Der Pfad des ewigen Feuers - Patrick Weber - E-Book

Der Pfad des ewigen Feuers E-Book

Patrick Weber

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Beschreibung

EINE HISTORISCHE ENTDECKUNGSREISE AUS HESSEN Deutschland nach dem Dreißigjährigen Krieg. Guido Emmes, ein Machtmensch mit zweifelhaftem Ruf und Bürgermeister des hessischen Städtchens Hochstadt, bereichert sich am Unglück anderer Menschen. Elisabeth von Gettenbach kann nicht hinnehmen, dass dieser Mann, Vater ihres Sohnes Leonhard, ihr neues Glück in Leipzig zerstört und ihren Jungen entführt. Sie begibt sich auf Spurensuche in ihre hessische Heimat, die sie über Gelnhausen und Hanau bis nach Hochstadt führt und in deren Verlauf sie auf alte Bekannte, Freunde und Feinde sowie auf berühmte Persönlichkeiten ihrer Zeit trifft. Auch Frankfurt spielt eine Rolle. Ihre Reise führt sie schließlich nach Nordamerika. Auf dem fremden Kontinent wird Elisabeth mit der indianischen Kultur konfrontiert, die sie lernt zu lieben. Der europäische Eroberungsgeist kennt keine Grenzen. Elisabeth wird Zeugin eines Feldzuges gegen die Indianer und muss mit ansehen wie auch hier die Hexenverfolgung wütet. Als sie ihren Sohn endlich als einen der Akteure wiederfindet und Guido Emmes stellt, erkennt sie, dass Rache keine Genugtuung ist. Patrick Weber entwirft in Der Pfad des ewigen Feuers eine spannende hessische Familiensaga und Rachegeschichte um die junge Tuchhändlerin Elisabeth von Gettenbach. In seinen historischen Romanen wird Geschichte am Beispiel von Menschen aus Fleisch und Blut lebendig.

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IMPRESSUM

AUTOR:

Patrick Weber

LEKTORAT:

Sabine Kalinowski / Johannes Chwalek

GESTALTUNG:

Gerhard Mohler

VERLAG:

edition federleicht, Frankfurt am Main

www.edition-federleicht.de

1. Auflage 2019

© edition federleicht

ISBN 978-3-946112-34-1

E-Book ISBN 978-3-946112-39-6

PATRICK WEBER

Der Pfaddes ewigen Feuers

Roman

FürElisabeth & Elisabeth

Der Krieger vom Stamme der Narraganset lag versteckt im Unterholz und beobachtete die weißen Männer. Sie waren bewaffnet und marschierten über den Pfad, der von Norden nach Süden führte. Der Weg war an vielen Stellen von rotem Farn überwuchert und es hatte den Anschein, als liefen sie durch brennendes Feuer. Sein Volk und andere Stämme nutzten diese Route, um Tauschware zu transportieren, aber auch wenn sie Krieg führten. Die Fremden brachten auch etwas mit: Tod und Verderben. Die Narraganset nannten diesen Weg, über den sich gerade die Vorhut einer neu angekommenen Pilgergruppe aus Europa näherte, den Pfad des ewigen Feuers.

INHALTSVERZEICHNIS

DAS GEHEIMNIS

Leipzig, 18. November 1655

DIE VERGELTUNG

Büdingen, Mai 1658

WO DER TEUFEL WOHNT

Leipzig, September 1658

MITTEL UND MACHT

Hochstadt, 29. September 1658

LEIPZIGER MESSE

Leipzig, 29. September 1660

DIE ENTDECKUNG

Hanau, Oktober 1660

DER KREIS SCHLIESST SICH

Leipzig, November 1660

DAS FAUSTPFAND

Hochstadt, November 1660

DAS FIEBER

Leipzig, November 1660

LEONHARD

Frankfurt, November 1660

DIE HINRICHTUNG

Hanau, November 1660

REISE IN DIE ALTE HEIMAT

Leipzig, Vacha, November 1660

SIMPLICIUS

Gelnhausen, November 1660

DER VERRAT

Hochstadt, November 1660

DER BEWEIS

Hochstadt, November 1660

AMSTERDAM

November 1660

DIE ZON

Dezember 1660

DIE YORK

Januar 1661

DER KLEINE BAMBUSE

Februar 1661

LONDON

Juni 1661

NIEUW AMSTERDAM

Juni 1661

DER GROSSE BRAND VON LONDON

London, September 1661

DIE NEPTUNE

26. September 1661

DIE REISE NACH VIRGINIA

Oktober 1661

BOSTON

Oktober 1661

BACKWOODSMEN

DIE ENTSCHEIDUNG

April 1662

BACCHUS

Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation.Hochstadt, Oktober 1662

ANNA

Boston, November 1662

DIE SEESCHLACHT

Februar 1664

GROSSE ÜBERRASCHUNG

Boston, Oktober 1664

AM ORT DER TABAKSKLAVEN

Virginia. Middle Plantation, August 1668

ANNA UND DIE MACHT DER GEISTER

Boston, Mai 1675

KING PHILIPS KRIEG

Boston, Juli 1675

UND WIEDER LODERT DAS FEUER

Salem, Massachusetts, September/Oktober 1676

ABSCHIED

Boston, Oktober 1676

HOCHSTADT

März 1677

ELISABETH

Hochstadt, Mai 1705

GLOSSAR

DAS GEHEIMNIS

Leipzig, 18. November 1655

Ein kleiner gelber Punkt leuchtete hell in der Dunkelheit. Der Marquis hatte die Kerze ins Fenster gestellt, als Zeichen, dass er einverstanden war, den unbekannten Gast zu empfangen. Zuvor hatte er einen seltsamen Brief erhalten. Darin bat ein angesehener Bürger Leipzigs darum, einer namentlich nicht genannten Person das Kämpfen mit dem Degen beizubringen. Dem Marquis wurde dafür eine hohe Summe in Aussicht gestellt. Ferner hatte der Auftraggeber um absolute Diskretion gebeten.

Er starrte in die Dunkelheit, doch nichts tat sich. Der Marquis, den in Leipzig alle nur bei seinem französischen Adelstitel nannten, und der eigentlich Alexandre du Puy-Montbrun hieß, rieb sich angespannt die Hände.

Wie so oft dachte er über seine unschöne Situation nach. Er war mit seiner Familie 1629 aus Frankreich ins deutsche Heilige Römische Reich geflohen. In seiner katholischen Heimat hatte man die Protestanten auf das Entsetzlichste verfolgt. Nur einen bescheidenen Teil seines Vermögens hatte der Hugenotte in Sicherheit bringen können. Doch auch in den deutschen Landen fand seine Familie keinen Frieden. Das römisch-deutsche Reich befand sich im Großen Krieg*, das zähe Ringen der Katholischen Liga mit den Protestanten hatte noch immer kein Ende genommen. Als der schwedische König Gustav Adolf in die Kämpfe eingriff, entschloss sich der Marquis, sich ihm anzuschließen. Von dem Geld, das er aus Frankreich gerettet hatte, konnte er gerade noch genug abzweigen, um eine kleine Armee aus Musketieren zu finanzieren und sich bei den Potestanten einzukaufen.

Es zeigte sich, dass du Puy-Montbrun sich geschickter als viele seiner adeligen Genossen anstellte. Er gewann einige der brutalen kleinen Scharmützel und wurde Hauptmann einer Dragonereinheit*. Doch dann fiel Gustav Adolf bei Lützen. Die Armeen des charismatischen Herrschers brachen auseinander. Der Marquis tat sein Bestes, doch gegen Wallensteins Soldaten hatten sie keine Chance. Er geriet in Gefangenschaft und hatte sein Leben einige Jahre unter unbeschreiblichen Umständen im Kerker fristen müssen.

Nach dem Ende des Großen Krieges kehrte er zerschunden und mittellos auf seinen vernachlässigten Adelssitz in Leipzig zurück. Zwar war ihm sein Titel erhalten geblieben, aber die Ersparnisse waren so gut wie aufgebraucht gewesen. Mittlerweile befand er sich in seinem 58. Lebensjahr und sehnte sich nach etwas mehr Sicherheit und Auskommen.

Aus diesen Gründen hatte er einen kleinen Handel mit schwarzem Trüffel aus dem französischen Tricastin begonnen. Doch das Geschäft lief schleppend, da sich die Kontakte in die Heimat als schwierig erwiesen und die Ware bei Überfällen des Öfteren abhanden kam. So musste er sein Einkommen mit dem aufbessern, was er am besten konnte: Fechten. Die Unterrichtsstunden ließ er sich teuer bezahlen. Dennoch war es um seine Finanzen nicht gut bestellt. Das kleine Schloss, das er bewohnte, musste unterhalten und die wenigen Bediensteten, die er noch hatte, bezahlt werden.

Wohl zum hundertsten Mal fragte sich nun der Marquis, wer die geheime Person sein mochte, der er nun sein Handwerk beibringen sollte. Er blickte in einen der Spiegel, die in die vergoldete barocke Holztäfelung eingelassen waren. Seine schwarzen Haare wiesen bisher nur wenige silberne Strähnen auf. In langen Wellen fielen sie auf seinen weißen Kragen, und er stellte mit Befriedigung fest, dass er noch immer ganz stattlich aussah. Ein schmaler gezwirbelter Oberlippenbart und ein Spitzbart am Kinn betonten das vornehme Adelsgesicht. Die besondere Größe seines Spitzenkragens wiesen ihn als respektable Persönlichkeit aus. Er hatte sich sorgfältig gekleidet, schließlich sollte niemand auf die Idee kommen, dass es mit seinem Vermögen nicht zum Besten stand. Die Kerzen in den barocken Kandelabern an den Wänden hatte er aber lieber nur sparsam anzünden lassen. Der Marquis bog seinen Degen und sah sich seufzend um. Der Spiegelsaal hatte schon bessere Zeiten gesehen und sollte deshalb lieber im Dunkeln bleiben. Von den vergoldeten Intarsien der vertäfelten Wände und den Stuckelementen an der Decke blätterten Gold und Putz ab. In die Ecken der einst stattlichen Räumlichkeit fraß sich der Schwamm. Doch der große fast leere Raum bot viel Platz und die Spiegel waren nützlich, um bei den Übungen des Schwert- und Fechtkampfes die Fehler zu korrigieren. Auf einem kleinen Tisch stand eine Schale mit süßem Gebäck und eine Karaffe, die mit Wein gefüllt war. Der Marquis nahm einen Schluck aus seinem Glas. Er fröstelte, im Schloss war es ungemütlich kalt. Um sich aufzuwärmen, machte er Dehnübungen und wiederholte ein paar Ausfallschritte. Er sah zum Fenster mit der einsamen Kerze. Der geheimnisvolle Gast ließ wirklich auf sich warten.

