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Die Fernsehjournalistin January DeLena wittert eine spannende Story: Ein Straßenprediger zwischen religiösem Wahn und abgrundtiefer Grausamkeit versucht, die Menschen in Washington zu bekehren. Doch mitten in Januarys Recherchen geschehen plötzlich grauenvolle Morde und sie ist sich sicher - der "Sünder" steckt dahinter.
Detective Ben North versucht fieberhaft, die Morde aufzuklären, und setzt widerwillig seine Hoffnung in die Presse. Er und January kommen sich während der gemeinsamen Ermittlungen schnell näher. Der "Sünder" jedoch kann immer wieder entkommen und auf einmal schwebt auch January in höchster Gefahr ...
Dieser Roman ist in einer früheren Ausgabe unter dem Titel "Der Jünger" erschienen.
Weitere Romantic-Suspense-Romane von Sharon Sala bei beTHRILLED u.a.: "Tief unter die Haut", "Wie ein stummer Schrei" und "Im Zeichen der roten Rose".
eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung.
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Seitenzahl: 458
Die Fernsehjournalistin January DeLena wittert eine spannende Story: Ein Straßenprediger zwischen religiösem Wahn und abgrundtiefer Grausamkeit versucht, die Menschen in Washington zu bekehren. Doch mitten in Januarys Recherchen geschehen plötzlich grauenvolle Morde und sie ist sich sicher – der »Sünder« steckt dahinter.
Detective Ben North versucht fieberhaft, die Morde aufzuklären, und setzt widerwillig seine Hoffnung in die Presse. Er und January kommen sich während der gemeinsamen Ermittlungen schnell näher. Der »Sünder« jedoch kann immer wieder entkommen und auf einmal schwebt auch January in höchster Gefahr …
Sharon Sala veröffentlichte ihr erstes Buch 1991. Die New-York-Times-Bestsellerautorin schreibt sehr erfolgreich in fünf unterschiedlichen Genres und ist besonders bekannt dafür, dass sie in ihren Romanen gekonnt sinnliche Romantik und fesselnde Spannung miteinander verknüpft. Sie wurde unter anderem mit dem Career Achievement Award des Romantic Times Magazine ausgezeichnet. Ihre Fans kennen sie auch unter dem Namen Dinah McCall.
Eine fast perfekte Lüge
Blutroter Schnee
Tief unter die Haut
Wie ein stummer Schrei
Im Zeichen der roten Rose
SHARON SALA
DEROHNESÜNDEIST
Aus dem Amerikanischen von Constanze Suhr
beTHRILLED
Digitale Erstausgabe
»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2005 by Sharon Sala
Titel der amerikanischen Originalausgabe: »The Chosen«
Originalverlag: Mira Books, Toronto
All rights reserved including the right of reproduction in whole or in part in any form. This edition is published by arrangement with Harlequin Books S.A.
This is a work of fiction, Names, characters, places and incidents are either the product of the author’s imagination or are used factiously, and any resemblance to actual persons, living or dead, business establishments, events or locales is entirely coincidental.
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30131 Hannover
Für die deutschsprachige Erstausgabe:
Copyright © der deutschen Übersetzung 2007 by MIRA Taschenbuch
Titel der deutschsprachigen Erstausgabe: »Der Jünger«
Verlag: Cora Verlag GmbH & Co. KG, 20350 Hamburg
Für diese Ausgabe:
Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln
Lektorat/Projektmanagement: Johanna Voetlause
Covergestaltung: Massimo Peter-Bille unter Verwendung von Motiven © shutterstock: talseN | Yanchous | Pablos33 | Ronald Sumners
eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3- 7325-4227-7
Bei diesem eBook handelt es sich um die digitale Erstausgabe des bereits unter dem Titel »Der Jünger« bei MIRA Taschenbuch erschienenen Werks.
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Ich kratze ab. Keiner spricht es aus, aber ich höre es an ihrem Tonfall. Sie werfen einen Blick auf meine Krankenakte und sehen dann weg. Oh, bitte, bitte, lasst mich nicht sterben!
Jay Carpenters Stimme war nicht zu hören, und auch seine Panik merkte man ihm nicht an. Das Letzte, woran er sich noch erinnerte, war, wie er einem seiner Mädchen eine Ohrfeige verpasste, weil sie ihm Geld unterschlagen hatte. Seit über sechs Jahren ließ er mehr als ein Dutzend Frauen für sich anschaffen, und egal wie sorgfältig er sie auch auswählte, es gab immer eine darunter, die Mist baute.
Er erinnerte sich noch, wie seine Handfläche klatschend auf ihrem Gesicht landete. Dann hatte er plötzlich einen stechenden Schmerz hinter seinem rechten Ohr gespürt. Danach hatte sich alles um ihn herum gedreht. Ganz vage hörte er noch ihr Kreischen und wie jemand »Ruf einen Krankenwagen!« schrie. Dann war ihm schwarz vor Augen geworden.
Jetzt wusste er nur, dass er sich in einem Krankenhaus befand und dass ihm ein Gehirntumor herausoperiert worden war. Er wusste, dass sein Fieber einfach nicht sinken wollte, und er verspürte eine große Hoffnungslosigkeit.
Alice Presley arbeitete nun schon seit über siebzehn Jahren als Krankenschwester. In dieser Zeit hatte sie Hunderte von Patienten gepflegt. Sie bezeichnete sich selbst als »alten Hasen« in diesem Job und hatte oft behauptet, schon alles gesehen zu haben. Doch das war, bevor sie den Mann in Bett 315 B eingeliefert hatten. Trotz seiner Bewusstlosigkeit behielt sie ihn vorsichtshalber im Blick, während sie ihn wusch. Sie hatte sich seine Krankenakte so oft durchgelesen, dass sie seine Geschichte auswendig kannte.
Er hieß Jay Carpenter – ein Zuhälter in den Vierzigern, der in seinem Apartment ohnmächtig geworden war und mit Halluzinationen eingewiesen wurde.
Die erste Diagnose, dass es sich um eine Überdosis handelte, wurde revidiert, nachdem die Ärzte einen Tumor gefunden hatten, der auf die Hirnanhangdrüse und Teile des Gehirns drückte.
Er war operiert worden, jedoch erfolglos. Die Ärzte hatten nur einen Teil des Tumors entfernen können.
Jay Carpenter litt unter anhaltendem Fieber und verlor immer wieder das Bewusstsein.
Von den zahlreichen anderen Patienten, die Alice versorgt hatte, unterschied sich dieser nur dadurch, dass er ihr Angst einjagte, wenn er zu sich kam.
Seine Augen waren so dunkel, dass sie fast schwarz aussahen. Und er roch so merkwürdig nach Leichenschauhaus, egal wie oft sie ihn badete. Wenn sie es nicht besser wüsste, würde sie glatt meinen, er sei schon tot.
Kaum ging ihr der Gedanke durch den Kopf, als er erneut kollabierte. Ohne Zeit zu verlieren, drückte sie den Alarmknopf und begann mit den Wiederbelebungsmaßnahmen.
Schwestern stürzten mit einem Crash Cart herein, hinter ihnen zwei Ärzte, die gerade auf der Etage ihre Visite gemacht hatten. Sie waren bereits aufeinander eingespielt und bemühten sich mit routinierten Handgriffen um den Patienten, obwohl es schien, als sei es bereits zu spät.
Nein, nein, nein! Noch nicht! Nicht auf diese Art!
Jay Carpenter tat seinen letzten Atemzug, während gleichzeitig seine Seele den Körper verließ. Es war überhaupt nicht so, wie er erwartet hatte. Kein verzweifeltes Luftschnappen, lediglich das Ende der Schmerzen. Einen kurzen Augenblick schwebte er über seinem Körper und blickte darauf zurück, und dann wurde er von einer unglaublichen, nie erlebten Macht nach unten gezogen – so jedenfalls erlebte er es. Schwerkraft existierte hier nicht. Es war wie beim Abwärtsrasen in einer riesigen Achterbahn. Licht umfing ihn und badete ihn auf nicht gekannte Weise in Wärme und Liebe. Was er sich als Kind immer sehnsüchtig gewünscht hatte und was ihm auch als Erwachsener verwehrt geblieben war: Liebe und Anerkennung, zwei Dinge, von denen er nie geglaubt hätte, dass sie existierten. Alles fühlte sich vollkommen an. Doch dieses Gefühl endete genauso unvermittelt, wie es begonnen hatte. Das Licht, von dem er gewärmt worden war, verblasste. Dies wurde ihm jedoch erst richtig klar, als die unendliche Freude in seinem Herzen von einer überwältigenden Hoffnungslosigkeit verdrängt wurde.
