änderte.

Er war zu Beginn ein begeisterter Vater gewesen und hatte sein Studium ganz der Betreuung von Feemke untergeordnet. Und jetzt?

Was war in den letzten sechs Jahren nur aus ihnen geworden? Alles war anders, und ihr Glück schimmerte nur noch ab und zu und selten wie ein Nordlicht auf.

Seit zwei Jahren arbeitete Dirk in dieser Kanzlei. Rasch hatten seine Kollegen erkannt, wie zuverlässig und umsichtig er agierte, und schon nach einem halben Jahr war er Teilhaber geworden. Adda hatte sich so für ihn gefreut und noch immer das laute Ploppen des Sektkorkens im Ohr, als sie auf ihn angestoßen hatten. Und doch war es der Anfang vom Ende gewesen.

Dirks Haar war schon lange gestutzt, er trug Krawatte und Anzug. Schließlich vertrat er äußerst solvente Kunden. Wirtschaftsbonzen, gegen die er früher gekämpft hatte. Auf Demos ging ihr Mann schon lange nicht mehr, das passte nicht mit seinen neuen Zielen überein. Für Adda aber war das politische Engagement Lebenselixier. Sie war der Überzeugung, dass es die Pflicht eines jeden war, aufzubegehren.

Weil Dirk inzwischen ununterbrochen arbeitete, fehlte ihm die Zeit, sich um seine kleine Tochter zu kümmern, und den Haushalt überließ er meist auch Adda allein – wenn er nicht gerade rummotzte, dass sie die Bude nicht sauber genug hielt, und ihr hinterherputzte. Dirk drängte schon lange, eine Reinigungskraft einzustellen, aber Adda konnte sich überhaupt nicht vorstellen, dass ständig eine fremde Person in ihren Sachen herumkramte.

Sie seufzte. Wann war ihre Liebe unter dem Berg Bügelwäsche, den fruchtlosen Diskussionen und den Organisationszetteln begraben worden? Sie wusste es nicht.

Ihre Gefühle zueinander waren schleichend, fast unbemerkt gestorben. Wie eine Schnecke, die über den Weg kroch und der man keine Beachtung schenkte. Und doch kam sie voran und hatte plötzlich alles Grün vertilgt.

Sie und Dirk hatten nicht genug aufeinander achtgegeben und nicht rechtzeitig bemerkt, dass es schon lange kein Dream-Team mehr gab und sie das Ruder hätten herumreißen müssen.

Jetzt hockten sie in ihrer Wohnung in Bremen und achteten nur noch darauf, den anderen möglichst wenig zu verletzen. Leider gelang es ihnen immer weniger. Die Pfeile flogen inzwischen recht treffsicher, und oft verfehlten sie das anvisierte Ziel nicht.

Feemke spürte natürlich, wie uneins sich ihre Eltern waren. Sie wurde immer stiller und in sich gekehrter. Die Erzieherin im Kinderladen hatte Adda schon des Öfteren darauf angesprochen. »Sie spielt am liebsten mit sich allein und weint oft grundlos. Das wird in der Schule im nächsten Jahr schwierig, Frau Westerholt. Feemke fehlt es an Selbstbewusstsein.« Sie schob es im Nachsatz auf Addas Berufstätigkeit und den Schichtdienst. Dass Dirk Vollzeit in der Kanzlei arbeitete und sich sogar an den Wochenenden Arbeit mit nach Hause brachte oder im Büro war, hinterfragte sie nicht.

Alle reden zwar von Emanzipation, aber das gilt immer nur, solange keine Kinder da sind. Kaum ist das der Fall, erwarten alle, dass Mutti wieder die Schürze umbindet, dachte Adda. Auch die Erzieherin war kinderlos, und so hatte sie es leicht, an Adda herumzumäkeln. Doch jetzt war nicht die Zeit, sich darüber zu grämen. Heute war die Demo! Heute hatte Adda frei, und sie wollte es genießen.

»Die Kaffeemaschine stell ich schon aus und mach alles sauber!«, rief Dirk.

»In Ordnung, ich trinke Tee!«, rief Adda zurück und hörte, wie Dirk den Wasserhahn anstellte.

Addas dunkle Locken waren zwar noch nass, aber sie würden im Laufe der nächsten Stunden von allein trocknen. Deshalb fasste sie ihre Mähne mit einem Haargummi zu einem Pferdeschwanz zusammen und schlang ein schmales Tuch um den Kopf.

Sie stieß die Tür zur Küche erneut auf. Dirk räumte gerade seinen Teller in die Spülmaschine, die Arbeitsplatte glänzte feucht. Er wies auf das Toastbrot auf ihrem Teller. Er hatte sogar etwas Butter darauf geschmiert.

»Ich habe noch immer zwei gesunde Hände«, sagte Adda, denn sie wusste, dass es keine liebevolle Geste gewesen war.

»Du hast so getrödelt«, verteidigte er sich.

»Wohl kaum, ich muss ja auch pünktlich los.« Adda schnaubte. »Übrigens danke der Nachfrage, Dirk. Ja, ich habe gut geschlafen und fühle mich fit genug für die Fahrt nach Bonn und für die Demo.« Adda nahm einen Becher und setzte sich an den Tisch. Dort griff sie nach der Kaffeekanne, die noch auf dem Bastuntersetzer stand.

»Ist leer, du wolltest doch Tee«, sagte Dirk.