Doch plötzlich tanzte die Flamme im Luftzug und die Tür wurde von seinem Diener geöffnet. Neugierig wendete sich der Marquis um und musterte die schwarz gekleidete Gestalt, die nach seinem zustimmenden Kopfnicken eintrat. Sie trug einen langen Umhang, eine riesige Kapuze bedeckte den Kopf und beschattete das Gesicht. Der Mann war zierlich, soviel konnte der Marquis auf den ersten Blick erkennen. Die Person blieb in der Mitte des Saals stehen und verharrte.

Der Marquis machte ein paar Schritte auf sie zu und verbeugte sich.

„Ich weiß nicht was der tiefere Grund für Euer Erscheinen hier ist und wer Ihr seid, aber … Herzlich willkommen!“ Er legte die Hand an seinen Degen. „Ihr wollt bei mir die Kunst des Kämpfens erlernen?“

„Nun, deswegen bin ich gekommen“, sagte die Person fast flüsternd. „Man sagt, Ihr seid der beste Fechter in Leipzig.“

Der Marquis wiegte den Kopf. „So, sagt man das? … Zumindest kann ich mir meine Kundschaft normalerweise bei Tageslicht aussuchen … Habt Ihr schon Erfahrung?“

„Nein. Alles was ich können muss, sollt Ihr mir beibringen.“

„Ich fürchte, dazu müsst Ihr mir Euer Gesicht zeigen. In diesem Aufzug wird es nicht gehen.“

Die Person lüftete die Kapuze. Langes, rotes Haar ergoss sich über den schwarzen Mantel, als würde er Feuer fangen. Die junge Frau machte einen Knicks.

„Mon Dieu!“, war das einzige, was der Marquis in diesem Moment herausbrachte.

„Ich möchte, dass Ihr mich unterrichtet, mit dem Degen, dem Messer und allen Tricks, die bei einem Zweikampf gebraucht werden.“

Der Marquis zog skeptisch die Augenbrauen in die Höhe. “Euch das Fechten lehren? Soll das Euer Ernst sein?“

Die Frau nickte selbstbewusst. „Es war mir noch nie so ernst.“

„Meine Gnädigste, verstehen Sie mich nicht falsch, aber eine Frau … ohne Zweifel eine sehr hübsche, wie ich sehe … zu unterrichten … Zu was soll das führen? Ich habe einen Ruf zu verlieren.“

„Keine Sorge“, erwiderte sie, „um Euren Ruf braucht ihr Euch nicht zu fürchten. Ich habe nicht vor, es jemandem zu erzählen. Und da auch Ihr nicht wollt, dass irgendjemand davon erfährt, steht dieser Sache doch eigentlich nichts im Wege.“

„Aber, meine Dame …“, sagte der Marquis skeptisch.

„Ihr kennt meinen Mann. Er hat großen Einfluss und kann Euch behilflich sein. Wie ich höre, laufen die Geschäfte mit den Trüffeln nur mäßig“, unterbrach ihn die rothaarige Schönheit.

Der Marquis sah sie erstaunt an.

„Ihr kennt doch Franz von Stieglitz?“

„Selbstverständlich“, sagte der Marquis langsam, „dann seid Ihr …“

„Elisabeth von Stieglitz“, vollendete die junge Frau den Satz. „Nun … wenn Ihr ablehnt, könnte ich mich gezwungen sehen, meinen Mann zu unterrichten und ihm vom Stand Eurer Geschäfte und dem Zustand Eures Hauses zu erzählen. Ob er dann noch weitere Geschäfte mit Euch tätigt …“ Fast amüsiert blickte sich Elisabeth von Stieglitz im Spiegelsaal um.

Der Marquis warf ihr einen unsicheren Blick zu. „Woher wisst Ihr … davon?“

„Ich habe Augen und Ohren. Und ich führe das Geschäft meines Mannes … wenigstens zu einem großen Teil. Wie Ihr sicher wisst, ist er schon etwas älter …“, fügte die Frau hinzu.

Der Marquis wurde ernst und streckte entschlossen seine Gestalt. „Ihr müsst entschuldigen, aber ich kann mich auf keinen Fall dem Diktat einer Frau beugen. Nicht auf diese Art. Ich bitte Euch zu gehen.“

Er verbeugte sich und wendete sich von ihr ab.

Enttäuscht blieb Elisabeth von Stieglitz einen Moment stehen, bevor sie sich langsam die Kapuze aufsetzte. An der Tür drehte sie sich noch einmal um. „Schade, ich hatte Euch für einen offenen mutigen Mann gehalten. Ich weiß, was Ihr durchgemacht habt.“

Gerade als sie die Tür hinter sich schließen wollte, hörte sie die Stimme des Marquis.

„So wartet!“

Die Frau lächelte in sich hinein. Dann legte sie eine ernste Miene auf und kehrte in den Saal zurück, wo der Marquis mit einem Anflug von Unbehagen auf sie wartete.

Er seufzte: „Und die Sache bleibt absolut geheim?“

„Absolut“, erwiderte sie.

„Ihr habt noch nie ein Kampfmesser in der Hand gehabt, geschweige denn einen Degen geführt?“

Die junge Frau verneinte kopfschüttelnd.

„Dann haben wir eine Menge Arbeit vor uns“, sagte der Marquis. „Ihr braucht neue Kleidung.“

„Ich weiß.“ Elisabeth von Stieglitz griff nach einem großen schwarzen Beutel, den sie sich unter ihrem Mantel um ihren Körper geschlungen hatte und zog ein Kleidungsstück daraus hervor. „Deswegen habe ich mir dieses Gewand besorgt.“ Zum Vorschein kam eine beigefarbene lederne Jacke mit Polstereinlagen.

„Sie besitzen einen Gambeson?“, stellte der Marquis überrascht fest.

Elisabeth von Stieglitz strich mit der Hand über das Kleidungsstück. „Aus Hirschleder. Er ist extra für mich angefertigt worden. Wo kann ich ihn anlegen?“ Sie blickte sich suchend im Spiegelsaal um.

Der Marquis durchquerte mit ihr den Raum und öffnete eine durch die Holztäfelung geschickt verborgene Tür zu einem anderen Zimmer. „Dieser Ankleideraum ist für solche Anlässe gedacht und steht Euch ab jetzt zur Verfügung.“

Sie schloss die Tür hinter sich.

Gedankenverloren begab sich der Marquis zurück zu dem kleinen Tisch mit den Erfrischungen. Er goss sich einen großen Schluck Wein ins Glas und trank in langen Zügen. „Hol mich der Teufel, diese Frau meint es wirklich ernst“, sagte er zu sich selbst.

*

Elisabeth hatte beim Marquis hoch gepokert. Wahrscheinlich hätte Franz von Stieglitz ihrem Vorhaben, Fechtunterricht zu nehmen, niemals zugestimmt. Und bei seinen Geschäften legte ihr guter Ehemann keinen allzu großen Wert auf Etikette und betuchte Partner. Er war einzig an guter Ware interessiert. Aber Elisabeth war entschlossen, an ihrem Plan, die Kampkunst zu erlernen, festzuhalten und da war ihr jedes Mittel recht gewesen.

Anfangs stellte sich Elisabeth ungeschickt an, doch schon bald sollte sich das ändern. Ihr schmaler Körper war wendig und schnell. Sie war ehrgeizig und dank einer guten Auffassungsgabe wurde sie bald zu einer versierten Kämpferin, sowohl mit Degen und Säbel als auch mit dem Messer. Nach anfänglichem Widerwillen erkannte der Marquis Elisabeths Talent an und bildete seine gelehrige Schülerin mit zunehmendem Vergnügen aus. Den Beweis für seinen gelungenen Unterricht erhielt er nach drei Jahren, in einer der regelmäßigen Trainingsstunden, in denen sie den Zweikampf mit dem Degen probten. Elisabeth hatte den Marquis mit einer glänzenden Parade auf Abstand gehalten. Mit einer weiten Mensur gelang es ihr, den Marquis zu überwältigen und ihm die Klinge an den Hals zu setzen.

Franz von Stieglitz hatte keine Ahnung von den Fechtstunden, die seine Frau heimlich nahm. Ihm wurde der Marquis als Französischlehrer vorgestellt, der seiner Frau in der Abgeschiedenheit seines kleinen Schlosses die vornehme Sprache des Adels beibrachte. Von Stieglitz wunderte sich, denn seine Frau hatte bisher nie irgendwelche Neigungen verspürt, die Gepflogenheiten des Adels zu übernehmen. Aber der Marquis war ihm bekannt als ein angesehener Mann, der in Leipzig die besten Trüffel verkaufte. Und so war er auch angenehm überrascht, als ihm der Marquis einen Koch aus seinem Heimatland Frankreich vermittelte. Der Mann war Hugenotte, genau wie der Marquis. Er hieß Jean Pierre Bonnet und kochte nach bester französischer Art. Außerdem sorgte er dafür, dass es zu jeder Saison genug Trüffel im Hause von Stieglitz zu essen gab, was sich der Marquis natürlich teuer entlohnen ließ.

