Der Pfeil der Rache - C.J. Sansom - E-Book
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Der Pfeil der Rache E-Book

C.J. Sansom

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Beschreibung

Juni 1545: Michael Calfhill war Lehrer bei der Familie Hobbeys und wurde nicht müde, auf das schreiende Unrecht hinzuweisen, das den beiden Mündeln Emma und Hugh widerfuhr. Doch nun ist er tot – erhängt. Die Ermittlungen in diesem Fall führen Matthew Shardlake nach Portsmouth, wo die gesamte englische Flotte vor Anker liegt. Gefahr und Angst liegen in der Luft, denn eine Invasion der Franzosen wird befürchtet. Als Shardlake das Geheimnis der Hobbeys zu ergründen versucht, ist auch sein Leben bedroht.

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Seitenzahl: 1023

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Christopher J. Sansom

Der Pfeil der Rache

Historischer Kriminalroman

Aus dem Englischen von Irmengard Gabler

FISCHER E-Books

Inhalt

teil einskapitel einskapitel zweikapitel dreikapitel vierkapitel fünfkapitel sechskapitel siebenkapitel achtkapitel neunkapitel zehnkapitel elfteil zweikapitel zwölfkapitel dreizehnkapitel vierzehnkapitel fünfzehnkapitel sechzehnteil dreikapitel siebzehnkapitel achtzehnkapitel neunzehnkapitel zwanzigkapitel einundzwanzigkapitel zweiundzwanzigkapitel dreiundzwanzigteil vierkapitel vierundzwanzigkapitel fünfundzwanzigkapitel sechsundzwanzigkapitel siebenundzwanzigkapitel achtundzwanzigkapitel neunundzwanzigkapitel dreißigteil fünfkapitel einunddreißigkapitel zweiunddreißigkapitel dreiunddreißigkapitel vierunddreißigkapitel fünfunddreißigkapitel sechsunddreißigkapitel siebenunddreißigkapitel achtunddreißigkapitel neununddreißigkapitel vierzigkapitel einundvierzigkapitel zweiundvierzigteil sechskapitel dreiundvierzigkapitel vierundvierzigkapitel fünfundvierzigkapitel sechsundvierzigkapitel siebenundvierzigkapitel achtundvierzigkapitel neunundvierzigkapitel fünfzigkapitel einundfünfzigkapitel zweiundfünfzigepiloggeschichtliche anmerkungdankpressestimmen

teil eins

london

kapitel eins

Der Kirchhof lag friedlich in der nachmittäglichen Sonne. Über die Kieswege verstreut, fanden sich Zweige und Äste, welche die Unwetter von den Bäumen gerissen hatten, die in diesem stürmischen Juni des Jahres 1545 über das Land gefegt waren. In London waren wir mit dem Schrecken davongekommen, hatten nur ein paar Schornsteine eingebüßt, im Norden aber hatten die Unwetter verheerend gewütet. Man munkelte von faustgroßen Hagelkörnern mit allerlei Fratzen darauf. Aber Geschichten pflegen umso dramatischer zu werden – das weiß ein jeder Anwalt –, je länger sie die Runde machen.

Ich hatte den gesamten Morgen in meiner Kanzlei am Lincoln’s Inn zugebracht und einige neue Fälle für den Court of Requests ausgearbeitet, der sich mit Armenklagen befasste. Sie würden erst im Herbst zur Anhörung kommen, denn auf Anweisung des Königs war das Sommertrimester, der Invasionsgefahr wegen, vorzeitig beendet worden.

In den letzten Monaten war ich der Schreibarbeit überdrüssig geworden. Von einigen Ausnahmen abgesehen, wiederholten die Fälle sich immer und immer wieder: Grundherren, die ihre Pachtbauern von den Höfen jagen wollten, um für den gewinnträchtigen Wollhandel Schafe auf die Weiden zu setzen. Zu demselben Zweck suchten sie auch das dorfeigene Gemeindeland an sich zu bringen, von dem die armen Leute abhängig waren. Löbliche Fälle durchaus, jedoch tagein, tagaus derselbe Trott. Und während ich arbeitete, schweifte mein Blick ein ums andere Mal zu dem Brief, den ein Bote von Hampton Court bei mir abgegeben hatte. Er lag am äußeren Ende meines Schreibtisches, ein weißes Rechteck mit einem Klumpen roten Siegelwachses in der Mitte. Dieser Brief bereitete mir Kopfzerbrechen, zumal es ihm an Einzelheiten fehlte. Als meine Gedanken nur noch abschweiften, entschied ich mich zu einem Spaziergang.

Draußen bemerkte ich eine Blumenfrau, die sich am Pförtner vorbei in den Innenhof geschlichen hatte. Nun stand sie in einer Ecke, eine schmutzige Schürze über dem grauen Kleid, das Gesicht von einer weißen Haube eingerahmt, und bot den vorübereilenden Barristern ihre bunten Sträußchen feil. Sie sei eine Witwe, rief sie mir zu, als ich an ihr vorüberging, ihr Mann im Krieg gefallen. Ich bemerkte, dass sie auch Goldlack im Korb hatte; die Blüten erinnerten mich daran, dass ich das Grab meiner armen Haushälterin schon fast einen Monat nicht mehr besucht hatte; Goldlack waren Joans Lieblingsblumen gewesen. So bat ich die Frau um einen Strauß, und sie reichte ihn mir mit ihrer rauen, rissigen Hand. Ich zahlte ihr einen halben Penny dafür, woraufhin sie knickste und sich artig bedankte; ihr Blick indes blieb kalt. Ich ging weiter, unter dem Großen Tor hindurch und die neu gepflasterte Chancery Lane hinauf bis zu der kleinen Kirche.

Während des Gehens schalt ich mich ob meiner Unzufriedenheit, rief mir ins Gedächtnis, wie viele meiner Amtsbrüder mir die Stellung als Rechtsanwalt am Court of Requests neideten und dass der juristische Berater der Königin mir schon manch einträglichen Fall vermittelt hatte. Doch las ich in den vielen nachdenklichen und besorgten Gesichtern der Vorübergehenden, dass nicht nur mich diese Unrast quälte. Angeblich hatten die Franzosen vor dem Ärmelkanal ein Heer von dreißigtausend Mann zusammengezogen und standen kurz davor, mit einer gewaltigen Kriegsflotte, deren Schiffe sogar Stallungen für die Pferde bargen, in England einzufallen. Da kein Mensch wusste, wo genau sie landen würden, hatte man in allen Landesteilen Soldaten postiert, um im Bedarfsfalle die Küsten zu verteidigen. Jedes einzelne Schiff der königlichen Flotte war auf See, sogar die großen Handelsschiffe waren beschlagnahmt und für den Krieg umgerüstet worden. Der König hatte im Jahr zuvor beispiellos hohe Steuern erhoben, um seinen Feldzug gegen Frankreich zu finanzieren. Nachdem die Invasion des Festlandes gescheitert war, belagerten die Franzosen seit dem vergangenen Winter in Boulogne ein englisches Heer. Und nun kam der Krieg vielleicht zu uns auf die Insel.

Ich lenkte meine Schritte auf den Kirchhof. Obschon es mir an Frömmigkeit gebrach, ermunterte die Atmosphäre zwischen den Gräbern mich doch zum stillen Nachdenken. Ich kniete nieder und legte die Blumen auf Joans Grab. Sie hatte mir den kleinen Haushalt nahezu zwanzig Jahre lang geführt; als sie zu mir gekommen war, war sie eine Witwe von vierzig Jahren gewesen und ich ein frischgebackener Barrister. Da sie selbst kinderlos geblieben war, hatte sie ihr Leben ganz meinen Bedürfnissen gewidmet, hatte stets still, tüchtig und freundlich ihre häuslichen Pflichten verrichtet. Nachdem sie sich im Frühjahr das Schnupfenfieber zugezogen hatte, war sie binnen einer Woche verstorben. Ihr Ableben war umso schmerzlicher für mich, als es mir vor Augen führte, wie sehr ich in all den Jahren ihre hingebungsvolle Sorge für selbstverständlich erachtet hatte. Und der elende Mensch, der mir jetzt den Haushalt führte, machte mir den Verlust erst recht bitter.

Ich seufzte und rappelte mich ungelenk wieder auf. Der Besuch an Joans Grab hatte mich zwar beruhigt, doch gleichzeitig in jene melancholische Stimmung versetzt, die mich von Zeit zu Zeit zu befallen pflegte. Ich schlenderte zwischen den Grabsteinen umher, denn hier ruhten noch andere Menschen, die ich gekannt hatte. Vor einem stattlichen Marmorstein hielt ich inne;

Roger Elliard

Barrister am Lincoln’s Inn

Geliebter Ehemann und Vater

1502–1543

Ich entsann mich einer Unterhaltung zwischen Roger und mir, kurz vor seinem Tod vor zwei Jahren, und lächelte traurig. Wir hatten darüber gesprochen, wie der König das Vermögen, welches ihm mit der Auflösung der Klöster zugefallen war, auf Prunk und Pomp verschwendet und so gar keine Anstalten gemacht hatte, die ohnehin äußerst bescheidenen Zuwendungen zu ersetzen, welche den Bedürftigen seitens der Mönche zuteilgeworden waren. Ich ließ meine Hand über den Stein gleiten und murmelte: »Ach Roger, wenn du sehen könntest, in welchen Schlamassel er uns alle gebracht hat.« Eine alte Frau, die auf einem benachbarten Grab Blumen pflanzte, wandte den Kopf, ein furchtsames Stirnrunzeln im faltigen Gesicht beim Anblick des Buckligen, der da stand und mit einem Toten Zwiesprache hielt. Ich trollte mich.

