Der Nordseehof – Als wir träumen durften - Regine Kölpin - E-Book
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Der Nordseehof – Als wir träumen durften E-Book

Regine Kölpin

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Beschreibung

»Wir müssen nach vorn sehen. Da liegt die Zukunft.« In diesem ersten Band ihrer Saga um den ostfriesischen Nordseehof erzählt Regine Kölpin – spannend, bewegend und voller norddeutscher Atmosphäre – den Beginn einer dramatischen Emanzipationsgeschichte um drei Frauen aus drei Generationen.   Ostfriesland, 1948: Johanna, Tochter eines Großbauern, verliebt sich in den Schlesien-Flüchtling Rolf – eine Liebe, die keine Zukunft hat, denn Johanna ist bereits dem wohlhabenden Hoferben Eike versprochen. Doch die beiden hören nicht auf zu träumen – von dem Glück der Heimat, der Wärme einer Familie und ihrer gemeinsamen Zukunft. Der Nordseehof: Vor der stimmungsvollen Kulisse der norddeutschen Landschaft entfaltet sich eine opulente Familiensaga über die Macht der Träume und den Wunsch nach Freiheit, über verbotene Liebe und wahre Heimat.   Band 1: Der Nordseehof – Als wir träumen durften Band 2: Der Nordseehof – Als wir der Freiheit nahe waren Band 3: Der Nordseehof – Als wir den Himmel erobern konnten

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Das Zitat von Friedrich Georg Jünger stammt aus: Friedrich G. Jünger. Werke. Erzählende Schriften. Spiegel der Jahre. Erinnerungen. Klett-Cotta, Stuttgart 1958, 1980.

© Piper Verlag GmbH, München 2020Redaktion: Gisela Klemt, Lüra – Klemt & Mues GbRCovergestaltung und -motiv: Johannes Wiebel | punchdesign,unter Verwendung von shutterstock.com

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Wir weisen darauf hin, dass sich der Piper Verlag nicht die Inhalte Dritter zu eigen macht.

Inhalt

Cover & Impressum

Widmung

Zitat

Personenverzeichnis

1948–1949

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

1952

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

1953–1954

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Epilog – 1959

Zum Roman

Literaturverzeichnis

Für meinen Vater, meine Mutter und meinen Schwiegervater!Dafür, dass ihr all eure Erinnerungen mit mir geteilt habt und ich daraus eine fiktive Geschichte spinnen durfte.

Wir träumen davon, einen Menschen zu finden, der ganz eins mit uns ist. Weder erfüllt sich der Traum, noch wird er vergebens geträumt; doch wer ihn nicht träumt, hat von der Liebe nie etwas erfahren.

Friedrich Georg Jünger

Personenverzeichnis

Familie Eilers

Johanna Eilers – Tochter

Keno Eilers – Sohn

Foline Eilers – Mutter

Marten Eilers – Vater

Familie Deeken

Eike Deeken – Erbe vom Nordseehof

Thilo Deeken – Eikes Vater

Lientje Deeken – Eikes Mutter

Reent Deeken – Eikes Bruder

Uwe Deeken – Sohn von Eike und Johanna

Familie Menzel

Rolf Menzel – Sohn

Mine Menzel – Mutter

Karl-Gerd Menzel – Vater

Familie de Vries

Helma de Vries (Tant Helma) – Ingos und Thedas Mutter

Ingo de Vries – Cousin

Theda de Vries – Cousine

Deike de Vries – Thedas Tochter

Hajo de Vries – Thedas Sohn

Weitere

Martha Selig mit ihren zwei Jungs – Flüchtlingsfrau

aus Schlesien, wohnt auf dem Eilershof

Herwig Doden – Postbote

Maria Heeren – Hebamme

Dr. Joost – Hausarzt

Volker Cordes – Kutscher

Helmer Maurer – Volkers Freund

Gerda Bruns – Nachbarin von Volker

Dagmar König – Freundin von Rolf

Reinhold Ebert – Kumpel

Kalle Müller – Kumpel

Manu Ehlers – Freundin von Dagmar

Jan Oelrichs – Knecht

Dieter Müller – Kumpel

Thore Janßen – Feuerwehrmann

1948–1949

Kapitel 1

Das Unwetter war abgezogen, hatte die Luft gereinigt, und die verbliebenen wenigen Wolken sahen aus wie mit lässigen Strichen an den Himmel gewischt. Obwohl die Sonne an diesem Tag im Juni schien, war es ziemlich abgekühlt, sodass Johanna sich ein Wolltuch um die Schultern gelegt hatte. Nach dem Gewitter war es nötig gewesen, alle Kühe auf den Marschwiesen durchzuzählen und sich zu vergewissern, dass mit den Tieren alles in Ordnung war.

Kurz bevor Johanna zum Landwirtschaftsweg abbog, der zum Eilershof, dem Gehöft ihrer Eltern, führte blieb sie stehen, denn Rolf Menzel winkte zu ihr herüber. Er hatte gerade das Gatter der Schafweide verschlossen.

»Ist bei euch alles in Ordnung, Hanna?«, rief er, schob sich eine dunkle Strähne aus dem Gesicht und setzte die Schiebermütze wieder auf. »Das war aber ein Regen und ein Donnern! Ich habe eben nach den Tieren geschaut.« Er stellte den Eimer neben dem Gatter ab und kam auf sie zu. Verlegen und ein wenig unbeholfen. Er fixierte sie mit seinem einzigartigen Blick. Genau das mochte Johanna an ihm. Sie hatte noch nie einen Menschen mit so schönen blauen Augen gesehen.

»Ja, danke!« Johannas Stimme zitterte. Wie immer, wenn sie ihm nah war.

Rolf nahm die Schiebermütze wieder vom Kopf und drehte sie mit den Händen. »Hauptsache, alles ist heil geblieben«, sagte er schließlich mit seinem schlesischen Akzent.

Rolf war nach Ende des Zweiten Weltkriegs mit vielen anderen Flüchtlingen nach Ostfriesland gekommen und lebte seit einem Jahr auf dem Nordseehof, der großen Deichschäferei von Thilo und Lientje Deeken, die nicht weit vom Eilershof entfernt ebenfalls in der Marsch lag.

»Ein Fremder, aber fleißig«, sagte Lientje Deeken immer. »Kann man was mit anfangen. Ist ja nun wirklich nicht mit allen so.«

Johanna stieß es ab, wenn die Schäferin derart abfällig über die Vertriebenen redete. Und noch weniger mochte sie es, wenn sie solche Dinge über Rolf sagte.

»Mit eurem Vieh ist doch auch nichts passiert, oder?«, riss er Johanna aus ihren Gedanken. »Keine Kuh durch den Draht gegangen? Keine vom Blitz erschlagen?«

»N… nein, alles gut«, stotterte Johanna und begann, mit einer Schuhspitze über den Schotter zu scharren. Sie suchte krampfhaft nach einem unverfänglichen Thema.

»Bist du später bei der Friesen-Jugend?«, fragte Rolf.

Erleichtert sah sie ihn an. Dort hatten sie sich kennengelernt, zur Akkordeonmusik zum ersten Mal zusammen getanzt – und sich dabei ineinander verliebt. Seitdem schlichen sie umeinander herum wie eine Katze um einen Topf Sahne, die genau wusste, dass sie Schläge bekommen würde, wenn sie auch nur einen winzigen Tropfen davon kostete.

Johanna, die Tochter des Großbauern Eilers, und ein schlesischer Vertriebener. Ein Ding der Unmöglichkeit!

Johanna nickte rasch. »Ich versuche es.« Um jeden Preis, setzte sie in Gedanken hinzu. Es war ihre einzige Chance, sich zu sehen, herumzuflachsen und ab und zu ein Wort miteinander zu wechseln. Auch wenn das andere Jungvolk aus Neusiel dabei war.

Rolf lächelte sie an. »Das ist schön, dort können wir bestimmt in Ruhe und ein bisschen länger reden, weil keine Arbeit ruft.« Er fügte mit dunkler Stimme hinzu: »Allein.«

Johannas Herz klopfte wie verrückt. »Ja, gern.«

Rolf setzte sich die Mütze wieder auf den Kopf. »Ich muss dann mal, sonst bekomme ich Ärger mit dem alten Deeken. Bis später, Hanna.«

»Bis dann.« Johanna mochte es, wie er ihren Namen abkürzte, und auch, wie er ihn aussprach. Rolf nahm am Gatter den Eimer wieder auf und setzte seinen Weg fort. Immer mit leicht gebeugter Haltung und zugleich mit einem Stolz, der ihn unangreifbar erscheinen ließ.

Johanna wartete, bis Rolf um die Wegbiegung verschwunden war, und lehnte sich dann an ein Weidegatter. Sie sog die klare Luft tief ein und schaute über die Marsch, deren Grünfläche sich scheinbar endlos dahinzog und erst am Meer oder am nächsten Geestrücken endete.