Um keinen Zweifel an ihrem Tun aufkommen zu lassen, hatte Elisabeth die französische Sprache tatsächlich ganz nebenbei vom Marquis erlernt und machte auch hier respektable Fortschritte.

DIE VERGELTUNG

Büdingen, Mai 1658

Mit einer Hellebarde bewaffnet stand der Wachmann vor dem Büdinger Rathaus und wartete darauf, dass Franz Burkhart* zurückkehrte.

Seit zwei Stunden war der Bürgermeister jetzt schon unterwegs. Jeden Tag um die Mittagszeit hatte er die Angewohnheit, für eine Weile zu verschwinden. Die Bewohner der Stadt nahmen an, dass Burkhart um diese Zeit zu Tisch sitzen würde, wie es sich für einen gottesfürchtigen Mann gehörte. In Wahrheit, das wusste der Wachmann, verbrachte der Alte seine Mittagsstunden zwischen den Schenkeln einer hübschen jungen Frau. Wie gerne hätte er mit Burkhart getauscht. Die Mittagszeit war eintönig und wollte nicht verstreichen, kaum jemand trieb sich zu dieser Stunde in den Straßen herum. Die meisten Einwohner gingen ihrer Arbeit nach oder hielten ein Schläfchen. Außer Hundegebell und einem Hahn, der zur falschen Zeit krähte, tat sich nichts.

Plötzlich hörte er ein Zischen. Es war wie eine Stimme, die nach ihm rief. Etwas klapperte ganz in der Nähe. Das Geräusch kam von rechts, aus einer schmalen schattigen Gasse, die hinter das Spielhaus* führte. Der Wachmann verließ seinen Posten, um nach dem Rechten zu sehen. Als er in die dunkle Gasse bog, sprang eine schwarze Katze hervor und rannte fauchend davon.

Der Wachmann blickte der Katze wütend nach und spukte aus. „Verdammte Unheilsbringer!“

Unwillig wollte er sich wieder an seinen Platz vor das Rathaus begeben. Zu spät bemerkte er die dunkel gekleidete Person, die leise hinter ihm aufgetaucht war. Sie packte ihn an der Kehle, bog seinen Arm nach hinten und zerrte ihn weg, ohne dass er auch nur einen Mucks hätte von sich geben können.

*

Nach seinem heimlichen Stelldichein wollte Franz Burkhart heute zum Hexenturm gehen. Er befand sich nordwestlich an der Wehrmauer und war durch Kasematten mit dem benachbarten Dicken Turm verbunden, der wiederum Teil eines großen Bollwerks war, das die Stadt Büdingen vor Angriffen im Osten und Süden schützen sollte. Burkhart betrat den Hexenturm und öffnete mit einem Schlüssel die Wachstube. Er kniete sich vor das Angstloch, das sich in der Mitte des runden Raums im Boden befand und den Blick in ein tür- und fensterloses Verlies freigab. Das vergitterte Loch war die einzige Möglichkeit, durch die das Licht seinen Weg an diesen kalten, finsteren Ort der Unterwelt fand. Auf dem Erdboden war eine zusammengekauerte Gestalt zu erkennen, die leise wimmerte. Christine Meurer*, die Wirtin des Gasthauses Zum Schwan*, war seit drei Tagen im Kerker eingesperrt und wartete auf ihre Hinrichtung. Burkhart konnte zufrieden sein. Die peinliche Befragung hatte nicht lange gedauert. Man hatte die Teufelsmale auf der Haut der fünffachen Mutter aufgestochen und sie dann auf die Streckbank gebunden. Ziemlich bald war sie schwach geworden und hatte gestanden, mit dem Teufel im Bunde zu stehen und auf dem Wilden Stein* Unzucht getrieben zu haben. Der Rest war lästiger Schriftwechsel gewesen, um die Rechtmäßigkeit seiner Vorgehensweise zu belegen und die Verurteilung in geregelte Bahnen zu lenken. Die Welt war schlecht, daran konnte Franz Burkhart nichts ändern. Wer die anderen nicht fraß, der wurde selbst gefressen, dachte der Bürgermeister zynisch und erhob sich.

Nachdem er sich vergewissert hatte, dass alles seine Ordnung hatte, verließ er den Hexenturm und setzte seinen Weg fort. Burkhart passierte die innere Stadtmauer und bog in eine enge Gasse, die von Fachwerkhäusern zusammengedrückt zu werden schien, und die in den Breul* führte. Vom Marktplatz aus waren es nur wenige Schritte bis zu seinem Amtssitz, dem Büdinger Rathaus. Die wenigen Menschen, die sich in der Mittagszeit auf der Straße befanden, grüßten Burkhart pflichtbewusst, teils aus Respekt, teils aus Furcht. Denn seit Jahren sorgte der Bürgermeister in dieser hessischen Stadt für Ruhe, Ordnung – und Angst. Er genoss das Ansehen und die Macht, die ihm sein Amt verlieh. Zusammen mit Guido Emmes, einem gleichgesinnten Genossen, der in Hochstadt Bürgermeister war, hatte er die Bekämpfung des Hexenwerks vorantreiben können. Auch zum benachbarten Gelnhausen, das sich ebenfalls in der Verurteilung von Teufelsbuhlern hervortat, pflegte er beste Kontakte.

Allerdings verlief das lukrative Geschäft mit den Hexenprozessen seit einiger Zeit schleppend. Dies lag nicht nur an den produktiven Ausmerzungen, die bereits zu einer großflächigen Säuberung geführt hatten, so dass es zunehmend schwieriger wurde, Menschen der Hexerei zu überführen. Sondern es lag auch am Hessischen Grafenverein, der zu Burkharts Leidwesen zunehmend Druck auf das Haus von Ysenburg Büdingen und Graf Johann Ernst ausübte. Denn die anderen Grafen der Gegend, vor allem Friedrich Casimir* von Hanau, standen den Hexenprozessen kritisch gegenüber.

In dem Bewusstsein, dass es in Zukunft nicht mehr so einfach sein würde, den Teufelsbündnern zu Leibe zu rücken, hatte er in den letzten Jahren Vorsorge getroffen und sich zügig die Hinterlassenschaften verurteilter Ketzer zugeführt. Ihm gehörten Äcker, Landgüter sowie zahlreiche Grundstücke und Häuser in der Stadt. Keine Handelsware der Stadt Büdingen konnte ohne seine Unterschrift die Tore verlassen oder eingeführt werden.

Er dachte an das soeben beendete Treffen mit seiner Geliebten zurück. Dieses junge Fleisch gefügig zu machen, verschaffte ihm in seinem Alter von fünfundfünfzig Jahren große Befriedigung. Kraft seiner Stellung im Ort war es ihm möglich, fast jede Frau zu bekommen, die er begehrte – schließlich wollte keine von ihnen als Hexe enden. Die Tatsache, dass er in dieser Stadt nach Belieben handeln konnte, erfüllte ihn mit Stolz und Genugtuung.

Tief in seine Gedanken versunken kam Burkhart beim Rathaus an. Sofort fiel ihm auf, dass der Wachmann nicht auf seinem Posten stand. Zum wiederholten Male war dieser unzuverlässige Bursche in seiner Abwesenheit anscheinend länger austreten gegangen als nötig war. Diesmal würde Burkhart ihn nicht davonkommen lassen. Er beschloss, sobald dieser Taugenichts wieder auftauchte, ein Exempel an ihm zu statuieren.

Mit grimmiger Miene erklomm Burkhart die steinerne Wendeltreppe, die ins Dachgeschoss führte. Hier befand sich sein geräumiges Arbeitszimmer, in dessen Mitte ein wuchtiger, verzierter Holztisch stand, auf dem zahlreiche Papiere verstreut lagen. Es waren Dokumente, die er dringend zu bearbeiten hatte, darunter Urkunden vielversprechender Ländereien, deren Besitzer der Hexerei angeklagt worden waren oder die rasch der Constitutio Criminalis* zugeführt werden mussten. Sein Blick fiel auf einen Brief. Es war das Gesuch des Büdinger Gastwirts vom Schwan, der darum bat, die Strafe für seine Frau Christine Meurer abzumildern. Ohne die Hilfe seiner Ehefrau würde der Gastwirt sein Etablissement nur schwer aufrechterhalten können. Doch der Mann verfügte kaum über Geldmittel und bot eine viel zu geringe Summe, um Burkhart noch umstimmen zu können. Eine Wirtschaft im Ort zu übernehmen war ganz in Burkharts Sinne. Hier erfuhr man Gerüchte und Nützliches für seine Geschäfte. Nachgiebigkeit konnte er sich in diesen Zeiten nicht leisten. Burkhart konnte nur hoffen, diesen Fall, in Anbetracht des heftiger werdenden Gegenwinds aus dem Grafenverein, in seinem Sinne durchführen zu können. Noch immer in seine Gedanken vertieft, warf er den Bettelbrief des Gastwirts zurück auf den Arbeitstisch. Er öffnete das Fenster und blickte hinaus. Alles war friedlich. Wenn er Richtung Marktplatz sah, konnte er am Ende der Gasse auf der gegenüberliegenden Seite das Gasthaus Zum Schwan sehen, ein stattliches Gebäude aus rotem Sandstein. Wütend bemerkte er, dass die Wache noch immer nicht auf ihrem Platz war. Mürrisch und auch leicht beunruhigt verschloss er das Fenster. Er musste sehen, was da los war und würde sogleich in die Wege leiten, dass jemand anders diesen Kerl ersetzte.

Mit einem Klicken spannte sich der Zündhebel einer Schusswaffe und riss Burkhart aus seinen Gedanken. Jemand stand hinter ihm und drückte den Lauf einer Pistole an seinen Hinterkopf. Die Stim-me sprach dumpf: „Nicht umdrehen, kein Wort und die Dreckspfoten hoch!“

Irritiert tat Burkhart wie befohlen und hob langsam die Arme.