Etwas weiter vorn befand sich noch ein Gedenkstein, den ich hier hatte errichten lassen. Die Inschrift darauf war kurz:

Giles Wrenne

Barrister zu York

1467–1541

Diesen Gedenkstein berührte ich nicht, wandte mich auch nicht an den alten Mann im Grab, musste jedoch unweigerlich daran denken, auf welche Art Giles gestorben war, und sah ein, dass ich tatsächlich einer düsteren Stimmung Vorschub leistete.

Im selben Moment erschreckte ein jähes Brüllen mich fast zu Tode. Die Alte starrte mit weit aufgerissenen Augen um sich. Ich ahnte, woher der Lärm gekommen war, trat an die Mauer, die den Kirchhof von den Lincoln’s Inn Fields trennte, und öffnete die hölzerne Pforte. Ich schritt hindurch und sah, was vor sich ging.

* * *

Lincoln’s Inn Fields war ein freies Feld, auf dessen grasbewachsenem Hügel, Coney Garth, die Studenten der Juristerei wilde Kaninchen jagten. Normalerweise waren dort an einem Werktag nur wenige Menschen unterwegs. Heute jedoch hatte sich eine Menge Volk versammelt, um fünfzig jungen Burschen zuzujubeln, die meisten in Hemden und Wämsern, einige jedoch in den blauen Kitteln der Lehrlinge, die in fünf ungeordneten Reihen standen. Manche blickten griesgrämig drein, andere argwöhnisch, wieder andere voller Eifer. Die meisten hatten Langbögen geschultert, wie sie Männer im wehrtüchtigen Alter dem Gesetze nach besitzen mussten, um sich im Bogenschießen zu üben. Viele entzogen sich freilich dieser Regel und vertrieben sich die Zeit lieber mit Kegeln, Würfeln oder Kartenspielen, obschon derlei Vergnügungen mittlerweile den Männern von Stand vorbehalten waren. Die Bögen maßen zwei Schritt, waren in den meisten Fällen also größer als ihre Eigentümer. Einige Männer jedoch hatten kleinere Bögen bei sich, aus minderwertiger Ulme anstatt aus Eibenholz. Fast alle trugen eine lederne Schiene an dem einen Arm und einen Fingerschutz am anderen. Die Bögen gespannt, standen sie da.

Die Männer wurden von einem Soldaten mittleren Alters in Zehnerreihen geordnet. Der Mann hatte kantige Züge, einen kurzen schwarzen Bart und eine Miene von missbilligender Strenge. In der Uniform der Londoner Trained Bands – weißes Wams, Ärmel und Pluderhose geschlitzt, so dass das Futter hervorblitzte, dazu ein runder, polierter Helm – bot er einen stattlichen Anblick.

Über zweihundert Schritt entfernt ragten die sechs Fuß hohen, grasbedeckten Erdhügel auf, die als Ziele dienten. Hier sollten sich Burschen im wehrfähigen Alter an den Sonntagen im Bogenschießen üben. Aus zusammengekniffenen Augen erspähte ich eine Strohpuppe, in Lumpen gekleidet, auf dem Kopfe einen zerbeulten Helm und auf der Brust, derb hingepinselt, die französische Lilie. Wieder eine Waffenschau, die dem Zwecke diente, unter den Londoner Burschen die Tüchtigsten auszuwählen und auf die verschiedenen Truppen entlang der Küste oder auf den königlichen Kriegsschiffen zu verteilen. Ich war heilfroh, dass ich mit meinen dreiundvierzig Jahren und dem Buckel vom Dienst an der Waffe befreit war.

Ein rundlicher Reiter auf einer prächtigen grauen Stute sah zu, wie die Männer Haltung annahmen. Das Pferd, in den Farben der City of London drapiert, trug einen Kopfschutz mit Löchern für die Augen, der einem Totenschädel glich. Der Reiter saß im Halbharnisch zu Pferde, Arme und Oberleib in poliertem Stahl, an der breiten schwarzen Kappe eine Pfauenfeder wippend. Ich erkannte den ehrenwerten Ratsherrn Edmund Carver; zwei Jahre zuvor hatte ich einen Fall für ihn vor Gericht gewonnen. Er schien sich nicht recht wohl zu fühlen in seiner Rüstung, rutschte unbehaglich im Sattel hin und her. Er war ein Mitglied der Tuchhändlergilde und hatte eine besondere Schwäche für erlesene Tafelfreuden. Neben ihm standen zwei weitere Soldaten in der Uniform der Trained Bands; der eine hielt eine lange Messingtrompete in Händen, der andere eine Hellebarde. In der Nähe stand im schwarzen Wams ein Schreiber, das tragbare Schreibpult mit einem Packen Papier darauf vor den Bauch geschnallt.

Der Soldat mit der Hellebarde legte die Waffe zu Boden und griff sich ein halbes Dutzend lederne Köcher. Alsdann lief er an der vordersten Reihe der Rekruten entlang und legte in einer Linie Pfeile auf dem Boden aus. Der verantwortliche Hauptmann behielt die Männer unterdessen abschätzend im Auge. Er war vermutlich ein Berufssoldat, wie jene, die vier Jahre zuvor den Königlichen Tross nach York begleitet hatten. Mittlerweile hatte er sich wohl den Trained Bands angeschlossen, einem Freiwilligenkorps, das einige Jahre zuvor in London gegründet worden war und an den Wochenenden das Soldatenhandwerk übte.

Er rief mit lauter, weithin tragender Stimme: »Unser England braucht Männer, die es in der Stunde der größten Gefahr zu verteidigen wissen! Die Franzosen stehen kurz vor der Invasion, um unser Land mit Feuersbrünsten zu verwüsten und unsere Frauen und Kinder zu schänden. Doch erinnern wir uns an die Schlacht bei Azincourt!« Er hielt der dramatischen Wirkung wegen kurz in seiner Rede inne. »Hört, hört!«, rief Carver, und die Rekruten stimmten ein.

Der Offizier fuhr fort: »Seit Azincourt wissen wir, dass ein jeder Engländer es mit drei Franzosen aufnehmen kann! Wir schicken ihnen unsere legendären Bogenschützen! Wer heute rekrutiert wird, erhält einen Harnisch und drei Pence pro Tag!« Sein Ton wurde hart. »Jetzt wollen wir sehen, welche Männer allwöchentlich geübt haben, wie es das Gesetz verlangt, und welche nicht. Letztere könnten stattdessen« – er machte erneut eine dramatische Pause – »den Pikenieren zugeteilt werden, wo sie den Franzmännern im Nahkampf gegenüberstehen! Glaubt also nicht, ihr könntet euch mit einer schwachen Leistung vor dem Kriegsdienst drücken.« Er ließ den Blick über die Männer schweifen, von denen manch einer unbehaglich von einem Fuß auf den anderen trat. Etwas Grobes, Zorniges lauerte im schwarzbärtigen Gesicht des Offiziers.

»Nun denn«, rief er. »Auf das Trompetensignal hin wird ein jeder, so schnell er kann, sechs Pfeile auf das Ziel abschießen. Wir beginnen links vorne. Wir haben eigens für euch eine Puppe gezimmert. Stellt euch vor, es sei ein Franzmann, der eure Mütter schänden will, falls ihr Mütter habt!«

Ich warf einen verstohlenen Blick auf die schaulustige Menge. Ich sah aufgeregte Halbwüchsige und einige ärmlich gekleidete ältere Männer, doch auch etliche junge Frauen mit besorgten Mienen standen dabei, vielleicht die Ehefrauen oder Bräute der versammelten Schützen.

Der Soldat mit der Trompete setzte das Instrument an die Lippen und stieß hinein. Der erste Schütze, ein hübscher, stämmiger Bursche in ledernem Wams, trat zuversichtlich mit seinem Langbogen vor. Er griff sich einen Pfeil und legte ihn ein. Dann neigte er geschmeidig den Oberkörper nach hinten, nahm sein Ziel ins Visier und entsandte in hohem Bogen einen Pfeil über das Feld, der sich mit Wucht in die Franzosenlilie auf der Vogelscheuche bohrte und diese erzittern ließ, als wäre Leben in ihr. In nur einer Minute hatte er weitere fünf Pfeile abgeschnellt, die allesamt die Puppe trafen. Heiseres Jubelgeschrei bei den Kindern. Der Schütze lächelte und spannte die breiten Schultern.

»Nicht schlecht!«, rief der Offizier bärbeißig. »Lass dich registrieren!« Der neue Rekrut ging zum Schreiber hinüber und schwenkte triumphierend den Bogen in Richtung der schaulustigen Menge.

Der nächste war ein hochaufgeschossener, schlaksiger Bursche in weißem Hemd, welcher gewiss noch keine zwanzig Lenze zählte. Er hatte nur einen Ulmenholzbogen und sah bekümmert drein. Er trug, wie mir ins Auge fiel, weder Armschiene noch Fingerschutz. Der Offizier sah voller Ingrimm zu, wie er sich eine verirrte blonde Haarsträhne aus der Stirn strich, sich bückte, einen Pfeil aufhob und ihn einlegte. Mit sichtlicher Mühe spannte er den Bogen und schoss. Der Pfeil flog nicht weit genug, blieb in der Grasnarbe stecken. Durch das Spannen des Bogens war der Bursche aus dem Gleichgewicht geraten und wäre beinah hingeschlagen, ein Umstand, der die Kinder zum Lachen reizte.