Die Luft vibrierte von unzähligen Stimmen und von dem wirren Durcheinander panischer Schreie. Der Lärm traf ihn wie ein stechender Schmerz, als würde sein irdischer Körper mit einem spitzen Messer gemartert. Jetzt war auch der letzte Rest von Wärme und Liebe verschwunden und hatte wieder den alten Ängsten Platz gemacht. Sie überfielen ihn mit einer solchen Gewalt, dass ihn eine schreckliche Vorahnung überkam.
Er war nicht im Himmel.
Das hier war die Hölle.
Jay fing an zu schreien, doch seine Stimme verlor sich in dem Heulen der zahllosen Seelen, die bereits in diesem Raum umherirrten. Es war zu spät, um zu bereuen. Zu spät, Gott um Vergebung zu bitten. Es war zu spät – für alles.
Vor ihm erhob sich ein Meer aus Flammen. Der Gestank von Schwefel war überall, als das Böse ihn umfing. Gerade drohte er vollständig davon aufgesaugt zu werden, da wurde er wieder herausgerissen. Nur ganz kurz und schwach kam das gleiche bewegende Gefühl von vorher zurück, nur wurde er diesmal hoch- statt heruntergezogen.
»Gelobt sei Gott!«, rief er erleichtert. »Ich komme doch in den Himmel!«
Dann ertönte ein fürchterliches Gebrüll unter ihm, und auch wenn keine Worte gesprochen wurden, so hörte er doch deutlich den Schwur des Teufels.
»Niemals kommst du in den Himmel! Du gehörst mir!«
»Ich habe einen Puls!«
Jay glaubte seine eigene Stimme zu hören, während er in seinen Körper zurücksank. Er wollte schreien, lachen, weinen, den Ärzten dafür danken, dass sie ihn ins Leben zurückgeholt hatten, aber er brachte noch keinen Ton heraus.
Es dauerte Tage, bis er soweit bei Bewusstsein war, dass er einen zusammenhängenden Satz sagen konnte. Zu diesem Zeitpunkt war er schon fest entschlossen, eine krankhafte, beängstigende Mission durchzuführen. Was er von der Hölle gesehen hatte, war ihm tief ins Mark gefahren. Er wusste, dass es unvermeidlich war, zu sterben. Irgendwann erwischte es jeden, doch um sicherzugehen, dass seine zweite Reise ins Jenseits keine Wiederholung dieser ersten Erfahrung werden würde, hatte er sich etwas ausgedacht, was er für den sicheren Weg in den Himmel hielt.
Nach einer ernüchternden Besprechung mit dem behandelnden Arzt, bei der er erfahren hatte, dass sein Tumor nicht vollständig entfernt werden konnte und dass seine Tage gezählt seien, nahm die Entschlossenheit, seinen Plan durchzuführen, weiter zu. Der Gedanke, die Ewigkeit fern von diesem warmen, tröstenden Licht der Liebe zu verbringen, war ihm unerträglich. Je mehr er darüber nachdachte, umso sicherer war er, dass er rigoros vorgehen musste. Wenige Stunden, nachdem er das Krankenhaus verlassen hatte, unternahm er bereits den ersten Schritt in eine Richtung, die ihm als vollkommene Wiedergutmachung erschien.
January DeLena war eine der bekanntesten Journalistinnen in Washington, D.C. Am 11. September war sie vor Ort gewesen, und nur wenige Minuten, nachdem das Flugzeug ins Pentagon gestürzt war, sendete sie live. Dann hatte die halbe Welt mit angesehen, wie sie das Mikrofon weglegte und den Überlebenden half, die aus dem Gebäude flohen. Als sie sich wieder daran erinnerte, weshalb sie dort stand, war sie vollkommen mit Ruß und Blut beschmiert. Sie fluchte und weinte vor laufender Kamera. Normalerweise wäre sie deshalb gefeuert worden, doch an diesem 11. September war alles anders. An diesem Tag hatte sie lediglich das ausgesprochen, was die ganze Nation fühlte. Am Ende der Woche kannte jeder den Namen der attraktiven Fernsehreporterin, die Osama bin Laden mit Schimpfworten bedacht hatte.
Im Laufe der Zeit hatte sich gezeigt, dass January DeLena nicht nur ein hübsches Gesicht hatte. Wenn es darum ging, eine Story zu bekommen, blieb sie hartnäckig, weshalb sie sich auch in dieser Nacht um halb eins in den Straßen des Rotlichtviertels aufhielt und unter die Obdachlosen mischte, statt in ihrem Bett zu liegen und zu schlafen.
Seit Monaten hörte sie das Gerede über einen Mann, der sich selbst den Sünder nannte und behauptete, schon einmal gestorben zu sein. Nun hieß es, er treibe sich bei den Hausierern herum und predige seine Version der Ewigkeit. Eigentlich also nur eine von vielen Geschichten über einen religiösen Fanatiker. Doch in diesem Fall gab es eine außergewöhnliche Wendung, und außergewöhnliche Geschichten zogen January magisch an.
Über Todeserfahrungen zu sprechen, war schwer in Mode gekommen. Viele Autoren hatten über dieses Thema ganze Bücher geschrieben und behauptet, dass sie nicht hatten zurückkommen wollen, weil ein berauschendes Gefühl des Friedens sie übermannt hätte. Aber dieser Mann erzählte eine völlig andere Geschichte und schaffte es damit immerhin, Januarys Neugier anzustacheln. Den Gerüchten zufolge, die man sich auf der Straße erzählte, war er buchstäblich zur Hölle gefahren und verbrachte nun sein Leben damit, von diesem prägenden Erlebnis zu berichten.
January hatte unter der Markise eines Secondhandshops Schutz gesucht, doch selbst hier peitschte ihr der Wind noch den Regen gegen die Beine. Dass sie nass wurde, war dabei jedoch ihr geringstes Problem. Vielmehr raubte ihr der Geruch, der von der Frau ihr gegenüber ausging, schier den Atem. Sie stellte sich mit dem Rücken zum Wind und versuchte, nicht allzu tief einzuatmen, während sie mit ihr sprach.
»Also, Marjorie, Sie sagten, dass Sie den Sünder selbst gesehen hätten?«
Marjorie Culver umklammerte den Griff ihres Einkaufswagens noch fester. So lange hatte niemand von ihr Notiz genommen. Diese ungewohnte Aufmerksamkeit verunsicherte sie, und sie fühlte sich verletzlich. Trotzdem glaubte sie nicht, dass ihr von der Frau mit dem Mikrofon Gefahr drohte, und sie nickte schließlich.
»Ja … Ich hab ihn vor zwei, drei Tagen gesehen. Er stand unter einer Überführung in der Nähe vom Potomac und hat Gutscheine für ein Fischsandwich von Captain Hook verteilt. Er hatte einen ganzen Korb voll davon. Einer meinte, das wären wahrscheinlich Fälschungen, aber ich habe mir trotzdem einen geholt, und als ich den beim Drive-in mit meiner Bestellung abgegeben habe, gab‘s keine Beschwerden.«
Dann lachte sie, als wäre ihr gerade aufgegangen, wie komisch es war, zu Fuß in einem Drive-in zu erscheinen.
»Hat er da gepredigt?«, fragte January.
Marjorie zuckte mit den Schultern. »Ich nehme mal an, so könnte man‘s nennen.«
»Wie meinen Sie das?«
»Na ja, er hatte ne Bibel in der Hand und so was alles, aber was er gesagt hat, klang ziemlich verrückt. Ich glaube nicht, dass es irgendwas aus der Bibel war.« Wieder zuckte sie mit den Schultern. »Es war auch egal. Kein Mensch hat ihm zugehört. Alle wollten nur den Gutschein.«
January verstand das gut. In ihrer Jugend hatte es Tage gegeben, da hätte sie für eine warme Mahlzeit ebenfalls so einiges über sich ergehen lassen. Gott sei Dank lagen diese Zeiten nun schon lange hinter ihr.
»Wissen Sie, wo er wohnt?«
Marjorie runzelte die Stirn. »Überall und nirgends, nehme ich an. Ich war mir nicht sicher, aber ich dachte, er wäre einer von uns.«
»Sie meinen, er ist obdachlos?«
Marjorie funkelte sie an. »Manche wollen es so, wissen Sie?«
»Ich wollte Sie nicht beleidigen, Marjorie«, versuchte January die Frau zu beschwichtigen. »Ich will nur herauszufinden, wo er ist. Ich will selbst mit ihm sprechen.«
Mit finsterem Gesicht zog Marjorie ihren Einkaufswagen ein bisschen näher zu sich heran. Das Zeug in diesem Wagen war ihr ganzes Hab und Gut, aber vermutlich konnte nicht einmal sie mehr genau sagen, was sich überhaupt alles darin befand.
