Der Orkfresser - Christian von Aster - E-Book

Der Orkfresser E-Book

Christian von Aster

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Beschreibung

Aaron Tristen hat mit seiner Fantasyreihe "Engel gegen Zombies" Berühmtheit erlangt. Da legt er sich auf einer Buchpremiere mit einigen als Orks verkleideten Fans an. Von nun an beginnt ihm sein Leben zu entgleiten. Unter falschem Namen nimmt er an einer literarischen Selbsthilfegruppe teil und die Grenzen zwischen Literatur und Wirklichkeit beginnen zu verschwimmen. Aaron Tristen hat genug vom Autorenleben: Nachdem er bei der Premiere seines Endzeitepos "Engel gegen Zombies" eine Horde Orks verprügelt hat, beschließt er, sein Leben zu ändern. Dabei kommt ihm allerdings ungelegen, dass ihn einer der Orks verklagen will und ein anderer schwanger von ihm ist. Im Zuge eines Selbstfindungstrips landet er schließlich in einer therapeutischen Gruppe, in der er mit der Essenz des Geschichtenerzählens konfrontiert wird. Unter neuem Pseudonym verläuft er sich an der Seite Don Quijotes im Wunderland, sieht Pu den Bären zu William von Baskerville werden und Graf Dracula anstelle Robinson Crusoes auf einer einsamen Insel stranden. Zwischen Irrsinn und Legenden mischen sich Vorstellung und Wirklichkeit derart, dass am Ende sicher ist: Literatur ist nicht mehr als nur eine zärtliche Lüge. Aber eben auch nicht weniger.

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Seitenzahl: 433

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Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Hobbit Presse

www.hobbitpresse.de

© 2018 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung und Illustration: Birgit Gitschier, Augsburg

unter Verwendung von Bildern von Shutterstock

Datenkonvertierung: C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Printausgabe: ISBN 978-3-608-98121-6

E-Book: ISBN 978-3-608-11020-3

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Den Geschichten. Und ihren Erzählern

TEILI

Von Engeln, Orks und Auflagenzahlen

»Kindern erzählt man Geschichten zum Einschlafen – Erwachsenen, damit sie aufwachen.«

Jorge Bucay (* 1949)

KAPITEL I

… in dem der Held sich, derweil er

einen Triumph nicht zu genießen vermag

und die Urteilsfähigkeit eines Befehlshabers

anzweifelt, einer orkischen Übermacht

gegenübersieht

Die Orks sind schon wieder betrunken.

Sie waren es schon, als sie angekommen sind. Wobei sie, wenn es nach Heuvelmann geht, sogar noch etwas betrunkener sein dürften.

Gernot Heuvelmann ist mein Verleger: zehn Jahre jünger als ich, liest keine Bücher, aber weiß sie zu verkaufen. Er sagt, sobald Orks ordentlich vorgeglüht haben, kann denen, was Stimmung angeht, keiner das Wasser reichen. Und wenn eine Veranstaltung mit Orks gut versichert ist, wiege die Stimmung die Schäden um ein Vielfaches auf.

Ich blicke kurz zu Willi, meiner Lektorin, und bin mir sicher, dass ich nicht der Einzige bin, der ihm da widersprechen würde. Diese Party ist die mieseste, die ich seit Langem erlebt habe, Orks hin oder her, und wie stramm sie auch sein mögen. Heuvelmann engagiert sie vor allem deshalb, weil sie günstig sind. Solche Orks sind meist Rollenspieler, die sich, statt einander auf schlammigen Waldlichtungen ein Wochenende lang mit Plastikkeulen die Schädel einzuschlagen, für einen Abend dankbar an einem Gratisbüfett herumdrücken und für einen Bruchteil dessen, was eine Agentur in Rechnung stellen würde, das Publikum bespaßen. Verlage wie Heuvelmann & Grimm greifen gern auf solche Leute zurück, und solange einer der Orks Rechnungen schreiben kann, ist das eine Win-win-Situation, weil die Jungs sich am Ende auch die Reste des Büfetts in ihre Tupperdosen stopfen dürfen. Falls sich in den letzten fünfzehn Jahren nichts Grundlegendes geändert hat, sind Rollenspieler für gewöhnlich Studenten, Nerds oder ähnliche Spinner, die froh sind, mal was anderes als Döner oder kalte Pizza zwischen die Zähne zu bekommen.

Damals, als ich selbst noch kostümiert durch die Wälder gesprungen bin, hätte man uns eher weggesperrt als für irgendwelche Promo-Aktionen engagiert. Aber seit ich wegen meines Latexschwertes zur Polizei musste, haben Harry Potter, Herr der Ringe und Game of Thrones die Leute um einiges toleranter werden lassen. Allein, wenn man bedenkt, mit was für Zeug die Cosplayer inzwischen jedes Jahr bei der Buchmesse auflaufen – von ferngelenkten Atomraketenattrappen bis zu falschen Kunststoffschwertern mit ’nem halben Meter Klingenlänge ist da so ziemlich alles dabei. Und heute fotografieren die Leute das. Früher sind die weggelaufen. Obwohl unsere Waffen viel kleiner waren und – weil komplett selbst gemacht – manchmal echt jämmerlich aussahen.

Die Ausrüstung der orkischen Spiegeltrinker vor Ort macht jedenfalls so viel her, dass ich das Gefühl habe, zwanzig Jahre zu früh erwachsen geworden zu sein. Was hätte ich damals für so eine Maske gegeben! Unsere Orks waren in ihrer Hässlichkeit nicht halb so grandios wie diese hier, deren angeschminkte Geschwüre beinahe genauso authentisch wirken wie die grüne Haut und ihre verranzten langen Fingernägel.

Kurz spiele ich mit dem Gedanken an eine Geschichte, bei der sich eine Reihe angetrunkener unzivilisierter hässlicher Unholde auf einer Veranstaltung wie dieser plötzlich als echt entpuppt. Daran, was passiert, sobald ein übermütiger Gast nach einer vermeintlich falschen Nase greift, sich einen Moment später der trunkene Zorn der Orkhorde mit archaischer Wucht entlädt und irgendein Heuvelmann schließlich feststellen muss, dass er für so etwas doch nicht ausreichend versichert ist.

Ich schrecke aus meinen Gedanken, weil ein kleines dickes Mädchen mich um ein Autogramm bittet. Scheu reckt sie mir ihr Buch entgegen. Ich lächle sie an, verspreche, ihr nach der Lesung eines zu geben, und nehme es ihr ein wenig übel, mich daran erinnert zu haben, dass diese miese Party meine eigene ist: die Feier zur Veröffentlichung meines jüngsten Romans.

Unzufrieden wackelt das Mädchen davon, und ich komme, weil er mein gesamtes Gesichtsfeld ausfüllt, nicht umhin, ihr auf den Hintern zu starren. Als ich meinen Blick schließlich abwende, sehe ich, wie einer der Orks mit dem schartigen Kriegsbeil auf seinem Rücken versehentlich ein Bücherregal leerräumt.

Vorwurfsvoll schaue ich zu Heuvelmann hinüber, der lächelnd mit den Schultern zuckt. In seinem legeren Kapuzensweater, seiner getönten Sonnenbrille und der weißen Golferhose könnte man ihn für genau so einen Studenten halten, wie sie in den Orkkostümen stecken. Das gehört zu seinen Tricks. Nicht auffallen. Mittendrin sein. Beobachten. Heuvelmann beobachtet immer. Rund um die Uhr. Das ist einer der Gründe für seinen Erfolg als Verleger, denn so weiß er meist, was die Leute wollen, bevor sie es selbst wissen.

Eilig beseitigt eine Buchhändlerin das orkische Chaos. Während sie die Bücher zurück ins Regal schiebt, stelle ich mich an die Bar und werfe einen Blick auf die Cocktails zur Premiere. Die Drinks zum Buch: Nekromantenfokus, Engelsspalter und Die letzte Zuflucht. Der dritte ist alkoholfrei, bunt, süß und laut. Entertainment auf höchstem Niveau. Weil Literatur heutzutage ein Event und eine Buchhandlung auch eine Cocktailbar sein muss.

Einer der Presseleute kommt auf mich zu, stellt einige Fragen zum Buch, lässt seinen Fotografen ein Bild von mir mitsamt Ork machen und verschwindet gleich darauf wieder, um über eine Lesung zu schreiben, die er nicht gesehen hat. Aber anders kann man vermutlich nicht über sechs Veranstaltungen pro Abend berichten.