Der zweite Pfeil flog weiter, traf die Puppe in die Seite; der Bursche indes schrie auf, krümmte sich vor Schmerz, hielt sich die blutende Hand. Der Offizier vergalt es ihm mit einem grimmigen Blick. »Da hat wohl einer nicht geübt, wie? Lässt den Pfeil nicht einmal ordentlich von der Sehne. Ab mit dir zu den Pikenieren! So ein hochaufgeschossener Kerl wie du ist uns im Nahkampf von großem Nutzen.« Der Bursche machte ein verängstigtes Gesicht. »Steh nicht da und halt Maulaffen feil!«, blaffte der Offizier. »Du hast noch vier Pfeile übrig. Die Leute wollen lachen.«

Ich wandte mich ab. Ich war selbst oft genug gedemütigt worden und hatte keine Freude, wenn andere dergleichen erdulden mussten.

* * *

Die Blumenfrau stand nicht mehr im Innenhof von Lincoln’s Inn. Ich begab mich in die Kanzlei, wo mein junger Schreiber Skelly in der vorderen Amtsstube einige Anweisungen kopierte. Er saß dicht über sein Pult gebeugt und linste durch seine Augengläser auf das Schriftstück.

»Drüben in den Feldern findet eine Musterung statt«, erzählte ich.

Er blickte auf. »Die Trained Bands müssen angeblich tausend Soldaten für die Südküste rekrutieren.« Er sprach leise. »Was glaubt Ihr, Sir, werden die Franzosen wirklich bei uns einfallen?«

»Ich weiß es nicht, Skelly.« Ich lächelte beruhigend. »Aber dich wird man nicht zum Dienst an der Waffe rufen. Du hast eine Frau und drei Kinder, und ohne Brille bist du doch nahezu blind.«

»Bei Gott, das hoffe ich, Sir.«

»Ich bin ganz sicher.« Aber dieser Tage war nichts mehr gewiss.

»Ist Barak noch nicht zurück aus Westminster?«, fragte ich mit einem Blick auf das leere Schreibpult meines Gehilfen. Ich hatte ihn zum Amtsgebäude des Court of Requests geschickt, wo er einige Protokolle abgeben sollte.

»Nein, Sir.«

Ich runzelte die Stirn. »Ich hoffe, Tamasin ist wohlauf.«

Skelly lächelte. »Er wartet gewiss nur vergebens auf eine Fähre über den Fluss, Sir. Ihr wisst doch selbst, wie viele Lastkähne neuerdings darauf verkehren.«

»Das mag sein. Barak soll mir Bescheid geben, wenn er kommt. Ich muss mich wieder an die Arbeit machen.« Ich ging in meine Amtsstube, wohl wissend, dass Skelly mich für überängstlich hielt. Doch Barak und seine Frau Tamasin lagen mir sehr am Herzen. Tamasin hatte ihr erstes Kind verloren und war nun im siebenten Monat schwanger. Ich ließ mich seufzend auf meinem Stuhl nieder und nahm die Klagebegründungen zur Hand, die ich zuvor gelesen hatte. Meine Augen wanderten erneut zu dem Brief, den ich an den Rand meines Schreibtisches geschoben hatte. Ich zwang mich, die Augen abzuwenden, doch bald schon schweiften meine Gedanken zu der Waffenschau, und ich musste an die drohende Invasion denken und an die vielen jungen Männer, die in der Schlacht sinnlos zu Tode kämen.

Ich sah aus dem Fenster und schüttelte lächelnd den Kopf, als ich die lange, dürre Gestalt meines alten Feindes Stephen Bealknap gewahrte, der über den sonnigen Hof schlurfte. Er ging mittlerweile vornübergebeugt, und in seiner schwarzen Barrister-Robe und der weißen Bundhaube erinnerte er an eine gewaltige Elster, die den Boden nach Würmern absucht.

Im selben Moment hob Bealknap jäh den Kopf und starrte über den Hof, und ich sah Barak auf ihn zuhalten, den ledernen Ranzen über die Schulter geworfen. Ich stellte fest, dass sich der Wanst meines Gehilfen unter dem grünen Wams in letzter Zeit ein wenig wölbte. Auch sein Gesicht wies inzwischen eine gewisse Rundlichkeit auf, die seine Züge weicher machte, ihn gleichsam verjüngte. Bealknap machte kehrt und hastete in Richtung Kapelle davon. Der knauserige Sonderling hatte sich vor zwei Jahren mit einem kleinen Geldbetrag bei mir verschuldet. Bealknap, für den es eine Frage des Stolzes geworden war, sich niemals von seinem Geld zu trennen, pflegte seitdem, wann immer er meiner ansichtig wurde, auf dem Absatz kehrtzumachen und davonzueilen. Diese Gewohnheit sorgte inzwischen am Lincoln’s Inn für viel Gelächter. Offensichtlich ging er nun auch Barak aus dem Weg. Mein Gehilfe blieb stehen und blickte breit grinsend hinter dem Davoneilenden her. Ich war erleichtert; demnach war Tamasin nichts zugestoßen.

Einige Minuten später trat Barak zu mir ins Zimmer. »Hast du die Protokolle abgegeben?«, fragte ich ihn.

»Ja. Aber ich hatte Mühe, von Westminster aus ein Boot zu ergattern. Auf dem Fluss wimmelt es nur so von Koggen, die die Truppen mit Vorräten beliefern; die Fährboote mussten ans Ufer rudern, um ihnen auszuweichen. Am Tower liegt außerdem ein gewaltiges Kriegsschiff vertäut. Sie haben es wohl eigens von Deptford hergeschafft, damit die Leute es bestaunen können. Aber ich hörte nicht einen Jubelruf.«

»Die Menschen haben sich eben an den Anblick gewöhnt. Als die Mary Rose und die Great Harry ausliefen, war es anders, da säumten noch Hunderte die Ufer, um ihnen zuzujubeln.« Ich deutete auf den Stuhl vor meinem Schreibtisch. »Nimm Platz. Wie geht es Tamasin heute?«

Er setzte sich und lächelte verlegen. »Übellaunig ist sie. Die Hitze macht ihr zu schaffen, und ihre Füße sind geschwollen.«

»Ist sie immer noch sicher, dass sie ein Mädchen erwartet?«

»O ja. Sie hat irgendeine Zigeunerin gefragt, die gestern in Cheapside auf Geschäfte aus war; und die erzählte ihr natürlich, was sie hören wollte.«

»Und du bist immer noch genauso sicher, dass es ein Knabe wird?«

»Und ob.« Er schüttelte den Kopf. »Tammy gibt keine Ruhe, ums Verrecken nicht. Da mag ich predigen, sooft ich will, dass vornehme Damen acht Wochen vor der Niederkunft in ihren Gemächern bleiben und sich schonen – alles für die Katz!«

»Noch acht Wochen?«

»Guy hat es gesagt. Er kommt sie morgen besuchen. Außerdem sieht die Gevatterin Marris nach ihr. Tammy war froh, mich los zu sein. Sie sagt, ich bemuttere sie.«

Ich lächelte. Ich wusste, dass Barak und Tamasin jetzt glücklich waren. Nach dem Tod ihres ersten Kindes hatten sie schwere Zeiten durchlebt, und Tamasin hatte ihn verlassen. Aber er hatte mit einer Beharrlichkeit um sie geworben, die ich ihm nicht zugetraut hätte. Ich hatte den beiden ganz in der Nähe zu einem Häuschen verholfen, und in Joans Freundin, der Gevatterin Marris, hatten sie eine tüchtige Wirtschafterin. Sie hatte sich ehedem als Säugamme verdingt und war an Kinder gewöhnt.

Ich wies mit dem Kopf zum Fenster. »Ich habe gesehen, wie Bealknap sich trollte, als er deiner ansichtig wurde.«

Er lachte. »Das tut er neuerdings immer. Gewiss hat er Angst, ich könnte ihn nach den drei Pfund fragen, die er Euch schuldet. Was für ein elender Geizkragen!« Seine Augen funkelten böse. »Ihr solltet vier von ihm fordern, den Schuldzins gleich mit dazu.«

»Weißt du, manchmal frage ich mich, ob unser Freund Bealknap noch ganz bei Trost ist. Seit nunmehr zwei Jahren macht er sich zum Narren, indem er zuerst mir und jetzt auch dir aus dem Wege geht.«

»Und scheffelt Geld dabei. Angeblich hat er einen Teil seines Goldschatzes an das Münzamt verkauft, um ihn neu prägen zu lassen und um nun, da Zinseinnahmen erlaubt sind, Geld an jene zu verleihen, die es brauchen, um ihre Steuern zu bezahlen.«

»Ich weiß von Amtsbrüdern, die sich zu diesem Schritt genötigt sahen, um die Abgaben zu zahlen. Zum Glück hatte ich Gold genug. Doch Bealknaps Verhalten zeugt nicht von geistiger Gesundheit.«

Barak sah mich durchdringend an. »Ihr seid allzu schnell bereit, die Leute für geisteskrank zu halten. Ihr verbringt zu viel Zeit mit Ellen Fettiplace. Sie hat Euch einen Brief geschickt. Habt Ihr ihn schon beantwortet?«

Ich winkte ab. »Nicht schon wieder. Ja, das habe ich, morgen gehe ich zu ihr.«

»Sie lebt zwar im Bedlam, hat Euch aber wie einen Fisch an der Angel.« Baraks Blick war ernst. »Ihr wisst, warum.«

Ich wechselte das Thema. »Ich war vorhin spazieren. In den Feldern draußen findet eine Musterung statt. Der Hauptmann drohte, er werde einen jeden, der im Bogenschießen versagt, den Pikenieren zuweisen.«

»Sie wissen genau, dass nur solche regelmäßig üben, die den Bogen gern zur Hand nehmen«, schnaubte Barak verächtlich. »Da mag der König so viele Gesetze erlassen, wie er will. Es ist Schwerstarbeit, und wer es zur Meisterschaft bringen will, braucht Disziplin.« Seine Miene war ernst. »Es hat keinen Zweck, Gesetze zu erlassen, die man nicht durchsetzen kann, weil sie so unbeliebt sind. Lord Cromwell wusste das, er wusste genau, wo er die Grenze zu ziehen hatte.«

»Das Waffengesetz ist dennoch in Kraft. Ich habe noch nie dergleichen erlebt. Und gestern sah ich die Konstabler die Straßen nach Bettelleuten und Vagabunden absuchen, die auf den Galeassen rudern sollen. »Weißt du übrigens schon das Neueste? Angeblich sind französische Truppen in Schottland gelandet und erhalten Verstärkung von den Schotten, die sich ebenfalls gegen uns kehren.«

»Das Neueste!«, schnaubte Barak verächtlich. »Wer bringt solche Gruselgeschichten in Umlauf? Die Beamten des Königs. Und warum? Um das Volk davon abzuhalten, sich gegen den Hof aufzulehnen, wie anno 36. Gegen die Steuern und den Währungsverfall. Hier, seht Euch das an!« Seine Hand glitt in den Beutel. Er holte eine kleine Silbermünze heraus und klatschte sie auf den Tisch. Ich hob sie auf. Und starrte in das feiste Gesicht des Königs.