Heute strich der Wind heftiger über die Wiesen und ließ das Gras in Wellen tanzen. Johanna liebte die Weite der Landschaft, die nur hin und wieder von vereinzelten Hecken oder Bäumen durchbrochen wurde. Oder von den paar Höfen und Katen, die wie kleine rote Sprenkel im Grün der Marsch wirkten.

Johanna liebte auch den Wind, der in Ostfriesland sein stetiges Lied sang, und sie liebte das Schreien der Möwen, wenn sie sich in seinen Armen wiegten. Hier war sie zu Hause, hier gehörte sie hin. Das Dorf, die Leute, der Hof …

Johanna wusste, was Heimat bedeutete, und hatte mit denen, die ihre verlassen mussten, unendliches Mitleid.

Bis zum Mittagessen dauerte es noch eine Weile, und so konnte sie die Zeit hier draußen in der Natur ein wenig genießen. Es war ohnehin besser, nicht derart aufgewühlt zu Hause zu erscheinen, denn Johanna hatte keine Lust, unangenehme Fragen beantworten zu müssen.

Wie immer hatte Rolf sie arg durcheinandergebracht, und allein die Vorstellung, ihn später wiederzusehen, machte sie nervös. Ihre Hände zitterten, sie konnte sich einfach nicht gegen diese Gefühle wehren. »Du musst ihn dir aus dem Kopf schlagen«, sagte sie zu sich selbst, als sie sich wieder etwas beruhigt hatte. »Egal, ob nun die neue Zeit anbricht oder nicht. In Neusiel wird es noch ein wenig länger dauern, bis alle die Veränderungen akzeptiert haben.«

Die neue Zeit, in der jetzt, nach der Währungsreform, alles besser werden sollte. Davon sprachen alle. Die Welt hatte sich in den letzten Jahren mit einer Geschwindigkeit gedreht, die Johanna, nein, allen im Dorf fast Angst machte. Die Wunden des Krieges waren noch zu präsent, hatten auch auf dem Land ihre Spuren hinterlassen. Vor allem die Bombardierungen von Wilhelmshaven und die vereinzelten Stabbrandbomben, die zwar keine größeren Schäden angerichtet hatten, aber über Neusiel abgeworfen worden waren, hatten zu großer Verunsicherung geführt.

Dann waren nach dem Krieg unzählige Flüchtlinge aus dem Osten gekommen. Von den Behörden wurde angeordnet, dass die Menschen auf den Höfen und bei anderen Familien im Dorf untergebracht werden mussten. Jede Kammer wurde genutzt. Und nicht nur das: Die Menschen lebten auf Dachböden, in Stallungen und Kammern. Gefreut hatte es keinen, aber es nützte ja nichts, den Vertriebenen musste geholfen werden, und alle packten irgendwie mit an.

Viele gingen freundlich und hilfsbereit mit den Neuankömmlingen um, andere reagierten weniger positiv und redeten verächtlich über die Ostländer.

Obwohl es den Menschen hier während des Krieges noch recht gut gegangen war, vor allem den Bauern, hatte es ohne den Schwarzmarkt auch bei ihnen an vielen Dingen gefehlt, und nicht alle waren gut über die Runden gekommen. Und nun sollten sie das wenige auch noch mit den Fremden teilen. Etliche Familien auf dem Land waren Teilselbstversorger und hielten das ein oder andere Schwein, von denen so manches schwarzgeschlachtet worden war. Für alles andere hatte es Lebensmittelmarken gegeben.

Inzwischen hatte sich das Leben recht gut eingespielt, und Johanna war davon überzeugt, dass die Menschen nach und nach Teil der heimischen Bevölkerung werden würden. Spätestens, wenn sie endlich eigene Häuser und Wohnungen hätten und nicht mehr bei den Neusielern in den Häusern und auf den Höfen untergebracht waren. Nur würde das bestimmt noch eine Weile dauern. Trotz der neuen Zeit.Seit einer Woche hatte sich mit der Währungsreform über Nacht allerdings viel verändert. Glaubte man den Neusielern, die in Oldenburg oder Wilhelmshaven gewesen waren, so waren die Lager in den Geschäften aufgefüllt, ja, diese brachen unter der Last des Angebots förmlich zusammen. Auch im Dorfladen war plötzlich alles zu haben.

Das Land wirkte wie befreit von einer festen Kette, deren Glieder noch vor ein paar Wochen unzerstörbar gewirkt hatten.

Johanna atmete einmal tief ein und aus.

Die Wunden heilten trotzdem nicht von heute auf morgen, und das Bedürfnis nach Sicherheit und festen Strukturen war nach wie vor das höchste Gebot. Ihre Eltern und viele andere im Dorf hielten deshalb weiter an ihren Traditionen fest und würden davon keinen Fingerbreit abweichen. Egal, ob das Herz ihrer einzigen Tochter für einen Vertriebenen aus Schlesien schneller schlug.

Wenn Keno da gewesen wäre, wäre die Lage gewiss anders. Er hätte sie verstanden, sie unterstützt … Johanna schluckte die aufkommenden Tränen hinunter, wie immer, wenn sie an ihren Bruder dachte. Sie hoffte wie ihre Eltern Tag für Tag, dass er noch lebte, denn Keno war nach dem Krieg bisher noch nicht zurückgekehrt. Er war 1943 bei der Schlacht vor Stalingrad dabei gewesen und entweder gefallen, oder er befand sich wie so viele andere in sowjetischer Gefangenschaft. Sie hatten seitdem kein Lebenszeichen mehr von ihm erhalten. Die Angst um den Erben war überall auf dem Eilershof spürbar. Lautes Lachen wurde augenblicklich verschluckt, und aus jeder Ecke kroch die unausgesprochene Trauer wie eine fette Spinne und wickelte die ganze Familie fest in ihren Kokon.

Mutter und Vater hatten natürlich alles darangesetzt, Keno zu finden, und durchforsteten ständig sämtliche Vermissten-Listen des Suchdienstes vom Roten Kreuz. Und jedes Mal, wenn die Suche wieder erfolglos war, legte sich eine weitere Schicht Schwermut über den Eilershof, sodass Johanna oft glaubte, darunter zu ersticken. Vielleicht wäre es gut gewesen, endlich Klarheit zu haben.

Johanna schob die Gedanken beiseite und ließ ihren Blick lieber noch etwas über das flache Land schweifen, genoss das Summen der Bienen und Hummeln und den Schrei des Bussards über ihr.

Es war nicht nur Kenos Abwesenheit, auch ihr Vater war nach seiner Rückkehr aus Frankreich verändert.

Er war still geworden. Schlich tagsüber wie ein Schatten über den Hof, gab mechanisch seine Anweisungen und zog sich zurück, sobald er konnte. Einzig wenn er mit den anderen Männern aus dem Dorf oder den Nachbarhöfen über die politische Lage sprechen konnte, taute er kurzzeitig auf, um sich danach noch mehr zurückzuziehen. Johanna verstand ihren Vater oft nicht.

Mitten in der Nacht aber schrie er, weil ihn böse Träume quälten. Zudem hatte ihr Vater den »komischen Blick«, wie Johanna ihn nannte – alle Heimkehrer im Dorf schauten anfangs so. Die Augen wirkten wie tot, und sah man hinein, erkannte man das Dunkel der Seele. Was auch immer die Männer in diesem vermaledeiten Krieg erlebt hatten: Danach war mit ihnen eine Veränderung vorgegangen, die Angst machte. Keiner sprach über seine Erlebnisse. Aber diese Leere im Blick spiegelte deutlicher als jedes Wort wider, dass die Seelen der Männer zerstückelt worden waren. Zerhackt von Erlebnissen, die zu grausam waren, als dass man sie je aussprechen durfte.

Ob die Heimkehrer je wieder die Alten wurden, konnte keiner sagen. Wo die Söhne und Ehemänner noch nicht nach Hause gekommen waren, hoffte einfach jeder, dass sie überhaupt zurückkehrten. Gleichgültig, in welcher Verfassung.

Ihre Mutter sagte, irgendwann würde Vater vergessen können. Und da er auch bessere Tage und Nächte hatte, gab Johanna die Hoffnung nicht auf, dass sie recht hatte.

»Wenn Keno zurückkommt, wird alles gut« – auch das sagte ihre Mutter Tag für Tag. Was sein würde, wenn es nicht so wäre, wurde totgeschwiegen. »Bis dahin belastest du deinen Vater nicht und bist eine gute und folgsame Tochter. Dann wird es schon werden.«

Rolf Menzel zu lieben, sich gar mit ihm einzulassen und auf dieser Liebe zu bestehen, war da sicher keine gute Idee. Ihr Vater brauchte die alten Strukturen, um gesund zu werden. Und Johanna wollte nicht schuld sein, wenn er seine trüben Gedanken nicht loswurde.