»Na ja … Da kann ich Ihnen nicht helfen. Ich hab kein gutes Adressengedächtnis.«
January seufzte. Sie war der Frau offensichtlich doch unbeabsichtigt zu nahegetreten. »Na gut«, sagte sie und tätschelte Marjorie kurz den Arm. »Vielen Dank jedenfalls, dass Sie mit mir gesprochen haben.« Sie zog fünf Zwanzig-Dollar-Scheine aus der Tasche und legte sie Marjorie in die Hand. »Nehmen Sie sich heute Nacht ein Zimmer und bestellen Sie sich etwas Schönes zu essen.«
Marjorie blickte erschrocken auf das Geld und schien für einen Augenblick zu überlegen, ob sie das wieder als Beleidigung auffassen sollte, aber dann fegte ihr der Wind einen Schwall Regen in den Kragen. Sie nahm die Scheine und stopfte sie in eine ihrer zahlreichen Taschen.
»Ja … Das mache ich«, sagte sie.
»Gute Nacht.« January rannte zu ihrem Wagen, schloss die Türen und seufzte erleichtert bei dem Gedanken, dass sie ein Zuhause hatte und ein Auto, das sie dorthin brachte. Sie drehte den Zündschlüssel, und das Geräusch des startenden Motors hämmerte mit ihrem heftig klopfenden Herzen um die Wette. Im gleichen Moment, in dem sie die Scheibenwischer einschaltete, trat ein hagerer Mann mit schmutzigen weißen Hosen und einem knielangen Hemd vor ihr aus der Gasse. Seine Kleidung war klitschnass, genauso wie sein Haar, das ihm an Stirn und Hals klebte. Fast sein ganzes Gesicht wurde von einem dichten Bart verdeckt. Einen kurzen Moment trafen sich ihre Blicke. Als er grinste, schaltete sie die Scheinwerfer an und signalisierte ihm per Lichthupe, dass er aus dem Weg gehen sollte, was er auch tat, jedoch ohne die Augen von ihr abzuwenden.
Der Gesichtsausdruck des Mannes ließ January frösteln. Die kaputten Menschen in dieser gottverlassenen Gegend berührten sie tief, und zum ersten Mal in ihrem Leben fragte sie sich, ob es richtig war, an dieser Story dranzubleiben.
Schnell verdrängte sie ihre Zweifel und erinnerte sich daran, wie weit sie es gebracht hatte – von dem armen Latinomädchen aus Juarez in Mexiko zu der Frau, die sie heute war. Sie hatte viel und hart gearbeitet, um sich das Ansehen und die Glaubwürdigkeit zu erkämpfen, die sie heute besaß. Mit wiedererwachtem Optimismus legte sie den Gang ein und trat heftig aufs Gas. Ihre Reifen quietschten und es roch nach verbranntem Gummi. Sie brauchte nichts weiter als ein heißes Bad und ein bisschen Schlaf, dann wäre wieder alles in Ordnung.
Kurz bevor sie ihr Apartmenthaus erreicht hatte, raste ein Polizeiwagen mit Blaulicht und Sirene an ihr vorbei. In einiger Entfernung sah sie vor sich noch ein halbes Dutzend Polizeiautos und fast ebenso viele Rettungswagen.
Sofort witterte sie die nächste Story und gab etwas mehr Gas. Als sie aber die Unfallstelle passierte, sah sie im Vorbeifahren schon die Nachrichten-Crew ihres Senders. Sicher, sie war ja nicht im Dienst.
Kevin Wojak stand mit dem Mikrofon in der Hand neben einem Rettungswagen und sprach vor der Kamera ins Mikro, während ihm der Regen ins Gesicht peitschte. January verzog das Gesicht. Er hätte nur ein paar Schritte nach links gehen müssen, um unter einem schützenden Dach zu stehen, aber damit wäre sein Aufritt natürlich nur halb so dramatisch gewesen.
Wojak sah in January eine Konkurrentin.
Für January war Wojak nur eine Plage.
Obwohl sie keine Lust hatte, den Kollegen bei der Arbeit zu beobachten, wurde sie gezwungen, anzuhalten, um dem Notarzt Platz zu machen. Sie sprach ein kurzes Gebet für die Verletzten, die in die umliegenden Krankenhäuser gebracht wurden, und wartete, bis die Straße wieder frei war.
Während sie dort stand, lief plötzlich ein großer dunkelhaariger Mann aus der Lücke zwischen zwei geparkten Polizeiautos auf die Straße, direkt in die Lichtkegel ihrer Scheinwerfer hinein – wie kurz zuvor der Bärtige im Vergnügungsviertel. Ihre Reaktion auf diesen Mann war jedoch vollkommen anders. Sie kannte ihn, hatte mit ihm in ihrem Bett gelegen, sich mit ihm auf dem Boden ihres Wohnzimmers geliebt, in der Dusche und einmal in ihrem begehbaren Kleiderschrank – jedenfalls in ihren Träumen. Benjamin North, einer der besten Kriminalbeamten im District of Columbia, wusste nichts davon, aber er verfolgte sie in ihren Träumen mit seinem unwiderstehlichen Blick und dem sexy Lächeln.
Trotz ihres berufsbedingten Interessenkonfliktes waren sie sich vor einiger Zeit nähergekommen. Viel zu nah.
Während die Scheibenwischer vor Januarys Augen hin und her schwenkten, dachte sie an die Katastrophe zurück, die sie zusammengebracht hatte …
An jenem Tag damals hatte es bereits seit Stunden geschneit. Das hatte die Arbeit der Untersuchungsbeamten am Tatort nicht gerade erleichtert, denn der Schnee bedeckte alles, was vielleicht an Spuren hinterlassen worden war. Sämtliche mögliche Hinweise auf den Mörder von Mandy Green waren zugeschneit. Jetzt lag das minderjährige Opfer tot vor ihnen – vergewaltigt und erwürgt. Der Polizeiarzt konnte nicht einmal sagen, in welcher Reihenfolge diese Grausamkeiten passiert waren. Was den Mord an dieser Prostituierten für die Medien so interessant machte, war die Tatsache, dass Mandy Green erst zwölf Jahre alt war. So stand es zumindest in ihrem Personalausweis, den sie in der Handtasche unter dem Arm trug.
Man hatte Benjamin North mit diesem Fall beauftragt. Doch er wusste bis zu seinem Erscheinen am Tatort nicht, dass es sich bei dem Opfer um ein Kind handelte. Um ein Kind in einem Kunstpelzmantel und kniehohen weißen Stiefeln; mehr hatte es nicht an.
Als er das Tuch hob, um einen Blick auf die Leiche zu werfen, erstarrte er. Der Kriminalbeamte war zu schockiert, um das Laken wieder loszulassen oder seinen Blick von der Leiche abzuwenden. Die kindlichen Lippen des viel zu jungen Opfers waren mit einem dunkelroten Lippenstift geschminkt, ihre großen blicklosen Augen hatten ein klares, reines Grün. Ihr rotes, gelocktes Haar war nass von dem schneebedeckten Boden, auf dem sie lag. Doch es war der Anblick ihres blassen, unreifen Körpers, der ihn aus der Bahn warf. Statt reifer Brüste sah er nur zwei kindliche Knospen, und das Schamhaar hatte gerade erst zu wachsen begonnen. Ein Bein war auf unnatürliche Weise verdreht, der rechte Arm lag hinter ihrem Kopf, so als hätte der Angreifer ihn aus dem Weg geschoben, bevor er seine schreckliche Tat vollendete.
»Himmel«, flüsterte Benjamin, dann ließ er endlich das Tuch fallen und wandte sich ab.
Seine Hände zitterten und in seinem Magen rumorte es. Er hatte viele Opfer gesehen. Alles konnte er verkraften, nur keine ermordeten Kinder. Das ging ihm jedes Mal zu Herzen. Er hob den Kopf und atmete tief durch. Er hoffte, die kühle Luft würde ihm helfen, sich von dem Schrecken zu erholen. Da bemerkte er, dass sich bereits ein Fernsehteam eingefunden hatte.
»Verdammte Geier«, fluchte er. Entschlossen marschierte er vorbei an den Beamten von der Spurensuche, an den Streifenpolizisten und einer wartenden Ambulanz, bereit für ein Gefecht mit der Presse. Er umrundete angriffslustig den Wagen, fand aber niemanden, den er hätte anpfeifen können.
Das Kamerateam war nirgends zu sehen. Abrupt drehte er sich um, weil er erwartete, die Fernsehleute auf dem Parkplatz vorzufinden, um das Opfer zu filmen. Doch er konnte nur die Beamten vom CSI und ein paar Streifenpolizisten entdecken.