»Eine der neuen Shilling-Münzen«, sagte Barak. »Ein Testoon.«

»Ich habe noch keine gesehen.«

»Tamasin war gestern mit der Gevatterin Marris auf dem Markt in Cheapside. Dort gibt es sie zuhauf. Seht Euch nur die blasse Färbung an. Dem Silber ist so viel Kupfer beigemengt, dass man nur Waren im Wert von acht Pence dafür erhält. Die Preise für Brot und Fleisch indes steigen ins Unermessliche. Dabei gibt es ohnehin kaum noch Brot zu kaufen, weil der Großteil für die Armee beschlagnahmt wird.« Baraks braune Augen blitzten zornig auf.

»Glaubst du wirklich, dass es die französische Flotte, die uns angreifen will, gar nicht gibt?«

»Keine Ahnung, aber möglich wär’s.« Nach kurzem Zögern sagte er plötzlich: »Ich glaube, sie wollen mich rekrutieren.«

»Was?« Ich richtete mich kerzengerade auf.

»Der Konstabler ging vorigen Freitag mit einem Soldaten von Tür zu Tür und registrierte alle Männer im wehrfähigen Alter. Ich sagte den beiden, dass meine Frau ein Kind erwarte, woraufhin der Soldat nur meinte, ich würde gesund aussehen. Ich schnippte mit den Fingern und jagte ihn zum Teufel. Das Dumme ist nur, dass er gestern zurückkam. Tamasin hat’s mir erzählt. Sie sah ihn durchs Fenster und ging nicht an die Tür.«

Ich seufzte. »Deine Dreistigkeit wird dir noch einmal zum Verhängnis.«

»Tamasin sagte das Gleiche. Aber die Armee nimmt keine verheirateten Männer mit Kindern auf. Zumindest nicht viele.«

»Die Sache ist ernst. Wir stehen kurz vor der Invasion, warum sollte man wohl sonst so viele Soldaten rekrutieren? Sei nur ja auf der Hut.«

Barak sah rebellisch drein. »Alles wäre in bester Ordnung, hätte der König im vorigen Jahr nicht Frankreich überfallen. Vierzigtausend Männer hat er über den Kanal geschickt, und was ist geschehen? Sie mussten mit eingeklemmtem Schwanz den Rückzug antreten, bis auf die armen Teufel, die in Boulogne belagert werden. Ein jeder sagt, wir sollten es gut sein lassen, aus Boulogne abziehen und Frieden schließen, aber der König will nicht. Doch nicht unser Heinrich.«

»Ich weiß. Und ich gebe dir recht.«

»Wisst Ihr noch, wie sich vergangenen Herbst die Heimkehrer aus Frankreich, zerlumpt und pestkrank, auf den Straßen nach London tummelten?« Seine Miene wurde hart. »Tja, das soll mir nicht geschehen.«

Ich blickte auf meinen Gehilfen. Es hatte eine Zeit gegeben, da Barak den Krieg als Abenteuer begrüßt hätte. Nun nicht mehr. »Wie hat der betreffende Soldat ausgesehen?«

»Ein stämmiger Bursche, etwa in Euren Jahren, mit schwarzem Bart, in der Uniform der Londoner Trained Bands. Sah aus, als hätte er bereits gedient.«

»Er war verantwortlich für die Waffenschau. Vermutlich ein Berufssoldat. Mit dem ist nicht gut Kirschen essen, wie mich dünkt.«

»Nun, wenn er alle Rekruten in Augenschein nimmt, ist er hoffentlich zu sehr beschäftigt, um sich mit mir zu befassen.«

»Dein Wort in Gottes Ohr. Falls er doch wiederkommt, musst du es mir sagen.«

»Danke«, sagte er leise.

Ich griff nach dem Brief auf dem Schreibtisch. »Als Gegenleistung hätte ich gern deine Meinung hierzu.« Ich reichte ihm das Schreiben.

»Noch ein Brief von Ellen?«

»Schau dir das Siegel an. Du hast es schon gesehen.«

Er merkte auf. »Das Siegel der Königin. Ist das Schreiben etwa von Master Warner? Ein neuer Fall?«

»Lies«, sagte ich, »ich habe Angst davor.«

Barak faltete den Brief auf und las ihn vor.

Ich hätte gern Euren persönlichen Rat zu einem bestimmten Fall, eine private Angelegenheit. Bitte trefft mich morgen hier in Hampton Court, um drei Uhr am Nachmittag.

»Die Unterschrift –«

»Ich weiß. Stammt von Ihrer Majestät, nicht von Warner.«

Barak las das Schreiben noch einmal. »Es ist ziemlich kurz. Aber es soll um eine Rechtsangelegenheit gehen. Nicht um Politik.«

»Ich weiß. Aber die Sache ist offenbar dringend, wenn sie mich an einem Sonntag zu sich bestellt. Ich muss immerzu an voriges Jahr denken, als die Königin Warner gebeten hatte, jenen Verwandten ihres Dieners zu vertreten, den man der Ketzerei bezichtigt hatte.«

»Sie hat aber doch versprochen, Euch mit solchen Angelegenheiten zu verschonen. Und sie hält ihre Versprechen.«

Ich nickte. Vor über zwei Jahren, als Königin Catherine Parr noch Lady Latimer hieß, hatte ich ihr das Leben gerettet. Seitdem war sie meine Schutzherrin und hatte mir versprochen, mich nie mehr in politische Angelegenheiten hineinzuziehen.

»Wann habt Ihr sie zuletzt gesehen?«, fragte Barak.

»Im Frühjahr. Sie gewährte mir eine Audienz in Whitehall, um mir zu danken, weil ich diesen verworrenen Fall bezüglich ihrer Güter in den Midlands gelöst hatte. Dann schickte sie mir im vorigen Monat ihr Buch. Weißt du noch? Ich habe es dir gezeigt. Gebete und Meditationen.«

Er zog eine Grimasse. »Trübselige Faselei.«

Ich lächelte traurig. »Ja, in der Tat. Wer hätte gedacht, dass so viel Schwermut in ihr ist. Sie legte mir eine persönliche Nachricht bei, in der sie ihre Hoffnung zum Ausdruck brachte, das Buch möge mich mit Gott versöhnen.«

»Sie hat Euch noch nie Verdruss bereitet. Es handelt sich gewiss nur um eine gerichtliche Verfügung, Ihr werdet schon sehen.«

Ich lächelte ihm dankbar zu. Barak hatte die Kehrseite der Politik von klein auf kennengelernt, und ich wusste seine Beschwichtigung zu schätzen.

»Die Königin und Ellen Fettiplace, zwei hohe Damen an einem Tag!«, scherzte er. »Da habt Ihr alle Hände voll zu tun.«

»O ja.« Ich nahm den Brief an mich. Der Gedanke, mich wieder nach Hampton Court begeben zu müssen, verursachte mir Magenschneiden.

kapitel zwei

Es war später Nachmittag, als ich meine letzte Prozess-Information zu Ende gebracht und meine Niederschrift mit Sand bestreut hatte. Barak und Skelly waren bereits nach Hause gegangen, und auch ich machte mich allmählich auf den Heimweg, die Chancery Lane entlang.

Es war ein ausnehmend schöner Sommerabend. Vor zwei Tagen war Mittsommernacht gewesen, allerdings auf königlichen Erlass ohne die üblichen Feiern und Freudenfeuer. Man hatte in der Stadt eine Ausgangssperre verhängt und für die Nacht zusätzliche Wachschichten angeordnet, weil die Angst umging, französische Spione könnten Feuer legen.

Als ich an meinem Haus anlangte, schoss mir durch den Sinn, dass ich dieser Tage beileibe nicht mehr mit derselben Freude heimkehrte wie zu der Zeit, da Joan noch gelebt hatte; stattdessen regte sich nagender Ärger. Ich schloss die Türe auf. Josephine Coldiron, die Tochter meines Stewards, stand auf der Schilfmatte in der Eingangshalle, die Hände vor der Brust gefaltet und einen leeren, leicht bekümmerten Ausdruck im runden Gesicht.

»Guten Abend, Josephine«, sagte ich. Sie knickste und wackelte mit dem Kopf. Eine Strähne ihres ungewaschenen blonden Haares entschlüpfte der weißen Haube und baumelte ihr über die Augenbraue. Sie wischte sie fort. »Verzeiht, Sir«, sagte sie hastig.