»Schon gut.« Adda stellte den Wasserkocher an und nahm den Teebeutel entgegen, den Dirk ihr hinhielt.

Er setzte sich wieder an den Tisch und griff erneut nach der Zeitung, die so akkurat zusammengefaltet war, dass sie aussah, als hätte sie noch keiner gelesen. Dirk schlug sie aber nicht auf, und es schien Adda, als müsste er sich an etwas festhalten.

»Wenn du da heute unbedingt hinwillst, bitte. Du weißt, dass ich dich nicht davon abhalte. Aber ich muss Geld verdienen. Auch am Wochenende.«

Er klang merkwürdig. Zu lässig. Zu betont geschäftstüchtig. Und er sah sie nicht an. Das alles machte Adda stutzig. Sie hatte Dirk eigentlich gebeten, an diesem Wochenende auf Feemke achtzugeben, doch wie immer war ihm seine Arbeit wichtiger.

»Dirk«, begann Adda ebenso betont ruhig, »ich habe Feemke gestern nach der Arbeit extra zu meiner Mutter gebracht, damit ich dieses Wochenende nach Bonn fahren kann. Es wäre aber deine Aufgabe gewesen, dich um sie zu kümmern. Deine Kollegen haben auch Familie und sind nicht ununterbrochen in der Kanzlei.«

Dirk reagierte zwar nicht, aber seine Hände umklammerten das Papier der Zeitung ein bisschen zu fest.

Mit ihm stimmte etwas nicht!

»Du hättest den Tag heute mit Feemke verbringen können. Aber nein, auch am Samstag muss der Herr Anwalt arbeiten. Ein Hoch auf die Kanzlei Evenburg&Partner.«

Dirk hatte jetzt kleine Schweißperlen auf der Stirn. »Hätte ich gern gemacht, aber es gibt berufliche Termine, die sich nicht aufschieben lassen. Wenn du Nachtwache hast, gehst du schließlich auch hin, und Adda muss betreut werden. Auch am Wochenende. Dein Schichtdienst ist also in Ordnung, arbeite ich, bin ich ein Macho. Habe verstanden.«

Adda fühlte sich in die Ecke gedrängt. Wie immer, wenn sie mit Dirk diskutierte. Er war so viel wortgewandter als sie. Ihr Versuch, sich zu wehren, war daher eher ein hilfloses Unterfangen. »Du bist aber gar nicht mehr für uns da …«

Dirk lächelte süffisant. »Du fährst heute zur Demo und hast unsere Tochter zu deiner Mutter gebracht. Warum bist du denn am Wochenende nicht zu Hause, wenn du mal frei und keinen Dienst hast? Am Nachmittag komme ich immerhin zurück und hätte mich um Feemke kümmern können. Oder was mit euch beiden unternehmen.« Dirk legte die Zeitung auf den Tisch. »Adda, hör bitte mit den Vorwürfen auf. Das bringt uns nicht weiter. Ich gehe meinen Weg, und du tust das, was du für richtig hältst. Wo bitte liegt das Problem? Feemke kommt schon klar, sie kennt es ja nicht anders.«

Adda wurde bei seinen Worten richtig sauer. »Warum interessierst du dich nie mehr für mich und für das, was mich begeistert?«, fragte sie. »Kein einziges Mal tust du das.«

»Gegenfrage: Was ist mit dir? Nein, alles, was mit der Kanzlei zusammenhängt, findest du spießig und langweilig. Dabei verdiene ich damit das Geld, von dem wir in dieser tollen Wohnung leben können. Sieh dich doch um, was wir alles haben!« Er machte eine ausladende Handbewegung.

Ja, sie hatten es schön. Ihre Wohnung lag in einem exklusiven Jugendstilhaus im Bremer Bezirk Schwachhausen. Sie zog sich über eine Wohnfläche von hundert Quadratmetern, und sie besaßen sogar eine Terrasse, über die sie in einen kleinen, sonnigen Garten gelangten.

»Was willst du eigentlich, Adda Westerholt? Etwa zurück auf den Nordseehof und Schafe scheren?« Er grinste.

»Du bist so gemein! Ich will Zeit! Mit dir und Feemke! Was nützt das ganze Geld, wenn du gar nicht mehr weißt, wer wir sind!«

Dirk rollte die Zeitung zusammen. »Du bist kindisch«, sagte er, stand auf und ging zum Flurspiegel, wo er seine Krawatte so lange zurechtrückte, bis sie exakt in der Mitte saß. Danach griff er zu seinem Sakko, das auf einem Bügel an der Flurgarderobe hing, und legte es sorgfältig in die Armbeuge.

Adda blieb sitzen und schaute ihrem Mann zu. Ihr gingen diese peniblen Kleinigkeiten unglaublich auf die Nerven. Sie presste allerdings die Lippen zusammen, damit keine Bösartigkeiten darüberglitten, denn sie wollte keinen weiteren Streit. Sie war des Ganzen müde und fühlte sich maßlos überfordert.

Dirk atmete einmal schwer ein und schaute zu ihr herüber. »Hätte denn Deike keine Zeit gehabt? Dann wäre Feemke am Abend zu Hause gewesen.« Er klang versöhnlicher, und Adda versuchte ein Lächeln. So war es immer. Erst griffen sie sich gegenseitig an, dann trafen sie sich in der Mitte, und es schien, als wäre nichts passiert. Adda kam es vor, als würden sie einfach ein Laken über ihren Problemen ausbreiten, und lag es erst dort, taten sie alles, um es nicht zu beschmutzen.