Sie seufzte so laut, dass einer der Schafböcke sie erstaunt anblickte. »Guck du nur!« Johanna lachte auf. »Deine Frauen grasen alle am Deich des Jadebusens, und du hast keinen Kummer mit der Liebe!« Der Bock gab einen kurzen Ton von sich und fraß weiter.

Johanna schrak zusammen, als die Glocke der Kirche in Neusiel zwölfmal schlug. Wenn sie sich jetzt nicht beeilte, kam sie zu spät zum Mittagessen. Das würde ihre Mutter verärgern, und dann könnte sie ihr vielleicht verbieten, heute Nachmittag zur der Friesen-Jugend zu gehen. Johanna umfasste ihr Tuch und sputete sich.

Kapitel 2

Schon wenige Minuten später war sie am Hofeingang angekommen. Vor ihr lag der Gulfhof ihrer Eltern.

Das Wohnhaus klebte wie eine Nase vorn rechts am breiteren Scheunen- und Stalltrakt. In der angrenzenden Scheune befand sich unten die große Diele, wo auch das Korn gedroschen wurde, und am Ende des Ganges das Plumpsklo. In einem weiteren Raum lagerten Futtervorräte. Von der Diele aus gelangte man in die rechts und links abgetrennten Kuhställe.

Oben auf der Tenne stapelten sich Heu und Stroh.

Als Johanna näher trat, glänzte das große grüne Scheunentor an der Giebelseite in der Sonne. Der Eilershof verfügte auch über Nebengelasse wie die geschlossene Remise, in der die Kutschen und Gerätschaften untergestellt waren. In einem Stalltrakt war Platz für die zehn Kutsch- und Arbeitspferde.

Im hinteren Teil des Hofes gab es ein paar Schweinekoben mit Auslauf. Der Obstgarten schloss sich der Scheune an, dort war auch der Hühnerstall zu finden.

Links vom Eilershof ging ein Weg zu einem kleinen Haus ab, das einmal das Altenteil der Eltern werden sollte.

Die Hühner stoben gackernd auseinander, als Johanna über das rot geklinkerte Pflaster des Hofes rannte. Ihre Mutter schaute ihr schon ungeduldig aus der Haustür entgegen. Sie hatte einen derben Leinenrock mit einer Strickjacke an, und ihr aschblodes Haar war zu einem Kranz geflochten. »Johanna!«, rief sie. »Was träumst du herum? Wir wollen essen!«

»Ich beeile mich!« Sie hastete in die Waschküche, wusch sich dort die Hände und stand kurz darauf in der Küche, wo auf dem weißen Ofen in einem großen Topf eine Hühnersuppe blubberte. Ihre Mutter hatte gestern zwei der Hennen geschlachtet.

Der rechteckige, grobe Holztisch war für vier Leute gedeckt. Ihre Mutter stellte Kenos Teller täglich mit dazu. Schließlich konnte er jederzeit überraschend zurückkehren und sollte sich dann sofort zu Hause fühlen. Immer diese Hoffnung. Diese grausame, verratene Hoffnung.

»Füllst du bitte etwas von der Suppe um, und bringst es nach nebenan?« Ihre Mutter sagte immer nebenan und nicht Diele. Sie zeigte auf einen schwarzen Emailletopf, der erheblich kleiner als der andere war.

Johanna nickte. Das Essen, das sie nach nebenan auf dieDiele bringen sollte, war für die anderen, wie ihre Mutter sich ebenfalls stets ausdrückte, ohne auch sie genau zu benennen. Vielleicht fühlte sie sich dann besser.

Die anderen waren das Gesinde und die bei ihnen untergebrachte Flüchtlingsfamilie. Dem Eilershof war eine Frau mit zwei Kindern zugewiesen worden. Martha Selig und ihre beiden fünf- und siebenjährigen Jungs waren ruhige Mitbewohner. Frau Selig versuchte, so gut es mit den Kindern eben ging, auf dem Hof mitzuhelfen.

Die Unterkunft der Familie befand sich in der Achterkök, einem Anbau hinter der eigentlichen Hofküche. Johannas Mutter hatte sie notdürftig hergerichtet. Es war zwar eng, aber Frau Selig verfügte so über eine kleine Küche mit Brennhexe, eine Bank, einen Tisch mit Stühlen und einen alten, zerschlissenen Sessel. Hinter einem notdürftigen Vorhang aus alten Bettlaken standen zwei Feldbetten, die sie sich zu dritt teilten. Wasser bekamen sie aus der Pumpe. Es war leider sehr eisenhaltig, zum Teekochen taugte es ebenso wenig wie zum Wäschewaschen. Für richtig gutes Wasser mussten alle zum Brunnen hinter dem Feld laufen. Das Mittagsmahl brauchte Martha Selig aber nicht selbst zubereiten, das wurde stets von Johannas Mutter in der großen Hofküche für sie mitgekocht. »Den Rest bekommt Frau Selig dann schon hin«, sagte sie immer.

Nur mochte sie es nicht, Fremde am Tisch sitzen zu haben, weshalb die anderen eben in der Diele essen mussten.

Johanna bemerkte, dass ihre Mutter sie mit kritischem Blick ansah, als sie den Topf mit einer großen Schöpfkelle füllte. »Du wirkst noch immer völlig verschwitzt.«

»Der Weg war weit«, erwiderte Johanna ausweichend. »Ich habe alle Weiden kontrolliert, mit dem Vieh ist alles in Ordnung.« Sie nahm den Topf und brachte ihn in die Diele, wo die beiden Mägde, die Knechte und Frau Selig mit ihren Kindern schon sehnsüchtig warteten. Frisches Brot und Butter hatte ihre Mutter bereits hingestellt.

Jetzt im Sommer war es still hier. Im Winter konnte man durch die Wände die Kühe in dem dahinterliegenden Stall rumoren hören.

Johannas Eltern saßen mit gefalteten Händen am Tisch, als sie zurückkam. Kenos leerer Platz wirkte wie immer bedrückend, und Johanna mied den Blick dorthin.

Sie lauschte dem Gebet des Vaters und wartete dann, bis ihre Eltern sich von der Suppe genommen hatten, bevor sie sich selbst einen Teller auftat. Der salzige Duft der Brühe zog durch ihre Nase, und sie merkte, wie hungrig sie nach dem langen Weg durch die Marsch war.

»Morgen gehen wir zum Tee zu den Deekens«, sagte ihre Mutter unvermittelt und, wie Johanna fand, eine Spur zu beiläufig. Sie schob ihrer Tochter den Brotkorb rüber. Dabei zitterten ihre Finger ein wenig.

Johanna starrte in die Fettaugen der Suppe und schob mit dem Löffel ein Stück Hühnerhaut beiseite. Sie ahnte, was der Besuch in der Deichschäferei bedeutete.

Ihre Mutter bestätigte ihre Befürchtung, als sie hinzufügte: »Eike wird auch da sein. Der Jung hat sich ja wieder gefangen. Hat lange genug gedauert. Nun müssen wir, wo das auch mit der D-Mark angelaufen ist, so langsam wieder an die Zukunft denken. An deine Zukunft!«

Johanna schluckte.

»Wie meinst du das?«

Ihre Mutter lächelte versonnen. »So, wie ich es sage. Denk mal nach. Du und Eike, wäre das nicht schön? Ihr kennt euch schon so lange. Du hättest ausgesorgt. Und Vadder wäre wirklich glücklich.« Sie sah zu ihrem Mann, der unmerklich nickte, aber weiter schweigend seine Suppe aß.

Johanna umklammerte den Löffel so fest, dass er ihre Hand fast einschnitt. Sie wollten sie also wirklich mit Eike, dem Erben vom Nordseehof, verkuppeln. Sie hatte schon lange damit gerechnet. Sie und Eike, ihr Kinderfreund. Inzwischen hatten sie sich aber aus den Augen verloren, und auch er war nach dem Krieg ein anderer geworden.

Johanna wusste nur, dass er irgendwo in Afrika und anderswo gekämpft hatte und wie ihr Vater völlig verändert zurückgekommen war. Es gab den alten Spielkameraden von früher nicht mehr. Eike war in den ersten Monaten nach seiner Heimkehr stundenlang mit gesenktem Kopf durch die Marsch spaziert und hatte nicht mal ein »Moin« für seine Nachbarn übriggehabt. »Der wird schon wieder«, hieß es dennoch.

Und er wurde wieder, denn mittlerweile grüßte Eike die Nachbarn, und er legte auch Hand auf dem Hof an. Aber er lachte kaum, und wenn, wirkte es nicht echt.