Ich sprach sanft, da ich wusste, dass sie Angst vor mir hatte. »Wann gibt es Abendbrot?«

Sie sah schuldbewusst drein. »Ich habe noch nicht angefangen, Sir. Um das Gemüse vorzubereiten, brauche ich die Hilfe der Jungen.«

»Und wo sind Peter und Timothy?«

Josephine erschrak. »Äh, bei Vater, Sir. Ich hole sie.«

Mit flinken, trippelnden Schritten hastete sie in die Küche wie eine aufgeregte Maus. Ich begab mich in die Wohnstube.

Mein alter Freund Guy, der gegenwärtig Gast in meinem Hause war, saß auf einem Stuhl und sah aus dem Fenster. Er wandte sich um, als ich eintrat, wagte ein kleines Lächeln. Guy war ein Medikus, ein Mann von Stand; doch hatte dies eine Meute Lehrburschen, auf der Suche nach französischen Spionen, eines Nachts vor zwei Monaten nicht davon abgehalten, sein Haus unweit der Old Barge zu verwüsten. Sie hatten sämtliche medizinischen Schriften, die er über die Jahre verfertigt hatte, in Fetzen gerissen und ihm sein gesamtes Inventar zertrümmert. Guy war nicht im Hause gewesen, sonst hätten sie ihm den Garaus gemacht. Dass Guy spanischer Herkunft war, hatte die Eindringlinge nicht weiter gestört; mit seinem dunklen Gesicht und der fremdländischen Art zu sprechen war er weithin bekannt. Seit ich ihn bei mir aufgenommen hatte, war er in eine tiefe Schwermut versunken, die mir Sorgen bereitete.

Ich stellte meine Tasche auf den Boden. »Wie geht es dir, Guy?«

Er hob die Hand zum Gruß. »Ich sitze hier schon den ganzen Tag. Es ist seltsam; ich dachte immer, ohne Arbeit würde die Zeit viel langsamer vergehen, dabei rinnt sie mir förmlich durch die Finger.«

»Barak sagt, Tamasin mache die Hitze zu schaffen.«

Mit Erleichterung bemerkte ich einen Funken Interesse in seinem Blick. »Ich sehe sie mir morgen an. Ich bin sicher, sie ist wohlauf, aber es wird sie beide beruhigen. Barak zumindest. Tamasin bewältigt ihre Schwangerschaft spielend.« Er zögerte. »Ich habe sie hierherbestellt, hoffentlich war das nicht anmaßend von mir.«

»Aber nein. Und du bist mir hier willkommen, solange du willst, das weißt du doch.«

»Danke. Wenn ich in mein Haus zurückkehre, geschieht ja doch bald wieder dasselbe. Die Stimmung gegen Fremde wird von Tag zu Tag giftiger. Schau dir das an.« Er deutete aus dem Fenster.

Ich trat neben ihn und sah hinaus in den Garten. Mein Steward, William Coldiron, stand auf dem Fußweg; er hatte die Hände in die mageren Hüften gestemmt und das leichenblasse Gesicht mit den grauen Bartstoppeln grimmig verzogen. Meine zwei Küchenjungen, der lange vierzehnjährige Peter und der kleinere zwölfjährige Timothy, übten im Garten steif den soldatischen Stechschritt, ein jeder mit einem Besenstiel über der Schulter. Coldiron beobachtete die beiden scharf – mit einem Auge, das andere verdeckte ein großer schwarzer Flicken. »Rechts um, marsch!«, kommandierte er, und die Jungen gehorchten unbeholfen. Ich hörte Josephine aus der Küche rufen. Coldiron wandte jäh den Blick und entdeckte uns am Fenster der Wohnstube. Ich öffnete es und rief streng: »William!«

Coldiron wandte sich an die Jungen. »Geht ins Haus und bereitet dem Herrn das Essen«, bellte er. »Wie komme ich dazu, hier meine Zeit mit euch zu verplempern!« Die Jungen sahen ihn entrüstet an.

Ich wandte mich an Guy. »Herrgott, dieser Mensch!« Guy schüttelte müde den Kopf. Einen Augenblick später erschien Coldiron in der Tür. Er verneigte sich und nahm dann steif Haltung an. Wie immer vermied ich es, ihm ins Gesicht zu sehen. Eine lange, tiefe Narbe verlief vom schütteren Haaransatz quer über die Stirn und unter der Augenbinde hindurch bis hinunter zum Mundwinkel. Er habe vor dreißig Jahren, in der Schlacht bei Flodden gegen die Schotten, einen Schwerthieb einstecken müssen, hatte er mir erzählt. Und ich hatte den Entstellten aus lauter Mitleid in meine Dienste aufgenommen. Obendrein verlangte er nicht viel Lohn, und da ich dem König zwei große Steuerzahlungen schuldete, musste ich ein wenig haushalten mit meinem Geld. In Wirklichkeit aber hatte ich ihn von Anfang an nicht sonderlich gemocht.

»Was hattet Ihr da draußen mit den Jungen zu schaffen?«, fragte ich. »Josephine sagt, es sei noch nichts für das Nachtmahl bereitet.«

»Mit Verlaub, Sir«, entgegnete er gewandt. »Es war nur, weil ich Simon und Peter von meiner Soldatenzeit erzählen sollte. Gott segne die beiden, sie wollen ihr Land vor der Invasion schützen. Ich musste mit ihnen den Soldatendrill üben.« Er breitete die Hände aus. »Sie haben mir keine Ruhe gelassen. Dass ich einst gegen die Schotten kämpfte und deren König Jakob den Garaus machte, bringt ihr Blut in Wallung!«

»Wollen sie uns etwa mit dem Besenstiel gegen die Franzosen verteidigen?«

»Bald kommt die Zeit, da selbst solche Grünschnäbel zu Piken und Hellebarden greifen müssen. Die Schotten, heißt es, wollten wieder ihre alten Sperenzchen mit uns treiben, schickten sich an, gegen England zu ziehen, während die Franzmänner uns von Süden her bedrohen. Ich glaube den Gerüchten, denn ich kenne sie, die Rotschenkel. Und wenn ausländische Spitzel in London Feuer legen –« Sein Blick streifte Guy von der Seite, so rasch, dass es kaum zu bemerken war; Guy jedoch sah es und wandte sich ab.

»Lasst mir Timothy und Peter künftig in Ruhe«, sagte ich barsch. »Und wenn Euer Soldatenwissen noch so umfangreich ist, hier bei mir habt Ihr Euch nur um das Hauswesen zu kümmern!«

Coldiron zuckte mit keiner Wimper. »Gewiss, Sir. Ich lasse mich nicht mehr von den zwei Burschen bedrängen.« Mit einem tiefen Bückling verließ er den Raum. Ich starrte auf die geschlossene Tür.

»Er selbst hat die Jungen zum Exerzieren in den Garten beordert«, empörte sich Guy. »Ich habe es gesehen. Timothy zumindest hatte keine Freude daran.«

»Dieser Mann ist ein Lügner und ein Lump.«

Guy lächelte traurig. »Du glaubst also nicht, dass er den Schottenkönig eigenhändig umgebracht hat?«, fragte er verwundert.

Ich schnaubte verächtlich. »Jeder englische Soldat, der in Flodden kämpfte, behauptet von sich dasselbe. Ich spiele mit dem Gedanken, ihn vor die Tür zu setzen.«

»Du tätest gut daran«, pflichtete Guy mir bei, der normalerweise doch die Langmut selbst war.

Ich seufzte. »Es ist Josephine, um die es mir leidtut. Coldiron tyrannisiert sie genauso wie die Jungen.« Ich strich mir übers Kinn. »Ich muss übrigens morgen das Bedlam aufsuchen und nach Ellen sehen.«

Er sah mich aus traurigen Augen unverwandt an. »Wenn du ein jedes Mal gelaufen kommst, sobald sie angibt, sie sei krank – nun ja, auf Dauer tust du euch beiden keinen Gefallen damit. Und wenn sie noch so sehr leidet, so hat sie doch nicht das Recht, dich in dieser Weise nach ihrer Pfeife tanzen zu lassen.«

* * *

Tags darauf machte ich mich zeitig auf den Weg zum Tollhaus. Am Abend davor hatte ich, was Ellen betraf, endlich einen Entschluss gefasst. Der Plan gefiel mir nicht, aber ich hatte keine Wahl. Ich legte Robe und Reitstiefel an, griff mir die Gerte und ging in den Stall. Ich würde durch die Innenstadt reiten, wo die Gassen breiter und gepflastert waren. Genesis hatte die Nase im Futterkübel stecken. Timothy, dessen Pflichten auch den Stall umfassten, tätschelte ihm die Kruppe. Als ich eintrat, hob der Wallach den Kopf und wieherte mir entgegen. Ich streichelte ihm über die Wange und den stacheligen Bart. Er war seit nunmehr fünf Jahren bei mir; als ich ihn bekommen hatte, war er noch ein junger Wallach gewesen. Jetzt war er ein reifes, friedliches Tier. »Hast du ihm die Kräuter ins Futter gemischt, wie ich es dir aufgetragen habe?«, fragte ich Timothy.

»Ja, Sir, und sie schmecken ihm gut.« Timothys zahnlückiges Lächeln ging mir zu Herzen. Er war ein Waisenkind, hatte keinen Menschen außer mir, und ich wusste, dass er Joan schmerzlich vermisste. Ich nickte und sagte freundlich: »Timothy, wenn Master Coldiron euch beide noch einmal exerzieren lässt, dann sagt ihm, ich hätt’ es euch verboten, hast du mich verstanden?«

Der Junge sah verstört drein, trat von einem Fuß auf den anderen. »Er sagt, dergleichen zu lernen sei wichtig für uns, Sir.«

»Nun, und ich sage, ihr seid noch zu jung. Jetzt sei brav und hole mir die Aufsteigehilfe.« Dieser Mensch muss aus dem Haus, dachte ich bei mir.