Der Barkeeper schaut mich fragend an. Ich schüttle den Kopf, zupfe einen breiten Strohhalm aus einem der Gläser und wende mich ab. Der Ork hinter mir bestellt drei Engelsspalter. Ich gehe zum Fenster, ziehe den kleinen silbernen Flachmann aus der Innentasche meines Jacketts und werde mir mit dem letzten verbliebenen Schluck bewusst, dass ich für die Menge Yamazaki, die ich während der letzten Stunden getrunken habe, ungefähr tausend Bücher verkaufen muss.

Was Whisky angeht, sind die Japaner inzwischen mit den Schotten gleichauf. Und für die Premiere eines Buches, das den Sprung auf die Spiegel-Bestsellerliste wie seine Vorgänger aus dem Stand schaffen wird, ist so ein 25-jähriger japanischer Whisky das Mindeste. Obwohl ich ihn gern geteilt hätte. Auch wenn ich nicht wüsste, mit wem. Frauen haben in meinem Leben keine besonders große Halbwertszeit, und was Freunde angeht, na ja, von denen liest keiner mehr meine Bücher. Was ich ihnen nicht verdenken kann. Inzwischen tut mir sogar Willi leid, wenn sie meine Manuskripte das zweite Mal durchgeht.

Ich spüre ihre Blicke auf mir und drehe mich um. Sie weiß, was in mir vorgeht. Sie kennt mich lange genug. Sie hat schon meine Kurzgeschichten korrigiert, und das ist beinahe fünfzehn Jahre her. Sie nickt mir zögernd zu, als ich die silberne Metallflasche zurück in meine Innentasche gleiten lasse. Eine aufmunternde Geste in diesem Labyrinth aus Büchern, das sich langsam mit Menschen füllt, die es darauf anlegen, sich darin zu verirren. Sie stehen dort, zwischen bunten Drinks und Büchern, Orks, Presse und Buchbloggern, in einem Laden, der ausreichend Cocktailbar ist, um dieses Jahr noch nicht pleitezugehen.

Das unüberhörbare Eintreffen des städtischen Fanclubs bedeutet, dass ein zweites Mal aufgestuhlt werden muss. Während ich mich zwischen den Büchern herumdrücke und meine größten Fans zu meiden versuche, nehmen die Leute ihre Plätze ein. Am Rand der Regale schaue ich erst auf die Uhr und dann zum Techniker, der mir ein knappes Zeichen gibt.

Also schlendere ich Richtung Lesepult, vorbei an den Bücherstapeln, und lasse meinen Blick beiläufig über Dutzende, oder besser Hunderte, Exemplare des jüngsten Titels meiner Creature-Clash-Reihe gleiten: Engel gegen Zombies II. Darin kommt kein einziger Ork vor, aber das ist Heuvelmann egal. Denn Orks sind billig, das Rückgrat der Fantasy und mit ein paar Promille verdammt unterhaltsam. Sagt er. Es bleibt eine miese Party. Selbst wenn es um die Veröffentlichung des vierten Bandes einer der erfolgreichsten deutschen Fantasy-Reihen der Gegenwart geht.

Gegenüber dem Pult mache ich vier Arten Zuhörer aus. Neben den verhuschten Bücherfreunden sitzen die üblichen Rollenspielnerds inklusive der Orks, hinter denen sich die, die nur der Getränke und des Büfetts wegen da sind, mit jenen mischen, die vermutlich zu jeder Lesung hierherkommen, weil es im Vergleich zum Kino die günstigere Variante der Realitätsflucht darstellt. Weil Buchhandlungen Event sein müssen und für Lesungen keinen Eintritt nehmen – zumindest solange sie sicher sind, an so einem Abend genügend Bücher und Getränke zu verkaufen, um einer Handvoll Angestellten nach Feierabend zwei zusätzliche Stunden zu bezahlen, und sie in der örtlichen Zeitung für ihr kulturelles Engagement gebauchpinselt werden. Eine Lesung muss sich also entweder lohnen oder eine sein, auf die der Chef des Ladens Bock hat und die er sich deshalb was kosten lässt.

Bevor die Orks gekommen sind, hab ich mich ein wenig umgesehen. Der Chef ist definitiv nicht da. Und ich könnte wetten, dass erwähnte Angestellte, sobald ich anfange zu lesen, zum Rauchen nach draußen gehen und nicht wieder reinkommen, bevor ich fertig bin. Was ich ihnen nicht übel nehme, weil das Buch tatsächlich noch schlechter als die Party ist. Besser als der erste Teil, natürlich, auch wenn das nichts heißen will und es vermutlich niemand bemerken wird.

Vor dem ersten Teil der Creature-Clash-Reihe Orks gegen Aliens hat mich niemand nirgendwohin eingeladen. Aber 30 000 verkaufte Bücher später fingen plötzlich alle an, sich für meine Meinung über phantastische Kreaturen zu interessieren. Seit Creature Clash IIEinhörner gegen Vampire – was inzwischen auch über fünf Jahre her ist – darf ich einmal pro Woche in irgendeiner Fernsehshow derart über Hobbits, Gorgonen, Vampire und Satanisten oder die Bedeutung Howards und Tolkiens für die phantastische Literatur der Gegenwart sinnieren, dass ich selbst schon nicht mehr weiß, was ich da überhaupt alles erzähle. Meine Bücher haben mich zu einem Viecherversteher ersten Ranges gemacht. Wo immer heute ein Troll hinterm Felsen vorschaut, ein Kobold in den Wald kackt oder eine Elfe in eine Windschutzscheibe kracht, muss ich die Frage beantworten, was das wohl bedeuten könnte.

Ich lächle ihnen zu; den Bloggern, den Nerds, den dicken Mädchen und den Orks, die ich vor meinem geistigen Auge zwischen den Regalen wüten und grunzend meine Zuhörer enthaupten sehe, bevor ich meinen Blick auf die normalen Leute richte. Dazwischen Willi. Die vermutlich einzige Person im Raum, die diese Veranstaltung mit ähnlich gemischten Gefühlen wie ich betrachtet. Weil sie weiß, dass man aus einem Kampf von Engeln gegen Zombies unmöglich zwei sinnvolle Bücher machen kann. Und inmitten der Nerds: Heuvelmann, dessen zufriedenes Lächeln der Tatsache geschuldet ist, dass die Buchhandlung zwei Mal nachbestuhlen musste. Dieses Lächeln würde wahrscheinlich weit weniger entspannt ausfallen, wenn er wüsste, dass ich betrunkener bin als seine Orks. Mir wird etwas schwindlig und ich muss mich kurz abstützen. Ich hab den ganzen Tag nichts gegessen und bin froh, gleich sitzen zu können.

Einer der Angestellten, über dessen Geschlecht ich keine eindeutige Aussage treffen kann, tritt vor, schüttelt seine Prinz-Eisenherz-Frisur und begrüßt im schwarz-weißen Burlington-Pullunder im Namen der Buchhandlung die Anwesenden. Während ich mich ärgere, dass es diesem Menschen nicht gelingt, meinen Namen und den Titel des Buches fehlerfrei abzulesen, entdecke ich die Zigarettenschachtel in seiner Gesäßtasche. Am Hintereingang sehe ich zwei weitere ungeduldig wartende Mitarbeiter, die sich so wenig für diese Veranstaltung zu interessieren scheinen, dass ich, insofern ein Ork sich in diesem Moment angeschickt hätte, sie zu entbeinen, keinen Finger gerührt hätte, um sie zu retten. Ich habe nämlich Besseres zu tun. Kurz betrachte ich mich noch in einem spiegelnden Aufsteller, staune, wie gut mein Jackett das leichte Übergewicht kaschiert, kontrolliere den Sitz von Bart und Frisur, stelle sicher, dass aus der schwarz gefärbten Haarpracht kein graues herausschaut, und nicke mir unwillig zu. Dann hat das sprechende Mitglied der nikotinösen Pausengemeinschaft meinen Wikipedia-Eintrag runtergeholpert, seine Einleitung beendet, und das Wort ist an mir.

»Heute Nacht tobt hier in Berlin eine weitere Schlacht im ewigen Krieg zwischen Engeln und Zombies.« Bedeutungsschwanger blicke ich in die Runde und stelle fest, dass dies ebenso gut ein Laden in Frankfurt oder Köln sein könnte. Buchhandlungen dieser Größe sehen, besonders wenn sie einer Kette angehören, überall gleich aus. Selbst die Bestückung der Regale ist, von regionalen Krimis und Kochbüchern einmal abgesehen, weitgehend identisch. Was im Grunde genommen der Strategie von McDonald’s entspricht: Jeder, der reinkommt, weiß sofort, wo sich was, nur eben nicht unbedingt, in welcher Stadt er selbst sich befindet. Vor allem dann nicht, wenn er ständig in einer anderen aufwacht. Als ich über die Köpfe des Publikums hinweg durch die Fenster den Funkturm erkenne, bin ich mir zumindest sicher, jetzt gerade in Berlin zu sein.