Erst als er sich wieder abwenden wollte, hörte er jemanden weinen. Er lief um die Hecke herum und erstarrte.
Ben wusste sofort, wer sie war. Jeder hier kannte January DeLena. Aber so hatte er sie noch nie gesehen.
»Lady, Sie sollten sich hier nicht aufhalten«, erklärte er barsch.
January zuckte zusammen. Ausgerechnet Benjamin North. Der hatte ihr gerade noch gefehlt. Sie hatte ihn nicht kommen hören, und im Moment war ihr nicht danach zumute, mit irgendjemandem zu reden. Sie hob den Kopf und wischte sich die Tränen weg, bevor sie sich umdrehte.
Sie wollte sich mit ihm anlegen, auf ihre Rechte pochen, dass sie Informationen über den Tathergang erfahren dürfe – ihre üblichen Argumente zur freien Meinungsäußerung und der Pressefreiheit. Doch als sie anfangen wollte zu sprechen, wurde sie von Wut und Trauer überwältigt.
»Haben Sie sie gesehen?«, presste January hervor. »Sie ist noch ein Kind.« Während sie mit den Handflächen gegen den Baumstamm schlug, entfuhr ihr ein Schluchzer. »Wo ist Gott, wenn so etwas passiert?« Wütend wirbelte sie herum, das Gesicht tränennass. »Sie sind doch Polizist, sagen Sie‘s mir!«, schrie sie. »Wo ist Gott?«
Ben reagierte betroffen auf ihren Wutausbruch, da er ihn nur zu gut nachempfinden konnte. Intuitiv umfasste er ihre Handgelenke und drückte ihren schmalen Körper gegen den Baum, den sie gerade attackiert hatte.
»Hören Sie auf damit«, sagte er. »Sie haben keinen Grund, auf mich loszugehen. Es könnte Ihnen höchstens eine Gefängnisstrafe einbringen, wenn Sie einen Polizeibeamten angreifen.«
Sie blickte zu ihm auf. Aber durch den Tränenschleier konnte sie nichts erkennen. »Warum bringen die sie nicht endlich weg? Es ist verdammt kalt im Schnee, und die lassen sie da auf dem Boden liegen wie Müll!«
Ben fühlte mit ihr. Spontan zog er sie in seine Arme. Sie wollte sich wehren und ihn wegstoßen. Fluchend versuchte sie sich freizukämpfen. Doch während sie vom Allmächtigen bis zum kleinsten Lebewesen alles zum Teufel wünschte, hielt er sie einfach weiterhin fest. Als sie endlich, ermattet von dem Zweikampf, innehielt, wischte er ihr die Tränen mit einem Taschentuch vom Gesicht – dann küsste er sie.
Das hatte er keinesfalls geplant. Wenn er alle Sinne beisammengehabt hätte, dann wäre das auch nie passiert. Aber er war über den Verlust dieses jungen Lebens genauso entsetzt wie sie, und im Moment erschien es ihm nur natürlich, jemanden, der die gleiche Trauer empfand wie er, zu trösten.
January war so überwältigt von dem Geschmack seiner Lippen auf ihrem Mund, dass sie sich nicht rührte. Doch als sie langsam begriff, dass dies hier kein Traum, sondern Realität war, legte sie ihm die Arme um den Nacken und gab sich seinem Kuss haltlos hin, ohne weiter darüber nachzudenken.
Ganz vage erinnerte sie sich, seinen Mantel aufgeknöpft und ihre Hände unter seinen Pullover geschoben zu haben, um die warme Haut darunter zu spüren, bevor sie beide erschrocken auseinanderfuhren.
Einen Moment starrten sie sich schweigend und ungläubig an. Dann, ohne ein Wort zu sagen, schnappte sich January ihre Handtasche und verschwand.
Als Ben schließlich wieder zu sich gekommen war und zum Tatort zurückging, fuhr der Übertragungswagen gerade davon.
»Das kann nicht wahr sein«, murmelte er. Dann lief er zu seinem Einsatzteam zurück, um die Arbeit zu beenden.
Jemand hupte. Erschrocken zuckte January zusammen, als die Hupe sie in die Gegenwart zurückholte. Nervös umfasste sie das Lenkrad noch fester, als Ben aus dem Scheinwerferlicht trat. Sie sah ihm hinterher, mit seinem regennassen Haar und den leicht hängenden Schultern, und fragte sich, wo er gewesen war, als sie ihn angerufen hatten. Hatte er in den Armen einer anderen Frau gelegen, oder verbrachte er die Nächte allein? Während sie ihn beobachtete, gestand sie sich seufzend ein, dass sie dieses Geheimnis wohl niemals lüften würde.
Schließlich war die Straße frei und sie konnte nach Hause fahren. Als sie auf dem Parkplatz vor ihrem Apartmenthaus ankam, waren alle Stellplätze vor dem Gebäude besetzt. Also musste sie nach hinten weiterfahren, was sie hasste, weil die Straßenbeleuchtung dort so spärlich war. Der einzige freie Platz, den sie finden konnte, befand sich neben einem überquellenden Müllcontainer. Sie unterdrückte einen Fluch.
Nachdem sie den Wagen abgestellt hatte, stieg sie aus und rümpfte wegen des Gestanks die Nase. Schnell rannte sie zur Hintertür ihres Apartmenthauses. Bei diesem wenig schönen Anblick wurde ihr klar, dass der Parkplatz hier in dieser vornehmen Gegend nicht anders roch als in dem Viertel, das Marjorie Culver ihr Zuhause nannte. Doch zum Glück endeten die Gemeinsamkeiten damit auch schon.
January öffnete die Tür mit dem Hausschlüssel und seufzte erleichtert auf, als das Sicherheitsschloss hinter ihr hörbar einschnappte.
Der breite, gut beleuchtete Flur führte direkt zu den Fahrstühlen in der Eingangshalle. Der Pizzaduft, der aus einer Wohnung drang, erinnerte January daran, wie hungrig sie war. Leider hatte sie vergessen, sich unterwegs etwas zu essen zu besorgen.
In ihrer Wohnung angekommen, schloss sie die Tür hinter sich ab und begann, sich auf dem Weg zu ihrem Badezimmer auszuziehen. Eine Spur von nassen Kleidungsstücken pflasterte ihren Weg. Trotz der milden Junitemperaturen war sie vom Regen vollkommen durchgefroren. Die warmen Wasserstrahlen von der Dusche fühlten sich an wie Samt auf ihrer Haut. Sie blieb so lange unter der Brause stehen, bis ihr warm wurde. Dann stieg sie aus der Duschkabine und trocknete sich schnell ab. Als sie damit fertig war, begann sie erneut zu zittern. Sie kletterte ins Bett, stellte den Wecker und zog die Decke über die Schultern. Innerhalb von Sekunden war sie eingeschlafen.
Benjamin North war bereits seit fünfzehn Jahren Polizist im District of Columbia. Er hatte eine Menge Blut gesehen, und viel konnte ihn nicht mehr erschüttern. Dennoch gab es die seltenen Momente, so wie heute Nacht, in denen er sich mit jeder Faser wünschte, in Montana auf der Familien-Ranch geblieben zu sein, so wie sein Vater es gewollt hatte. Heute Nacht hätte er sich lieber mit bloßen Händen einem Puma gestellt, als den Eltern der jungen Frau, die sie neben dem Highway tot aufgefunden hatten, zu erklären, dass ihre Tochter zu Tode geprügelt worden war, bevor man sie verbrannt hatte. Und auch das wussten sie nur, weil der Junge, der sie begleitet hatte, noch lebte und davon berichten konnte.
Er blickte noch einmal zum Tatort zurück, wobei er versuchte, seine Mimik zu kontrollieren und seine Gefühle zu unterdrücken. Niemand musste wissen, wie nahe ihm dieses Schicksal ging. Der Leichenbeschauer war gekommen und hatte mitgenommen, was von Molly O‘Hara übriggeblieben war. Der Rettungswagen war mir Blaulicht bereits auf dem Weg ins Krankenhaus, um Mollys Freund noch rechtzeitig in die Notaufnahme zu bringen, nachdem dieser bereits auf der regennassen Durchfahrtsstraße fast verblutet wäre.
Ben erschauerte. Wütend fuhr er sich mit den Fingern durchs Haar, um die nassen Strähnen aus dem Gesicht zu kämmen, während er sich nach seinem Partner Rick Meeks umblickte. Meeks befragte immer noch die beiden Passanten, die den Notarzt alarmiert hatten. Als Rick aufsah, winkte Ben ihn zu sich herüber. Kurz darauf kam er durch den Regen zu ihrem Wagen gerannt.