* * *

Ich ritt den Holborn Hill hinunter und verließ die Stadt durch das Newgate, in dessen unmittelbarer Nähe sich das finstere, rußgeschwärzte Gefängnisgemäuer befand. Vor dem Eingang zum alten Christ’s Hospital hatten zwei Hellebardiere Haltung angenommen. Neuerdings diente das einstige Spital, wie andere Klosterbauten, als königliches Zeughaus. Ich dachte wieder an den Plan meines Freundes Roger, die Inns of Court sollten ein neues Armenspital gründen. Ich hatte versucht, die Arbeit nach seinem Tode weiterzuführen, aber die Steuerlast zur Finanzierung der Kriege war so gewaltig, dass ein jeder knapste und knauserte.

Auf dem Weg durch die Shambles, das Schlachthausviertel, wurde ein Schwall Gänsefedern unter einem Tor hindurch auf die Gasse gefegt, was Genesis ein ängstliches Schnauben entlockte. Auch Blut sickerte auf die Straße. Neuerdings herrschte ein großer Bedarf an Pfeilen für die Waffenkammern des Königs, und so wurden wohl gerade Gänse geschlachtet für die erstklassigen Federn, die die Armbruster und Pfeilmacher zu verwenden pflegten. Ich dachte an die Musterung, der ich tags zuvor beigewohnt hatte. 1500 Männer waren in London bereits rekrutiert und gen Süden verschickt worden, ein gewaltiges Kontingent für die sechzigtausend Seelen in London. Und Ähnliches galt auch für andere Landesteile; ich hoffte inständig, jener Offizier mit den harten Zügen möge Barak vergessen.

Ich ritt weiter, gelangte auf die breite Cheapside, die von Werkstätten, öffentlichen Gebäuden und den Wohnhäusern wohlhabender Kaufleute gesäumt war. Es war Sonntag, und normalerweise wäre der Markt geschlossen, aber der König hatte Weisung gegeben, ihn in Notzeiten auch an Feiertagen offen zu lassen, vermutlich um die neuen Münzen möglichst schnell unter die Leute zu bringen. Ein Prediger – mit langem grauen Bart, wie es bei den Bibeltreuen neuerdings Brauch geworden war – stand auf den Stufen zum Cheapside-Kreuz und deklamierte mit lauter Stimme: »Gott ist mit uns, denn die Franzosen und Schotten sind nichts als Papistenknechte im Krieg des Teufels gegen den wahren Glauben!« Vermutlich ein Radikaler, der ohne Genehmigung predigte. Noch vor zwei Jahren hätte man seinesgleichen ergreifen lassen und in den Kerker geworfen; jetzt aber wurden sie, um ihrer leidenschaftlichen Kriegshetze wegen, sogar ermutigt. Stadtkonstabler in roten Uniformen, Stöcke über der Schulter, patrouillierten in den Gassen. Die jüngeren waren bereits in den Krieg gezogen, nur die älteren waren noch übrig. Diese Greise spähten unentwegt in die Menge, als könnten ihre Triefaugen jederzeit einen französischen oder schottischen Spitzel dabei ertappen, wie er – ja was denn, das feilgebotene Grünzeug vergiftete? Es gab ohnedies erschreckend wenig zu kaufen, da ein Großteil, wie Barak erzählt hatte, für die Armee requiriert worden und die Ernte im Vorjahr mager ausgefallen war. An einem der Stände lagen Früchte aus, die entfernt an Schafskötel erinnerten, sich dann bei näherer Betrachtung jedoch als Pflaumen entpuppten. Seit der König die Freibeuterei gegen Franzosen und Schotten erlaubt hatte, gab es auf unseren Märkten allerlei Kuriositäten zu bestaunen. Ich entsann mich des allgemeinen Freudentaumels im Frühjahr, als der Seeräuber Robert Renegar auf einem spanischen Schiff, welches mit Gold aus dem fernen Indien vollbeladen gewesen, die Themse heraufgesegelt war. Ungeachtet der wütenden Spanier feierte man ihn bei Hofe wie einen Helden.

Ein zorniger Unterton, der sich von dem üblichen Gezänk unterschied, schwang in dem Gefeilsche, welches ringsum auf dem Marktplatz im Gange war. Vor einem Gemüsestand hielt ein feistes, rotwangiges Weib dem Händler einen Testoon unter die Nase, und die weißen Flügel ihrer Haube bebten vor Zorn.

»Das da ist ein Shilling!«, rief sie. »Da, der Kopf Seiner Majestät!«

Der Händler stützte sich mit beiden Armen auf die Auslage und beugte sich verdrossen zu ihr vor. »Euer Testoon besteht doch fast zur Hälfte nur aus Kupfer! Sein Wert beträgt, wenn’s hoch kommt, acht alte Pence! Das ist doch nicht meine Schuld! Ich habe das Gelümp nicht geprägt!«

»Mit dem Gelümp, wie du es nennst, verdient mein Gemahl unser Brot! Und du verlangst einen Penny pro Sack für dein schäbiges Geraffel!« Sie hob einen kleinen Kohlkopf auf und wedelte ihm damit vor der Nase herum.

»Der Sturm hat die Ernte verhagelt! Das wisst Ihr genau! Was beklagt Ihr Euch bei mir!« Mittlerweile brüllte auch der Gemüsehändler, sehr zur Freude einiger zerlumpter Bengel, die sich nebst einem mageren Köter eingefunden hatten, der die Bande verbellte. Die Frau warf den Kohl in die Kiste zurück. »Ich finde anderswo bessere Ware!«

»Aber bestimmt nicht für Euren wertlosen Kümmerling!«

»Es sind doch immer die Ärmsten, die das Nachsehen haben«, jammerte sie. »Wohlfeil ist nur die Arbeit unserer Hände!« Sie wandte sich ab, und ich sah Tränen in ihren Augen. Der Hund folgte ihr, sprang ihr bellend um den schäbigen Rock. Unmittelbar vor meinem Pferd fuhr sie herum und versetzte ihm einen Tritt, dass Genesis erschrocken zurückwich. »So gebt doch Acht, Weib!«, rief ich aus.

»Federfuchser!«, versetzte sie. »Buckliger Blutsauger, der Ihr seid! Ihr habt gewiss keine hungrigen Mäuler zu stopfen! Der Teufel soll Euch holen, und den König gleich dazu!« Im selben Moment wurde ihr bewusst, was sie gesagt hatte, und sie blickte ängstlich um sich, doch es waren keine Konstabler in der Nähe. Also ging sie davon, wobei die leere Tasche ihr bei jedem Schritt gegen den Rock schlug.

»Ruhig, mein Braver«, sagte ich zu Genesis. Ich seufzte. Eine Schmähung meiner Gestalt traf mich nach all den Jahren noch immer wie ein Dolchstich in die Eingeweide, aber gleichzeitig war ich auch dankbar: Obschon ich wie andere Männer meines Standes gegen die hohen Steuern wetterte, verfügte ich noch immer über ausreichend Geld, um Essen auf den Tisch zu bringen. Warum ließen wir uns allesamt vom König auspressen wie die Zitronen? Ganz einfach: weil die Angst vor der Invasion noch größer war.

Ich ritt die Poultry hinunter. An der Ecke zur Three Needles Street stand in den hellblauen Kitteln ein halbes Dutzend Lehrburschen, die Hände am Gürtel, und warf bedrohliche Blicke auf die Passanten. Ein vorübergehender Konstabler schenkte ihnen keinerlei Aufmerksamkeit. Nachdem sie noch bis vor kurzem die Plage der Obrigkeit gewesen waren, galten sie jetzt als höchst willkommener zusätzlicher Schutz gegen feindliche Spione. Von solchen Burschen war auch Guys Apotheke verwüstet worden. Als ich am Bishopsgate erneut die Stadtmauer passierte, fragte ich mich bitter, ob ich in ein Tollhaus unterwegs war oder eines hinter mir ließ.

* * *

Ich war Ellen Fettiplace vor zwei Jahren zum ersten Male begegnet. Damals hatte ich einen Mandanten besucht, einen jungen Burschen, der von religiösem Wahn befallen, im Bedlam eingesperrt gewesen war. Zunächst war Ellen mir gesünder erschienen als die übrigen Insassen. Man hatte sie sogar mit bescheidenen Pflichten betraut, hatte ihr die Versorgung einiger Mitpatienten überlassen, um die sie sich rührend kümmerte, und ihr Einfluss war nicht unerheblich gewesen für die rasche Genesung meines Mandanten. So hatte ich mit einigem Erstaunen von der Art ihres Leidens erfahren – eine entsetzliche Angst, die sie befiel, sobald sie auch nur einen Fuß vor die Tür des Tollhauses setzte. Ich war selbst einmal Zeuge ihrer wilden, ungebärdigen Furcht geworden. Ellen dauerte mich noch mehr, als ich die Ursache ihrer rasenden Angst erfuhr: Jemand hatte sie unweit ihres Vaterhauses in Sussex überfallen und ihr Gewalt angetan. Damals war sie sechzehn Jahre alt gewesen; jetzt war sie fünfunddreißig.