»Warum konnte Deike denn nicht aufpassen?«, hakte Dirk nach.

»Die muss heute zur Aerobic, ihre komische Popper-Frisur stylen oder sonst was.« Auch das klang härter als beabsichtigt, aber ihre Freundschaft wurde derzeit ebenfalls auf eine harte Probe gestellt. Ihre Großcousine Deike war die Tochter von Addas Tante Theda, die zusammen mit Ingo auf dem Eilershof lebte. Sie war einmal ihre beste Freundin gewesen, und sie hatten viel zusammen unternommen und gemein gehabt, doch nun hatte sie sich endgültig der Mode verschrieben. Deike trug neuerdings karierte Karottenhosen und Poloshirts von Benetton und Burlington. Ihre blonden Haare hatte sie zu dieser merkwürdigen Frisur schneiden lassen, bei der eine Strähne die gesamte Gesichtshälfte verdeckte. Deike hatte sich vollends von der Politik abgewandt, sie debattierte nur noch über die aktuellen Modefarben, wobei sie am liebsten Senftöne trug, die ihr Gesicht aber fahl wirken ließen.

Adda seufzte laut. War nur sie noch die Alte? Oder eher die, die stehen geblieben war und sich nicht weiterentwickelt hatte?

Dirk wirkte unschlüssig, ob er gehen sollte oder nicht. Er legte das Sakko auf die Kommode und kam noch einmal in die Küche zurück. Mit einer unsicher wirkenden Geste legte er seine Hände auf Addas Schultern und sah sie an. Nicht liebevoll, nicht so, wie ein Mann seine Frau ansehen sollte. Es war eher ein schulmeisterlicher Blick, der aber freundlich wirken sollte. So, wie er vermutlich schaute, wenn er einem Klienten etwas erklärte oder einen Zeugen zurechtwies.

»Hör mir mal bitte zu, Adda. Ich finde es kindisch, wenn du mit deinen sechsundzwanzig Jahren noch immer wie eine Studentin auf Demos herumspazierst und dafür sogar dein Kind nach Ostfriesland zu deiner Mutter bringst. Wir haben als junge Familie doch ganz andere Probleme.«

»Ja, Geld verdienen und Nest bauen …«

»Zum Beispiel. Adda, es geht so nicht weiter. Ich komme bei dir manchmal nicht mehr mit.« Er schluckte und wurde ein bisschen rot, aber wie immer hatte er sich schnell wieder in der Gewalt. »Lass uns in Ruhe reden, wenn du zurück bist. Weißt du schon, wie spät es wird?«

Adda wischte seine Hände von ihren Schultern. »Ich kann nicht sagen, wie lange wir für den Rückweg brauchen. Aber ja, ich komme in der Nacht zurück.«

Dirk sah auf die Uhr. »Denk bitte mal darüber nach, ob du dich immer richtig verhältst mit deiner ewigen Art, gegen alles und jeden zu sein.«

»Ich muss nun mal laut werden, wenn mir etwas gegen den Strich geht. Im übertragenen Sinne, meine ich. Ich muss mich wehren! Das weißt du doch!«

»Ach, Adda«, erwiderte Dirk kopfschüttelnd. »Werde erwachsen und mach deine Umwelt nicht ständig für alles verantwortlich, was bei dir gerade schiefläuft. Das hast du dir in den letzten Jahren so richtig angewöhnt. Ich glaube, du schiebst die Demos nur vor, weil du vor lauter Ohnmacht glaubst, alles bekämpfen zu müssen. Das ist für mich auf Dauer sehr schwierig«, fügte er leise hinzu und senkte den Blick.

Adda fand seine Worte unverschämt, aber bevor sie ihm widersprechen konnte, redete Dirk schon in normalem Tonfall weiter. »Du kannst nur bei dir selbst anfangen, die Welt zu verändern! Vielleicht solltest du in deinem Leben mal aufräumen und dich mit einigen Menschen aussöhnen, anstatt dich immer nur aufzulehnen. Du kommst mir ein bisschen vor wie Don Quichotte bei seinem Kampf gegen die Windmühlen.« Er hauchte ihr einen Kuss auf die Wange, aber es wirkte wieder nicht besonders liebevoll. Eher beiläufig, weil man den Ehepartner eben küsste, wenn man ging. »Ich muss jetzt wirklich los. Und du auch!« Dirk hatte den Türgriff schon in der Hand.

Adda saß wie erstarrt da. Seine Worte hatten sie tief getroffen. Was, wenn er recht hatte?

Waren ihre flammenden Reden nur eine Flucht davor, sich mit den vielen Baustellen in ihrem Leben auseinanderzusetzen? Ging es ihr in Wirklichkeit darum, den Schmerz, der ihr zugefügt worden war, zu kanalisieren?

Nein, sie wollte darüber jetzt nicht nachdenken. Trotzig brach es aus ihr heraus: »Morgen früh brauche ich den Wagen, um Feemke abzuholen. Sieh zu, dass er dann dasteht.«

»Dann reden wir morgen Abend, wenn Feemke schläft. Ich will das nicht mehr so, und zwischen Tür und Angel halte ich ein Gespräch für sinnlos.« Dirk kam erneut zurück in die Küche, stand unschlüssig vor Adda. Plötzlich riss er sie an sich, drückte sie und rannte dann aus der Wohnung. Täuschte sie sich, oder hatte er feuchte Augen?