»Der Jung kann ja man froh sein, dass er nicht in Gefangenschaft geraten ist wie unser Keno«, sagte Johannas Mutter nun. »Und man muss schließlich nach vorn sehen. Nie aufgeben, weißt du? Immer den nächsten Schritt machen.« Sie klang sehr zufrieden. »Nun sach du doch auch mal was, Marten!«

Johannas Vater nickte nur. »Jo«, kam es schließlich mit einem versuchten Lächeln.

Als seine Frau die Brauen hochzog und ihn noch einmal eindringlich ansah, wählte er langsam und bedächtig seine Worte: »Foline, also deine Mutter, hat recht. Eike ist eine gute Partie für dich, mien Deern.« Er tätschelte Johannas Hand. »Dir soll es ja mal besser gehen. Kein Krieg mehr, keine Angst und keine unnützen Toten. Alles in Butter. Überleg es dir, du würdest uns mit dieser Verbindung eine große Freude machen. Und für dich wäre es eine gute Absicherung!« Er tauchte den Löffel wieder in die Suppe und schlürfte sie ab. »Thilo Deeken findet die Idee, dass ihr heiratet, genauso gut wie ich, und Lientje wird sich schon fügen und sich an den Gedanken gewöhnen. Dieses eine Mal hat sie keine Wahl.« Ihr Vater nahm sich Suppe nach. »Am liebsten würde sie Reent den Hof geben, aber das ist nun mal ausgeschlossen, er ist der jüngere Sohn. Also braucht Eike eine Frau, damit das alles seinen Weg geht.« Er atmete tief ein, denn das war für ihn eine übermäßig lange Rede gewesen.

»Siehst du! Dein Vater würde sich freuen. Genau wie ich.« Ihre Mutter lächelte. »Bei Eike passt alles. Du kennst ihn seit deiner Kindheit, er ist ein guter Mensch.« Sie bemerkte Johannas skeptischen Blick und fügte hastig hinzu: »Herzklopfen ist keine Basis für ein ganzes Leben – und muss es auch nicht sein. Die Liebe kommt von allein, wenn man sich erst aneinander gewöhnt hat.«

Johanna war der Appetit vergangen. Sie legte den Löffel weg, starrte auf den Teller und schwieg. Was sollte sie auch erwidern? Sie wusste keinen Weg, wie sie ihren Eltern diesen Wunsch abschlagen sollte, ohne sich mit ihnen zu überwerfen. Trotzdem ging es doch um sie!

Der Nordseehof war ein zwar imposantes, aber auch düsteres Gebäude, und Eikes Eltern waren keine herzlichen Menschen, vor allem Lientje Deeken war eine unangenehme Frau. Zudem war Johanna Eikes jüngerer Bruder Reent suspekt. Sie konnte ihn nicht einordnen. Nach außen hin wirkte er freundlich, aber da lag etwas in seinem Blick, was Johanna nicht mochte. Es erinnerte sie an eine ihrer Katzen, die schnurrend auf alle Besucher zukam, ihnen dann aber ohne Warnung die Krallen in die Hand hieb.

Woher Eike sein freundliches Gemüt hatte, wusste Johanna nicht. Vielleicht war Thilo Deeken ein umgänglicher Mann, nur tat der es ihrem Vater gleich und sprach nur dann, wenn ihn etwas wirklich interessierte.

Weil Johanna immer noch schwieg, plauderte ihre Mutter munter weiter. Jede Silbe aber erschien Johanna wie ein winziger Nadelstich.

»Wenn Keno erst aus dem Krieg zurück ist, kann der unseren Hof übernehmen. Du hast dann ein neues Zuhause und eine Aufgabe. Das wünscht man sich in diesen Zeiten für seine Kinder! Absicherung.« Es klang, als wäre alles längst beschlossene Sache. »Von uns kriegst du eine Kuh, das unterschreibst du, und damit ist das mit dem Erbe geklärt. So wird es seit Generationen gemacht, das weißt du.«

Jetzt sah Johanna von ihrem Teller auf. Sie wollte ihren Eltern klarmachen, dass sie Eike nicht heiraten konnte. Dass sie Rolf Menzel mochte. Aber ihr blieben die Worte im Hals stecken. Nein, das konnte sie ihren Eltern nicht sagen. Es wäre bestimmt gut, erst einmal den Mund zu halten und mitzuspielen.

»Mach dich morgen ein bisschen hübsch. Wie sich das gehört.«

Johanna schluckte. »Ja.« Sie hegte noch den Funken Hoffnung, dass Eike sie vielleicht gar nicht wollte. Johanna fand selbst, dass sie keine Schönheit war. Sie hatte langes, leicht gewelltes aschblondes Haar, das sie meist unter einem Kopftuch zu einem Dutt zusammenband. Manchmal zog sie es auch vor, alles sorgsam zu flechten und zurückzustecken. Ihren Po fand sie eine Spur zu breit, die Schenkel zu dick. Es gab hübschere Mädchen im heiratsfähigen Alter. Und die Männer waren in der Unterzahl und konnten wählen.

»Was hast du heute noch vor?«, fragte ihre Mutter jetzt. »Der erste Heuschnitt ist eingefahren, wir haben ein bisschen Luft, bevor die Getreideernte beginnt.«

»Ich möchte mal wieder zur Friesen-Jugend. Die anderen sind aus dem Zeltlager in Upschört zurück. Mal sehen, was sie erzählen. Es waren nicht alle mit, aber ich habe gehört, dass es lustig gewesen ist.«

Johanna war auch nicht mitgefahren, weil Rolf auf dem Nordseehof arbeiten musste und sie ohne ihn keine Lust gehabt hatte. So konnten sie sich zumindest zwischendurch mal von Weitem sehen. Warum sollte sie im Zeltlager mit einem anderen tanzen, wenn ihr Herz bereits vergeben war?

Außerdem war auf dem Hof wegen der Heuernte eine Menge zu tun gewesen, weil das Gras vor dem Regen in die Scheune gebracht werden musste. Sie hatten es gerade noch geschafft. Manchmal beneidete sie die jungen Menschen in der Friesen-Jugend, deren Eltern keine Landwirtschaft hatten und die deshalb an viel mehr Aktivitäten teilnehmen konnten.

»Langsam bist du mit deinen zwanzig Jahren für die Friesen-Jugend eigentlich zu alt«, sagte ihre Mutter. »Aber gut, dann geh hin. Die Briten wollen es ja nicht anders mit ihrer demokratischen Umerziehung. Als ob wir das nicht selbst hinkriegen könnten.«

Johanna mochte die Treffen der Friesen-Jugend, weil sie eine Abwechslung zum anstrengenden Hofalltag darstellten. Unter Aufsicht der Britischen Militärregierung hatte sich dieser Jugendbund aus der Gruppe »Waterkant« gebildet. Die Besatzer legten Wert darauf, dass die jungen Menschen etwas über Demokratie lernten und auch, wie die Eingliederung der Vertriebenen unterstützt werden konnte. In Deutschland sollte ein anderer Wind wehen als während der Jahre des Faschismus. Und da wollten sie bei der Jugend beginnen. Deshalb waren alle im Dorf angehalten, den jungen Leuten keine Steine in den Weg zu legen, wenn sie sich treffen wollten.

Es war eine bunt gemischte Gruppe, die keine Unterschiede zwischen Einheimischen und Fremden machte. Dort herrschte Lockerheit. Lebendigkeit. Das Stück Freiheit, das ihnen abhandengekommen war und ihnen auch jetzt zu Hause oft fehlte. Bei der Friesen-Jugend durfte man unbeschwert lachen und fröhlich sein. Beides war dort ehrlicher als anderswo. Sie machten außerdem viel Musik, sangen und tanzten Volkstänze. Ja, Johanna war nicht mehr jugendlich, aber auch noch nicht volljährig.

Mittlerweile hatte sie die Suppe doch aufgegessen und wartete, bis auch die Eltern so weit waren. Dann stand sie auf und verabschiedete sich höflich. Sie wollte in ihr Zimmer gehen und sich ein wenig frisch machen.

In der Waschkumme befand sich noch ein Rest Wasser vom Morgen, und in der Schublade hatte sie ein kleines Stück Lavendelseife versteckt. Sie wollte gut riechen, wenn sie Rolf gegenüberstand.

Johanna schlüpfte aus dem derben Leinenrock und der Bluse, wusch sich gründlich, putzte die Zähne und suchte aus dem schweren Eichenschrank ihr Sommerkleid mit den halblangen Armen heraus. Es war aus dunkelgrünem, leichtem Stoff, auf dem sich ein paar rosafarbene Blumen verteilten. Vorn geknöpft umschmeichelte es Johannas Oberkörper, von der Hüfte an war es leicht ausgestellt und umspielte ihre Waden.