Nachdem mein Mandant aus dem Bedlam entlassen worden war, bat Ellen mich, sie bisweilen zu besuchen und ihr zu berichten, was es in der Welt draußen Neues gab. Ich wusste, dass niemand sonst sie besuchte, und erklärte mich unter einer Bedingung dazu bereit: Sie sollte sich von mir helfen lassen, vor die Tür zu gehen. Seit damals hatte ich unzählige Strategien erprobt, sie bekniet, doch wenigstens einen Schritt vor die offene Tür zu tun, hatte ihr versprochen, Barak und ich würden sie in die Mitte nehmen, sie ermuntert, mit geschlossenen Augen hinauszugehen – Ellen jedoch hatte das Wagnis immer wieder hinausgezögert und mich mit einer schlauen Beharrlichkeit vertröstet, welche die meine bei weitem übertraf.

Und allmählich hatte sie jene Schläue, ihre einzige Waffe in einer feindlichen Welt, anderweitig genutzt. Zunächst hatte ich versprochen, sie »von Zeit zu Zeit« zu besuchen, doch sie hatte die Formulierung mit geradezu juristischer Raffinesse zu ihren Gunsten zurechtgebogen, indem sie mich veranlasste, einmal im Monat zu kommen, dann alle drei Wochen, da sie nach Neuigkeiten lechze, dann alle zwei. Versäumte ich einen Besuch, erreichte mich umgehend die Nachricht, sie liege krank darnieder; eilte ich dann hastig zu ihr, hatte sie sich wie durch ein Wunder erholt, saß fröhlich am knisternden Feuer und beruhigte irgendeinen verstörten Insassen. Und in den vergangenen Monaten hatte es mir endlich gedämmert, dass das Problem eine weitere Komponente hatte, die ich längst hätte erkennen müssen. Ellen war in mich verliebt.

* * *

Die Leute hielten das Bedlam für eine finstere Festung, in der Geisteskranke kettenrasselnd hinter Gitterstäben ächzten. Einige waren in der Tat angekettet, viele ächzten auch, doch die graue Steinfassade des langen, niedrigen Bauwerks hatte durchaus ihren Reiz. Man näherte sich der Pforte über einen breiten Innenhof, der heute leer war bis auf einen hochgewachsenen, mageren Mann im schmutzigen grauen Wams. Er ging beständig im Kreis herum, wobei er den Boden fixierte und in einem fort die Lippen bewegte, ohne einen Laut von sich zu geben. Er war offenbar ein neuer Insasse, vermutlich aus wohlhabendem Hause, der den Verstand verloren hatte und dessen Angehörige die Gebühren aufbringen konnten, ihn hier verpflegen zu lassen, wo er ihnen nicht im Wege war.

Ich klopfte an die Tür. Und sogleich ließ Hob Gebons, einer der Wärter, mich ein, einen großen Schlüsselbund am Gürtel. Gebons, ein feister, stummelkurzer Mann in den Fünfzigern, war nur ein Schließer; um die Kranken kümmerte er sich nicht, traktierte sie allenfalls mit beiläufiger Grausamkeit. Mir dagegen brachte er ein wenig Respekt entgegen, seit ich seinem Dienstherrn, dem Oberaufseher Edwin Shawms, die Stirn geboten hatte, dessen Grausamkeit nicht beiläufig war. Außerdem war Gebons bestechlich. Als er meiner ansichtig wurde, trat ihm ein hämisches Grinsen ins Gesicht, das seine grauen Zähne zum Vorschein brachte.

»Wie geht es ihr heute?«, fragte ich ihn.

»Ist munter wie ein Lämmchen, Sir, seit Ihr Euer Kommen angekündigt habt. Bis dato wähnte sie sich von der Pest befallen. Shawms war wütend, als er sah, wie heftig sie schwitzte – und weiß Gott, das tat sie –, da uns ja die Quarantäne drohte. Dann erreichte uns Euer Schreiben, und binnen einer Stunde war sie genesen.« Er bedachte mich mit einem spöttischen Blick. »Ich würde es ein Wunder nennen, wenn die Kirche noch Wunder erlaubte.«

Ich trat ein. Sogar an diesem heißen Sommertag fühlte die Luft im Bedlam sich klamm an. Linker Hand stand die Tür zur Stube halb offen. Einige Patienten saßen um einen zerschrammten alten Tisch und würfelten. Auf einem Hocker in der Ecke kauerte leise weinend eine alte Frau, eine hölzerne Puppe an die Brust gedrückt. Die anderen Kranken schenkten ihr keinerlei Beachtung; hier gewöhnte man sich schnell an derlei Nöte. Zur Rechten befand sich der lange steinerne Korridor, von dem die Krankenzimmer abgingen. Jemand hämmerte von innen gegen eine der Türen. »Lasst mich hinaus!«, tönte eine Männerstimme.

»Ist Aufseher Shawms im Haus?«, fragte ich Hob leise.

»Nein. Er ist zu Sir Metwys gefahren.«

»Ich möchte Euch kurz sprechen, sobald ich bei Ellen war. Ich kann nur eine halbe Stunde bleiben. Ich habe noch eine Verabredung, die ich einhalten muss.« Ich griff an meinen Gürtel und klimperte vielsagend mit den Münzen im Beutel. Ich steckte ihm stets kleinere Beträge zu, um sicherzustellen, dass Ellen anständig zu essen und ein ordentliches Bettzeug bekam.

»Also schön. Ich bin im Kontor. Sie ist in ihrer Kammer.«

Ich brauchte ihn nicht zu bitten, mir die Zelle aufzuschließen. Eines war gewiss bei Ellen: sie würde nie und nimmer davonlaufen.

Ich ging den Flur entlang und klopfte an ihre Tür. Strenggenommen schickte es sich nicht, zu einer unverheirateten Frau in die Kammer zu treten, doch im Bedlam waren die gesellschaftlichen Regeln ein wenig gelockert. Sie bat mich hinein. Sie saß auf ihrem Strohlager, trug ein sauberes, tief dekolletiertes blaues Kleid, die anmutigen Hände im Schoß gefaltet. Ihr schmales Gesicht mit der vornehm gebogenen Nase war ruhig, nur ihre dunkelblauen Augen waren geweitet und blickten mich leidenschaftlich an. Sie hatte sich das lange braune Haar gewaschen, doch die Spitzen waren schieder und fransig. Dergleichen bemerkt kein verliebter Mann. Und genau darin lag das Problem.

Sie lächelte, dass die großen weißen Zähne blitzten. »Matthew! Ihr habt meine Nachricht erhalten. Mir war hundeelend.«

»Und jetzt geht es Euch besser?«, fragte ich. »Gebons sagte, Ihr wäret im Fieber gelegen.«

»O ja. Ich fürchtete schon, es sei die Pest.« Sie lächelte nervös. »Ich hatte Angst.«

Ich setzte mich ihr gegenüber auf einen Stuhl. »Ich sehne mich nach Neuigkeiten von der Welt draußen«, sagte sie. »Ich habe Euch über zwei Wochen nicht gesehen.«

»Knappe zwei Wochen, Ellen«, widersprach ich sanft.

»Und der Krieg? Sie sagen uns nichts, aus Sorge, die Nachricht könnte uns verstören. Aber der alte Ben Tudball darf hinaus, und er hat einen großen Trupp Soldaten vorübermarschieren sehen …«

»Es heißt, die Franzosen hätten eine Flotte ausgeschickt, um bei uns einzufallen. Und der Herzog von Somerset sei mit einer Armee an die schottische Grenze gezogen. Doch das sind nur Gerüchte. Niemand weiß Genaueres. Barak meint, die Gerüchte stammten von den Beamten des Königs.«

»Das muss nicht heißen, dass sie unwahr sind.«

»Nein.« Sie verfügte über einen scharfen Verstand und eine schnelle Auffassungsgabe, dachte ich, und ihr Interesse an der Welt war aufrichtig. Und dennoch saß sie hier fest. Ich schaute durch das vergitterte Fenster in den Hof hinaus und sagte: »Weiter den Flur entlang schlägt jemand gegen die Tür und will hinaus.«

»Ein Neuer. Der Ärmste bildet sich immer noch ein, er wäre gesund.«

Die Luft im Zimmer war zum Schneiden dick. Ich besah mir die Binsenstreu auf dem Boden. »Sie muss ausgetauscht werden«, sagte ich. »Hob sollte sich darum kümmern.«

Sie folgte meinem Blick, kratzte sich verlegen am Handgelenk. »Tja, das sollte er wohl.« Flöhe, dachte ich. Die würde ich mir nun auch holen.

»Warum gehen wir nicht hinaus und stellen uns in den Eingang«, schlug ich ihr vor. »Wir könnten in den Hof hinausblicken. Draußen scheint die Sonne.«

Sie schüttelte den Kopf und schlug die Arme um ihren Leib, als wollte sie die Gefahr von sich abwehren. »Das kann ich nicht.«

»Als ich Euch kennenlernte, konntet Ihr es, Ellen. Wisst Ihr noch, als der König die Königin heiratete? Wir standen in der Tür und lauschten den Kirchenglocken.«

Sie lächelte traurig. »Wenn ich es tue, dann werdet Ihr mich drängen, vor die Tür zu gehen, Matthew, glaubt Ihr, das wüsste ich nicht? Dabei fürchte ich mich doch so sehr. Wisst Ihr das denn nicht?« In ihrer Stimme schwang ein bitterer Unterton, und sie blickte wieder zu Boden. »Erst wollt Ihr mich nicht besuchen, dann kommt Ihr und quält mich. Das ist gegen unsere Vereinbarung.«

»Natürlich besuche ich Euch, Ellen. Selbst wenn ich wie jetzt in Eile bin und eigene Sorgen habe.«

Ihre Miene wurde sanft. »Wirklich, Matthew? Was bedrückt Euch denn?«

»Ellen, wollt Ihr denn den Rest Eures Lebens hier verbringen?« Nach kurzem Zögern fragte ich weiter: »Was würde denn geschehen, wenn Eure Gebühren nicht mehr bezahlt würden?«

Sie erstarrte. »Ich kann nicht darüber sprechen. Das wisst Ihr genau. Es geht über meine Kräfte.«

»Glaubt Ihr, Shawms ließe Euch aus reiner Barmherzigkeit bleiben?«

Sie zuckte zusammen und sagte dann lebhaft, wobei sie mir ins Gesicht blickte: »Ihr wisst genau, dass ich ihm mit den Patienten zur Hand gehe. Ich bin tüchtig darin. Er würde mich weiter hierbehalten. Mehr will ich nicht vom Leben, bis auf –« Sie wandte sich ab, und ich bemerkte Tränen in ihren Augen.