Adda starrte noch eine ganze Weile auf die geschlossene Tür. Seine Worte, seine Geste hatten ein furchtbares Rumoren in ihrer Seele ausgelöst. Ihr war plötzlich übel, das Herz raste, und ihr Bauch krampfte sich zusammen. Dirk hatte recht. Sie liefen auf ein unglaubliches Ehedesaster zu. Nein, sie steckten mittendrin, und wenn sie nicht aufpassten, würden sie den Ausgang aus diesem Labyrinth nicht finden.

Es dauerte eine Weile, ehe Adda sich beruhigt hatte. Um ihr Herzklopfen einzudämmen, holte sie mechanisch zwei weitere Toastbrote hervor, belegte sie mit Käse und wickelte sie in Pergamentpapier ein. Im Kühlschrank fand Adda noch zwei Caprisonnen. Das musste für heute reichen. Notfalls gab es bei der Demo bestimmt eine Bratwurst zu kaufen. Dann räumte sie den Teller und den Becher in die Spülmaschine und wischte den Tisch ab. Nun sah die Küche wieder manierlich aus, und Dirk würde nicht meckern können.

Adda ging ins Schlafzimmer, nahm die beigefarbene Strickjacke aus dem Schrank, griff nach dem bunt bestickten Rucksack, in dem sie ihr Portemonnaie und ihre Papiere aufbewahrte, und sah sich prüfend um.

»Häusliche Spießerordnung neben Demo«, sagte sie leise zu sich. »Was passt hier nicht?«

Adda verließ die Wohnung, schlug die Tür hinter sich zu, trat auf die Straße und sah auf ihre Armbanduhr. Wenn sie sich sputete, konnte sie eine Straßenbahn eher fahren. Sie sprintete los, denn im Augenblick tat es gut, möglichst viel Abstand zwischen sich und ihre Wohnung zu bekommen.

Adda hatte Glück und erreichte die Straßenbahn gerade noch. In letzter Sekunde sprang sie durch die geöffnete Tür. Um diese Zeit war noch nicht viel los, und sie setzte sich schwer atmend auf eine Sitzbank.

Die Fahrt dauerte nicht lange. Schon bald hatte die Bahn den Hauptbahnhof erreicht und hielt mit einem Ruck an.

Adda eilte auf den Bahnhofsvorplatz zu. Sie musste daran denken, wie verloren sie sich in Bremen gefühlt hatte, als sie vor vielen Jahren zusammen mit ihrer Freundin Deike aus dem Bahnhofsgebäude getreten war. Zum ersten Mal hatte sie damals ihr Dorf Neusiel und die Schäferei verlassen – und war gleich in eine so große Stadt wie Bremen gezogen. Der Unterschied zum dörflichen Leben war so gewaltig gewesen, dass sie auch nach Afrika hätte reisen können, um ein ähnlich fremdes Umfeld zu haben. Doch sie hatte fortgemusst aus der Enge des ländlichen Lebens und sich derart schnell in der Großstadt eingewöhnt, dass es sie selbst verwundert hatte.

Jedes Mal, wenn Adda sich in der Innenstadt Bremens aufhielt, war sie erstaunt, wie sehr hier das Leben pulsierte. Sogar so früh an einem Samstagmorgen rollte der Verkehr. Irgendwo hupte ein Auto, und wie als Antwort darauf klingelte eine der Straßenbahnen. Es roch nach Diesel und dem Gemisch der Zweitakter, denn es waren auch viele Mofas unterwegs. Adda liebte die Geräusche und fühlte sich wie von dem Lied der Stadt getragen.

Sie konnte bis heute keine Schafe mehr sehen und den Namen Nordseehof, dem alles untergeordnet war, nicht mehr hören. Nichts zog sie dorthin zurück.

Sie steuerte das Überseemuseum an, zu dem etliche Stufen hinaufführten. Sie hatte sich mit der Fahrgemeinschaft auf dem Vorplatz verabredet.

Die drei Mitfahrer standen schon da und rauchten. Sie wirkten arg übernächtigt. Adda hoffte, dass ihr Fahrer Peter Bass trotzdem eine gute Nacht gehabt hatte.

»Hi, da kommt Adda ja«, sagte er lächelnd. Ihm gehörte der orangefarbige VW Käfer, in dem er sie nach Bonn kutschieren wollte. Er war derart mit Aufklebern übersät, dass man die Farbe nur noch schwerlich erkennen konnte. Slogans wie Atomkraft – Nein danke und AKW-Nee wechselten sich ab mit Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin und anderen Motiven wie dem Konterfei von Che Guevara und der weißen Friedenstaube auf blauem Hintergrund.

»So sieht man den Rost nicht«, hatte Peter Adda mal erklärt. »Allerdings imponiert das dem TÜV leider gar nicht. Bin schon einmal durchgefallen, aber nun wird es klappen. Hab ein bisschen nachgespachtelt.«

Neben Peter standen Sina Waldmann und Hendrik Frisch. Sie schliefen zusammen, hatten aber keine »spießige Beziehungskiste«, wie sie es ausdrückten. Das hatte Adda bei einer der letzten Feten zu spüren bekommen, als Hendrik unbedingt mit ihr ins Bett wollte, weil Sina mit einem anderen Typen beschäftigt war. »Kommt nur darauf an, dass man sich geistig treu ist«, erklärten sie wieder und wieder. Fast so, als müssten sie sich selbst davon überzeugen. Adda konnte mit dieser Haltung nichts anfangen, da war sie wohl doch zu sehr von den konservativen Vorstellungen auf dem Land geprägt. Und von dem, was ihr wegen des Betrugs durch ihre Mutter widerfahren war. Wenn sie mit jemandem liiert war, dann ganz – oder sie ließ es.