»Entgegen der Niederlage, die sie am Ende des letzten Bandes erleiden musste, erhebt sich die geflügelte Schwesternschaft von Angelion ein weiteres Mal; geschwächt, aber willens, Neu-Kanaan, die letzte menschliche Kolonie, vor den todlosen Horden zu bewahren. Selbst ohne den Jenseitsstein, das geheimnisvolle Artefakt, welches die Kadaverkohorte des großen Verwesers in der Schlacht von Megiddo eroberte; ohne ihre wichtigste Waffe müssen die letzten verbliebenen Schwingenkinder, während das Heer der Platinflügel komplett aufgerieben und der oberste Engel im Hochtempel von einem Zombie-Assassinen infiziert wurde, einem Orkan toten Fleisches trotzen, der Menschen wie Engel zu verderben droht. Willkommen, Freunde, in Neu-Kanaan.«

Diese kurze Zusammenfassung des Ausgangspunktes von Engel gegen Zombies II führt erwartungsgemäß im Publikum zu einer Stille, die zu gleichen Teilen auf Ehrfurcht wie Verwirrung beruht, was beides eine gute Basis für eine Lesung ist. Dementsprechend beginne ich und entführe meine Hörer, Nerds, angetüdelte Orks und jene, die vermutlich nicht geahnt haben, was sie heute erwartet, in eine Welt unruhigen Flügelschlags und untoter Hoffnung.

Ich lese. Vom Verrat der Entflügelten von Hinnom, den vergessenen Wundern hinter den Mondsteinbergen, dem Schwinden der Menschlichkeit im Herzen Neu-Kanaans und der verbotenen Liebe eines Engels zu einem Untoten. Und ich staune, wie sich Love-Interest, Action und Drama zu dieser eierlegenden Wollmilchsau von Buch ineinanderfügen, das sich vermutlich noch besser als seine Vorgänger verkaufen wird. Weil einfach alles drin ist: eindrucksvolle Szenerien, ausufernde Kämpfe, zarte Bande zwischen männlichen jungen Engeln, untoter Bondage-Sex, Kerzenlicht, Folterkeller, beiläufig gestreute Glückskeksweisheiten und ein gutes Dutzend Identifikationsfiguren jeder Farbe, Größe und Statur. Für jeden etwas. Und, wenn man die kryogengefrorenen Nonnen im Orbit des Engelsplaneten oder die unterirdische Kolonie am Südpol bedenkt, auch mit dem Potenzial für einen dritten Teil.

Laut lesend blättere ich weiter und merke, wie beängstigend gut dieses Buch funktioniert. Die Geschichte ist unterhaltsam, brennt sich ein, macht neugierig und gewinnt, kaum dass man zu lesen beginnt, so schnell an Fahrt, dass man förmlich hineingesogen wird und ich mich wieder erinnere, warum sich diese Mischung aus Engel-SM, Zombieselbstfindung und ätherischer Wunderlanddystopie derart gut verkauft: weil sie in aller Überfülle an Motiven, Symbolen und Gleichnissen so sackdumm und leer ist, dass ein Leser am Ende dieses Buches noch hungriger ist als am Anfang. Das ist es vermutlich, was ein erfolgreiches Buch dieser Tage schaffen muss: die Leute hungrig machen. Auf noch mehr Bücher, die sie ebenso wenig satt machen. Womit wir wieder bei McDonald’s wären.

All das denke ich beim Lesen, während mit Engeln und Zombies besetzte Allgemeinplätze sowie verkrüppelte Zitate aus fünfhundert Jahren Weltliteratur an mir vorüberziehen, weil ich sie Kreaturen in den Mund gelegt habe, die eindimensional zu nennen noch ein Kompliment wäre. Schließlich beende ich meine Lesung an einem jener belanglosen Cliffhanger, aus denen das Buch gemacht ist, und lasse mit verheißungsvollem Blick eine Frage offen, die weder für mich noch irgendjemanden hier im Publikum relevant ist. Als ob man unter Trommelwirbel einen Scheinwerfer auf einen Sack Reis richtet.

Sie klatschen. Ich lächle. Bemüht, mir nicht anmerken zu lassen, wie unangenehm mir der Applaus ist. Weil ich weiß, dass er in Wirklichkeit jemand anderem gilt.

Während der Beifall des Publikums abebbt, kommen die Buchhändler wieder rein. Kaum glaubhafte Begeisterung heuchelnd bedankt sich die androgyne Gestalt von vorhin für eine phantastische Lesung, kündigt an, dass der Autor jetzt gern noch signieren wird, und äußert, auf die ausufernden Stapel mit Engeln und Zombies deutend, die Hoffnung, dass ausreichend Bücher da seien, um dem folgenden Ansturm gerecht zu werden.

Im Schatten eines lebensgroßen Pappaufstellers, der zur Hälfte einen triumphierenden Engel und zur Hälfte einen grimmigen Zombie darstellt, signiere ich. Hinter mir stehen Heuvelmann und Willi. Sie sind zufrieden mit dem Abend.

»Er macht das gut«, raunt er ihr zu.

»Ja, ich denke auch, dass wir ihn behalten sollten. Bei artgerechter Haltung könnte er womöglich noch einige Bestseller schreiben«, flüstert Willi zurück.

»Zumindest, solange seine Ansprüche sich ihm nicht in den Weg stellen.«

»Aber Herr Heuvelmann, ich dachte, das hätten wir geklärt.«

»Das dachte ich auch, aber Sie wissen ja selbst, dass es manchmal mit ihm durchgeht, wenn er glaubt, Literatur verfassen und sich zwischen Publikum und Anspruch entscheiden zu müssen.«

»Ich hab ihn im Griff. Vertrauen Sie mir.«

»Das hoffe ich. Schließlich ist noch Leben in Neu-Kanaan.« Heuvelmann klopft mir jovial auf die Schulter.

Ich kenne ihn und seine Ängste. Weiß, wie er bei jeder neuen Idee von mir fürchtet, dass ich versuchen könnte, etwas zu schreiben, das satt macht. Und mit welchem Schrecken er sich an die Manuskripte erinnert, die er abgelehnt hat, bevor Creature Clash durch die Decke ging und ich zum Reissackschubser der deutschen Fantasy wurde.

Ich signiere weiter, lasse meinen Edding über all die halbnackten Engel und Zombies gleiten, die mich während der letzten Jahre begleitet und meine Miete bezahlt haben und die das, wenn es nach Publikum und Verlag geht, auch weiterhin tun werden. Die Hälfte des dritten Teils ist bereits fertig, obwohl das Schreiben mir inzwischen beinahe wehtut. Und das nicht, weil ich mit den Bewohnern Neu-Kanaans leiden würde.

Und dann steht vor mir, den gesamten Creature-Clash-Zoo in seinen ausufernden zweitausend Seiten unter dem Arm – zwei der Bücher sogar in der fellbesetzten Kreaturenbändiger-Edition –, das dicke Mädchen von vorhin.

Anerkennend hebe ich eine Braue. »Wow. Da hast du aber ein paar richtige Schätze mitgebracht.«

Konsterniert schaut sie mich an und legt ein Buch nach dem anderen, Orks gegen Aliens, Einhörner gegen Vampire und Engel gegen Zombies Teil 1 und Teil 2 vor mir auf den Tisch. Ich streiche über das räudige Fell, das während der letzten Jahre ein wenig gelitten hat, schnippe ein kleines Bröckchen Katzenstreu vom Cover und öffne, während ich meinen Stift hebe, den ersten Band.

»Saskia!«, herrscht das Mädchen mich an, und ich brauche einen Moment, bis ich begreife, dass es sich um ihren Namen handelt, den ich nun mit kunstvollem Schwung und einem netten Spruch über der üblichen unleserlichen Unterschrift in ihrem Buch verewige. Danach greife ich nach dem zweiten Band, dessen Fell sich seltsam verklebt anfühlt, worauf ich jedoch nicht eingehe und stattdessen umgehend signiere.

»Du stehst aber schon ein bisschen auf die Serie, nicht wahr?«, frage ich, um die seltsame Stille zu durchbrechen, die um den Signiertisch herrscht, seit Saskia ihren Namen wie eine Bombenwarnung herausgebrüllt hat.