„Was soll das? Wer seid Ihr?“

Während der Eindringling Burkhart im Visier behielt, beförderte er mit seiner freien Hand einen Eichenstuhl vom Arbeitstisch in die Mitte des Raums unter den Deckenbalken.

Burkhart, der noch immer mit erhobenen Händen verharrte, konnte es nicht fassen, dass jemand die Dreistigkeit besaß, ihn auf diese Weise am helllichten Tag zu überfallen. „Ihr müsst verrückt sein, wenn ihr glaubt, hier lebend wieder herauszukommen.“ Er drehte sich langsam um und musterte die Person, die auf ihn zielte. Die Kleidung des Mannes war ebenso schwarz wie der breitkrempige Hut auf seinem Kopf und das Tuch, mit dem er sein Gesicht verhüllte. Nur die stechend blauen Augen waren zu sehen. Voller Verachtung fixierten sie Burkhart.

Der Amtmann bellte die Gestalt an. „Was soll die Maskerade? Dieser Scherz wird Euch noch leidtun. Verschwindet lieber, bevor meine Männer Euch aufspießen.“

„Wenn Ihr Euren Wachmann vor der Tür meint, muss ich Euch leider enttäuschen. Es war ein Leichtes, ihn auszuschalten“, sagte der Mann in Schwarz.

Burkhart versuchte ein herablassendes Grinsen, doch seine Augen wanderten unruhig im Zimmer umher. Er schielte auf die Radschlosspistole, die immer griffbereit auf seinem Arbeitstisch lag. Die schwarze Gestalt trat einen Schritt um Burkhart herum und presste den Lauf ihrer Waffe nun direkt auf seine Stirn. „Nur zu, nehmt Euren Radschlosspuffer und ich befördere Euch gleich jetzt in die Hölle.“

Der Amtmann zuckte unruhig, dann schrie er plötzlich laut: „Zu Hilfe! So helft mir doch!“

Blitzschnell zog der Schwarzgekleidete einen Dolch und drückte ihn schmerzhaft an Burkharts Hals. „Noch ein Wort und ich schneide Euch zuerst die Zunge heraus, bevor ich Euch absteche wie einen räudigen Hund. Fenster und Türen sind geschlossen, es wird Euch niemand hören. Also hört auf zu schreien wie ein Weib.“

Burkhart wusste, dass der Mann Recht hatte. Niemand sonst befand sich im Gebäude. Er hatte verfügt, dass er heute nur in dringenden Angelegenheiten bei seiner Arbeit gestört werden durfte. Angst stieg in ihm auf, und er spürte wie der Schweiß auf seine Stirn trat. Mit einer Hand warf der maskierte Mann gekonnt ein Hanfseil über den dicken Balken der Dachkammer, ohne dabei Burkhart aus den Augen zu lassen. Der Strick war an einem Ende bereits zu einer Schlinge geknotet. Der Amtmann wurde blass. In seinen jungen Jahren hatte er oft genug selbst die Henkersschlinge gebunden und den Delinquenten um den Hals gelegt.

„Nun dürft Ihr Hand anlegen“, sagte der Fremde, als hätte er Burkharts Gedanken gelesen, und reichte ihm das Ende des Stricks.

„Bindet das Seil um den Stützbalken dort.“

Der Hexenjäger nahm es zaghaft und wickelte es um das Holz, das schräg aus der Wand ragte und den Deckenbalken abstützte.

„Jetzt macht einen festen Knoten, Ihr wisst ja, wie es geht.“

„Was habt Ihr vor, in Gottes Namen?“, fragte der Bürgermeister beunruhigt.

„Das, was ihr schon lange verdient habt, und jetzt packt Euch zu dem Stuhl“, zischte der Mann mit dumpfer Stimme. Er drückte Burkhart den Lauf der Waffe in den Rücken und schubste ihn zum gewünschten Ort. Dann zog er ein dünnes weißes Seil aus seiner Kleidung hervor und band Burkharts Hände mit wenigen Handgriffen auf dem Rücken fest zusammen. Entsetzt betrachtete der Bürgermeister die Schlinge, die nun direkt vor seinem Gesicht baumelte. Der Mann in Schwarz legte sie ihm um den Hals und zog den Henkersknoten fest zu. Der Amtmann schrie kurz auf.

„Auf den Stuhl, Hexenjäger“, befahl der Mann.

Als sich Burkhart nicht rührte, bohrte sich der Lauf der Waffe schmerzhaft unter sein Kinn. „Ich kann auch zuerst in das eine Knie schießen, dann in das andere, den Bauch und vielleicht noch in Euer Gesicht.“

Schließlich stieg der Amtmann auf den Stuhl. Mit starrem Gesichtsausdruck versuchte er das Zittern seiner Knie zu verbergen und dem Harndrang, der sich plötzlich einstellen wollte, Herr zur werden. „Sagt schon, was Ihr wollt. Ihr wisst, dass ich über Macht und Geld verfüge. Wenn Ihr Geld wollt, so nehmt es und verschwindet endlich.“

„Ich will nur eines“, sagte der Mann mit dem schwarzen Hut, „dass Ihr tot seid, und dass Ihr leidet, so wie die vielen Unschuldigen, die Ihr auf dem Gewissen habt.“

Burkhart sah ihn hasserfüllt an. „Das werdet Ihr bereuen.“

„Sprecht Euer letztes Gebet, Menschenschinder“, sagte der Mann ungerührt und zog seinen Schal vom Gesicht, so dass Franz Burkhart ihn nun mustern konnte.

Irgendwoher kannte er diese Person. Hektisch kramte er in seinem Gedächtnis. „Ihr seid es?“, entfuhr es Burkhart schließlich mit Erstaunen.

Da zog der Mann den Stuhl weg. Ein Ruck und Burkhart blieb die Luft weg. Er hatte das Gefühl, als würde seine Zunge zu einem riesigen Klumpen anschwellen. Strampelnd und röchelnd versuchte er zu atmen. Unsagbarer Druck pochte in seinen Augen und ließ die Äderchen darin platzen.

Der Mann in Schwarz trat nahe an Burkhart heran und sah aufmerksam in seine aufgerissenen Augen.

„Ja, Burkhart“, rief er ihm zu, „jetzt wisst Ihr es, nicht wahr? Wie oft habt Ihr Euren Opfern zugesehen und Euch an ihrem Leid erquickt. Nun könnt Ihr selbst erfahren, wie es ist, so jämmerlich zu sterben. Jetzt bin ich es, der frohlockt.“

Ein Zittern durchfuhr den Körper des Bürgermeisters. Mit hervorquellenden Augäpfeln blieb der starre Blick des Hexenjägers an dem Mann hängen, den er soeben erkannt hatte. Seine Beinkleider füllten sich mit Urin, der auf den Boden tropfte und eine peinliche Pfütze hinterließ. Der Tod wollte sich nicht gleich einstellen. Eine ganze Weile kämpfte Burkharts letzter Rest Leben, so als wollte er sich weigern, Gevatter Tod in die Hölle zu folgen. Er strampelte, bog sich und trat aus, doch dann erstarben die Bewegungen langsam, gefolgt von einem kümmerlichen Zucken der Glieder. Schließlich baumelte der Körper schlaff am Seil.

WO DER TEUFEL WOHNT

Leipzig, September 1658

Fasziniert stand der kleine Junge vor dem riesigen Kamin in der alten Rauchküche des Hauses. Das Feuer erhitzte einen großen, an einer Kette hängenden, eisernen Kessel, aus dem es dampfte. Das Kind interessierte sich jedoch weniger für den wohlriechenden Inhalt des Topfes, als für die tanzenden Schatten der Flammen. Wild züngelten dämonische Kreaturen an den spitz zulaufenden Wänden des Kreuzgewölbes empor, so als wollten sie zum Himmel auffahren. Beunruhigend und lustig zugleich veränderten die Gestalten ihr Aussehen und aus beängstigenden Fratzen wurde ein heiterer Tanz, der ganz allein dem Jungen gewidmet zu sein schien. Er konnte seine Augen einfach nicht von diesen Monstern abwenden, die etwas tief in ihm Verborgenes anrührten, als nähmen sie ihn mit auf eine seltsame Reise, bei der er selbst bestimmen konnte, ob es gut oder böse zuging.

Plötzlich drang ein kratzendes Geräusch an sein Ohr. Schnell rannte der Junge zu einer Tür, die sich auf der anderen Seite der Küche befand. Ungeduldig riss er an ihrem abgenutzten hölzernen Türgriff und betrat eine schmale Vorratskammer. Alle Wände waren mit Regalen bedeckt, auf denen sich Brot, eingemachtes Obst und Eier stapelten, an der Decke baumelten Würste. Er kniete sich auf den Boden und sah unter eines der Regale.

Als der Junge wieder aus der Kammer heraustrat, hielt er einen kleinen Käfig in der Hand, in dem sich eine schwarze Ratte nervös hin- und herdrehte. Im Licht der Flammen begutachtete das Kind neugierig das aufgeregte Tier.

In diesem Augenblick betrat Jean Pierre Bonnet mit einem leeren Topf die Küche und wollte Mehl für das bevorstehende Mittagessen holen. Der Schein des Feuers glänzte auf dem kahlen Haupt des Kochs, der sich in Ermangelung von Haaren auf dem Kopf, einen voluminösen Schnurr- und Kinnbart hatte wachsen lassen. Sein Wams klaffte halboffen über dem fetten Bauch. Er zeigte sich höchst erfreut über den Fang des kleinen Jungen.

„Bravo. Die fünfte Ratte innerhalb von drei Tagen. Das habt ihr sehr gut gemacht, kleiner Mann“, sagte Bonnet mit starkem französischem Akzent.