»Hallo, Anwaltsgattin«, frotzelte Hendrik. Er trug wie immer seine Flickenjeans und dazu ein kariertes Hemd. Das aschblonde Haar hatte er zu einem lockeren Zopf zusammengebunden. Dass Adda ihm einen Korb gegeben hatte, konnte er ihr offenbar nicht verzeihen, denn er griff sie bei jedem ihrer Treffen an und bohrte in der Wunde, die ihr wehtat. Sie, die ältere Adda, die jenseits der Demos und Aktionen in ihrem spießigen Leben verhaftet war.

Hendrik sog an der Zigarette. »Hätte nicht gedacht, dass du wirklich kommst und in einem VW Käfer nach Bonn reisen möchtest. Das Gefährt parkt hinter dem Museum im Verborgenen. Ist schließlich kein Audi-Anwaltsschlitten.« Er machte eine ausladende Handbewegung.

Adda biss sich auf die Unterlippe, um das Gesagte nicht zu kommentieren. Sie mochte es nicht, wenn man sie als Anwaltsgattin bezeichnete, und schon gar nicht, wenn man sie dezent darauf hinwies, dass ein VW Käfer eigentlich unter ihrem Niveau war. Adda fand Dirks Wagen selbst zu protzig. Niemals hätte sie vorgeschlagen, damit auf eine Demo zu fahren, auch wenn es ein viel bequemeres Fahrzeug war. Doch bei ihren Aktionen ging es ja unterschwellig nicht nur um den Frieden, sondern auch darum, sich nicht gemein zu machen mit den Kapitalisten und der Rüstungsindustrie.

Dirk hätte sie damals ausgelacht, wenn sie ihm erzählt hätte, dass sie einmal genau dieses Problem haben würden. Er, der Anwalt, der sich heute mit Klienten aus der Wirtschaft schmückte und mit seinen Honoraren ihre feudale Wohnung finanzierte.

Ihr Mann versteckte sich hinter der Argumentation, als Vater dafür verantwortlich zu sein, dass sein Kind in einem gewissen Wohlstand aufwachsen konnte. Adda fand jedoch nach wie vor, dass Geld im Leben eine sekundäre Rolle spielen sollte und man sich nicht alles leisten können musste. Hauptsache, es herrschte Frieden und ein gutes Miteinander. Sie straffte die Schultern. Jetzt nicht schon wieder über ihren Mann nachdenken. Das konnte sie heute Nacht tun, wenn sie zurück war. Der Tag heute gehörte erst einmal ihr.

»Let’s go!«, sagte Peter. »Damit wir Coretta King oder den Böll nicht verpassen!«

Adda wischte alle finsteren Gedanken weg und beschloss, sich auf den Tag in Bonn zu freuen.

Sie umrundeten das Museumsgebäude, bis sie bei Peters Auto angelangt waren. Adda setzte sich mit Sina auf die Rückbank, während Hendrik vorn neben Peter Platz nahm. Der steckte eine Kassette ins Autoradio, und sofort wurden sie von den Klängen von Pink Floyd überspült. Adda mochte die Band, und von der Platte The Wall liebte sie den Song Run Like Hell am meisten. Vielleicht, weil sie sich im Augenblick ähnlich fühlte.

Adda schloss die Augen und versuchte ein bisschen zu schlafen, damit sie nicht nachdenken musste. Deshalb bekam sie nur am Rande mit, dass Sina sich während der Fahrt übergab und sie an der Raststätte Dammer Berge kurz anhalten mussten, damit sie sich säubern konnte.

Kapitel 2

Paul Ehlers liebte den Samstagmorgen, weil er das ganze Wochenende vor sich hatte. Er stellte die Kaffeemaschine an und sah auf die Uhr. Es war gerade zehn, und er konnte in Ruhe frühstücken. Paul lebte seit zwei Jahren in einer Oberwohnung in Horsten in der Kirchstraße und betrieb als Hobby eine kleine Motorradwerkstatt. Seinen Porsche hatte er gegen einen Kleinwagen getauscht und fuhr seit einiger Zeit zudem eine Harley Electra Glide. Es war ein wunderbares Modell. Ganz in Beige gehalten, mächtige Schutzbleche, dazu schwarze Ledersitze. Seine Maschine hatte sogar ein Windshield. Ein absolutes Traummodell, um das ihn viele beneideten. Vor allem die jungen Frauen mochten Männer mit dicken Maschinen, und noch mehr, wenn diese ordentlich knatterten. Es gab Tricks genug, wie er das ein bisschen forcieren konnte. Meist blieb es allerdings bei der Bewunderung, denn Paul war nicht sehr geschickt, wenn es ums Flirten ging. Meist sagte er das Falsche, oder ihm passierte ein schreckliches Missgeschick, wenn er sich mit einer Frau traf. Entweder warf er sein eigenes Glas um oder schlimmer noch: Er verschüttete den Inhalt über der Hose der Frau.