Als sie das Kleid angezogen hatte, nahm sie sich die Haare vor. Es dauerte, ehe sie die ausgebürstet hatte.

Johanna entschied sich für einen geflochtenen Zopf, den sie nach vorn über die Schulter legen konnte. Die Kühle vom Morgen hatte sich verflüchtigt, und der Wind war abgeflaut, sodass sie auf ihr Schultertuch verzichten konnte.

Als sie fertig war, blieb ihr noch eine volle Stunde, die sich endlos vor ihr ausdehnte. Johanna legte sich aufs Bett.

In der Ruhe war es allerdings schwer, die dunklen Gedanken zu vertreiben. Also richtete sie sich wieder auf und trat ans Fenster.

Morgen würde sie zu Eike auf den Nordseehof gehen müssen. Aber heute war heute. Und gleich würde sie erst einmal Rolf treffen.

Kapitel 3

Als Johanna ankam, war es bereits recht voll im Gruppenraum der Friesen-Jugend, der in der Schule neben der evangelischen Kirche von Neusiel lag. Es waren bestimmt zwanzig junge Leute dort.

Johannas Cousin Ingo hatte das Akkordeon in der Hand und spielte Volkslieder von der Küste, die alle laut mitsangen. Sie schmetterten »Dat du mien Leevsten büst« oder »Wo de Nordseewellen trecken an den Strand«.

Die meisten waren textsicher. Vor allem Ingos Schwester Theda kannte sämtliche Strophen und riss alle mit. Wer nicht sang, schunkelte im Takt. Die Stimmung war ausgelassen.

Johanna sah sich suchend um und staunte wie jedes Mal über das fast drei Meter lange Wikingerschiff, das als Deckenbeleuchtung diente, bis sie an einem Paar tiefblauer Augen hängen blieb.

Sie fixierten sich kurz, schauten dann verlegen weg und konnten danach keinen Blick voneinander lassen.

Nun komm schon zu mir, dachte Johanna. Sie konnte und durfte nicht den ersten Schritt machen. Sie war ein Mädchen …

Endlich kämpfte Rolf sich zu ihr durch. Er versuchte, es wie zufällig wirken zu lassen. »Schön, dass du wirklich gekommen bist«, sagte er, als er endlich neben Johanna stand. Dann biss er sich auf die Lippen, als würde er mit sich ringen. Johanna sah ihn abwartend an.

»Ich wollte dich fragen«, begann er, holte tief Luft und stieß hervor, »ob wir gleich zusammen vor die Tür gehen wollen.« Und dann wiederholte er in demselben tiefen Timbre wie am Morgen: »Allein.«

Johanna nickte lebhaft. Ja, sie wollte mit Rolf allein sein! Wer wusste schon, wie lange sie das noch konnten. Heute war es ihr egal, ob jemand tratschte oder nicht. Sie waren Freunde und durften sich schließlich unterhalten. Auch mal zu zweit.

Rolf nahm Johanna an die Hand, und sie verschwanden aus dem Raum. Keiner der anderen achtete auf sie, weil gerade eines der Lieblingslieder der Friesen-Jugend angestimmt wurde, welches sie auf Neusiel umgedichtet hatten:

An de Eck steiht’n Jung mit’n Tüddelband  …Jo, jo, jo, klaun, klaun, Äppel wüllt wi klaun  …ruckzuck övern Zaun  …Ein jeder aber kann dat nich,denn he mutt ut Neusiel sein.

Die Stimmung war bestens, alle johlten und klatschten. Rolf und Johanna zogen die Tür rasch hinter sich zu. Draußen sahen sie sich unschlüssig an. »Und nun?«, fragte Rolf.

»Lass uns um die Ecke zum Friedhof gehen, dort sind wir ungestört«, schlug Johanna vor. Sie biss sich auf die Lippen. Ein Rendezvous zwischen Gräbern! Das war alles andere als ein romantischer Ort, aber jetzt ging es nur darum, von niemandem gesehen zu werden. Weil auf dem alten Gottesacker schon lange keine Verstorbenen mehr beigesetzt wurden – die anderen Toten bestattete man auf dem Friedhof am Ortsrand –, verlief sich hierher nur selten jemand. Für die nächste halbe Stunde sollte es nur sie und Rolf geben.

Die evangelische Kirche mit der alten Begräbnisstätte lag gleich neben dem Schulgebäude, und so huschten sie auf das Gelände und kauerten sich im Schutz eines großen Busches an die mächtige Mauer des Gotteshauses.

Es war das erste Mal, dass sie sich wirklich ungestört fühlen konnten und keine Furcht haben mussten, beobachtet zu werden.

Rolf breitete seine Jacke auf einem kleinen Rasenstück vor der Kirchenmauer aus und zog Johanna zu sich hinunter. Sie setzte sich neben ihn, und sie sahen einander an. Zuerst wussten beide nicht, was sie sagen sollten.

»Schön, dass du auch kommen konntest«, begann Johanna schließlich. Sie hielt Rolfs Hand weiter fest.

»Frau Deeken hat mir freigegeben, weil ich die ganze Nacht wegen des Unwetters draußen war, denn es hat in die Scheune geregnet, und ich musste rasch das Dach flicken.«

»Dann bist du sicher müde, oder?«

Rolf lächelte sie warm an. »Das stimmt zwar, aber ich wollte dich unbedingt sehen. Und wenn ich als Schlafwandler gekommen wäre.« Er löste seine Hand von ihrer, legte den Arm um ihre Schultern und zog Johanna ein wenig dichter an sich heran. Es fühlte sich gut und richtig an. Johanna schloss die Augen.

Rolf roch wunderbar. Ein bisschen nach frischer Wiese und ein bisschen nach Sonne. Darunter mischte sich ein herb-süßlicher Duft, den Johanna nicht zuordnen konnte, es war wohl einfach der Geruch von Rolf. Sie würde ihn immer wieder daran erkennen. Johanna legte ihren Kopf an seine Brust. Es fühlte sich so vertraut an, als hätte sie es schon hundertmal getan. Sein Herz schlug schnell und heftig.

»Erzähl mir von dir!«, forderte sie ihn auf. »Ich weiß so wenig. Nur, was man im Dorf tratscht.«

»Was möchtest du denn wissen?« Rolf spielte mit einer Haarsträhne, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatte.

»Alles. Ich möchte den echten Rolf kennenlernen. Wissen, wie es in deiner Heimat in Schlesien war. Was deine Eltern für Menschen sind. Ich kenne auch sie nur vom Sehen.«

Rolf lächelte versonnen. »Alles auf einmal wird dauern, so viel Zeit haben wir heute bestimmt nicht. Wir müssen vorsichtig sein, ich möchte dich schließlich nicht in Verruf bringen.«

Johanna sah ihn verschmitzt an. »Aber ein bisschen kannst du schon erzählen, oder?«

Rolf nickte. »Klar.« Er zögerte. »Ich weiß allerdings gar nicht so genau, wo und wie ich anfangen soll.«

»Tu es einfach. Irgendwo. Irgendwie. Ich möchte alles von dir wissen.«

Rolf hauchte Johanna einen Kuss auf den Scheitel.

»Und ich möchte auch alles von dir wissen, Hanna Eilers.«

Johanna lächelte glücklich. Er sagte weiterhin Hanna. So hatte bisher nur Keno sie genannt. Und Rolf wollte also auch sie kennenlernen. Das klang nach Nähe, nach Wärme und nach … Liebe. Ja, Liebende wollten alles voneinander wissen.

Rolf küsste sie nun sacht auf die Wange, bevor er begann: »Ich bin, wie du weißt, in Schlesien geboren und aufgewachsen. Wir haben ein Stück außerhalb von Schweidnitz in einem kleinen Häuschen gewohnt, man nannte es Texas. Das Grundstück lag an einem Weiher, und es gab auch einen großen Obstgarten. Ich bin mit meinen Vettern und Cousinen groß geworden.« Er lachte. »Meist waren wir uns selbst überlassen, weil unsere Eltern so viel zu tun hatten. Schwimmen habe ich dadurch gelernt, weil ich in dem Weiher hinter unserem Haus von einem großen Stein gesprungen bin. Von dort bin ich getaucht, bis ich wieder stehen konnte. Beim nächsten Mal bin ich eher hochgekommen und musste ein paar Züge schwimmen. Und beim nächsten Mal wieder ein Stück eher. Eines Tages habe ich es schwimmend vom Stein bis zum Ufer geschafft. Nur die Haare mussten wir rechtzeitig trocken bekommen, sonst hätte es Ärger gegeben. War nicht ganz ungefährlich.« Er grinste wie ein Schuljunge, der beim Abschreiben erwischt worden war.

»Eine Kindheit voller Abenteuer«, flüsterte Johanna. Davon war ihre weit entfernt gewesen. Bei ihnen hatte die Hofarbeit den Tag bestimmt, da blieb keine Zeit, um schwimmen zu lernen oder anderes zu erleben.