Gemeinsam gingen sie aus der Küche und stiegen die steinernen Stufen hinab in den Keller. An den Wänden hingen Laternen, die das Gewölbe in ein schummriges Licht tauchten. In verschiedenen Parzellen befanden sich Lebensmittel, die hier bei gleichbleibender Kälte für eine längere Dauer haltbar gemacht wurden. Sie betraten den Waschraum, der sich ebenfalls dort unten befand. Es war ein feuchter Raum, in dem es modrig roch und ein großes Holzfass stand, das bis obenhin mit Wasser gefüllt war. Als Jean Pierre Bonnet den Käfig mit der Ratte ins Fass tauchen wollte, hielt er plötzlich inne und blickte den Jungen an. „Oder wollt Ihr es diesmal tun, Leonhard? Schließlich habt Ihr sie gefangen.“

Das Kind überlegte, dann nickte es unsicher.

Der Koch überreichte ihm den Käfig. „Dann übertrage ich Euch hiermit ab heute diese wichtige Aufgabe. Seid mit Euren Fingern vorsichtig. Im Todeskampf beißen diese Biester wild um sich.“ Dann verließ er die Waschküche.

Leonhard sah ihm mit großen Augen nach und blickte unschlüssig auf die Ratte im Käfig. Sie verharrte jetzt still und starrte ihn an, so als würde sie spüren, was man mit ihr vorhatte. Auf den kleinen Jungen wirkte das Tier verletzlich und fast putzig. Nun war es ganz allein seine Entscheidung, ob dieses Wesen lebte oder sterben würde. Langsam tauchte er den Käfig an seinem eisernen Ring in das eiskalte Wasser, immer tiefer fuhr sein Arm mit einem gurgelnden Geräusch hinein. Neugier und Entsetzen paarte sich mit einem Gefühl von Macht. Doch plötzlich erfasste Leonhard Mitleid und er zog den Käfig wieder aus dem Wasser hervor. Die Ratte lebte noch. Zitternd und quiekend stand sie aufrecht im Käfig, ihre Pfoten umklammerten ängstlich das Gitter. Mit dem nassen Fell sah das arme Tier jämmerlich aus. Leonhard schluckte. Er hatte sich die Prozedur einfacher vorgestellt. Die Ratte sah ihn voller Angst an. Leonhard beschloss, sie wieder frei zu lassen.

Doch gerade als er mit dem Käfig das Gewölbe verlassen wollte, stand Jean Pierre Bonnet wieder in der Tür. Er lächelte den Jungen an.

„Ihr habt Mitleid. Das verstehe ich. Aber wir können sie nicht verschonen. Sie nehmen sonst überhand … Ich werde es tun. Eure Frau Mutter hat nach Euch gerufen. Sie wartet oben im Salon.“

Noch immer hielt Leonhard den Käfig in der Hand und starrte traurig auf die Ratte. „Ich glaube, sie kann denken. Sie hat mich angesehen, als wollte sie mir etwas sagen“, wandte Leonhard ein.

Der Koch strich ihm über den Kopf. „Sie können nicht denken und schon gar nicht reden. Glaubt mir, sie sind zu nichts nutze.“

Leonhards Augen füllten sich mit Tränen, dann überreichte er Jean Pierre Bonnet den Käfig und lief schnell die Stufen hinauf. Der Koch sah dem Jungen kurz nach, dann tauchte er den Käfig in dem Fass mit Wasser endgültig unter.

*

Der herrschaftliche Salon war mit dunklem Holz getäfelt. Ein wuchtiger Eichenschrank und Kommoden, die mit Intarsien aus Elfenbein verziert waren, verliehen dem Raum einen würdevollen Charakter. Das beeindruckendste Schmuckstück in diesem Zimmer war jedoch ein riesiger Kachelofen der Nürnberger Schule, eigens für diesen Raum gefertigt von Georg Leupold*. Er thronte auf goldenen löwenartigen Füßen in einer Ecke. Seine gebrannten Tonkacheln waren mit schwarz glasierten und teilvergoldeten Reliefs verziert, die Motive aus der griechischen Sagenwelt sowie weitere Heldengestalten antiker Weltreiche wie Assyrien, Persien oder Rom zeigten.

Elisabeth stand am geöffneten Fenster. Seit Stunden hatte sie an ihrer Arbeit gesessen und gönnte sich nun eine Pause. Ihre roten Haare waren zu einer kunstvollen Frisur aufgesteckt, eine lange Haarsträhne hatte sich jedoch gelöst und floss wie glühende Lava über den weißen Kragen auf ihr edles türkisblaues Samtkleid. Die Sonnenstrahlen und die sanfte Brise, die durch das Fenster hineinwehte, taten ihr gut. Sie steckte das Haar wieder fest.

Unten auf der Straße rief eine Mutter mehrmals nach ihrem Jungen. Unweigerlich kam Elisabeth ihr eigener Sohn in den Sinn. Leonhard war vor kurzem acht Jahre alt geworden. Zwar war er kleiner als andere Jungen seines Alters, aber auch wenn ihr Sohn mit der körperlichen Entwicklung etwas hinterherhinkte, so war er doch ein aufgeweckter intelligenter Junge. Sicherlich würde er früher als es ihr lieb sein konnte zum Mann reifen. Elisabeth lächelte in sich hinein, doch dann verdüsterte sich ihr Gesicht, so wie die Wolke, die sich gerade vor die Sonne schob und den herrlichen Tag verdunkelte. Sie dachte an ihre schlaflosen Nächte. Wie oft wurde sie von Albträumen geplagt, gepeinigt von der Angst, sie könnte Leonhard eines Tages für immer verlieren. Es waren Träume, in denen die Toten wiederkehrten. Ihr Vater Gisbert, ihr geliebter Jakob und die alte Emilia. Viele Jahre waren seit den schrecklichen Ereignissen vergangen, und die sorgenvollen Gedanken hatten mit der Zeit allmählich nachgelassen. Trotzdem verging kein Tag, an dem sie nicht an ihren Heimatort Hochstadt dachte, der im Hessischen zwischen Hanau und Frankfurt in einem Tal mit weichen Hügeln lag. Kein Tag verging, an dem sie nicht an den verhassten Guido Emmes dachte, der ihren Vater ins Verderben gerissen hatte, und der doch zugleich Erzeuger ihres Sohnes Leonhard war. Seit ihrer Flucht aus Hessen hatte sie unablässig mit dem Gedanken gespielt, sich eines Tages an ihm zu rächen.

Diesen Plan verfolgte sie zwar noch immer, doch etwas hatte sich verändert. Ihr jugendlich hitziges Temperament war abgekühlt und hatte einer reiferen Vernunft Platz gemacht. Einen nicht unerheblichen Anteil daran hatten die Gespräche mit dem Marquis. Die Freundschaft mit ihm hatte für Elisabeth zunehmend an Bedeutung gewonnen. Er war ihr zu einem wichtigen väterlichen Freund geworden, der sie in vielen Angelegenheiten beriet. Ihm konnte sie all ihre Geheimnisse und Sorgen anvertrauen. Der Marquis war der einzige, der ihre wahre Vergangenheit kannte, und es hatte ihr gut getan, sich endlich jemandem anvertrauen zu können. Doch der Marquis hatte sie auch gelehrt, ihren ungezügelten Hass zu kontrollieren und in wohlüberlegtes Handeln zu überführen. Zur Zeit begnügte Elisabeth sich deshalb damit, Guido Emmes aus der Ferne zu schaden, indem sie versuchte, seine Geschäfte zu hintertreiben. Der Marquis hatte ihr bei diesen klandestinen Sabotageakten seine Hilfe angeboten, eine direkte Konfrontation hielt er für zu gefährlich. Aus Liebe zu ihrer Familie hatte Elisabeth schließlich eingelenkt. Sie agierte vorerst im Geheimen, auch weil ihre Verurteilung als Hexe immer noch Bestand hatte.

*

Vor fünf Jahren war durch ihre Heirat in Leipzig aus Elisabeth von Gettenbach eine von Stieglitz geworden. Ihr Ehemann war ein verantwortungsvoller Mensch. Zwar war er um vieles älter als sie, aber dafür verfügte er über viel Erfahrung in geschäftlichen Dingen, und er war vor allem ein freier Geist. Trotz einiger missbilligender Blicke seitens seiner männlichen Geschäftspartner, führte er sie in alle Belange des Geschäfts ein, einen aufblühenden Tuchhandel, den sie von ihrem verstorbenen Onkel geerbt hatte, und dessen Geschäfte sie mittlerweile zu einem beträchtlichen Teil allein führte. Außerdem hatte sich Franz von Stieglitz ihres Sohnes Leonhard angenommen, als wäre es sein eigenes Kind.

Sicher liebte sie ihren Gatten nicht so wie manch andere Frau ihren Mann liebte. Es waren eher freundschaftliche Gefühle, die sie für ihn empfand, aber er akzeptierte dies voll und ganz. Elisabeth wusste, dass es für ihn einem Gottesgeschenk glich, wieder eine Familie um sich zu haben. 1650 hatte er bei der Pestepidemie seine erste Frau und alle drei Kinder verloren. Als einziger der Familie hatte er den schwarzen Tod überlebt. Doch war es ihm infolge der Krankheit nicht mehr möglich, Nachkommen zu zeugen. Umso erfreuter war er gewesen, als Elisabeth und ihr Sohn in das große Haus an der Nikolaistraße einzogen und wieder Leben einkehrte. Das Geburtshaus ihres Vaters in Leipzig hatte sie nach ihrer Heirat verkauft. Elisabeth musste diesen Schritt tun, um nicht gefunden zu werden. Es war gut möglich, dass Guido Emmes' Häscher noch immer nach ihr suchten, auch wenn sie inständig hoffte, dass man sie für tot hielt.