Allerdings gab es eine, die er gern näher kennengelernt hätte, und das war Irmi Brede, die am Deich in Petersgroden am Jadebusen lebte. Aber er wagte nicht, sie anzusprechen, aus Angst, wieder zu versagen. Sie war eine Bauerntochter und hatte so viele Sommersprossen, dass Paul am liebsten jede einzelne gezählt hätte, nur um ihr nah zu sein. Er war fasziniert von ihren feuerroten, schulterlangen Haaren, die sich an keiner einzigen Stelle kräuselten. Für ihn war sie die schönste Frau, die ihm seit Langem begegnet war, und er dachte oft an sie.

Paul hoffte, dass seine Zeit kommen würde. Denn er war sich sicher, dass Irmi ihn, wenn sie sich trafen, länger ansah als nötig, und war das nicht ein gutes Zeichen? Er würde abwarten, ausharren, und wenn er sich sicher war, wollte er sie fragen, ob sie Lust hätte, mit ihm Motorrad zu fahren. Gut, das war keine besonders originelle Idee, aber die meisten Frauen fanden Motorräder aufregend. Die Harley war also sein einziger Trumpf.

Seit Paul vor sechs Jahren in der Versicherung Fuß gefasst hatte und sich deshalb viele Dinge leisten konnte, hatte er das Gefühl, in seinem Leben angekommen zu sein. Längst musste er nicht mehr seiner Mutter auf der Tasche liegen, und auch das war erleichternd, denn Manu hatte gesundheitliche Probleme und konnte nicht mehr in Vollzeit arbeiten.

Leider hatten sie sich aber noch mehr auseinandergelebt. Seine Mutter verstand einfach nicht, warum Paul sich in Ostfriesland niedergelassen hatte und nicht mehr im Pott leben wollte. »Das ist da doch die pure Provinz!«, sagte sie ein ums andere Mal in abfälligem Tonfall. Sie hatte zwar recht, aber Paul kam mit dem ruhigen und besonnenen Menschenschlag an der Küste besser zurecht als mit dem im Ruhrgebiet. Außerdem lebten Johanna und Rolf hier, und bei ihnen fühlte er sich wohl.

Nachdem der Kaffee durchgelaufen war, nahm Paul die Kanne von der Heizplatte und schenkte sich eine Tasse ein. Ihm ging es verdammt gut in dieser Wohnung. In diesem Dorf mit den überschaubaren Strukturen und mit freundlichen Menschen, die ihm aber nie zu nah kamen.

Dank seines Einkommens kam Paul sich sogar ein bisschen reich vor. In seiner Küche gab es eine Spülmaschine, die Fronten waren hellbraun und mit hellem Kiefernfurnier abgesetzt. Die Fliesen schmückten braune Ornamente. Sein Bad war nagelneu und grün gefliest. Auch Waschbecken, WC und Dusche hatten dieselbe Farbe. Sein Bett nebst Kleiderschrank standen in einem kleinen Schlafzimmer, sein Wohnzimmer hatte eine Dachschräge, was dem Raum aber Gemütlichkeit verlieh. Überall dominierten moderne, dunkle Möbel. Alles hatte er sich neu kaufen können, und es gefiel ihm bis zum letzten Bilderrahmen.

Paul seufzte. Alles könnte so wunderbar sein …

Aber dann hatte Rolfs Ex-Frau Dagmar, die seit ihrer Trennung eigentlich bei seiner Mutter lebte, gestern Abend bei ihm vor der Tür gestanden und sich in den Kopf gesetzt hierzubleiben. Sie kannten sich schon seit seiner Kindheit, weil sie die beste Freundin seiner Mutter war. Und früher – da war er oft zu ihr und Rolf geflüchtet. Deshalb brachte er es jetzt nicht übers Herz, sie in eine Pension oder in ein Hotel zu schicken. Zumal Dagmar hatte durchklingen lassen, dass sie momentan arbeitslos und deshalb finanziell recht klamm war. Irgendwie hatte es Streit zwischen ihr und seiner Mutter gegeben.

»Manu braucht mehr Ruhe. Und ich brauche ein bisschen Abstand zum Pott. Außerdem muss ich mit Rolf reden«, hatte Dagmar ihre Ausführungen geschlossen. Paul ahnte, dass sie plötzlich auf die Idee gekommen war, ihren Mann zurückzuerobern.

Paul hoffte eigentlich, dass sie es sich anders überlegte und wieder verschwand, denn sie mochte Ostfriesland ebenso wenig wie Manu. Darin waren sie sich immer einig gewesen. Dagmar war anstrengend, launisch, und man wusste bei ihr nie genau, woran man war. Auch ihr spontaner Entschluss, jetzt nach Ostfriesland zu kommen, passte dazu.

Gerade betrat sie die Küche. Ihre Augen glänzten ein bisschen zu arg, und Paul beschlich das ungute Gefühl, sie könnte wieder getrunken haben. Schon früher hatte Dagmar dem Alkohol zu viel und zu gern zugesprochen. Paul befürchtete, auch das konnte ein Grund für das Zerwürfnis mit seiner Mutter sein.