»Ja, wir haben viel Blödsinn gemacht«, bestätigte Rolf. »Ringsum waren große Wälder, dort haben wir gespielt. Einmal haben wir mit Streichhölzern, die wir uns irgendwo besorgt hatten, fast versehentlich die Ställe angezündet. Wir konnten das Feuer gerade noch löschen. Natürlich haben wir nach Qualm gerochen, das gab Ärger, sag ich dir!«

»Hast du auch Sachen gemacht, die weniger gefährlich waren?«

Rolf grinste. »Klar! In Schlesien gibt es Berge und viel Schnee. Mein Großvater hat mir aus Fassdauben ein paar Ski gebaut, mit selbst gemachter Bindung. So konnte ich auch Ski fahren.« Rolf seufzte. »Leider war diese Zeit dann irgendwann vorbei. Ich wurde erwachsen, der Krieg kam, und meine Großeltern starben.« Er hielt kurz inne. »In den Wochen bevor wir wegmussten, hat mein Vater in Texas noch Kirschbäume gepflanzt, wohl in der Hoffnung, dass der Abschied nicht für immer ist. Er war bei der Bahn und musste nicht an die Front. Kriegswichtiger Einsatz. Aber er hat sich kurz vor Ende des Krieges beim Ankoppeln eines Waggons verletzt. Ihm fehlen drei Finger, von daher war er bei Kriegsende bei uns.«

Johanna nickte. Die kaputte Hand von Rolfs Vater war schon oft Thema gewesen, denn er arbeitete auch mit dieser Einschränkung so hart, als wäre sie gar nicht vorhanden.

»Sehen in Schlesien die Städte so aus wie bei uns?«, fragte Johanna.

Rolf schüttelte den Kopf. »Nein, die Häuser in der Stadt sind prächtiger und zum Beispiel mit Erkern gebaut. Es gibt große Marktplätze und … ach, es ist ganz anders als in Ostfriesland. Ich war glücklich dort.« Er schluckte. »Bis der Krieg begann. Dann ging so vieles den Bach runter. Aber ja nicht nur bei mir.«

»Was war das Schlimmste?« Johanna kuschelte sich noch enger an Rolf.

»Alles war schlimm, jedes auf seine Art. Grausam war auf jeden Fall, dass ich im Dezember 1943 mit allen anderen meines Jahrgangs einberufen wurde und gleich an die deutsche Front in der Ukraine geschickt wurde. Die meisten Jungs waren euphorisch und haben sich gefreut. Sie wollten für ihr Land kämpfen und wussten gar nicht, was das in Wahrheit bedeutete. Ich hatte ehrlich gesagt einfach nur Angst. Aber das durfte man auf keinen Fall zeigen. Wir sollten schließlich Helden sein. Also habe ich es heruntergespielt und mitgejohlt.«

»Erzähl mir vom Krieg«, bat ihn Johanna. »Keiner will etwas darüber sagen.«

Rolf schüttelte den Kopf, dann drückte er sie ganz fest. »Nein, das möchtest du gar nicht wissen, Hanna. Und wir wollen uns alle nicht erinnern. Weil es unerträglich ist, weißt du? Man bekommt die Bilder nie aus dem Kopf, aber sie werden wenigstens blasser. Bei manchen zerlaufen sie und verschwinden. Darauf hoffe ich auch.« Rolfs Stimme wurde düsterer. »Ich war zweimal nur ganz kurz im Einsatz, aber was ich in der Zeit gelernt habe, ist: Im Krieg werden wir alle zu Raubtieren. Fressen oder gefressen werden. So einfach ist das. Aber es tut hier« – er zeigte auf sein Herz – »nicht gut. Es macht einen kaputt. Bitte frag nicht mehr. Ich kann dir nur sagen: Es gibt die Hölle nicht erst nach dem Tod.«

Johanna biss sich auf die Lippen. Auch wenn Rolf nicht viel erzählt hatte: So ehrlich war noch keiner gewesen.

»Warum durftest du eher weg? Lientje Deeken hat mal gesagt, du hättest dich gedrückt.«

Rolf lachte rau auf. »Gedrückt? Nein, ich habe mich nicht gedrückt. Ich habe nach meiner ersten Einberufung gleich zu Beginn Typhus bekommen und bin sofort zurückgeschickt worden. Meine Genesungsphase war unendlich lang, ich war mehr tot als lebendig und lange nicht k. v.«

Johanna sah ihn fragend an.

»Kriegsverwendungsfähig«, erklärte Rolf. »Jedenfalls haben sie mich anschließend wieder losgeschickt, und wie es der Teufel oder mein Schutzengel wollte, bin ich im ersten Gefecht so schwer verletzt worden, dass ich schon wieder zurückmusste.« Er zupfte sein Hemd hoch und zeigte Johanna eine lange Narbe, die sich quer über seinen Bauch zog. »Die Heilung hat sich erneut ewig hingezogen. Ich glaube, die Ärzte haben keinen Pfifferling mehr für mein Leben gegeben. Ich durfte nach meiner Genesung kurz auf Heimaturlaub nach Schlesien, und dann war der Krieg vorbei, und wir mussten fliehen. Erst waren wir in Bayern. Jetzt bin ich hier. Zum Glück zusammen mit meinen Eltern. Und ich habe überlebt.«

Johanna sah ihn liebevoll an. »Das ist schön. So hat alles zumindest etwas Gutes.«

»Ja, das stimmt. Immerhin bin ich bisher glimpflich davongekommen. Die schrecklichen Bilder werden bestimmt irgendwann verblassen. Zwar war sowohl die Erkrankung als auch die Verletzung furchtbar, aber so musste ich wenigstens nicht töten.« Rolf holte tief Luft. »Lass uns nicht mehr davon reden. Bitte! Diese Erinnerungen tun mir nicht gut.« Er sah Johanna tief in die Augen. »Es ist ein großes Glück, dass ich dich hier getroffen habe. Wir müssen nach vorn sehen. Da liegt die Zukunft.«

So ähnlich hatte es auch ihre Mutter gesagt, nur hatte es da wie eine Drohung geklungen. Aus Rolfs Mund aber hörte es sich an wie eine Verheißung.

Er drehte Johannas Gesicht langsam zu sich, näherte sich mit seinen Lippen den ihren, strich ihr mit einer Hand sacht über den Nacken – und dann spürte sie nur noch ihn. Seinen herben Duft, seine weichen Lippen, die Zunge, die mit ihrer spielte, sodass das Verlangen in ihr wuchs und wuchs. Vorbei war die Unsicherheit von vorhin. Es fühlte sich richtig an und so, als wäre es das Normalste der Welt. Sie gehörten zusammen, und das hatte sie von dem ersten Blick an, den sie sich zugeworfen hatten, gewusst.

Johanna entfuhr ein leises Seufzen, als Rolf kurz von ihr abließ. »Ach, Rolf!«

Er sah sie lange an. »Meine Hanna …« Dann zog er sie wieder an sich. Sie fühlte nur noch seine Hände, die über ihren Rücken auf- und abglitten. Sie schmeckte ihn. Roch ihn, fühlte sich eins mit ihm. Niemals sollte das aufhören.

»Ich liebe dich, Hanna«, flüsterte er schließlich. »Ich liebe dich mehr als mein Leben. Von der ersten Sekunde an wusste ich, dass wir zusammengehören.«

»Ich liebe dich auch«, sagte Johanna. »Seit ich dich kenne. Hanna und Rolf.« Wie wunderbar diese Worte klangen.

»Beim nächsten Treffen will ich alles von dir wissen«, sagte er, und wieder streiften seine Lippen ihre Wange.

»Ja, du sollst alles hören. Ich habe keine Geheimnisse vor dir, Liebster.«

Auf der Straße näherten sich klappernde Schritte, die von einer schrillen Stimme begleitet wurden. Diese Stimme kannte Johanna nur zu gut. Sie gehörte Tant Helma, der Mutter von Theda und Ingo. Und dann erkannte sie auch, wer da mit Tant Helma unterwegs war: Bei ihrer Begleitung handelte es sich um ihre Mutter Foline. Beide spazierten gerade auf der Straße am Friedhof vorbei.

»Der Jung wird ja wohl in der Lage sein, ihr dann beizeiten einen Erben zu machen. Alles hat der Krieg hoffentlich nicht kaputt gemacht«, hörten sie Johannas Mutter sagen. »Wird Zeit, dass das so schnell wie möglich passiert. Dieser schlesische Flüchtling ist dabei, ihr schöne Augen zu machen. Na, Hauptsache, die Deekens bekommen von den Gerüchten nichts mit. Überleg mal: So einer und unsere Johanna!«

»Das geht gar nicht, Foline! Überhaupt nicht. Das ganze Blut würde sich ja vermischen.« Tant Helmas Stimme überschlug sich vor Empörung. »Ingo ist, wie sagen die jetzt alle so schön, tolerant. Er findet, dass diese Vertriebenen genauso sind wie wir. Stell dir das mal vor! Die haben doch nichts und leben hier auf unsere Kosten. Da kann man doch nicht sagen, die sind gleichwertig!« Sie seufzte so laut, dass es bis auf den Friedhof zu hören war.