»Was ist?«, fragte er.
»Wir haben das Mädchen identifiziert«, erwiderte Ben. »Die Eltern des Jungen wurden benachrichtigt. Sie sind auf dem Weg ins Krankenhaus.«
»Hat das Mädchen irgendwelche Angehörigen?«
Ben nickte. »Mutter und Vater leben ungefähr dreißig Minuten von hier entfernt. Wir werden sie gleich noch benachrichtigen müssen.«
Sein Partner verzog das Gesicht. »Verdammt, das hasse ich an diesem Job.«
Ben musste ihm zustimmen. »Ich auch. Also, bringen wir es hinter uns.«
Sie stiegen schweigend in den Wagen. Ben überprüfte noch einmal den Namen und die Adresse, die sie von dem verletzten Jungen bekommen hatten. Dann wendete er das Auto auf der Straße. Es war Viertel vor drei Uhr morgens, und er musste erst noch eine Familie unglücklich machen, bevor er nach Hause fahren konnte.
Jay Carpenter hielt vor einer roten Ampel. Aus Gewohnheit überprüfte er den Verkehr hinter sich im Rückspiegel. Um diese Uhrzeit und bei diesem Regen waren die Straßen so gut wie leergefegt. Dabei fiel sein Blick auf sein Gesicht im Rückspiegel. Er sah völlig anders aus als zu der Zeit, als sie ihn aus dem Krankenhaus entlassen hatten. Das Wiedererwachen hatte sein ganzes Leben verändert. Nicht nur äußerlich war er kaum wiederzuerkennen. Auch sonst war nichts mehr so wie früher.
Jay hatte das Freizeichen an seinem Taxi ausgeschaltet, weil er Feierabend machte, aber das hielt zwei Prostituierte auf der anderen Straßenseite nicht davon ab, ihn heranzuwinken. Die Kleider klebten an ihren Körpern und das übertriebene Make-up lief ihnen in Schlieren über die Gesichter. Obwohl Jay hundemüde war und nur noch in sein warmes Bett wollte, fuhr er bei Grün über die Kreuzung und hielt am Bürgersteig, um sie einsteigen zu lassen.
Er rümpfte die Nase, als die Frauen sich auf den Rücksitz quetschten. Trotz des Make-ups und der Kleidung, die sie trugen, sah er sofort, dass die beiden nicht älter als zwanzig sein konnten. Eine von ihnen hatte ein blaues Auge. Die Schminke, mit der sie es verdecken wollte, war vom Regen weggewaschen worden. Die andere zitterte heftig und brauchte offensichtlich einen Schuss. Beide rochen nach kaltem Rauch und Sex.
»Vielen Dank auch«, sagte die mit dem blauen Auge.
»Ja, danke«, wiederholte die Drogensüchtige.
»Gott segne euch«, erwiderte Jay.
Beide waren offensichtlich überrascht, dass sein Akzent so erkennbar amerikanisch war. Mit dem langen Pferdeschwanz und seinem dunklen Vollbart wirkte er eher wie ein Ausländer.
»Ja, klar. Vielen Dank«, kam es noch einmal von der mit dem Veilchen, die gleich darauf an ihre Freundin gewandt die Augen rollte und ein Kichern unterdrückte.
»Wohin?«, wollte Jay wissen.
Die Drogensüchtige nannte ihm eine Adresse. Jay fuhr los, ohne den Zähler anzustellen. Die Mädchen registrierten es und zuckten mit den Schultern.
Jay ignorierte ihre Reaktion.
»Wisst ihr, wer Jesus ist?«, fragte er.
Die mit dem Veilchen sah ihn an, als hätte er ihr gerade ins Gesicht gespuckt, aber ihre Freundin lachte laut.
»Ja, ich glaube, ich hab ihm letzte Woche einen geblasen.«
Die mit dem Veilchen runzelte die Stirn. »Halt den Mund, Dee-Dee, das ist nicht komisch.«
Die Drogensüchtige, von der er jetzt wusste, dass sie Dee-Dee hieß, zuckte nur mit den Schultern und zündete sich eine Zigarette an. »Ach, fick dich, Phyl. Reg dich nicht auf.«
Phyl strich sich unbewusst über den blauen Fleck neben ihrem Auge und starrte wortlos aus dem Fenster.
Jay fragte sich, woran die beiden wohl dachten und wie sie so tief sinken konnten. Sie taten ihm leid. Er dachte an seine eigenen Verfehlungen und daran, wie glücklich er sich schätzen konnte, eine zweite Chance zu haben, um seine Sünden wiedergutzumachen.
Er hielt vor einer roten Ampel, obwohl weit und breit kein anderer Wagen in Sicht war.
»Kommen Sie schon, Mister, wir sind kaputt«, sagte Dee-Dee. »Niemand in Sicht, fahren Sie schon!«
»Die Gesetze Gottes wurden nicht gemacht, um sie zu brechen«, erklärte er nur freundlich.
Dee-Dee schnaufte. »Gott hat mit den Ampeln nichts zu tun.«
»Gott ist überall«, entgegnete Jay.
»So ein Blödsinn. Was sind Sie denn eigentlich … irgend so ein komplett abgefahrener Jesusfreak?«
»Ich war einmal in der Hölle. Ich möchte da nie wieder hin«, sagte er.
»Ja, ja, und wir leben in der Hölle, also tritt aufs Gas und setz uns schnellstens dort ab. Ich hab genug von diesem Unsinn.«
»Ich werde für euch beten«, sagte Jay ein paar Minuten später, als er vor dem Haus bremste, das sie ihm genannt hatten. »Geht mit Gott«, fügte er noch hinzu.
»Wie du willst.« Dee-Dee schlüpfte vom Rücksitz.
Das Mädchen mit dem blauen Auge war nicht so abgebrüht. »Vielen Dank. Dee-Dee meint es nicht so. Sie hat einfach ein hartes Leben.«
Jay musterte ihr Veilchen. »Geh nach Hause.«
»Ich bin hier zu Hause«, erwiderte Phyl.
»Nein, das meinte ich nicht. Geh dahin zurück, wo du herkommst.«
Diesmal war sie diejenige, die ihm ins Gesicht lachte. »Damit der Macker von meiner Mutter mich wieder umsonst ficken kann? Wohl eher nicht. Hier werde ich wenigstens dafür bezahlt.« Sie schlug die Tür zu und rannte durch den Regen auf das Apartmenthaus zu.
Jay saß einen Moment einfach da und lauschte dem Regen, der gegen seine Windschutzscheibe prasselte. Da spürte er plötzlich einen stechenden Schmerz hinter dem rechten Auge. Er kam so unerwartet, dass Jay reflexartig die Hand vor das Gesicht schlug, als hätte ihn ein Schuss getroffen. Er beugte sich über das Lenkrad und rang nach Luft. Langsam ließ der Schmerz nach, und er konnte sich wieder aufrichten. Als er dann seine Umgebung nur ganz verschwommen sah, fürchtete er zuerst, blind zu werden. Aber schnell wurde ihm klar, dass ihm der Regen lediglich die Sicht erschwerte.
Eine tiefe Traurigkeit breitete sich in ihm aus. Es hatte also begonnen. Genau davor hatten ihn die Ärzte gewarnt. Panik überfiel ihn. Er hatte gehofft, mehr Zeit zu haben. Er war noch nicht bereit.
Doch was hieß das schon? Er konnte vieles tun, aber über das Schicksal hatte er keine Macht. Er musste seinen Weg also schneller zurücklegen, schneller als geplant.
Nachdem er in seiner Einzimmerwohnung angekommen war, wurde er von einer starken inneren Unruhe erfasst. Alte Erinnerungen an die früheren Symptome seiner Krankheit drängten sich wieder in sein Bewusstsein. Bisher schienen die Beschwerden nicht so stark zu sein. Aber jetzt fühlte er sich aus dem Gleichgewicht gebracht. Was sollte aus ihm werden, wenn er nicht mehr lange genug lebte, um die Sünden seines ersten Lebens wiedergutzumachen? Er hatte seinen Mitmenschen gepredigt und versucht, ihnen Gutes zu tun, doch jetzt fürchtete er, dass das nicht ausreichen würde. Die Panik, die ihn bei diesem Gedanken überfiel, machte ihn schwach. Jay zitterte. Er wollte nicht in die Hölle.
»Gott, hilf mir. Was soll ich tun?«
Die Antwort kam als Gedanke, stumm und leise, aber nachdrücklich.
Lebe so, wie ich gelebt habe.