Dagmars Gesicht erhellte sich, als sie sah, dass die Kanne mit dem Kaffee schon auf dem Tisch stand. »Es duftet nach einem guten Morgen!« Sie nahm sich eine Tasse aus dem Schrank. Dabei bewegte sie sich in Pauls Wohnung mit einer Selbstverständlichkeit, die ihn abstieß. »So einen Koffeinkick kann ich brauchen. Heute fahre ich zu meinem Menzelchen.«

Sie sagt immer noch Menzelchen anstelle von Rolf, dachte Paul. Er sah Dagmar mit festem Blick an. »Lass es bitte! Deinem Ex-Mann« – er betonte das Ex besonders – »geht es gut in seinem kleinen Landarbeiterhaus. Ihr seid beide über die Trennung hinweg, warum also willst du alte Wunden aufreißen und ihn besuchen? Ihr habt euch Jahre nicht gesehen. Wozu soll das gut sein, Dagmar?«

»Wozu das gut sein soll?«, wiederholte Dagmar lapidar. »Ich will ihn zurück, ganz einfach.«

Paul schlug verärgert mit der Hand auf die Tischplatte. Hatte er es doch gewusst! »Wie – du willst ihn zurück? Das geht nicht!«

»Klar geht das.« Dagmar setzte sich und schlug graziös die Beine übereinander. Sie war mit ihren fünfzig Jahren noch immer eine attraktive Frau, die sich gut in Pose setzen konnte. Ihr dunkles, kurz geschnittenes Haar war nur von wenigen grauen Strähnen durchzogen, und im Gegensatz zu vielen anderen Frauen ihres Alters hatte sie kaum Bauch oder andere Speckröllchen. Sie schenkte sich Kaffee ein und sagte: »Diese Johanna will ihn schließlich nicht, und ich brauche wieder einen Mann, jetzt, wo Manu und ich nicht mehr in unserer Frauen-WG wohnen können. So ohne Gesellschaft gefällt es mir aber nicht. Und die Kerle, die ich zwischendurch kriegen konnte, kommen an mein Menzelchen nicht heran. Ich vermisse ihn. Wie sehr, das glaubst du gar nicht.« Dagmar nahm mit gespitzten Lippen einen Schluck Kaffee, verzog das Gesicht und gab etwas Zucker und Milch dazu. »Da steht ja der Löffel drin! Machst du ihn immer so stark?«

Paul ignorierte die Frage, Dagmar musste seinen Kaffee ja nicht trinken und konnte in ein Hotel oder eine Pension gehen.

»Du könntest dich auch um Manu kümmern, statt abzuhauen, weil sie dich nicht mehr bemuttern kann«, sagte Paul.

»Das will ich aber nicht. Ich bin keine Krankenschwester, und deine Mutter und ich sind übereingekommen, dass es so besser ist. Wir wollen uns eigentlich nicht streiten, aber jetzt, wo sie nicht mehr richtig arbeiten kann, ist sie ein wenig unleidlich geworden.« Dagmar rührte den Kaffee, der von der Milch eine hellbraune Farbe angenommen hatte. »Wenn du etwas öfter in Oberhausen gewesen wärst, wüsstest du das.«

Der Seitenhieb saß, denn Paul hatte durchaus ein schlechtes Gewissen, weil er so selten zu seiner Mutter fuhr. Nur fand er die beiden Frauen auf Dauer sehr anstrengend. Früher, da war Dagmar so etwas wie eine Vertraute für ihn, den verlorenen Paul, gewesen. Aber das war lange her. Manchmal fand er es erschreckend, wie sehr sich nicht nur die Welt, sondern auch die Menschen ringsum verändert hatten.

Er trank ebenfalls einen Schluck, war aber unsicher, was er zu Dagmar sagen sollte.

Sie war offenbar jetzt mit dem Kaffee zufrieden und trank die Tasse rasch leer. »Ich fahre gleich nach dem Minifrühstück zu Menzelchen«, sagte sie. »Ich glaube, er wird sich freuen, schließlich ist er genauso allein wie ich – wo Johanna ihn hinhält.«

»Woher weißt du das eigentlich alles?«, fragte Paul.

»Tja …«, begann Dagmar lang gezogen, »ab und zu telefonieren wir. So als alte Liebende.«

Paul runzelte bei den Worten kritisch die Stirn. Er war sich sicher, dass Rolf über diesen Besuch keineswegs begeistert sein würde. Auch wenn er nicht mit Johanna zusammen war, so liebte er sie doch, und umgekehrt verhielt es sich ebenso. Das war unübersehbar. Warum sollte er sich also wieder mit Dagmar einlassen, zumal ihre Ehe eine einziges Auf und Ab gewesen war und sie sich am Ende nicht mehr viel zu sagen hatten, ja Dagmar ihn sogar ziemlich attackiert hatte? So ähnlich hatte es ihm Rolf einmal mit wenigen Sätzen erklärt. Ansonsten sprach er nie über seine Zeit mit Dagmar, weder im Guten noch im Schlechten. Rolf war ein feiner Kerl, meist gut gelaunt, und doch wirkte er auf Paul oft still und in sich gekehrt, vor allem, wenn er sich unbeobachtet glaubte. In diesen Momenten verblassten seine sonst so strahlenden Augen, als hätte jemand das Licht ausgeknipst. Paul ahnte, dass diese innere Trauer mit Johanna zusammenhing, denn war Rolf in ihrer Nähe, änderte sich alles schlagartig, und er wirkte wie ein glücklicher Mann. Sollte er Dagmar das sagen? Sie warnen und ihr deutlich machen, dass ihr Plan zum Scheitern verurteilt war?

Er sah sie an.