»Hätte die anderen auch gern noch mit Fell gehabt«, mault sie und hat dabei weder eine Ahnung von dem Gewese, das die zuständige Firma seinerzeit um den Synthetikscheiß gemacht hat, noch macht sie sich Gedanken darüber, wie wenig Engel und Zombies mit Fell korrespondieren. Ich fahre fort zu lächeln, im Hinterkopf Willis Stimme, die mich eindrücklich ermahnt, dass ich von diesen Leuten lebe und sie darum freundlich und mit Respekt zu behandeln habe. Egal was ihre Felleinbände auch verklebt haben mag.

Drittes Buch. Immer noch Saskia, aber ein anderer Spruch. Als ich noch einmal aufschaue, sehe ich, wie sie übellaunig auf ihrer Unterlippe herumkaut. Etwas bewegt sie, das spätestens bei dem letzten Buch aus ihr herausplatzen wird. Und genau das tut es. Kaum, dass ich den Stift zum vierten Mal angesetzt habe, macht Saskia ihrem Unmut Luft.

»Ich hoffe ja, dass Sanguiel im neuen Band wieder auftaucht. Seine Geschichte haben Sie seit dem zweiten Drittel des letzten Buches total ignoriert. Und das, obwohl er bereit war, ganz allein in das Tal der todlosen Teufel von T’rash hinabzusteigen und überhaupt die interessanteste Figur von allen ist.«

Saskia funkelt mich an. Sicherlich hat sie recht. Irgendwie. Ich aber erinnere mich weder an Sanguiel noch an die todlosen Wasweißich von Woauchimmer, was einerseits dem Alkohol, andererseits der Tatsache geschuldet sein kann, dass besagte Figur mich nicht interessiert.

Ich setze zu einer Antwort an, doch bevor diese unvorteilhaft ausfallen kann, beugt Willi sich zu mir herab und raunt mir leise zu: »Sanguiel ist der Vampirengel, den wir konstruiert haben, weil Heuvelmann auf einer Figur bestand, die aus dem zweiten Band in den dritten hinüberführt. Groß, dunkel, geheimnisvoll, schwere Kindheit, zwei verschiedenfarbige Flügel als Symbol für seine Zerrissenheit. Sucht seit Äonen nach dem Vampir, der ihn erschaffen hat, und verlor im Kampf gegen den großen Verweser einen Arm.« Sie lispelt ein wenig. Ich liebe es, wenn sie das tut.

Als ich Saskia kurz darauf entgegne, dass der Verlag darüber nachdenkt, Sanguiel ein eigenes Buch zu widmen, in dem er seinen Schöpfer finden, Rache am großen Verweser nehmen und das Geheimnis der Nachtengel lösen wird, die im Inneren der knöchernen Kathedrale festgekettet sind, tut mir vom Lächeln beinahe das Gesicht weh.

Das macht Saskia sichtlich zufrieden, sodass sie mir, als sie ihre Bücher zusammengerafft hat, eine Ahnung von etwas schenkt, das man in ihrer Welt ein Lächeln nennen könnte.

Ich lehne mich zurück, zupfe kurz an Willis Kleid und flüstere, dass ich ernsthaft hoffe, für Sanguiel seinerzeit fünf Euro in die Kasse für dämliche Namen gesteckt zu haben, die wir stets bei Veröffentlichung des entsprechenden Buches gemeinsam versaufen. Sie glaubt, sich zu erinnern, dass er mir sogar zehn wert gewesen war. Ich nicke. Zu Recht.

Ich beuge mich etwas zur Seite und versuche einzuschätzen, wie viele Engel und Zombies in unpraktischen Outfits mit sinnentleerten Rüstungsteilen ich heute noch signieren darf. Die Schlange ist lang. Verflucht viele Leute, die freundlich und mit Respekt behandelt werden wollen.

Willi bemerkt meinen Gesichtsausdruck, als ich weiter hinten die Orks entdecke.

»Bleib ruhig, Tristen. Gönn sie Heuvelmann. Du weißt, wie wichtig sie ihm sind.«

Ich lächle. Sie weiß, wie schwer mir das fällt. Weil ich diese Orks so was von gefressen habe …

Aufmunternd klopft Willi mir auf die Schulter, und ohne mir etwas anmerken zu lassen, signiere ich das nächste und längst nicht das letzte Exemplar.

Ich bin durch. Völlig. Komplett. Und verdammt froh, mich nach knapp zwei Stunden Freundlichkeit, Respekt und Unterschriften bis aufs Klo durchgeschlagen zu haben, wo ich mich in einer kleinen engen Kabine einschließe und etwas gegen meine aufkommende Müdigkeit zu tun gedenke.

Ich gehe in die Hocke und fingere ein kleines Papierbriefchen aus meiner Geldbörse, das ich vorsichtig auffalte, bevor ich den Inhalt achtsam auf dem Klodeckel verteile. Ich finde es amüsant, dass eine Substanz wie Kokain erwachsene Männer dazu bringt, sich wie Schuljungen in Toiletten einzuschließen. Trotzdem bin ich irgendwie froh, dass Saskia mich so nicht sehen kann. Schmunzelnd schiebe ich das Pulver mit meiner BahnCard zusammen, zücke den breiten Strohhalm von der Cocktailbar und tu etwas für meine Stimmung.

Am Scheppern ihrer Rüstungsteile erkenne ich, dass einige Orks die Toilette betreten. Meine Nase abwischend, säubere ich den Klodeckel und zerre meine Hose zurecht. Draußen vor der Kabine treten die Grünhäute an die Urinale und unterhalten sich.

»Nee, ich sag’s dir, der ist noch strammer als wir. Der war schon dicht, als er mit Lesen angefangen hat.«

»Meinste echt?«

»Klar. Wobei das aber auch egal ist. Seine letzten Bücher waren so was von unterirdisch.«

»Stimmt schon. Hat seinen Zenit wohl echt überschritten.«

»Also, ich konnte mit der Serie von Anfang an nichts anfangen. Ich weiß nicht mal, was wir hier überhaupt sollen. Kommen ja nicht mal Orks vor in dem Buch.«

»Sei bloß still. Sobald die ein paar passable Engelcosplayer finden, die sich mit Büchergutscheinen und Büfett abspeisen lassen, sind wir schneller raus, als dir lieb ist.«

Büchergutscheine also. Jetzt bezahlt Heuvelmann sie schon nicht einmal mehr.

»Aber ehrlich mal, was soll das? Orks, Aliens, Vampire und Einhörner? Damit versuchen die doch nur, so viele Fans wie möglich mitzunehmen. Das is’ ’ne ganz billige Masche.«

»Is’ aber schon schade. Früher hat er wirklich geilen Scheiß geschrieben. Zeug, das halt nirgends hingepasst, aber richtig geknallt hat.«

»Stimmt, seine Kurzgeschichten! Hatte ich fast schon vergessen. Die sind ja aber auch schon mehr als zehn Jahre her.«

Ich halte still. Belausche sie. Ärgere mich. Darüber, dass sie recht haben. Dass meine Kurzgeschichten wirklich gut waren. Bevor ich mit all diesen Kreaturen versehentlich so erfolgreich wurde, dass ich Angst habe, in den nächsten Jahren auch noch Wolpertinger und Meerjungfrauen oder Klabautermänner und Cyborgs aufeinanderhetzen zu müssen. Ich bin wütend. Vor allem auf mich selbst. Weil ich es so weit habe kommen lassen. Weil ich leere Bücher schreibe. Und ich werde noch wütender, als plötzlich Tränen in meinen Augen brennen.

Ich höre die Orks wieder gehen und schmettere, kaum dass die Tür ins Schloss gefallen ist, meine Faust gegen die Kabinenwand. Dabei prelle ich mir schmerzhaft den Knöchel, bevor ich ein weiteres Mal zuschlage. Und noch einmal. So lange bis erst die Plastikbeschichtung und dann meine Haut aufreißt. Ich tobe, schreie, Blut verteilt sich über das Weiß der Wand. Unterdessen betritt jemand die Toilette, hört mich und zieht es vor, unverrichteter Dinge wieder zu gehen.

Ich hasse Orks! Hasse, hasse, hasse sie! Jeden Einzelnen, den ich damals im Konflikt mit den Aliens habe davonkommen lassen!

Wutschnaubend stürze ich schließlich aus der Toilette und den Orks hinterher. Als ich mit blutigen Knöcheln an der mobilen Bar und den Resten des Büfetts vorbeistampfe, folgen mir verstörte Blicke. Ich schaue mich um, entdecke Willi und stelle fest, dass Heuvelmann wohl schon gegangen ist. Was auch besser ist. Für ihn ebenso wie für mich.