January machte sich für ein Live-Interview bereit. Am Ort des Geschehens wollte sie mit dem Mann sprechen, der erst vor einer Stunde eine Frau und ein Kind aus dem Potomac River gerettet hatte. Sie blickte auf ihre Uhr. In weniger als drei Minuten sollten sie auf Sendung sein, doch der Held des Tages war immer noch dabei, sich zu übergeben.
»January, zwei Minuten und etwas«, sagte Hank, der Kameramann.
Ratlos betrachtete sie den Mann, der sich in die Büsche erbrach. »Wie geht es uns denn?«, erkundigte sie sich.
Der Mann erschauerte, dann drehte er sich um. »Tut mir leid, Miss DeLena. Das geht gleich vorbei, versprochen.«
»In zwei Minuten sind wir auf Sendung. Kann ich Ihnen irgendwas besorgen, um Ihren Magen zu beruhigen?«
Er zuckte mit den Schultern und wischte sich mit einer zittrigen Hand über das Gesicht. »Manchmal hilft was Salziges.«
January lächelte, warf Hank ihr Mikrofon zu und rannte zum Übertragungswagen, um ihre Handtasche zu holen. Kurz darauf kam sie mit einem Päckchen Erdnüssen zurück. Sie riss die Packung auf und schüttete dem Mann zwei Nüsse auf die Handfläche.
»Ich weiß nicht, ob ich etwas essen würde, wenn ich an Ihrer Stelle wäre. Vielleicht lutschen Sie einfach das Salz ab und spucken die Nüsse wieder aus?«, schlug sie vor.
»Ja, gut.« Zitternd schob er sich die Nüsse in den Mund.
Zu Januarys Erleichterung zeigte das Salz bald seine Wirkung. Als die Übertragung begann, stand der Held des Tages aufrecht neben ihr und berichtete tapfer von den Ereignissen.
»Gute Arbeit«, lobte Hank sie, nachdem das Interview beendet war.
»Danke, das Gleiche gilt für dich.«
»Wahnsinn, dass der da in den Fluss reingesprungen ist.«
»Ja, und das gleich zweimal. Erst das Kind, dann die Mutter gerettet.«
Hank nickte. »Und dann behauptet er, er könnte nicht schwimmen.«
January schwang sich in den Sitz und ließ die Tasche vor sich auf den Boden fallen.
»Angst hat eine komische Wirkung auf manche Menschen«, fügte er hinzu.
January lehnte sich zurück und ließ die Gedanken schweifen. »Und manchmal machen die Leute aus Angst ganz seltsame Dinge«, murmelte sie. »Lass uns losfahren, ja?«
»Sicher.«
Es war bereits kurz nach drei Uhr nachmittags, als Ben und Rick endlich die Gelegenheit bekamen, Mittag zu essen. Sie hielten an einem kleinen Lokal mit dem Namen Jerrys Java. Der Kaffee hier war grauenhaft, aber die Burger waren gut.
Rick zeigte auf den Fernseher, der an der Wand hing. »Hey, North, sieh dir das mal an.«
Ben griff gerade nach dem Salz, als er hochblickte. Der Anblick des Frauengesichts auf dem Bildschirm verschlug ihm fast den Atem.
Er beobachtete es so eingehend, dass er eine winzige Schweißperle an der rechten Augenbraue entdeckte. Die Kamera liebte diese attraktive Journalistin. Die Perspektive öffnete sich und zeigte erst die zarte, verführerische Linie ihres Halses, dann das rote Jackett mit dem Halstuch, das ihr so gut stand. Ben seufzte und merkte gar nicht, wie der Ketchup von seinem Burger lief und ihm auf die Finger kleckerte.
Der Sender strahlte mal wieder eines der beliebten Live-Interviews von January DeLena aus. Es war nichts, was er nicht schon ein Dutzend Mal vorher gesehen hätte. Doch das änderte nichts an diesem komischen Gefühl in seinem Bauch. Er wollte sie. Genauso wie damals, als er sie geküsst hatte, und so wie auch jeden Abend, wenn er ins Bett ging. Er konnte diese Begierde nicht verleugnen. Aber mehr war es nicht – nur Begierde. Ein Cop, der etwas auf sich hielt, würde sich nie ernsthaft mit einem dieser Medienpüppchen einlassen. Zu oft hatten Reporter einen Fall vermasselt, indem sie die Informationen zu früh veröffentlichten. Sie konnten einem hart arbeitenden Polizisten mit diesem »Die Öffentlichkeit hat ein Recht darauf, es zu wissen« ganz schön zu schaffen machen. January war da keine Ausnahme. Obwohl er sich fairerweise eingestehen musste, dass sie ihm noch nie eine Ermittlung vermasselt hatte. Trotzdem war und blieb sie immer noch eine Journalistin und damit ein Teil seines Problems.
Er blickte sich im Lokal um und hoffte, dass ihn niemand dabei beobachtet hatte, wie er geifernd – wie ein liebeskranker Teenager – auf den Bildschirm starrte. Zufrieden, weil alle zu sehr mit ihrem eigenen Essen beschäftigt waren, um von ihm Notiz zu nehmen, biss er noch einmal von seinem Burger ab, bevor er sich einen zweiten Blick erlaubte.
Verdammt, sie sah heiß aus. Ihre Augen hatten die Farbe von Zartbitterschokolade, und bei diesem Mund konnte ein Mann den Verstand verlieren. Ihre vollen, geschwungenen Lippen regten seine ausgefallensten erotischen Fantasien an.
Er stöhnte auf.
Rick sah ihn an. »Alles in Ordnung?«
»Ja, ich habe mir nur gerade auf die Lippe gebissen«, erklärte Ben. Seine kleine Notlüge war zwar nicht originell, aber immer noch besser als die Wahrheit.
Rick deutete auf die Pommes frites auf Bens Teller. »Isst du die noch?«
»Ja«, erwiderte Ben, die Augen weiter starr auf den Fernseher gerichtet.
Rick zuckte mit den Schultern und winkte der Kellnerin hinter der Theke zu, um ein Stück Kuchen zu bestellen.
Als Januarys Beitrag beendet war, verlor Ben das Interesse und konzentrierte sich wieder auf sein Essen. Die Nachrichtensendung war aber noch nicht zu Ende. Rick zeigte erneut lachend auf den Bildschirm. »Sieh dir doch bloß diesen Verrückten an.«
Wieder blickte Ben zum Fernseher. Gezeigt wurde ein Mann in merkwürdiger Aufmachung. Offensichtlich handelte es sich um einen dieser religiösen Fanatiker. Aber warum predigte er auf den Stufen des Finanzamts?
»Was ist denn mit dem Latschenträger?«, wollte Ben Genaueres wissen.
»Wer weiß?« Rick winkte der Kellnerin, die gleich darauf mit einer Kanne frischem Kaffee zu ihnen an den Tisch kam. »Hallo, meine Süße, mach mir doch bitte ein bisschen Sahne auf den Kuchen, ja?«
»Sicher, Sekunde«, versprach sie und lief zurück.
Ben entdeckte Jerry, den Besitzer des Lokals, und deutete auf den Fernseher. »Jerry, kannst du den Ton mal lauter stellen?«, fragte er.
Jerry nahm die Fernbedienung, die hinter der Theke lag, und richtete sie auf das Gerät.
»… schien entschlossen, die Finanzbeamten zu vertreiben«, dröhnte die Nachrichtenstimme.
»Sieht so aus, als wenn der Typ einen Seelenklempner braucht«, bemerkte Rick.
»Brauchen wir den nicht alle?«, murmelte Ben und angelte nach seinen Pommes.
January saß an ihrem Schreibtisch und arbeitete an einem Bericht für die Zehn-Uhr-Nachrichten, als ihr Telefon klingelte. Geistesabwesend nahm sie den Hörer ab. Während sie noch an ihrem Schlusssatz feilte, rissen sie die ersten Worte des Anrufers aus ihren Gedanken.
»Ich habe gehört, dass Sie nach mir suchen.«
Januarys Finger blieben augenblicklich bewegungslos auf der Tastatur liegen.
»Wer spricht da?«, fragte sie.
»Nur ein einfacher Sünder, der versucht, seine Fehler wiedergutzumachen.«
Januarys Herz setzte einen Schlag lang aus. Ein Sünder? War das der Mann, der sich selbst »der Sünder« nannte? Der behauptete, in der Hölle gewesen zu sein?
»Sind Sie der Priester, der sich ›der Sünder‹ nennt?«
»Ich bin kein Priester, und Sünder sind wir doch alle. Was wir tun, um für unsere Taten Abbitte zu leisten, das allein zählt.«
»Sind Sie wirklich einmal fast gestorben?«
»Nein.«
»Sie hatten also kein …«, begann sie enttäuscht.