Johanna verkrampfte sich angesichts dieser bösen Worte. Was maßte sich ihre Tante an? Die Zeiten, in denen man von Rassenschande sprach, waren ja wohl vorbei! Aber sie sagte erst einmal nichts. Erst warten, bis sie weg waren. Die Schritte entfernten sich, trotzdem vernahm Johanna auch die letzten Sätze noch. »Ich bin froh, wenn Ingo bald eine Frau findet. Unverheiratet kommen die jungen Keerls nur auf dumme Gedanken. Aber der ist so wählerisch. Nichts als Technik hat der im Kopf! Meint, bald würden alle Autos fahren und Trecker und so ein Tünkram.«

»Die Flausen vergehen ihm schon noch, Helma.«

»Und Theda, unsere Lütte …«

Den Rest verstand Johanna nicht mehr. Die beiden Frauen hatten glücklicherweise keinen Blick auf den alten Friedhof geworfen und Johanna und Rolf nicht entdeckt.

Aufatmend lehnte Johanna sich zurück. Aber die romantische Stimmung war verflogen. Sie war so wütend angesichts der Worte ihrer Tante!

»Hast du das gehört? Die Alten denken noch immer so wie früher. Vielleicht sollte man ein paar von ihnen auch mal zur Friesen-Jugend schicken, damit sie kapieren, dass es so nicht mehr läuft«, sagte Johanna. Sie nahm eine Handvoll Erde und schleuderte sie über die Gräber. »Gut, dass sie uns nicht gesehen haben.«

»Ich weiß, dass viele noch so denken, aber längst nicht alle. Und mit der Zeit wird es nachlassen, glaub mir!« Rolf zog sie noch einmal an sich und strich ihr übers Haar. Seine Hände zitterten allerdings dabei. »Dass sie so üble Dinge denken und sagen, ist das eine, Liebste. Aber was heißt das? Deine Mutter und deine Tante haben von dir und Eike Deeken gesprochen …« Seine Stimme war nun merkwürdig dünn.

Johanna war klar, dass Ausflüchte nichts bringen würden und sie Rolf die Wahrheit sagen musste. Über kurz oder lang würde es ihm auf dem Nordseehof ohnehin zu Ohren kommen. »Ich soll ihn heiraten!«, stieß sie hervor. »Aber ich will das nicht!«

»Puh«, machte Rolf, und seine blauen Augen verdunkelten sich merklich. Er lockerte seinen Griff, lehnte sich zurück an die Kirchenmauer und schaute für eine Weile in den Himmel. Dann sah er Johanna mit einem fragenden Blick an. »Und warum sitzt du dann mit mir hier?«

»Hab ich dir doch gesagt. Sie wollen das. Ich nicht. Eike ist mir fremd, auch wenn ich ihn schon so lange kenne. Und ich liebe ihn nicht. Ich passe gar nicht zu ihm!«

Es war unübersehbar, wie sehr Rolf mit sich rang.

»Ich habe dir vertraut, Johanna. Hab von mir erzählt, und du hast mich ermutigt …«, begann er nach einer Weile unangenehmen Schweigens. »Du hast doch eben mich geküsst und gesagt, dass du mich liebst!«

Johanna reckte trotzig das Kinn. »Das tue ich auch. Dich und nicht ihn! Noch einmal: Ich werde Eike nicht nehmen. Zwingen kann mich schließlich keiner.«

»Wie willst du dich denn gegen diese Eheschließung wehren? Und was passiert, wenn du dich dem Wunsch deiner Eltern widersetzt? Gibt es überhaupt einen Weg, das zu tun?« Darauf hatte Johanna keine Antwort. Sie wusste es ja selbst nicht.

Eng umschlungen saßen sie da, lauschten dem Schlagen der Kirchenglocke und hingen ihren Gedanken nach. Johanna wollte, dass Rolf ihr glaubte. Und doch wusste sie, wie schwierig es werden könnte, ihren eigenen Weg zu gehen. Wenn es nicht gar unmöglich war.

Plötzlich richtete Rolf sich auf. »Es gibt eine Lösung. Ich habe schon länger darüber nachgedacht, und sie könnte uns retten.«

Johanna lächelte ihn voller Hoffnung an. »Welche denn?«

»Lass uns gemeinsam von hier verschwinden! Dorthin, wo es egal ist, ob sich ›das Blut vermischt‹. Dorthin, wo wir unsere Liebe leben dürfen, wo ein schlesischer Flüchtling genauso viel wert ist wie der Erbe einer großen Schäferei.«

Johanna lachte bitter auf. »Und wo soll das ein? Sie tun hier in diesem Land zwar inzwischen alle so, als wären sie jetzt die perfekten Demokraten, weil die Besatzer es so wollen. Und sie tun so, als ob sie wüssten, was Freiheit ist. Aber in Wirklichkeit … Du hast es eben gehört. Das alte Denken steckt noch fest in vielen Köpfen. Es gibt immer Menschen, die glauben, sie sind besser als die anderen. Und so schnell wird sich das auch nicht ändern.« Sie presste die Lippen kurz zusammen, ehe sie mit fast tonloser Stimme hinzufügte: »Das, was du willst, gibt es nicht. Nirgendwo ist es so.«

Rolf packte Johanna bei den Schultern. »Doch, das gibt es! In Amerika. Das ist das Land, wo uns alle Möglichkeiten offenstehen. Dort kann man frei leben. Alles sagen. Die Amerikaner sind unglaublich freundlich und nicht so verbohrt wie die Menschen hier.«

Johanna sah ihn verständnislos an. »Woher willst du denn das wissen? Kennst du irgendeinen Amerikaner? Hier sind nur die Engländer, nachdem die Kanadier wieder abgezogen sind.«

Rolf nickte. »Ja, ich habe in Bayern Amerikaner kennengelernt.«

Johanna zog fragend die Brauen hoch.

»Ich habe doch eben erzählt, dass meine Familie nach dem Krieg erst in Bayern war. Wir waren in Schwandorf untergebracht. Dort hatten die Amis auf den Wiesen und Feldern ihre Fahrzeuge abgestellt. Panzer, Lkw, Jeeps. Wir haben schnell herausgefunden, wann wer Wache hatte, und so konnten wir die Fahrzeuge plündern. Wir haben Zigaretten und Werkzeuge mitgehen lassen, die wir dann bei den Bauern gegen Lebensmittel eintauschen konnten. Oder auf dem Schwarzmarkt verkaufen.« Rolf kicherte. »Manchmal haben die Amis uns auch was davon geschenkt. Aber das reichte uns nicht.«

Johanna verstand noch immer nicht, worauf Rolf hinauswollte.

»Ich habe dort auch Autofahren gelernt. Die Fahrzeuge konnte man ohne Zündschlüssel starten. Allerdings mussten wir rechtzeitig abhauen, wenn wir entdeckt wurden.«

»Und was sagt mir das über die Amis?«, fragte Johanna. »Dass sie ganz nett sind, weil sie Kaugummi verschenken? Dass sie mehr haben als wir? Aber das hat sich durch die Währungsreform doch jetzt auch geändert. Es gibt wieder alles.«

»Ich bin noch nicht fertig«, sagte Rolf. »Jetzt kommt’s, und da siehst du, wie sie ticken: Zwei Jungs ist die Flucht einmal nicht gelungen, sie sind die Nacht über eingesperrt worden. Wir dachten, das gibt richtig Ärger. Aber was war? Sie kamen am nächsten Tag mit zwei Laib Brot zurück. Keine Strafe, nichts. Die Deutschen hätten anders reagiert, sag ich dir.«

Johanna sog die Luft scharf ein. »Ungewöhnlich. Aber du hast recht, das zeugt von Größe.«

»Ja, nicht wahr?«, bestätigte Rolf begeistert. »Stell dir das mal in Neusiel vor! Sie sind gut, die Amis. Ehrlich!«

»Und du meinst, sie sind alle so?«, fragte Johanna zweifelnd.