Auf ihre Art war Elisabeth mit ihrer neuen kleinen Familie glücklich geworden. Sie gehörten zu den angesehensten und reichsten Kaufleuten Leipzigs und hatten alles, was sie brauchten, im Überfluss. Doch von Zeit zu Zeit spürte Elisabeth eine Unruhe und Sehnsucht in sich aufkeimen. Es war, als flüsterte ihr eine innere Stimme ein, dass sie sich zu früh gebunden hatte, und sie bekam Angst, ihr junges Leben könnte zu früh still stehen. Eine Ahnung beschlich sie, dass das Schicksal etwas anderes mit ihr vorhatte. Doch sie kämpfte dagegen an und war sicher, sie würde es schaffen, ein ehrbares Leben zu führen, so wie man es von ihr erwartete. Sie wollte eine gute Mutter und Ehefrau sein. Sie wollte vergessen.

Eine Kutsche hielt in der Straße. Elisabeth wurde aus ihren Tagträumen gerissen. Franz von Stieglitz trat aus dem Haus und stieg in das Gefährt, um zu einem Geschäftstreffen zu fahren. Elisabeth winkte ihm zu. Schließlich ließ sie das Fenster einen Spalt breit offen und ging zurück zu ihrem Arbeitstisch, den sie in den Salon hatte stellen lassen. Dort stapelten sich bereits dutzende mit ihrer geschwungenen Handschrift beschriebene Seiten. Die täglichen Aufträge für den Tuchhandel hatte sie bereits bearbeitet. Nun war Elisabeth dabei, das alte Apothekerbuch, das sie einst von ihrer Mutter geerbt hatte und welches sie auf ihrer Flucht von Hochstadt nach Leipzig verloren hatte, neu zu dokumentieren. Es hatte eine Auflistung von Heilpflanzen sowie ihre Verwendung zur Behandlung von Krankheiten enthalten. Zwar gab es bereits Bücher über pflanzenkundliches Wissen, aber die Kenntnisse ihrer Mutter aus vielen Jahren Erfahrung waren einzigartig gewesen und hätten ihr Wissen auf diesem Gebiet um ein Vielfaches erweitern können. Elisabeth versuchte, sich an die verschiedenen Wirkungsweisen, die ihre Mutter einst aufgeschrieben hatte, zu erinnern. Doch viele Rezepte waren wohl für immer verloren, denn ihr Gedächtnis ließ sie einfach viel zu oft im Stich.

Mit einem Seufzen betrachtete sie die verschlossenen Gläser, die vor ihr auf dem Tisch standen und in denen sie getrocknete Pflanzen aufbewahrte, die sie im Sommer auf den Wiesen, im Wald oder auf dem Markt gefunden hatte. Schließlich tunkte sie die Feder in die Tinte und notierte auf dem Papier die Überschrift Wald-Ziest. Anschließend öffnete sie einen der Glasbehälter und entnahm ihm eine Pflanze mit großflächigen grünen Blättern und violetten Lippenblüten. Nachdenklich studierte sie das Aussehen des Krauts, roch daran und sog den fliederartigen Duft ein. Einen Teil der Pflanze brach sie ab und rieb ihn zwischen den Fingern. Sie hielt das zerriebene Kraut abermals an ihre Nase und verzog das Gesicht. Es verströmte nun einen unangenehmen Geruch. Sie notierte die Reaktion auf dem Papier.

Die Tür zum Salon öffnete sich und Leonhard kam zögerlich herein.

Elisabeth legte ihre Schreibfeder beiseite und blickte zu ihrem Sohn. Sie erkannte gleich, dass er geweint hatte. „Komm, setz dich zu mir.“

Leonhard setzte sich auf ihren Schoß und schniefte.

„Willst du mir verraten, was geschehen ist?“

Leonhard wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. „Es ist wegen der Ratte, die ich gefangen habe … Jean Pierre hat sie in der Tonne ertränkt … Ich bin schuld an ihrem Tod.“

Elisabeth drückte ihren Sohn tröstend an sich. „Es ist gut, wenn du für ein Tier Mitleid empfindest. Schließlich sind wir alle Gottes Geschöpfe. Auch die Ratte. Aber für uns Menschen sind sie eine Plage, du hast nichts Unrechtes getan.“

Leonhard sah sie hoffnungsvoll an. „Dann komme ich trotzdem in den Himmel?“

„Ganz sicher“, sagte Elisabeth sanft.

„Und die Ratte, kommt auch sie in den Himmel?“

Sie strich ihm über das Gesicht, um die letzten Tränen fortzuwischen. „Das wird sie“, hauchte sie ihm ins Haar.

Leonhard spielte mit Elisabeths großem weißem Kragen. Er hatte noch etwas auf dem Herzen. „Müssen wir alle sterben? … Was passiert, wenn man tot ist?“

Sie blickte aus dem Fenster, ihre Miene verdüsterte sich. „Das weiß nur der liebe Herrgott.“ Einen Moment lang war sie in finstere Gedanken versunken und vergaß, wie wichtig diese Frage für ihren kleinen Sohn war.

„Dann kann es sein, dass im Himmel nichts ist?“, fragte Leonhard beunruhigt.

Elisabeth zuckte ein wenig zusammen angesichts dieser grundlegenden Frage. Ein Lächeln legte sich auf ihr Gesicht. „Im Himmel wird es uns gut gehen, und wir treffen alle, die uns einmal wichtig waren. Gute Menschen kommen dorthin. Das ist gewiss. So wie es die Hölle für die Bösen gibt.“

„Wo der Teufel wohnt“, sagte Leonhard grimmig.

„Ja, wo der Teufel wohnt“, antwortete Elisabeth mit einem ebenso grimmigen Lächeln und kitzelte ihn. „Mit dem du aber hoffentlich nie etwas zu tun haben wirst, weil du viel zu lieb bist.“

Leonhard kicherte kurz, doch dann fiel ihm etwas ein. „Aber was ist, wenn der Teufel mich ausgesucht hat, wenn schlimme Dinge passieren, für die ich gar nichts kann?“

Elisabeth sah ihn liebevoll an und schob ihn sanft von ihrem Schoß herunter. Dann stand sie auf, ging zu einem Schrank, öffnete eine der darin befindlichen Schubladen und nahm etwas heraus.

Als sie zurückkam, gab sie ihrem Sohn etwas in die Hand.

„Ein goldenes Kreuz?“, fragte Leonhard, während er das glänzende Kleinod neugierig betrachtete und zum Licht hielt.

„Ja“, sagte Elisabeth, „es ist aus echtem Gold und stammt von deinem Großvater Gisbert von Gettenbach. Ab jetzt soll es dir gehören. Es soll dir Glück bringen und dich in schlechten wie in guten Tagen beschützen.“ Sie zwinkerte ihm zu. „Am besten, du hast es immer bei dir, dann kann dir nichts passieren, und der Teufel mag ja bekannterweise keine Kruzifixe.“ Sie nahm seine kleine Hand und küsste das Kreuz darauf. Dann machte sie die Hand zu und umschloss sie fest mit ihren eigenen Händen.

Leonhard umarmte seine Mutter.

„Habt Dank. Ich will es immer bei mir tragen“, versprach er glücklich.

MITTEL UND MACHT

Hochstadt, 29. September 1658

Die Luft war erfüllt vom Geruch gärenden Fallobstes. Eine milde Herbstsonne tauchte die hügeligen Obstwiesen von Hochstadt in heiteres Licht. All das ließ Guido Emmes kalt. Mit steinerner Miene saß er auf seinem Pferd und hatte gerade das Schützenhäuschen passiert, wo ihm der Feldschütz gehorsam salutierte.

Als die Pflücker den Bürgermeister sahen, beeilten sie sich, ihre Arbeit zu tun. Die Bäume hingen noch immer voller Äpfel und Birnen, sie waren überreif und mussten schleunigst geerntet werden.

Wenigstens die Obsternte war dieses Jahr ertragreich, nachdem es zuvor mit dem Wein nicht so recht hatte werden wollen, dachte Guido Emmes. Die Trauben waren wieder einmal vom Mehltau befallen worden, einer Krankheit, die sich pelzig auf Blätter und Frucht legte und den Weinanbau mühsam machte. Er konnte nur hoffen, dass die nächsten Jahre bessere Traubenernten brachten, auch weil er mit allen Mitteln verhindern wollte, dass man die Experimente mit dem Apfelwein wieder aufnahm. Diese hatte sein Erzfeind und Vorgänger im Bürgermeisteramt, Gisbert von Gettenbach, einst durchgeführt. Saures Zeug, das zu Durchfall führte, dachte Emmes missmutig.

Wirklich angewiesen war er auf keinerlei Wein. Es war eine interessante Beigabe, genauso wie seine Ländereien, die er in und um Hochstadt besaß. Die richtig lukrativen Geschäfte liefen jedoch über seine Kontakte zu den Kaufleuten in der benachbarten Messestadt Frankfurt. Die Nachwirkungen des Großen Krieges waren immer weniger zu spüren und einige Leute waren zu Geld gekommen. Der Handel mit Tuch, Leder und Seidenstoffen hatte in den letzten Jahren stark zugenommen, und die Frankfurter Messen waren reich besucht, davon profitierte auch er.

Während Guido Emmes zwischen den Arbeitern hindurchritt, um Aufmerksamkeit und Kontrolle zu demonstrieren, riss er sich einen Apfel vom Baum und biss hinein. Säuerlich verzog er das Gesicht und schleuderte ärgerlich das wurmstichige Obst fort.