Ich erwische seine dreckigen Orks zwischen den Fantasyregalen, wo sich jeder von ihnen schon einen kleinen Stapel Bücher zusammengesammelt hat. Einige Bände Game of Thrones, Elric von Melniboné sowie Star-Wars-Romane. Einer hat sogar eines der regionalen Kochbücher dabei. Wahrscheinlich hat Oma bald Geburtstag. Dann eine Reihe Comics und ein bisschen neues Zeug, Werwölfe, Vampire, und amerikanische dunkle Phantastik.

Sechs verschissene Orks, jeder mit einem schäbigen Büchergutschein ausgestattet, und keiner, wirklich keiner von ihnen hat auch nur eines meiner Bücher genommen! Ehrloses Geschmeiß! Rollenspielsöldner, die um einer Handvoll Bücher willen für jeden König kämpfen würden! Sie schauen auf und blicken einander verwundert an, mit ihren lächerlichen Latexwaffen, abgewrackten Lederrüstungen und ihrer Standarte, mit dem albernen Trophäengebamsel, Plastikschädel und abgekochten Hühnerknochen und ihren nicht von mir stammenden Büchern! Aber ich werde sie ihnen trotzdem signieren! Und zwar so was von!

Die Ärmel meines Jacketts hochkrempelnd stürze ich mich auf sie.

Einer gegen sechs. Ein ehrbarer Kampf in den entlegenen Gefilden der Phantastik.

Ohne Rücksicht auf Verluste.

Der Weise Ork vom Tindergrimm

Lange schon war das von Moos überwucherte Grabmal des großen Gelehrten Oblitus von Khorr in Vergessenheit geraten. Ebenso wie die umliegende Stadt, das einstmals prächtige Tindergrimm, in dessen Ruinen sich allenfalls Wanderer vor dem Regen versteckten.

So handhabten es auch Horrk und Grablagk, zwei Orks, die von einem schlimmen Unwetter überrascht in den Überresten Tindergrimms anlangten. Sie fanden Zuflucht in der Gruft des Gelehrten, fachten dort ein Feuer an und machten sich über ihren kargen Proviant her.

Einer finsteren Wand gleich rauschte der Regen vor dem Grabmal nieder. Binnen kurzer Zeit verwandelten sich einstige Straßen in tosende Ströme. Und die Trümmer Tindergrimms ragten derart trostlos in den finsteren Himmel, dass selbst den beiden Orks ganz klamm im Herzen ward. Bald entzündeten sie einige Fackeln und begannen, in der Hoffnung, Gold darin zu finden, die tiefer gelegenen Räume des Grabmals zu erkunden.

Doch das Einzige, was sie schlussendlich in einem steinernen Sarkophag entdeckten, waren die Knochen des Gelehrten und ein in Leder gebundenes Buch.

Der bucklige Horrk hätte derlei niemals angerührt. Weil es unorkisch war und allenfalls zum Feuermachen taugte. Grablagk aber war aus anderem Holz geschnitzt und saß wenig später schon, von seinem Begleiter missmutig beäugt, am Feuer und blätterte, derweil der Regen draußen weiterrauschte, schweigend im Buch des Gelehrten.

Eben das tat er auch an den folgenden Tagen und versäumte, während das Unwetter andauerte, des Buches wegen gar zu essen oder zu schlafen.

Als Sturm und Regen sich schließlich legten, trafen in den Ruinen einige weitere Orks ein, die man ausgesandt hatte, nach Horrk und Grablagk zu suchen.

Bald schon fanden sie jene beiden und teilten freudig Vorräte und Wein mit ihnen, wunderten sich jedoch, weshalb einer der beiden Leder und Papier dem gemeinsamen Schmausen vorzog.

Als der Abend voranschritt, floss mehr Wein, ein Grunzen ergab das andere, und bald bekamen die Neuankömmlinge sich darüber in die Haare, wer von ihnen am besten geeignet war, die Nachfolge ihres Häuptlings anzutreten. Der Tradition gemäß begannen sie das Ganze hernach mit haarigen Fäusten zu klären.

Als der Streit zwei Stunden später aber noch immer nicht beigelegt war, hob Grablagk den Blick vom Buch und erklärte den Streitenden die Torheit ihres Handelns, das kaum über die Nachfolge des Häuptlings entscheiden würde.

Und weil ihnen das einleuchtete, begannen die Streithähne sich über etwas Sinnvolleres zu streiten und wunderten sich, dass einer der ihren ihnen gerade Kraft eines Buches einen Ratschlag erteilt hatte.

Als sie am folgenden Morgen gemeinsam aufbrechen wollten, teilte Grablagk, das Buch in der Hand, den anderen mit, das Grabmal nicht verlassen zu wollen. Verwundert nahmen die übrigen Orks das zur Kenntnis und beschlossen, zu seinem Schutz auch den buckligen Horrk zurückzulassen.

Wenige Tage später, Horrk kehrte gerade von der Jagd heim, vernahm er plötzlich Stimmen aus dem Inneren des Grabmals. Er fürchtete schon das Schlimmste, hastete die Stufen hinauf, und als die Gruft in Sicht kam, sah er Grablagk, das geschlossene Buch unter dem Arm, auf einem Haufen Steine thronen, vor ihm vier am Boden hockende Orks eines anderen Stammes, die ihm schier an den Lippen hingen. Dann bemerkte Horrk neben dem aufgetürmten Thron einige Körbe erlesener Köstlichkeiten und begriff, dass andere für den buchwärtigen Wahn seines Kameraden sogar zu zahlen bereit waren.

Zwei Monde darauf kümmerte Horrk sich weniger um die Jagd als um die Einlagerung dessen, was Orks aller Clans und Stämme Grablagk darbrachten, um seinen Rat zu bekommen. Von seinem Thron aus erteilte dieser ununterbrochen Ratschläge über Dinge, von denen er früher rein gar nichts verstanden hatte.

Bald sprach es sich herum, dass ein Ork das Erbe des Gelehrten Oblitus von Khorr angetreten hatte und Audienz auf seinem Grabmal hielt. Sogar Menschen kamen, um den Rat Grablagks zu erbitten, der sie, das Buch des Gelehrten in Händen, bereitwillig empfing und Antworten auf all ihre Fragen hatte.

Als das denkwürdige Unwetter, das sie in diese Gruft gespült hatte, beinahe vier Jahre zurücklag, hatte auch der nunmehr feist gewordene Horrk begriffen, dass jenes Buch mehr Segen als Fluch und der Ursprung ihres Wohlstandes war. Und auch wenn er inzwischen sogar bereit gewesen wäre, es zu berühren, hütete sein Kamerad das Buch wie vom ersten Tage an und ließ niemanden sonst in seine Nähe.

Doch mit der Zeit wurde Horrk sein Dasein als besserer Diener seines Kameraden leid. Bald darauf bekamen die beiden Kunde von einigen bedeutenden Gelehrten, die den weisen Ork in Augenschein nehmen wollten. Vom üppigen Tribut, den besagte Gemeinschaft vorausschickte, hielt Horrk in der Gruft ein Festmahl ab, zu dem er die Führer aller Clans und Stämme einlud und bei dem er seinen Freund zu vergiften beschloss.

Es war ein lautes, wildes und orkwürdiges Gelage, in dessen Rahmen Grablagk sich, das Buch unter dem Arm und einen Humpen in der anderen Hand, den Wanst vollschlug, bis er von seinem Thron kippte und röchelnd zu Füßen der seinen verendete.

Verstört betrachteten die mächtigsten Grünhäute jener Tage den leblosen Körper. In der Halle hob orkisches Wehklagen an und haarige Fäuste begannen auf verbeulte Brustpanzer zu schlagen, während man aus der Ferne bereits die Fanfaren der Gesandtschaft der Weisen vernahm.

Horrk, bereit, den Platz seines Freundes auf dem Thron einzunehmen, griff nach dem abgewetzten Einband neben der leblos ausgestreckten Pranke, hob das Buch empor, schlug es auf … und begriff, dass die nahenden Gelehrten nichts und niemanden würdigen und er selbst keinesfalls in die Fußstapfen des toten Grablagk treten würde.

Denn die Seiten jenes Buches, das er in Händen hielt, waren vollkommen leer und die Worte darin längst verblichen, sodass wohl auch Grablagk, der weise Ork von Tindergrimm, nie auch nur ein einziges davon gelesen hatte.