»Ja, das meine ich. Wir gehen nach Amerika. Von Bremerhaven aus kann man eine Passage buchen. Und dann: ab in die Freiheit!«

»Amerika«, wiederholte Johanna zögerlich. »Das ist weit weg.«

Rolf nickte. »Weit genug, dass wir unsere Träume leben können. Wir wären frei.« Er machte eine ausschweifende Handbewegung. »Von all dem.«

Johanna schlug die Hände vors Gesicht. Die Vorstellung, mit Rolf zu fliehen, hatte etwas Romantisches, aber die ganze Situation überforderte sie gerade maßlos. Es war ausgeschlossen, hier und sofort eine solche Entscheidung zu treffen. Sie hatte Ostfriesland bisher noch nie verlassen, ihre weiteste Reise war ein Besuch in Emden gewesen. Mit der Kutsche und der Bahn. Und nun sollte sie den Atlantik überqueren?

»Ich kann gar kein Englisch.«

Rolf nahm ihre Hände vorsichtig beiseite. »Das wirst du lernen, Liebes. Noch kann ich es auch nicht, aber wenn wir es wollen, wird es kein Problem sein, glaub mir!«

In Johanna arbeitete es. Amerika – das war, als hätte Rolf vorgeschlagen, sie sollte zum Mond fliegen, und das konnte man schließlich auch nicht. Sie wusste nicht einmal, ob sie seefest war. Auch wenn sie an der Küste lebte, hatte sie noch nie ein Schiff betreten. Sie war die Tochter eines Bauern! Die Landwirtschaft, der Hof, Neusiel, die Marsch waren ihr Zuhause. Sie kannte nichts anderes. Und in ihrem tiefsten Inneren mochte sie all das auch.

»Du hast merkwürdige Träume.« Johanna wuschelte Rolf mit der Hand durchs Haar, aber so leicht, wie sie tat, war ihr nicht ums Herz. »Da sind doch auch noch unsere Eltern, die wir nicht einfach zurücklassen können.«

Rolf setzte sich aufrecht hin. »Hanna, das sind keine Träume. Das ist eine Möglichkeit.« Ihm war es tatsächlich ernst.

Johanna sah ihn mit festem Blick an. »So einfach ist das nicht! Amerika ist weit weg von meiner Familie. Vielleicht würde ich sie nie wiedersehen! Sie können mich doch nicht einfach besuchen kommen und den Hof allein lassen. Wie soll das gehen? Ich bin im Augenblick das einzige Kind, das meinen Eltern geblieben ist. Niemand weiß, wie es Keno geht und ob er je zurückkehrt. Was, wenn ich nie erfahre, was aus ihm geworden ist?« Johanna legte den Kopf auf die angezogenen Knie. »Wir kennen uns noch nicht lange genug für eine solch folgenschwere Entscheidung«, fügte sie dann leise hinzu.

»Ich weiß, wie sehr ich dich liebe und dass ich mein Leben mit dir verbringen will. Egal wo und egal wie. Überleg es dir. Es wäre ein Weg. Für uns. Für unsere zukünftigen Kinder.« Rolf nahm erneut ihre Hand und drückte sie so heftig, dass es schmerzte. »Bitte denk drüber nach! Ich könnte es nicht ertragen, dich in Eikes Armen zu wissen.«

»Ich will so gern mit dir zusammen sein!«, murmelte Johanna. »Aber ich weiß nicht, ob ich das wage.« Sie hob wieder den Blick.

»Liebe braucht Mut. Ich habe ihn, Hanna. Ich habe ihn.«

Johanna verschloss seinen Mund mit einem raschen Kuss. Dann verharrten sie wieder eng umschlungen, bis der Schlag der Kirchenglocke sie aus den Gedanken riss. Sie waren schon sehr lange von der Friesen-Jugend fort. Johanna wurde unruhig.

»Wir müssen zurück! Es könnte auffallen. Auch wenn ich lieber noch ewig mit dir hier sitzen möchte.«

»Du hast recht, lass uns gehen. Aber wir sehen uns ganz bald wieder.« Rolf erhob sich seufzend und zog Johanna ebenfalls hoch. Er drückte sie noch einmal. »Denk drüber nach, Hanna!«

Dann gingen sie zurück zum Schulgebäude, als hätten sie nur einen kleinen Spaziergang gemacht. Sie mischten sich unter die anderen der Friesen-Jugend und versuchten für den Rest des Nachmittags so zu tun, als wäre alles wie immer.

Kapitel 4

Johanna hatte sich schön gemacht, so wie ihre Eltern es von ihr verlangt hatten. Obwohl es heute warm war, wollte sie nicht dasselbe Kleid tragen, das sie gestern bei ihrem Treffen mit Rolf angehabt hatte. Dieses Kleid stand für Fröhlichkeit und Spaß, und beides verband sie mit dem Nordseehof nicht. Deshalb entschied Johanna sich für einen schlichten hellgrünen Rock und eine weiße Bluse, die ihre Arme bis zu den Handgelenken verdeckte. Sie hatte vorn eine Rüsche und wirkte »anständig«. Frisch gewaschen und gebügelt verströmte sie einen angenehmen Duft. Alles war so, wie ihre Eltern es von ihr erwarteten.

Johanna hatte die Haare zu ordentlichen Schnecken geflochten und ihre Zähne noch einmal gründlich gereinigt, damit sie nicht gleich zu Beginn gerügt wurde. Äußerlich war sie also sauber, aber innerlich fühlte Johanna sich schmutzig. Sie tat hier etwas furchtbar Falsches, nur hatte sie keine Idee, wie sie dem Wunsch ihrer Eltern entgegentreten sollte. Mit Rolf nach Amerika zu fliehen erschien ihr auch nach längerer Überlegung eine Spur zu waghalsig. Sie konnte nicht einfach alles zurücklassen und so tun, als gäbe es das Leben auf dem Eilershof nicht. Aber sie konnte auch nicht Ja sagen, sollte Eike sie tatsächlich gleich fragen. Es musste doch für alles einen anderen Weg geben! Nun, ihr würde hoffentlich noch etwas einfallen.

Jetzt saß sie schweigsam in der vierrädrigen Kutsche, die sie zur Schäferei bringen sollte. Obwohl die Höfe nur etwa einen halben Kilometer auseinanderlagen, hatte Marten Eilers darauf bestanden, den Rappen einzuspannen. In seinen Augen zeigte dies, dass sie in sehr wichtiger Angelegenheit unterwegs und ganz sicher keine Bittsteller waren. »Der Name Eilers bedeutet in Neusiel etwas, das muss man immer wieder deutlich machen«, hatte er gesagt, kurz bevor sie aufbrachen.

Johannas Mutter hatte zudem befürchtet, dass die Schuhe auf dem Weg schmutzig werden könnten. Sie wollten doch bei den Deekens einen guten Eindruck hinterlassen, weshalb sie ihren Sonntagsstaat trug. Der bestand aus einem braunen Rock mit weißer Bluse und einer gestrickten Stola. Ihr Vater steckte in seinem schwarzen Anzug, den er auch zu Beerdigungen und anderen Feierlichkeiten trug.

Johanna wäre bei dem schönen Wetter viel lieber zu Fuß durch die Marsch gegangen. Sie fand den Aufwand unnötig, zumal die beiden Familien sich bereits ewig kannten.

Johannas Vater schnalzte und ließ das Pferd in ruhigem Schritt gehen. »Keiner soll denken, Familie Eilers hätte es eilig und wir müssten unsere Tochter auf Düwel komm raus loswerden«, brummte er.

Der Nordseehof war ein mächtiger roter Backsteinbau. Er war um einen Innenhof angelegt, umgeben von einer Graft und altem Baumbestand. Betrat man den Hof, befanden sich rechts die riesigen Stallungen. Da man hier überwiegend Schafe hielt, wurde man vor allem im Winter, wenn die Tiere aufgestallt waren, von einem ständigen Blöken und dem unvergleichlich angenehmen, leicht süßlichen Duft nach Schaf empfangen. Dieser Geruch war aber auch im Sommer immer präsent. Links stand die große Scheune, und umgeben war die Schäferei von altem Baumbestand. Gerade als Johanna ausstieg, ging eine Böe durch die mächtigen Kronen, und die Blätter raschelten fast unheilvoll.

»Ist der Nordseehof nicht imposant?«, fragte Johannas Mutter und sah ihre Tochter an. »Nun sag schon!«

Ja, die Schäferei machte etwas her. Direkt gegenüber dem schmiedeeisernen Tor stand das einstöckige Wohnhaus aus rotem Backstein, zu dessen Haustür eine Steintreppe hinaufführte.

Neben dem großen, parkähnlichen Garten, der hinter dem Wohnhaus begann, besaßen die Deekens eine riesige Streuobstwiese mit angrenzendem Gemüsegarten. Alles war gewaltiger als auf dem Eilershof, der auch schon größer als andere Gehöfte rund um Neusiel war.

Lientje und Thilo Deeken erwarteten sie an der Haustür, die aus dickem Holz bestand, im oberen Teil mit vier Fenstern versehen und in Grün-Weiß gestrichen war.

Ende der Leseprobe