Mit den zunehmenden Geschäften im Tuchhandel war leider auch die Konkurrenz immer größer geworden. Erst vor kurzem waren ihm zwei Geschäfte geplatzt. Irgendein Frankfurter Kaufmann schien die besseren Karten zu haben. Zwar hatte er immer noch genügend Kunden, aber dass es dennoch jemandem gelungen war, ihn auszustechen, der angeblich über ein besseres Angebot verfügte, bereitete ihm zunehmend Sorge. Zum Glück konnte er diese Fälle geheim halten, vor allem vor dem Hanauer Hof, mit dem er seine größten Geschäfte betrieb. Guido Emmes belieferte Graf Friedrich Casimir von Hanau sowie seine Gattin Sibylla Christina* mit Seidenstoffen und hatte bisher jeden ihrer anscheinend nie versiegenden Wünsche an extravagantem neumodischen Tuch zu ihrer Zufriedenheit erfüllt. Die Geschäfte mit dem Hof brachten Guido Emmes nicht nur Geld, sondern sorgten auch dafür, dass er dort an Einfluss gewann und in der Gunst des Grafen und vor allem von Gräfin Sibylla stand. Aus diesem Grund ließ man Emmes so gut wie ungehindert in Hochstadt gewähren. Als neuer Bürgermeister hatte er sich zunächst im Licht seines Vorgängers von Gettenbach gesonnt und dessen Maßnahmen zur Verbesserung des Gemeinwesens weitergeführt. Er sorgte für neue Glocken in der Hochstädter Kirche St. Kilian und ließ die Hauptstraße des von Fachwerkhäusern geprägten Ortes pflastern. Die Weed*, die örtliche Pferdeschwemme und Tränke am Rathaus, hatte er ausbauen lassen, so dass es nun einen großen überdachten Wasserspeicher und genügend Löschwasser für den Brandfall gab. Sein Kalkül war aufgegangen, die Bewohner hielten ihm diese Taten zugute. Niemand interessierte es, dass alle Planungen dafür bereits von seinem Widersacher Gisbert von Gettenbach in Auftrag gegeben worden waren. Keiner dachte mehr an den grauenhaften Tod des alten Bürgermeisters, den auch die Einwohner Hochstadts mit ihrem Hexenwahn letztlich verschuldet hatten. Die Leute kümmerte nur, ob sie ihr Auskommen hatten und sich ihre Angelegenheiten verbesserten. Für sie war wichtig, dass jemand die Dinge in die Hand nahm.

Seit vielen Jahren war Guido Emmes nun ihr Bürgermeister und sie zollten ihm Respekt. Ob dies aus Angst oder Bewunderung geschah, war ihm gleich. Alle wussten, wer das Sagen hatte, und das war er. Daran durfte es keinen Zweifel geben. Dafür sorgten auch seine gut bezahlten Wachen, allesamt ehemalige Söldner des Großen Krieges, die ihre Arbeit verstanden. Sie führten all jene, die nicht hören wollten, mit mehr oder weniger harter Hand schnell wieder in die Gemeinschaft der Schäfchen zurück. Wenn es jemand zu wild trieb, kam es hier und da vor, dass Guido Emmes durchgreifen musste. Dann machten seine Helfer von der Folter Gebrauch oder richteten ein Plätzchen im Narrenturm ein. Doch das kam in der letzten Zeit eher selten vor. Die Hochstädter waren ein gelehriges Volk. Wer folgsam war und viel arbeitete, der konnte es an diesem Ort zu etwas bringen, so wie es der Gott der Calvinisten* vorsah – und wenn Guido Emmes es wollte.

Er blickte in die Sonne. Ihr Stand verriet ihm, dass es gegen Mittag sein musste. Es wurde Zeit, nach Peter Brixius zu sehen.

Zurück am Oberen Stadttor von Hochstadt, ließ man den Bürgermeister sofort in den Ort ein. Als er die Hauptstraße hinunterritt, sah er, dass sich an ihrem unteren Ende vor dem Brixiusschen Hof bereits einige Dorfbewohner versammelt hatten. Die Leute lüfteten eifrig ihre Hüte, als der Bürgermeister an ihnen vorbei in den Hof ritt.

Emmes hatte die lutherischen Kräfte* in Hochstadt weitgehend ausmerzen können, indem er so lange ihre Rechte beschnitten und sie eingeschüchtert hatte, bis sie Hochstadt freiwillig verließen. Brixius war einer der Letzten.

Seine Männer waren nicht zimperlich. Sie warfen alles, was an Möbeln noch nicht auf den Holzwagen gepackt war, einfach zum Fenster heraus. Ein Hund lief, aufgescheucht vom Lärm des zerberstenden Holzes, im Hof des kleinen Anwesens hin und her. Er bellte die Eindringlinge unentwegt an, bis einer der Männer ihn mit seiner Lanze aufspießte und das jaulende, verendende Tier auf den Misthaufen warf. Guido Emmes saß noch immer auf seinem Pferd und sah dem Treiben mit ausdrucksloser Miene zu.

Peter Brixius stürzte aus dem Haus und rannte auf ihn zu. „Bitte Herr, haltet ein, wir sind ja schon fast weg. Eure Männer, sie lassen nichts mehr heil.“

„Das hättest du dir früher überlegen müssen. Weder die vier Gulden Judengeld*, noch das Sommerhuhn* hast du abgegeben.”

Brixius ging verzweifelt auf die Knie und faltete die Hände zusammen, als würde er in der Kirche beten. „Herr, habt Erbarmen. Wir haben schon lange kein Geld und auch keine Hühner mehr. Alles was uns noch bleibt, sind die alte Kuh und die Schafe.”

Emmes sah ihn ungerührt vom Pferd herab an. „Die Kuh kannst du behalten, sie wird euch hoffentlich aus diesem Ort bringen. Aber die zwei Schafe bleiben hier, um deine Schulden zu tilgen.”

Brixius blickte betreten zu Boden. ”Dann werden wir verhungern.”

„Hör auf zu jammern und macht, dass ihr fortkommt.”

Zornig war die Frau des Bauern ihrem Mann gefolgt und baute sich vor dem Bürgermeister und seinem Pferd auf. „Was seid Ihr nur für ein Mensch, Guido Emmes! Loswerden wollt Ihr uns, damit Ihr unseren Besitz stehlen könnt.“

Der Bauer erhob sich und packte seine aufgebrachte Frau entsetzt am Arm. „Selma, in Gottes Namen, sei still!“ Besorgt sah er zu Emmes auf, der sich nun angriffslustig der Frau zuwandte.

„Du weißt, was sie mit Juden machen, die aufbegehren“, sagte Emmes drohend. „Seid froh, dass ich Euch gehen lasse.“

Die Frau verstummte. Der Bauer trieb sie vor sich her zum voll bepackten Holzwagen, auf dem bereits zwei Kinder saßen. Der ältere Bruder versuchte, seine kleine weinende Schwester zu beruhigen und nahm das Mädchen in den Arm. Peter Brixius schob seine widerspenstige Frau auf den Karren. Dann kletterte er ebenfalls hinauf und ließ die Peitsche schnalzen. Die Kuh setzte sich mühsam in Bewegung und zog den Holzwagen polternd davon. Ohne sich noch einmal umzusehen, hielt der Bauer die Zügel fest in der Hand und fuhr zum Untertor. Nur seine Frau Selma konnte ihren Blick nicht von dem Haus wenden, das einst ihr Heim war, und das ihr Vater im Schweiße seines Angesichts erbaut hatte. Die Schaulustigen verfolgten das Geschehen schadenfroh oder stumm dreinblickend. Ein paar Kinder liefen den Gepeinigten hinterher, lachten und hänselten die Vertriebenen, bis der Wagen aus dem Ort verschwunden war und das Untertor wieder verschlossen wurde.

Guido Emmes ritt langsam über den Brixiusschen Hof und begutachtete den bescheidenen Besitz, der nun an das Amt Büchertal gefallen war und somit unter seiner Obhut stand. An vielen Stellen war die Substanz baufällig. Emmes würde den Hof so gut es ging herrichten lassen. Dann konnte er ihn vermieten oder verkaufen.

Er hatte zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Zum einen floss Geld in die Kasse und zum anderen war der Lutheraner Brixius mit seiner Jüdin endlich fort. Ihm und den anderen Reformierten* waren sie schon lange ein Dorn im Auge gewesen. Zu seiner Zeit war Brixius gut gelitten im Dorf und besaß Kontakte. Doch weil er eine Frau jüdischen Glaubens geheiratet hatte, war es geradezu kinderleicht gewesen, ihn loszuwerden. Niemand im Ort hatte für die Frau Partei ergriffen.

Emmes winkte einen seiner Männer heran. „Macht das Haus sauber und bringt die Schafe in die bürgermeisterlichen Stallungen. Alles, was sonst noch brauchbar ist, könnt ihr unter euch aufteilen.“

Der Wachmann nickte. „Danke, Herr!“

Guido Emmes ritt zurück auf die Hauptstraße. Die schaulustige Menge, die sich vor dem Hof versammelt hatte, zerstreute sich und ging ihrer Wege. Als Emmes an der Dorfschänke vorbeikam, traf er auf den Bauern Georg Diez. Er hatte anscheinend getrunken und wankte unsicheren Schrittes auf der Straße entlang. Der Bürgermeister stellte sich ihm mit seinem Pferd in den Weg. „Wie oft noch soll ich dich an deine Pflichten erinnern, Georg Diez? Du erscheinst nicht im Gottesdienst und hast deine Abgaben nicht bezahlt. Stattdessen versäufst du dein Geld.“

Der Bauer riss sich zusammen und nahm Haltung an. „Herr, ich habe doch alles versucht. Bitte gebt mit noch ein wenig Zeit mit dem Bezahlen.“

„Zeit?“, schrie Emmes, „Zeit hast du genug gehabt!“

„Aber, Herr …“

„Ich will deine Ausflüchte nicht hören. Und ich werde meine Leute schicken.“ Emmes gab seinem Pferd die Sporen und ritt weiter Richtung Spielhaus. Verzweifelt blickte ihm Georg Diez nach.