»Also schön«, sagte ich. »Also schön.« Ich stand auf und rang mir ein Lächeln ab.

Auch Ellen lächelte strahlend. »Was gibt es Neues von Baraks Frau?«, fragte sie. »Wann soll das Kind denn kommen?«

* * *

Eine halbe Stunde später verließ ich sie. Zuvor hatte ich ihr versprechen müssen, binnen zwei Wochen wiederzukommen – binnen, nicht nach zwei Wochen: Und wieder hatte sie unsere Vereinbarung zu ihren Gunsten verändert.

Hob Gebons erwartete mich in Shawms’ unaufgeräumtem kleinen Kontor, er saß am Schreibpult, die Hände über dem schmierigen Wams gefaltet. »Wie ist es gelaufen, Sir?«, fragte er.

Ich schloss die Tür. »Ellen war wie immer.« Ich sah ihn an. »Wie lange ist sie nun schon hier? Neunzehn Jahre? Die Regeln besagen, dass ein Patient nicht länger als ein Jahr im Bedlam verbleiben kann, bis dahin muss er geheilt sein.«

»Wer zahlt, der bleibt. Es sei denn, sie machen uns eine Menge Verdruss. Und das ist bei Ellen Fettiplace nicht der Fall.«

Ich zögerte kurz. Aber ich hatte einen Entschluss gefasst: Ich musste herausfinden, wer ihre Angehörigen waren. Ich öffnete den Beutel, hielt eine alte Goldmünze in die Höhe, einen Halfangel. Eine großzügige Bestechungssumme. »Wer zahlt für Ellen die Gebühren, Hob? Wer?«

Er schüttelte fest entschlossen den Kopf. »Ich kann es Euch nicht sagen, und Ihr wisst es auch.«

»Seit ich sie kenne, habe ich nur erfahren, sie sei als junges Mädchen in Sussex überfallen worden und dass man ihr Gewalt angetan habe. Ich weiß außerdem, wo sie aufgewachsen ist – in einem Ort namens Rolfswood.«

Gebons starrte mich aus zusammengekniffenen Augen an. »Wie habt Ihr das herausgefunden?«, fragte er leise.

»Eines Tages erzählte ich ihr vom Bauernhof meines Vaters in Lichfield und erwähnte die große Überschwemmung im Winter des Jahres 1524. Daraufhin sagte sie: ›Damals war ich noch ein Kind. Ich weiß noch genau, wie wir in Rolfswood …‹, woraufhin sie verstummte und nichts mehr sagen wollte. Doch ich habe mich umgehört und erfahren, dass Rolfswood ein Städtchen im Eisenland von Sussex ist, unweit der Grenze nach Hampshire. Ellen will jedoch nichts mehr preisgeben, weder von ihrer Familie noch von dem, was ihr zugestoßen ist.« Ich sah Gebons eindringlich an. »Hat jemand aus ihrer Familie sie überfallen? Ist das der Grund, warum niemand sie besucht?«

Hob starrte auf die Münze, die ich noch immer in die Höhe hielt, dann auf mich. »Ich kann Euch nicht helfen, Sir«, sagte er bedächtig und mit Nachdruck. »Master Shawms hat uns eingebleut, ihn ja nicht über Ellens Herkunft auszufragen.«

»Er muss doch ihre Akten haben.« Ich wies auf das Schreibpult. »Vielleicht hier drin.«

»Es ist abgesperrt, und ich werde nicht derjenige sein, der das Schloss aufbricht.«

Ich musste irgendwie aus diesem Schlamassel herauskommen. »Wie viel, Hob?«, fragte ich. »Nenne deinen Preis.«

»Könnt Ihr mir zahlen, was es kosten würde, mich für den Rest meines Lebens zu erhalten?«, fragte er aufbrausend, das Gesicht rot vor Zorn. »Denn wenn ich Ellens Geheimnis herausfände und es Euch erzählte, fiele es doch gewiss auf mich zurück. Shawms hält die Wahrheit unter Verschluss, und dies bedeutet, er hat Weisung von höherer Stelle. Warden Metwys. Ich stünde auf der Straße. Ich will nicht das Dach über dem Kopf und eine Aufgabe verlieren, die mich ernährt und mir ein wenig Macht verleiht in einer Welt, die nicht viel Federlesens macht mit uns armen Leuten.« Hob klopfte zur Bekräftigung auf den Schlüsselbund an seinem Gürtel und brachte ihn zum Klirren. »Und dies alles, weil Ihr es nicht übers Herz bringt, Ellen zu sagen, wie töricht sie doch ist, wenn sie darauf wartet, dass Ihr jemals zu ihr ins Bett steigt. Wir wissen nämlich genau, dass sie einen Narren an Euch gefressen hat!«, sagte er unwirsch. »Ist Euch nicht klar, dass ein jeder im Bedlam sich schon lustig macht über Euch?«

Ich spürte, wie ich errötete. »Dergleichen will sie gewiss nicht. Wie könnte sie auch, nach dem, was ihr widerfahren ist?«

Wieder zuckte er mit den Schultern. »Bei manchen Weibern schärft es umso mehr das Verlangen, wie man hört. Was sollte sie sonst von Euch wollen?«

»Ich weiß es nicht. Vielleicht träumt sie von höfischer Liebe.«

Er lachte. »So kann man es auch nennen. Sagt ihr doch endlich, dass Ihr kein Interesse an ihr habt. Macht Euch selbst und allen anderen das Leben nicht so schwer.«

»Das kann ich nicht. Es wäre grausam. Ich muss irgendwie einen Ausweg finden, Hob. Ich muss wissen, wer ihre Angehörigen sind.«

»Ein Rechtskundiger wie Ihr hat doch gewiss Mittel und Wege, dergleichen zu ergründen.« Seine Augen wurden schmal. »Ellen ist wirklich nicht ganz bei Trost, glaubt es mir. Es ist nicht nur die Weigerung, hinauszugehen. All diese eingebildeten Krankheiten, und nachts, da hört man sie in ihrer Kammer leise wimmern und Selbstgespräche führen. Wollt Ihr meinen Rat? Geht fort und kommt nicht wieder. Schickt Euren Gehilfen mit der Nachricht her, dass Ihr Euch vermählt habt oder tot seid oder gegen die Franzosen in den Kampf gezogen.«

Ich erkannte, dass Gebons es auf seine Weise gut mit mir meinte. Mit mir, aber nicht mit Ellen. Ellen war ihm einerlei.

»Was würde mit ihr geschehen, wenn ich Euren Rat befolgte?«

Er zuckte mit den Schultern. »Sie würde krank werden. Aber das wird sie auch ohne Euer Zutun. Ihr verlängert nur das Elend.« Er sah mich listig an. »Vielleicht habt Ihr ja Angst, es ihr zu sagen.«

»Du vergisst dich, Gebons«, fuhr ich ihn an.

Er zuckte mit den Schultern. »Tja, ich kann Euch nur eines sagen: Sobald sich ein Kranker etwas fest einbildet, lässt er sich so bald nicht davon abbringen. Glaubt es mir, Sir, ich bin nun schon seit zehn Jahren hier, ich kenne mich aus.«

Ich wandte mich ab. »Wir sehen uns in zwei Wochen.«

Er zuckte mit den Schultern. »Nun gut. So Gott will, gibt sie sich damit zufrieden. Vorerst.«

Ich verließ das Büro und ging aus dem Haus, schloss die Tür hinter mir. Ich war froh, den Gestank an diesem Ort hinter mir zu lassen. Ich muss die Wahrheit über Ellen ergründen, dachte ich, mir wird schon etwas einfallen.

kapitel drei

Ich ritt nach Hause zurück, legte eilig die besten Kleider an und begab mich zu Fuß zur Anlegestelle Temple Stairs, um mich im Boot die zehn Meilen flussaufwärts nach Hampton Court rudern zu lassen. Die Flut war günstig, dennoch tat der Fährmann sich schwer an diesem schwülheißen Morgen. Jenseits von Westminster passierten wir zahlreiche Barkassen, die vollbeladen mit Vorräten – Tuchballen, Korn aus den königlichen Speichern, viele hundert Langbögen – flussabwärts segelten. Da mein schwitzender Fährmann ziemlich maulfaul und daher jeglicher Konversation abhold war, starrte ich über die Felder. Normalerweise färbten die Kornähren sich um diese Zeit allmählich golden, doch nach dem miserablen Wetter der letzten Wochen waren sie immer noch grün.

Mein Besuch bei Ellen drückte mir aufs Gemüt, besonders Hobs Worte über Rechtsanwälte, die Mittel und Wege hätten, Rätsel zu ergründen. Ich hasste den Gedanken, sie zu hintergehen. Doch die gegenwärtige Situation wurde mir langsam unerträglich.

* * *