»Ich bin nicht fast gestorben«, unterbrach er sie. »Ich war tot, und ich war in der Hölle.«
»Also doch!«, rief sie aufgeregt. »Würden Sie vielleicht …«
»Warum haben Sie eigentlich nach mir gesucht?«, unterbrach er sie abrupt.
»Das versuche ich Ihnen gerade zu erklären. Ich möchte ein Interview mit Ihnen machen.«
»Warum?«
»Nun … Weil es …«
»… eine gute Story wäre?«
»Ja, aber es wäre auch für andere Menschen wichtig, davon zu hören. Stellen Sie sich vor, wie viele ihr Leben ändern würden, wenn sie von Ihrem Erlebnis hören. Also, was halten Sie davon?«
»Nichts.«
January runzelte die Stirn. »Warum?«
»Jesus hat sich der Welt nicht auf diese Art präsentiert, und ich werde es auch nicht tun.«
January seufzte. »Sind Sie einer von den WWJT-Leuten?«
»Das Wort sagt mir nichts. Was bedeutet WWJT?«
January schnappte sich einen Kuli. »Das heißt: ›Was würde Jesus tun?‹ Diese Abkürzung steht für eine Gruppe junger Leute, die für einen abstinenten Lebenswandel eintreten, gegen Drogen, Sex und alle Arten von sündigem Verhalten gemeinsam ankämpfen.«
Einen Augenblick herrschte Schweigen am anderen Ende der Leitung. Mit zittriger Stimme sprach er weiter.
»Wenn ich zu so einer Gruppe gehört hätte, wäre ich vielleicht heute nicht da, wo ich bin.«
»Überlegen Sie es sich doch noch einmal. Ich kann Ihnen eine Öffentlichkeit verschaffen. Denken Sie an all das Gute, das Sie bewirken könnten … die vielen Menschen, die Sie mit Ihrer Botschaft erreichen würden. Was meinen Sie?«
»Ich meine, das ist Ihr Interesse, nicht meins, Miss DeLena. Meine Mission hat längst begonnen.«
January wurde hellhörig. »Was für eine Mission?«
»Meine Mission ist Ihre Story«, sagte der Mann.
January umklammerte den Hörer fester. »Dann sagen Sie mir, worum es geht! Was wollen Sie tun? Wovon reden Sie?«
»Er hat zu mir gesprochen. Lebe so, wie ich gelebt habe, hat er gesagt! Und das tue ich.«
»Wer hat Ihnen das gesagt?«
»Jesus Christus, mein Herr und Erlöser.«
Die Leitung wurde unterbrochen. January knallte ärgerlich den Hörer auf die Halterung, dann zog sie ihren Notizblock aus der Schreibtischschublade. Sie wollte jedes seiner Worte aufschreiben, bevor sie sie vergaß. Beim Schreiben zitterten ihre Hände. Sie hatte keine Ahnung, wovon er gesprochen hatte. Aber sie war entschlossen, genau das herauszufinden.
January beendete ihren Bericht und reichte ihn gerade noch rechtzeitig vor Redaktionsschluss ein. Sobald sie konnte, verließ sie das Studio und ging zurück auf die Straße. Sie witterte eine gute Story, die dort auf sie wartete.
Selbst in einer Stadt wie Washington, in der die Gesetze »gemacht« werden, schrecken die Gesetzlosen vor nichts zurück. Selbst hier gibt es ein Viertel, das fast ausschließlich den Gesetzesbrechern vorbehalten ist. Früher wurde es als Rotlichtmilieu bezeichnet, inzwischen ist es für viele Obdachlose und Straftäter einfach nur der perfekte Ort zum Untertauchen.
An einer Straßenecke dieses Viertels stand Bruder John, ein großer bärtiger Mann, auf einer Milchkiste und predigte. Obwohl er von seinen Zuhörern ständig unterbrochen wurde, vermittelte er seine Botschaft nicht weniger leidenschaftlich. Sowohl sein Cajun-Akzent als auch die roten Kopf- und Barthaare ließen keinen Zweifel an seiner Herkunft: Bruder John stammte aus Louisiana.
»Es ist nie zu spät, den Herrn kennenzulernen«, versprach er. »Er kann jederzeit zurückkommen! Wollt ihr zurückgelassen werden? So hört mich an: Jesus wird kommen. Ja, Jesus wird kommen!«
»Per Auto oder Schiff?«, schrie jemand.
Der Störenfried brachte ihn nicht aus der Fassung. Er sprach nur noch ein bisschen lauter.
Gebannt starrte Jay auf den Straßenprediger. Er hatte Bruder John schon mehrere Monate im Visier und war sich sicher, dass er eine wichtige Rolle auf seinem Weg ins Himmelreich spielen würde. Alles ergab sich so perfekt – als würde der Herr selbst jeden seiner Schritte lenken.
Als Bruder John die Stimme hob, trat Jay etwas näher an ihn heran. Die Leidenschaft in seiner Stimme und seinem Blick zog ihn an. Das war Inbrunst. Das kannte er gut. Schließlich brannte sie auch in ihm.
Als Jay so weit zu ihm vorgedrungen war, dass er die hervortretenden blauen Venen auf dem Handrücken des Priesters erkennen konnte, hob er den Kopf.
Bruder John blickte ihn an und begann zu stottern. Plötzlich war sie wieder da, seine alte Angst, die ihn in Vietnam vier Jahre lang verfolgt hatte. Doch schnell schüttelte er diesen dummen Gedanken von sich und richtete seine Aufmerksamkeit auf den Mann vor ihm.
»Willkommen, Bruder«, sagte er.
Jay lächelte.
Bruder Johns Magen zog sich zusammen. Instinktiv wusste er, dass in diesem Moment das Böse vor ihm stand.
»Wer bist du?«, flüsterte er.
Jay Carpenter streckte ihm die Hand entgegen. »Ich bin der, auf den du gewartet hast.«
Rick Meeks meckerte in einer Tour darüber, dass sie sich mitten in der Nacht um einen neuen Mordfall kümmern mussten. Ben dagegen fand, dass es eher dem Opfer zugestanden hätte, sich zu beschweren. Ein Mord war die eine Sache – aber eine Enthauptung hatte einen bewusst rituellen Charakter, und genau das verursachte Ben Kopfschmerzen.
Er kniete sich neben Fran Morrow und wartete darauf, dass sie eintütete, was immer sie auch an der Stirn des Toten gefunden hatte. Die Gerichtsmedizinerin war knapp sechzig, ein bisschen hager und besaß einen leicht makabren Humor. Aber sie war auch eine der besten Untersuchungsbeamtinnen der Stadt.
»Hallo Fran, was meinst du, seit wann ist er tot?«
»Seit ihm jemand den Kopf abgeschlagen hat«, antwortete sie schnippisch.
Er versuchte es also anders. »Und wann, glaubst du, ist das passiert?«
»Wenn ich raten müsste, was ich nicht tue, wie du verdammt gut weißt, würde ich sagen, so vor zwei, drei Stunden.«
Er kritzelte ein paar Notizen in seinen Block. »Kannst du mir irgendwas zur Mordwaffe sagen?«
»Scharf war sie.«
Ben richtete sich abrupt auf. »Komm schon, Fran. Ich bin genauso ungern hier draußen wie du, aber ich brauche ein paar Anhaltspunkte.«
Sie stand ebenfalls auf und wandte sich an einen der anderen Untersuchungsbeamten. »Packen Sie ihn ein«, ordnete sie an, dann drehte sie sich wieder zu Ben um. »Ich schicke dir einen vollständigen Bericht, sobald ich mehr weiß.«
»Danke.« Ben kehrte zur Absperrung zurück, wo sein Partner einen Zeugen befragte. In diesem Moment fuhr das erste Fernsehteam vor.
»Ausgerechnet«, murmelte er und fluchte leise, als er sah, dass January DeLena aus dem Auto stieg. »Verdammter Mist. Die hat mir gerade noch gefehlt.«
Meeks blickte ihn an. »Was ist los?«
»Die Reporter sind hier.«
»Fang du sie ab, ich stecke mitten in der Befragung.«
Ben musterte den Betrunkenen, der die Leiche gefunden hatte. Er weinte immer noch. Kopfschüttelnd wandte er sich genau in dem Moment um, als January unter dem Absperrband durchschlüpfte und auf ihn zulief. Seit ihrem Kuss hatte er nicht mehr mit ihr gesprochen. Und jetzt war nicht der beste Zeitpunkt, um ihre Bekanntschaft zu vertiefen.
Als sie ihn erreichte, packte er sie sofort am Ellbogen und führte sie wieder aus dem Sperrgebiet heraus, während er den Kameramann mit knappen, aber unmissverständlichen Anweisungen zum Auto zurückschickte.