Schon auf den nächsten Metern hatte Emmes den Bauern fast vergessen. Ihn beschlich ein Gefühl von Missmut und Unruhe. Er hatte Macht, konnte auf offener Straße zurechtweisen, wen er wollte und er freute sich über seinen Erfolg mit dem Brixiusschen Hof. Dennoch. An Tagen wie diesen fragte er sich, was er als nächstes in Angriff nehmen konnte und was geschah, wenn in diesem kleinen Ort nichts mehr zu tun übrig blieb. Er würde eine neue Aufgabe finden müssen, Projekte ankurbeln, vielleicht neue Baupläne für ein größeres Rathaus vorlegen. Gott verlangte, dass die Menschen immerfort in Arbeit waren, ihre Erträge mehrten und sich die göttliche Gunst durch Fleiß und Anbetung erwarben. Der Bürgermeister verfolgte dieses Mantra der Reformierten hartnäckig bei sich selbst und verlangte die gleiche Disziplin auch von den Hochstädtern. Doch war das Glaube? Zwar hätte niemand im Ort es laut gewagt zu sagen, aber der treue Kirchendiener Emmes war in Wahrheit ein Mensch, dem der kirchliche Glaube nicht allzu viel Wert war, sondern dem nur alle Mittel recht waren, um seine Macht, sein Geld und ein geschäftiges Leben mit vielerlei Plänen zu sichern.

An der Weed übergab der Bürgermeister sein Pferd dem Stalljungen, um es waschen zu lassen. Er überquerte die Hauptstraße und betrat sein Anwesen durch die kleine Tür, die in das große Hoftor eingelassen war. Die stattliche Hofreite* befand sich direkt gegenüber seines Amtssitzes, dem Spielhaus, und bestand aus mehreren Gebäuden, die sich um den Innenhof gruppierten. Mit größter Selbstverständlichkeit hatte Guido Emmes nach dem Tod Gisbert von Gettenbachs auch das private Anwesen des ehemaligen Bürgermeisters übernommen. Die gewaltige Kastanie, die einst den Hof beherrschte, hatte er fällen lassen. Neue Pflastersteine aus blauem Basalt zierten nun das Areal. Sauber, ordentlich und gottgefällig war alles hergerichtet, ohne überflüssigen Tand. Das Fachwerk hatte er teilweise erneuern und die Mauern weiß tünchen lassen. Die Scheune war vergrößert worden und im Kuhstall standen nun fünfzehn Kühe. Daneben hielt er zwei Pferde, einige Schweine sowie Hühner. Drei Knechte und eine Magd waren täglich damit beschäftigt, die Tiere zu versorgen und Guido Emmes zu Diensten zu sein. Für sie hatte er die Nebengebäude überholen lassen, um mehr Wohnraum zu schaffen.

Der Bürgermeister betrat sein Arbeitszimmer wie immer direkt von außen über die hölzerne Altane*. Drinnen im Raum erinnerte nichts mehr an seinen Vorgänger. Bänke, Sessel, Kissen, Bilder und Gegenstände, die den Raum einst gemütlich gemacht und Leben eingehaucht hatten, waren verschwunden. Nichts sollte vom Arbeiten ablenken. Ein einfacher Eichenschrank ohne Verzierungen, eine Kommode und ein Arbeitstisch nebst Stuhl waren alles, was sich in dem spartanisch eingerichteten Arbeitszimmer befand. Das einzige Überbleibsel der vergangenen Zeit war der gusseiserne Kanonenofen, der seit jeher wuchtig in einer Ecke stand.

Ein Dolch und eine von den neuen Steinschlosspistolen* lagen stets geladen und griffbereit auf der Kommode, um sich für den Notfall verteidigen zu können.

Guido Emmes setzte sich an den Tisch und vertiefte sich in seine Bücher.

Er hatte gerade damit begonnen, Zahlenkolonnen aneinanderzureihen und den Besitz des Brixiusschen Hofes nach Wert zu schätzen, als es klopfte.

Ein Wachposten betrat erhitzt und ganz außer Atem das Büro des Bürgermeisters. Der besorgte Gesichtsausdruck des Mannes ließ keinen Zweifel darüber aufkommen, dass er schlechte Nachrichten brachte.

Emmes hasste Überraschungen, vor allem wenn es negative waren. „So holt doch erst einmal Luft und beruhigt Euch!“

Die Wache riss sich am Kragen und stieß hervor: „Herr, Franz Burkhart aus Büdingen … Er wurde tot aufgefunden.“

Guido Emmes brauchte einen Moment, um diese Nachricht zu verarbeiten. Er legte die Kladde mit den Berechnungen beiseite und erhob sich langsam von seinem Stuhl. „Wiederhole das!“

Der Untergebene nahm stramme Haltung an, ohne seinem Herrn dabei in die Augen zu blicken. „Haben soeben Kunde erhalten, dass Franz Burkhart, seines Zeichens Amtmann von Büdingen, tot aufgefunden wurde. An einem Strick erhängt. Möglicherweise hat er seinem Leben eigenhändig ein Ende gesetzt.“

Emmes kniff die Augen zusammen. „Die näheren Umstände?“

„Es ist noch nichts weiter bekannt, Herr.“

Emmes entließ den Wachmann unwirsch mit einer Handbewegung und wandte sich grübelnd zum Fenster. Franz Burkhart war kein Mann gewesen, der sich das Leben nahm, das wusste er genau. Jemand musste nachgeholfen haben. Es war noch keine zwei Monate her, dass man seinen treuen Ratskollegen Heinrich Fredes vor den Toren Hochstadts tot aufgefunden hatte. Jemand hatte ihm ein Loch mitten in die Stirn geschossen, aus nächster Nähe, einer Hinrichtung gleich. Jetzt, nach Burkharts Tod, war sich Guido Emmes sicher, dass es sich nicht um einen Zufall handeln konnte. Jemand befand sich auf einem Rachefeldzug. Hatte es etwas mit ihm, Guido Emmes, zu tun? Fredes und Burkhart waren immer seine loyalen Unterstützer gewesen. Was gab es für Verbindungen zwischen den beiden? Auch sie waren damals in den Lynchmord an Bürgermeister Gisbert von Gettenbach verwickelt gewesen. Aber wer konnte der Rächer sein? Und warum jetzt, nach all den Jahren? Jakob war nicht mehr am Leben und Elisabeth war höchstwahrscheinlich ebenso tot. Zwar war ihr Leichnam nie gefunden worden, aber eine geschwächte Frau, allein unterwegs mit einem Säugling, hatte in den räuberischen Nachkriegszeiten des Großen Krieges so gut wie keine Chance gehabt. Man hatte die Überreste einer Toten mit einem Kleinkind, in der Gegend, wo sich ihre Spur verloren hatte, gefunden.

Acht Jahre alt wäre sein Sohn nun. Dass er den Jungen nicht hatte retten können, bedauerte Guido Emmes zutiefst.

Von Zeit zu Zeit holten ihn die Erinnerungen ein an das, was gewesen war. Sein blinder Hass hatte ihn zu brutalen Taten getrieben. Er hatte gehofft, nach dem Tod seines Erzfeindes Gisbert von Gettenbach endlich Frieden zu finden. Nach Übernahme all seiner Immobilien, Ämter und Anliegen hatte Emmes nach außen eine große Zufriedenheit und Ruhe zur Schau gestellt. Allmählich beruhigten sich die Gemüter und vergaßen den unrühmlichen Tod des alten Bürgermeisters. Tief in seinem Innern aber musste sich Guido Emmes eingestehen, dass sich ein erhabenes Gefühl nie einstellen wollte. Der Sieg hatte schal geschmeckt. Das Feuer, das ihn einst antrieb, ungeheuerliche Taten zu begehen, war nahezu erloschen. Insgeheim machte er sich sogar Vorwürfe über von Gettenbachs Tod. Er war der einzige in dieser Gemeinde gewesen, der Mut und Intelligenz bewiesen hatte.

Doch Emmes durfte keine Schuldgefühle aufkommen lassen. Diese Welt kannte kein Mitleid, nur der Stärkste überlebte. Es gab genug Leute, die wollten, dass er Schwäche zeigte und ihm den Tod wünschten. Doch die Position, die er sich hart erarbeitet hatte, würde er nicht freiwillig aufgeben, diese Genugtuung wollte er ihnen niemals geben, schwor er sich.

So wie er es damals geschworen hatte, als er noch ein kleiner Junge war und die katholischen Ordensbrüder ihn bestialisch züchtigten. Guido Emmes versuchte, die Erinnerungen an seine Kindheit beiseite zu wischen. Sie machten ihn wütend. Er spürte Bitterkeit in sich aufsteigen, wenn er an die Ermordung seiner Eltern in Magdeburg während des Großen Krieges dachte und an die nachfolgende Zeit im Kloster. Er hasste diese verlogenen bigotten Menschen, diese Verderber. Doch schließlich hatten sie ihn zu dem gemacht, was er nun selbst war: ein gottesfürchtiger Mann, der andere zwang, es ihm gleich zu tun. Wenn Unschuldige dafür leiden mussten, war dies nicht unbedingt erquicklich, aber so war es nun einmal. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Er hatte in seinem Leben gelernt, Opfer zu bringen, wenn sie verlangt wurden. Elisabeth war ein solches Opfer gewesen. Anfangs hatte er sie benutzt, um seine Rache an ihrem Vater Gisbert von Gettenbach zu stillen. Doch mit der Zeit empfand er mehr für dieses Mädchen, als ihm lieb gewesen war. Wenn Elisabeth noch am Leben wäre, dann würde sie ihn wegen seiner Taten zu Recht hassen, so wie er einst aus tiefstem Herzen ihren Vater Gisbert von Gettenbach gehasst hatte, weil dieser im Großen Krieg seinen eigenen Vater getötet hatte.

Aber genug mit diesen Spekulationen. Wenn sie und das Kind noch am Leben wären, hätte sein einäugiger Helfer sie gefunden. Doch der Einäugige war niemals von seiner Suche zurückgekehrt, und alle Spuren hatten sich verloren.