KAPITEL II

… in dem sich die Frage stellt,

ob der Held Lust oder Hunger verspürte,

eine Verbündete sich auf seine Kosten

amüsiert und sich zuletzt ein Wiedersehen

als verzichtbar erweist

Es hätte Sonnenschein sein können.

Ein Kuss womöglich. Vielleicht auch Kaffeeduft.

Doch mich wecken Kopfschmerzen. Von der bösen Art. Gäbe es einen Gott, der einen vor solchen Kopfschmerzen zu bewahren vermöchte, ich betete ihn an. Meine Augen lasse ich geschlossen. Sonnenlicht könnte es noch schlimmer machen.

Einen Moment lang erlaube ich mir, den Schmerz in meinem Schädel als Indikator meines Talentes zu betrachten. Lewis Caroll haben seine halluzinatorischen Migräneschübe angeblich zu Alice im Wunderland inspiriert. Meine Migräne ist allerdings keine echte, sondern lediglich die logische Konsequenz der gestrigen Exzesse. An Schreiben ist damit gar nicht zu denken. Mein Zustand zerstört Fokus, Erinnerung und Motivation. Wobei meine fehlende Erinnerung an den vergangenen Premierenabend vielleicht eine Gnade und dieser Schmerz der Preis dafür ist. Womit Fokus und Motivation quasi Kollateralschäden wären.

Andere Autoren würden sich umdrehen und weiterschlafen, bis die Schmerzen weg sind, und dann arbeiten, bis sie sich die Kopfschmerzen für den nächsten Tag verdient haben. Ich aber werde nicht umhinkommen, irgendwann die Augen zu öffnen. Schon um einen Blick auf die Uhr zu werfen.

Willi wartet nicht. Und mit der muss ich heute Mittag rüber zu Heuvelmann, um ihm glaubhaft zu versichern, dass in Neu-Kanaan alles zum Besten steht und Schimmerschwinge sich entschieden hat, das Kind ihres untoten Geliebten auszutragen, der sich in den Katakomben unter der Stadt versteckt. Ich habe noch einige Kapitel vor mir, bis er ein paar Ebenen tiefer den vergessenen Bau der Werwölfe entdecken und von ihrem Anführer zerrissen wird, ohne sein Kind je zu Gesicht bekommen zu haben. So können Engel und Zombies sich in seinem Namen verbünden, um einer größeren Gefahr zu trotzen, die in den nächsten Band der konfliktbetonten Reihe hinüberführt. Weil irgendjemand gesagt hat, dass Werwölfe das nächste große Ding sind, und alle Verlage auf den nächsten Vollmond hinproduzieren. Heuvelmann & Grimm bilden da keine Ausnahme. Die Leser mögen es noch nicht wissen, aber sie werden die Lykantropen gewollt haben. Bald schon. Der nächste Band heißt dann Werwölfe gegen Wackeldackel und kann – Saskia wird es mir danken – wieder limitiert in Kunstfell erscheinen.

Es wäre vergnüglicher, über Kopfschmerzen zu schreiben. Was Willi mir aber wohl nicht durchgehen ließe. Ich kenne auch Lektorinnen mit Humor, aber dass Willi keinen hat, ist vermutlich eine Stärke. Ihr zufolge sind Unfreundlichkeit und Humorlosigkeit die zentralen Merkmale eines produktiven Autoren-Lektoren-Verhältnisses. Keine Ahnung, ob das ihre persönlichen oder allgemeine Prinzipien sind; ich habe jedenfalls noch nicht die Trigger gefunden, bei denen sie davon abweicht. Obwohl wir sogar schon Kopfschmerzen miteinander geteilt haben und es an dem Tag, als wir mit den Vampiren und den Einhörnern in die Spiegel-Bestsellerliste eingeritten sind, kurz so aussah, als ob sich zumindest die Sache mit der Unfreundlichkeit aushebeln ließe. Aber vielleicht sind es tatsächlich diese Regeln, die uns so effektiv machen, Regeln, mit denen wir ebenso gut eine christlich-fundamentalistische Sekte gründen könnten. Was ich mitunter lieber täte, als irgendwo zwischen Bernhard Grzimek, Rosamunde Pilcher und Stephen King immer neue Kreaturen aufeinanderzuhetzen.

Ich beschließe aufzustehen. Vielleicht kann ich, bevor Willi auftaucht, noch schnell einen Meteor in Neu-Kanaan einschlagen lassen, der alles dahinrafft, was noch gegeneinander antreten könnte.

Ich öffne die Augen, will mich aus dem Bett wälzen und zucke unwillkürlich zusammen. Was zum …?

Mein Bettzeug ist grün. Was weniger irritierend wäre, wenn es gestern nicht noch grau gewesen wäre. Die dunklen grünen und braunen, teilweise nicht ganz trockenen Schlieren, die es nun verunzieren, lassen nur einen Schluss zu: ein Ork.

Den ich entweder gefickt oder gefressen habe.

Als ich die Decke zurückschlage, die grünen Spuren auf meinen Schenkeln, unter meinem Bauchnabel und auf meiner Brust erkenne, bin ich ein wenig erleichtert. Gefressen hab ich ihn scheinbar nicht. Auch wenn von dem Ork selbst jede Spur fehlt.

Neben meinem Bett liegen zwei leere Gin-Flaschen, die inmitten einer Ansammlung von einigen kleinen Tonic-Flaschen wie deren große Brüder wirken. Ich muss schon betrunken gewesen sein, als ich nach Hause kam, sonst hätte ich den guten Gin nicht geteilt. Nicht mit einem Ork.

Es durchzuckt mich eiskalt. Hastig greife ich unter die Matratze, ziehe die kleine Metallschatulle hervor und schaue hinein. Alles noch da. Unberührt. Nicht auszudenken, wenn ich es irgendjemandem im Suff gezeigt hätte. Das Kästchen wieder verstauend entdecke ich unweit der leeren Flaschen eine meiner alten, noch auf der elektronischen Schreibmaschine getippten Kurzgeschichten. Der Weise Ork von Tindergrimm. Auf den Seiten sind ebenfalls vereinzelte grüne Flecken zu erkennen.

Da klingelt es. Mein schmerzender Kopf zuckt herum, der Wecker zeigt 11 Uhr. Willi. Und ich habe nicht nur verschlafen, sondern auch noch Unzucht mit einem Ork getrieben. Und Kopfschmerzen. Willi wird ihren Spaß haben. Und etwas, womit sie mich die nächsten zwanzig Jahre aufziehen kann. Zum Türsummer hastend, ziehe ich mir eilig die Shorts und das Muskelshirt über, die zwischen dem Manuskript und dem Eingang herumliegen. Kurz überlege ich, ob ich Willi unten warten lassen soll, bis ich mich frisch gemacht und angezogen habe; aber ich kenne sie. Selbst der Grinch hat mehr Spaß als jemand, der sich bei ihr verspätet und sie dann auch noch hinzuhalten wagt. Ohne mit ihr zu reden, betätige ich den Summer. Als ich das leise Klacken der Haustür vernehme, den Schalter loslasse und die Wohnungstür öffne, vernehme ich es. Im Bad. Die Dusche. Der verdammte Ork ist noch immer hier!

»Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?«

Sie steht in der Tür und sieht mich ungläubig an. Wilhelmine ›Willi‹ Stegemann. Ihres Zeichens Vermittlerin zwischen mir, dem Verlag und den Menschen dort draußen. Eine Mischung aus Frida Kahlo, Ronja Räubertochter und einem der Mumins. Mit Kahlos Augenbrauen und Oberlippenbart, Ronjas flammend neugierigem Blick und einer klassisch muminartigen Figur wirkt sie meist, als wartete sie nur auf einen Grund, sich zu streiten. Ein kleiner Racheengel auf Beruhigungsmittel. Sie kleidet sich stilvoller als die meisten Frauen, die ich kenne, und ich habe sie noch nie in Jeans oder Turnschuhen gesehen. Das schwarze Haar in einer Art Bubikopf geschnitten – der mich tatsächlich jedes Mal an die gleichnamige Zimmerpflanze erinnert –, ist sie mit einem Meter zweiundsechzig kaum größer als meine Mutter und abgesehen von dieser vermutlich die einzige Frau, vor der ich mitunter Angst habe.

»Du erinnerst dich schon noch an unseren Termin? Den bei unserem Verlag? In einer halben Stunde?«

Ich nicke zögerlich, wage jedoch nicht, ihr dabei in die Augen zu sehen. Es dauert nicht lange, bis Willi erkennt, dass meine unzulängliche Bekleidungssituation und die Flecken nur ein Teil des Problems sind. Im nächsten Augenblick steht sie in meiner Wohnung und schaut sich um. »Ich … ich wollte ins Bad, sobald es frei ist«, murmele ich.