»Kommen Sie, Miss DeLena, Sie wissen ganz genau, dass Sie hier nicht reindürfen.«
January gingen die Worte durch den Kopf, die sie sich zurechtgelegt hatte, aber mit Benjamin North so dicht vor sich blieben sie ihr einfach im Hals stecken. Seit er ihren Arm umfasst hatte, war sie vollends durcheinander.
»Die Öffentlichkeit erlaubt … Ich meine, es ist die Arbeit von … Verdammt!«
Sie fühlte, wie sie errötete, und hoffte, dass es dunkel genug war, damit der »Super-Detective« es nicht bemerkte.
Ben amüsierte sich über Januarys Verlegenheit. Es war das erste Mal, dass »Miss Überwältigend« keine Worte fand.
Er grinste.
January funkelte ihn wütend an. »Seit wann ist Mord etwas Komisches?«, giftete sie.
»Habe ich das behauptet? Sagte ich irgendetwas anderes, als dass Sie unbefugt den Tatort betreten haben? Und das zum wiederholten Male!«
January seufzte. »Kommen Sie, North. Sie kennen mich doch. Ich veröffentliche keine Details, bevor Sie mir das Okay geben.«
»Und ich mache keine Deals mit Reportern. Bitte treten Sie zurück.«
January behauptete ihre Stellung mit einer Beharrlichkeit, die ihn erstaunte.
»Stimmt es?«, fragte sie.
»Was?«
»Das Opfer … Ist der Mann wirklich enthauptet worden?«
Ben zuckte zusammen. Verdammt. Irgendjemand aus dem Team fütterte die Journalisten mit Informationen. Das war die einzige Erklärung, sonst wäre sie nicht so schnell hier gewesen und wüsste nicht bereits so viel über den Mord.
»Wer hat Ihnen das erzählt?«, wollte er wissen.
»Das ist doch egal. Beantworten Sie einfach meine Frage. Stimmt es?«
»Das geht Sie nichts an«, fauchte er.
»Wissen Sie seinen Namen?«
»Noch nicht.«
January verlagerte ihr Gewicht von einem Bein auf das andere. Sie musste es wissen, obwohl sie Angst vor der Wahrheit hatte.
»Ist das Opfer der Typ, der an den Straßenecken über Hölle und Verdammnis gepredigt hat?«
Ben griff nach ihrem Arm und zog sie zu einer Straßenlaterne hinüber. »Ich weiß es nicht. Aber falls doch, was würden Sie daraus schließen?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Vielleicht gar nichts.«
»Erkennen Sie ihn wieder, wenn Sie sein Gesicht sehen?«
»Ja.«
Ben drehte sich um und winkte Fran Morrow. »Hallo, Fran … Wartest du bitte mal eine Minute? Wir können das Opfer womöglich identifizieren.«
Fran sah January stirnrunzelnd an, dann blickte sie wütend zu Ben. »Sie blufft doch nur, um den anderen wieder zuvorzukommen.«
»Keine Kamera. Versprochen«, sagte January.
Fran stoppte die Männer, die den Toten gerade in den Wagen heben wollten, dann zog sie den Reißverschluss am oberen Ende des Sacks auf.
January schluckte schnell den Kloß in ihrem Hals herunter und blickte in den Leichensack. »Das ist er.« Sie hielt sich die Hände vors Gesicht. »Mein Gott, er ist es.«
»Wer er?«, wollte Ben wissen, als Fran den Beutel wieder verschloss und die Leiche abtransportieren ließ.
»Er nennt … Er nannte sich Bruder John.«
»Und woher kennen Sie ihn?«
January ließ die Hände sinken und blickte weg.
»January! Sehen Sie mich an«, sagte er, aber sie starrte nach unten, als verspürte sie plötzlich großes Interesse für ihre Schuhe.
Ben ergriff sie bei den Schultern, nicht grob, aber fest.
Erschrocken machte sie sich von ihm los. »Fassen Sie mich nicht an«, murmelte sie.
»Na schön.« Ben schob die Hände in die Taschen. »Aber die Frage beantworten Sie mir. Sie haben sich schließlich freiwillig in meine Untersuchung eingemischt. Woher kennen Sie den Mann?«
»Ich arbeite oft auf der Straße. Das wissen Sie.«
»Irgendwie passt das nicht zu meinem Bild von Ihnen, wie Sie so an Straßenecken stehen und Predigten lauschen.«
Sie sah zu ihm auf. »Nanu, Detective, ich wusste gar nicht, dass Sie sich überhaupt ein Bild von mir gemacht haben.«
Diesmal wurde Ben verlegen.
»Hören Sie«, sagte er schließlich, »das hier ist kein Spiel. Was wissen Sie von dem Mann, was ich nicht weiß?«
Sie seufzte und ließ die Schultern hängen. »Er nannte sich Bruder John. Er stammt aus Louisiana und ist ein Vietnam-Veteran. Das ist alles, was ich über ihn sagen kann.«
Ihre leichte Betonung auf dem Wort »ihn« ließ bei Ben den Verdacht aufkommen, dass sie womöglich noch etwas wusste, was indirekt mit diesem Fall zu tun hatte.
»Was verheimlichen Sie mir?«, hakte er nach.
January zögerte. Was ihr durch den Kopf ging, waren lediglich Annahmen und Vermutungen, und als Profi würde sie niemals ihren guten Ruf mit einer Geschichte aufs Spiel setzen, die sie nicht beweisen konnte.
»Das ist alles, was ich über ihn weiß. Ehrlich.« Dann fügte sie hinzu: »Aber ich glaube, dass hier in der Gegend etwas vor sich geht. Es gibt einen Mann, der sich ›der Sünder‹ nennt, und angeblich soll er ziemlich merkwürdige Dinge tun.«
»Obdachlose tun merkwürdige Dinge. Mein Nachbar tut merkwürdige Dinge. Die Welt ist voll von sonderbaren Menschen, und Freaks gibt es überall.«
»Schön. Sie haben gefragt, ich habe geantwortet. Wenn Sie mir nun keine weiteren Auskünfte geben, dann muss ich jetzt gehen, ich habe einen Bericht abzuliefern.«
»Da gibt es nichts zu berichten.«
»Es ist genug. Jemand, dem der Kopf abgeschlagen wurde, ist eine Nachricht wert, ob es Ihnen gefällt oder nicht.«
Sie wandte sich abrupt um und lief zu ihrem Wagen.
Ben blickte ihr hinterher.
Auch wenn Ben es sich nicht gern eingestand, aber January DeLenas Information, dass es sich bei dem Opfer um einen Vietnam-Veteran handelte, war eine große Hilfe bei der Identifikation und dem Auffinden von Angehörigen. Um zehn Uhr morgens wusste er, dass der Tote Jean Louis Baptiste hieß. Er hinterließ eine Tochter und eine Frau namens Laurette Bennet, die in der Nähe von New Orleans wohnte.
Ben öffnete seine Schreibtischschublade, nahm eine Packung Aspirin heraus und drückte sich drei Tabletten auf die Handfläche. An diesem Morgen war er bereits mit Kopfschmerzen aufgewacht, und sie wollten einfach nicht verschwinden. Am liebsten hätte er January DeLenas Erscheinen am Tatort dafür verantwortlich gemacht, aber das wäre nicht fair gewesen. Es gab eine Menge Gründe für seine Kopfschmerzen; der schwerwiegendste war das soeben beendete Telefongespräch mit der weinenden Witwe des enthaupteten Opfers. Er hasste es, die Angehörigen von Opfern zu verständigen, und in dieser Woche hatte er es bereits zwei Mal tun müssen.
Er nahm die Tabletten in den Mund und wollte sie mit dem Rest Kaffee hinunterschlucken, aber seine Tasse war leer. Der bittere Geschmack des sich langsam auf seiner Zunge zersetzenden Medikaments trieb ihn zum Wasserspender. Er trank, bis er den unangenehmen Geschmack nicht länger auf der Zunge hatte, und wünschte sich dabei, der bittere Teil seines Jobs ließe sich genauso leicht fortspülen.
Die Kirche in diesem heruntergekommenen Viertel war klein, aber die Türen standen immer offen. Das war der Grund, warum Jay Carpenter sie ausgesucht hatte. Er lag auf dem Boden neben dem Altar, flach auf dem Bauch, die Arme zur Seite ausgestreckt, so wie Jesus ans Kreuz genagelt worden war. Er konnte die Stimme des Herrn von hier unten nicht hören, aber was er tat, fühlte sich richtig an.
Er trug ein tunikaartiges weißes Hemd, das lose über seiner weiten hellgrauen Hose herunterhing.