Dagmar saß zufrieden am Tisch und schien restlos davon überzeugt, das Richtige zu tun. Paul fühlte sich mit jeder Sekunde stärker berufen, sie an dem Besuch zu hindern. Schließlich konnte er nicht mehr an sich halten und hieb erneut mit der Handfläche so heftig auf den Tisch, dass die Tassen klirrten. »Dagmar, noch einmal! Bitte fahr nicht! Du hast getrunken, das ist kein guter Start für ein Gespräch. Warte lieber noch, oder lass den Besuch ganz sein.«

Dagmar lachte nur affektiert. »Das bisschen Sekt am Morgen macht mich höchstens putzmunter, Paul. Ich weiß, was ich tue. Und wie ich das weiß!«

Doch er gab nicht auf. »Fahr zurück nach Oberhausen, und lass Rolf seinen Frieden. Das mit euch wird nichts mehr, glaub mir! Ich weiß nicht, was zwischen dir und meiner Mutter vorgefallen ist, aber bring lieber das in Ordnung. Da ist dein Leben.«

Seine Argumente waren schwach, das wusste er selbst. Er kannte Dagmar und war sich sicher, dass sie so kaum zu überzeugen war.

Sie lächelte tatsächlich nur und strich sich durchs Haar. »Ich möchte mit Manu nichts mehr zu tun haben, bitte nimm das zur Kenntnis. Wir haben uns gestritten. Deshalb gehe ich nicht zu ihr zurück.«

Paul sprang abrupt auf, setzte sich aber sofort wieder. »Du tust gerade so, als hättest du mit meiner Mutter in einer Ehe gelebt!« Er sprach das aus, wovor er sich die ganze Zeit gefürchtet hatte, nämlich, dass seine Mutter und Dagmar nicht nur Freundinnen in einer WG waren.

Aber Dagmar lachte laut auf. »Herzchen! Ich bin doch nicht lesbisch! Ich mag Männer, und am liebsten mein Menzelchen. Ich mochte aber auch deinen Vater. Sehr sogar. Das war ein echter Kerl!« Sie griff zu ihrer pompösen, weißen Handtasche, die am Korpus mit Silbernieten bestückt war, und angelte eine Zigarette heraus. »Deine Mutter und ich hatten wirklich nur noch Streit.« Sie ergriff das Feuerzeug, zündete die Zigarette an und nahm einen tiefen Zug. »Versuch also nicht, mich von meinem Vorhaben abzubringen. Ich will Menzelchen zurück, koste es, was es wolle. Mit ihm hat es in meinem beschissenen Leben noch am besten funktioniert. Ich glaube, ich brauche ihn.«

Paul war sprachlos. In seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Diese Selbstverständlichkeit, mit der Dagmar Dinge verdrehte oder verurteilte oder sich nehmen wollte, überforderte ihn. Er konnte ihr vor Schreck nicht einmal sagen, dass in seiner Wohnung Rauchverbot herrschte.

Dagmar sah auf die Uhr. »Es wird Zeit. Heute ist Samstag, da hat Menzelchen frei, und ich werde ihn antreffen.« Sie schien davon überzeugt zu sein, dass Rolf sie mit offenen Armen empfangen würde.

Paul startete einen letzten Versuch. »Es kann aber sein, dass er heute auf dem Nordseehof hilft. Die Ställe dort müssen auf Vordermann gebracht werden, ehe die Schafe aufgestallt werden.«

Offenbar schreckte Dagmar jedoch in ihrer momentanen Verfassung vor nichts zurück. »Dann fahre ich eben dorthin. Was kümmert mich Johanna Deeken, diese Bäuerin?« Sie drückte ihre nur angerauchte Zigarette auf der Untertasse aus. Sie tat es lange, ein bisschen zu heftig und mit zu einem Strich zusammengepressten Lippen.

Dagmar ist längst nicht so entspannt, wie sie tut, dachte Paul. »Ich mag es übrigens nicht, wenn hier drinnen gequalmt wird. Mach das zukünftig bitte draußen«, sagte er dann doch.

Dagmars Gesicht verfinsterte sich. »Was bist denn du für ein Heini geworden? Die Nähe zur Nordsee scheint dein Gehirn mit Schlick zu verstopfen.« Sie stand auf. »Mann, seid ihr alle komisch. Deine Mutter, du … Ich hoffe, wenigstens Menzelchen ist noch der Alte!«

»Ist er nicht«, gab Paul zurück. »Was tust du, wenn Rolf dich nicht will?« Er erinnerte sich, dass Dagmar sehr unflätig reagieren konnte, wenn ihr etwas gegen den Strich ging. Vor allem, wenn sie nicht ganz nüchtern war.

Sie stand mittlerweile in der Tür zum Flur und drehte sich mit einer lasziven Haltung zu Paul um, als würde sie trainieren, wie sie gleich bei Rolf auftreten wollte. »Das kann nicht sein, deshalb mache ich mir darüber keine Gedanken«, entgegnete sie in einem weichen Tonfall, mit dem sie wohl die Schauspielerin Hannelore Elsner nachmachte. Paul wusste noch, dass sie die Filme mit ihr mochte. »Ich habe von Menzelchen immer das bekommen, was ich wollte. Ich weiß, wie man mit ihm umgehen muss. Also versuche bitte nicht, mich von meinem Besuch abzubringen. Es wird dir nicht gelingen.« Selbstzufrieden verschwand Dagmar aus der Tür. Sie schien tatsächlich zu glauben, was sie sagte.

Johanna war früh aufgestanden und saß jetzt am Bett ihrer schlafenden Enkeltochter. Sie genoss die ruhigen Atemzüge des Kindes. Feemke roch so gut. Ein bisschen süßlich, ein bisschen nach dem Wind, der gestern draußen mit ihrem blonden Haar gespielt hatte.

Ende der Leseprobe