Sie bückt sich nach den fleckigen Textseiten, hebt sie auf und schüttelt den Kopf. »Ich glaub es nicht. Du benutzt hornalte Geschichten, die ich noch nicht einmal durchsehen durfte, um irgendein bescheuertes Orkgroupie flachzulegen?«

»Man könnte es etwas wohlwollender formulieren, aber im Großen und Ganzen …«

»Ganz ehrlich, Aaron? Das ist jetzt kein moralisches Urteil, aber wenn du nur halb so viel Energie ins Schreiben wie in dein Frauenmanagement stecken würdest, hätten wir diese traurige Creature-Clash-Episode längst hinter uns.«

Ich zucke zusammen. Sie ist so direkt, wie ich es von ihr gewohnt bin, aber dieses Mal tut es weh. Inmitten meines neu-kanaaitischen Jammertales voller Orks, Aliens, Einhörner und dem restlichen Gezücht, aus dem es scheinbar kein Entkommen gibt, treffen ihre Worte mich härter als sonst.

»Und weißt du, was das Schlimmste ist?«, frage ich, bemüht, nicht kleinlaut zu klingen. Mich mitleidig anschauend hebt sie eine Braue. »Ich kann mich an rein gar nichts erinnern. Ich weiß nicht mal, ob das da in meiner Dusche ein weiblicher Ork ist.«

Sie verzieht das Gesicht, nur ein wenig. Bei jedem anderen wäre es ein Lachen. Bei ihr nicht. Denn Willi hat keinen Humor. Sie setzt sich auf das Bett, schlägt die Beine übereinander und blickt erwartungsvoll Richtung Bad. »Na, dann lassen wir uns doch einfach mal überraschen.«

Sie ist gestern dabei gewesen und weiß wahrscheinlich sogar, mit wem ich abgezogen bin. Aber sie gönnt sich den Spaß, mich zappeln zu lassen. Die Vorstellung, versehentlich einen männlichen Ork abgeschleppt zu haben, ist mir unangenehm, aber verschiedener alkoholinduzierter Vorfälle in meiner Vergangenheit wegen leider nicht völlig abwegig. Der Gedanke, dass jemand Fotos davon gemacht haben könnte, wie ich meine Buchpremiere Hand in Hand mit einem breitschultrigen behaarten Ork verlasse, ist allerdings noch weit unangenehmer.

Während die Dusche weiterprasselt, überlege ich, ob ich nicht einfach ins Bad rufen und hoffen sollte, dass kein Bass antwortet. Dann aber beschließe ich, dass wir, wenn Willi diese Situation auskosten möchte, zumindest auch richtig zu spät kommen sollten. Mir ist so was inzwischen egal. Wenn man eine Gruppensexorgie mit Einhörnern und Goblins beschrieben hat, verschiebt sich – selbst wenn sie lediglich auf eine ungünstige Sternenkonstellation zurückzuführen war – die Schmerzgrenze merklich. An Willi perlt so was ab. Möchte gar nicht wissen, was die schon für Texte auf dem Tisch hatte. Aber im Gegensatz zu mir muss sie dort draußen seriös wirken und darf nicht so weit über die Stränge schlagen. Heuvelmann eine Stunde Verspätung zu erklären, wird sie ärgern; mindestens so sehr, wie es mich ärgert, dass sie dort auf meinem Bett sitzt. Direkt über jener kleinen Blechschatulle, die vermutlich das Einzige beherbergt, was unsere Beziehung nachhaltig zerstören könnte. Ich hätte den Inhalt längst verbrennen sollen. Sentimentalität ist etwas Schreckliches.

Willi schaut auf die Uhr und empfiehlt mir, in Anbetracht unserer Verspätung und der Reinlichkeit meines Orks, das Alternativprogramm Deo statt Dusche und sofortiges Anziehen. Ich tue wie geheißen. Kaum habe ich Socken an, wird die Dusche abgedreht. Willi und ich blicken uns kurz an. Ich frage, ob sie etwas gegen Kopfschmerzen dabeihat. Sie öffnet ihre Handtasche und reicht mir eine Tablette.

»Chabrol hat übrigens gesagt, dass die gefährlichsten Kopfschmerzen durch mangelhaft verdaute Ideen verursacht werden«, sagt sie schnippisch.

»So wie die meisten mittelmäßigen Bücher auch«, entgegne ich und schlucke. Mit dem Hinweis auf das Grün in meinem Gesicht reicht sie mir ein Taschentuch. Ich bin noch dabei, es zu benutzen, als die Badtür sich öffnet, die Ursache für meine versaute Bettwäsche in den Raum tritt und deutlich wird, dass mein Problem – falls gestern Abend jemand Fotos gemacht hat – ein ganz anderes wäre als befürchtet. Die gute Nachricht ist: Mein Ork hat Brüste. Die weniger gute Nachricht: Auf den ersten Blick lässt sich nicht sagen, ob sie volljährig sind.

Das Mädchen dazu ist hübsch. Rothaarig, zierlich, allerhöchstens zwanzig Jahre alt. Seit ich selbst Rollenspieler war, scheint sich einiges geändert zu haben, denn damals hatten wir nur seltsame weibliche Spielerinnen. Die kleine Rothaarige trägt eine kurze Jeans, ein schwarzes Tanktop der Umbrella Corporation und über ihrer Schulter eine ausgebeulte riesige Tasche, in der sich vermutlich die Rüstung befindet. Das nasse Haar fällt ihr über die halbnackten Schultern. Sie lächelt unsicher und hebt irritiert die Hand. Mitunter wirkt Willi so auf Leute, vor allem wenn man nicht mit ihr rechnet. Sie winkt zurück.

Ich für meinen Teil wäre mit Freuden bereit, mich mithilfe dieses zauberhaften Geschöpfes noch ein paar Stunden mehr zu verspäten, aber das ist vermutlich keine Option. Das Mädchen kommt näher, zieht eine Ausgabe von Engel gegen Zombies II aus ihrer Tasche und reicht es mir. »Du hattest versprochen, es mir zu signieren.«

Während Willi die Augen verdreht, suche ich einen Stift. Mein Orkmädchen wirft einen Blick auf das Manuskript am Boden und fragt, ob diese Geschichte irgendwo veröffentlicht sei. Ich verneine, finde etwas zum Schreiben, das Mädchen schaut an Willi vorbei auf das Laken und sagt, dass ihr das mit dem Bettzeug leidtue. Ich frage sie, das Buch aufschlagend, wem ich es widmen soll. Sie hat offensichtlich damit gerechnet, dass ich mir ihren Namen gemerkt habe, nennt ihn mir aber trotzdem, und ich schreibe: FÜR NADINE. Auf dem Schmutztitel manifestiert sich ihr Name neben meinem: Aaron Tristen. Und unweigerlich muss ich an Saskia denken.

Keine zwei Minuten später verlassen wir die Wohnung. Unter Willis abschätzigem Blick küsst Nadine der Ork mich scheu auf die Wange, und ich steige zusammen mit meiner Lektorin in ihren mattschwarzen Smart, um eine halbe Stunde zu spät und ungeduscht zu einem Termin zu gelangen, in dessen Rahmen ich werde erklären müssen, warum Neu-Kanaan sich etwas stockend entwickelt und das Zombiebaby immer noch nicht da ist. Aber das dürfte, wenn man bedenkt, dass womöglich das gesamte Wunderland aus Kopfschmerzen entstanden ist, kein ernsthaftes Problem darstellen.

Heuvelmann lässt uns warten. Ich nehme es ihm nicht übel. Vermutlich haben wir ihm seinen gesamten Tagesplan durcheinandergebracht und werden ihn auch die Mittagspause kosten. Da ist es nur fair, uns in eines dieser Vorvorzimmer zu setzen, wo wir uns die Zeit mit Kaffee und Verlagsprospekten vertreiben müssen. Wobei ich persönlich den Kaffee meist für die bessere Wahl halte. Geschmackssache.

Willi interessiert sich weder für das eine noch das andere. Sie schmollt. Weil ich an dieser Situation schuld oder zumindest ursächlich beteiligt bin. Ihr Ich-hätte-heute-Nachmittag-wirklich-etwas-Besseres-vorgehabt-Blick ist mir keineswegs fremd. Ich überlege, womit ich sie aufmuntern könnte, müsste aber vermutlich zumindest einen Arm opfern, weshalb ich, kaum dass die Sekretärin verkündet, dass Herr Heuvelmann noch in einem Meeting sei, aktiv Stoffwechsel zu betreiben beschließe.

Frida Räubertochter sitzt derweil mit verschränkten Armen vor ihrem Kaffee und würdigt mich keines Blickes, als ich den Raum verlasse.

Die Verlagsräumlichkeiten sind weitläufig. Um mich zu verlaufen und Willis respektive Heuvelmanns Zeitplan nachhaltig zu ruinieren, müsste ich mich nicht einmal anstrengen. Ich beschließe jedoch, die Dinge nicht unnötig zu verkomplizieren und die nächstgelegene Toilette aufzusuchen. Was ich vermutlich nicht getan hätte, wenn ich geahnt hätte, wen ich dort zu treffen das Vergnügen haben würde.

Als ich den Raum betrete, steht er am Waschbecken. Ich übersehe ihn zunächst, höre dann aber, noch bevor ich mich in einer Kabine verstecken kann: »Aaron? Bist du das?«

Unsicher, ob ich in diesem Moment wirklich ich sein möchte, drehe ich mich um und sehe mich einem schmächtigen Mann mit Brille gegenüber. Er ist ein wenig jünger als ich, dafür größer und augenscheinlich achtet er mehr auf sein Äußeres. Begeistert reckt er mir seine Hand entgegen. Ich habe keine Ahnung, wer er ist. Ich überlege, ob ich höflich sein und so tun sollte, als ob ich ihn kenne. Dies ist schließlich mein Verlag, ein Ort, an dem ich es mir mit niemandem verscherzen sollte. Er könnte vom Vertrieb sein. Oder vom Marketing. Obwohl er dafür nicht wichtig genug aussieht.

»Erkennst du mich nicht?« Er hat es bemerkt. Ich lächle unsicher. »Ach, ist ja auch schon ’n ganzes Weilchen her. Mirko. Mirko Rindsbein. Der Workshop. Damals in Frankfurt. Du musst dich doch erinnern.«

Während er spricht, reckt er mir seine Hand derart aggressiv entgegen, dass ich sie sicherheitshalber ergreife, bevor er sie in meine Innereien gräbt. Ich erinnere mich dunkel. Zumindest an Frankfurt.

»Haben uns darüber unterhalten, ob du mir nicht mit meinem Skript etwas helfen kannst. Die Thrillergeschichte mit dem minderjährigen Serienmörder. Zu der Zeit sind deine Orks und Aliens gerade durch die Decke gegangen.«

Jetzt erinnere ich mich an ihn, gehe jedoch davon aus, ihn in einer halben Stunde wieder vergessen zu haben. Es gibt einfach solche Typen, die vergisst man lieber, als dass man ihnen begegnet. An seine Geschichte erinnere ich mich auch, obwohl das Ganze schon Jahre her ist. Mittelmäßig spannend, übertrieben gewalttätig und mäßig originell. Sprachlich an einigen Stellen tatsächlich besser als meine Werke, aber das kümmert schlussendlich niemanden, der Engeln und Zombies beim Fummeln oder Prügeln beiwohnen will. Ich hatte mich damals höflich zu dem Manuskript geäußert und versprochen, Mirko ein paar Kontakte vermitteln, bevor ich seine Mailadresse zu verlieren beschloss.

Ich simuliere Interesse. »Und? Hast du es irgendwo untergebracht?«

»Leider nicht. Eigentlich gar nichts seitdem. Vor allem, weil ich es nicht an Kleinverlage vergeuden will.«

Ich nicke verständig. Diese Abneigung gegen Kleinverlage ist ein weit verbreitetes und nicht ganz abwegiges Phänomen. Nicht nur, dass die meisten keinen Vorschuss zahlen, verzichten sie auch oftmals auf Werbung und vertrauen in der Regel darauf, dass ein Autor seine Bücher selbst verkauft. Habe mich früher selbst mit mehr als einem von denen eingelassen. Aber das sind Kröten, die man schlucken muss, wenn man sich nicht zu fein für so etwas ist. Wie zum Beispiel mein Gegenüber, der augenscheinlich und weil er sich zu gut dafür war, seit über zehn Jahren nichts veröffentlicht hat.

»Und womit verdienst du dein Geld?«, frage ich.

»Ach, das verdient hauptsächlich meine Frau. Aber ich lass mir ab und zu Literaturprojekte fördern und zieh ein paar unbedarfte Autoren über ’n Tisch.«

Ich schaue ihn verwundert an. Marcel, oder wie auch immer er heißt, wirkt harmlos, ein Schwiegermuttertyp. Aber als er mir das Ganze dann erklärt, scheint er der beste Beweis dafür zu sein, dass stille Wasser nichts sind, woraus man trinken sollte. Mein Gegenüber spricht leiser. Es wird vertraulich.

»Für Unterbringung und Verpflegung bekommt man Geld von der Stadt. Das sackt man ein und bringt die Möchtegern-Autoren in einer beliebigen Bruchbude unter, die einen nichts kostet. Wenn die jung sind, beschweren die sich nicht einmal, wenn die drei Wochen in einem Dachzimmer ohne eigenes Bad leben müssen. Mit Quittungen und so was kann man auch noch ein bisschen mauscheln. Dann lässt du sie schreiben, setzt dich bei Lesungen dazu und liest ein bisschen altes Zeug von dir selbst. Das wirkt engagiert genug, dass dir irgendwelche Stellen dein nächstes Projekt fördern.«

»Hm, und was bekommen die dafür? Oder müssen sie dafür zahlen?«

»Wie gesagt, ich lass mir das Ganze aus irgendwelchen Kulturtöpfen bezahlen und stell den Schreibern immer ’n bisschen Geld und Spesen in Aussicht. Wobei sich am Ende immer ’n Grund dafür findet, ihnen ein bisschen weniger zu überweisen.«

»Und was, wenn einer deiner Autoren merkt, dass du ihn verarschst?«

»In dem Fall sagst du ihm, er soll seinen Anwalt schicken. Für die paar hundert Euro macht das keiner. Das bisschen, was die mit dem Schreiben vielleicht verdienen, werden die nicht auf gut Glück in einen Anwalt investieren.« Michael, der meine Hand noch immer nicht losgelassen hat, lacht dreckig. Der Schwiegersohn hat plötzlich etwas von Gollum.

Gleich, ob es um Geld, Tantiemen, Rechte oder Ideenklau geht – ich habe mich jahrelang von nichts anderem als Kröten ernährt und weiß aus erster Hand um die Möglichkeiten, junge Autoren auszunehmen. Ob sie nun Lesungen ohne Gage veranstalten oder die Preise dubioser Druckkostenzuschussverlage zahlen – sie sind wehrlose Nacktmulle im Sonnenlicht, die ohne Gegenwehr mit sich Federball spielen lassen, einzig der Hoffnung wegen, irgendwann einmal ein kleines bisschen bemerkt zu werden. Ich überlege kurz, ob ich Gollum in eines der Pissbecken stopfen sollte.

Ich lächle zögerlich. »Und was machst du jetzt hier?«

»Zwei Wochen unbezahltes Praktikum. Um ’n paar Leute kennenzulernen. Und vielleicht bei ’n paar Veranstaltungen reinzukommen. Mit Literatur und so.«

Jetzt, da ich weiß, dass Gollum einen Plan hat, möchte ich ihn noch dringender vergessen. Mein Mobiltelefon klingelt und gibt mir einen Grund, mich der Hand meines Gegenübers zu entwinden. Es ist Willi. Und sie wirkt noch humorloser als sonst. Hastig verabschiede ich mich von der buckligen Kreatur, verlasse unverrichteter Dinge die Toilette und eile zurück zu meiner Lektorin und den Verlagsprospekten.

Bevor ich den Schwiegersohn tatsächlich wieder vergesse, kommt mir der tröstliche Umstand in den Sinn, dass die meisten Leute, die er über den Tisch gezogen hat, wirklich Autoren sind. Leute, die tatsächlich schreiben, während Gollum den Rest seines Lebens in irgendeiner Toilette auf irgendjemanden wartet, der ihm die Tür ins Nimmerland aufstößt.

Schneller bewege ich mich durch die Flure, fürchte, zunächst um die erste, dann um die nächste Ecke biegend, mich doch verlaufen zu haben, aber sehe schließlich Willi dort stehen. Sie könnte ebenso gut sitzen. Das macht bei ihrer Größe kaum einen Unterschied. Bemerkenswert ist jedoch, dass sie scherzt. Oder zumindest so tut als ob, weil neben ihr Gernot Heuvelmann steht. Wie ein Kapitän auf der Brücke seines Schiffes.