Der Philosoph und der Kimono - Joyce Shintani - E-Book

Der Philosoph und der Kimono E-Book

Joyce Shintani

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Beschreibung

Dieser Band vereint sämtliche bisher auf Deutsch erschienenen Kurzgeschichten von Joyce Shintani, darunter auch die Kurzgeschichten, die sie unter ihrem Pseudonym Vanessa Araya veröffentlicht hat. Für "Papyri und Tatami" erhielt Joyce Shintani 2018 den Schwäbischen Literaturpreis. "Shintani hat eine Geschichte verfasst, deren rätselhafte Atmosphäre den Leser in ihren Bann zieht. Mit minimalistischen erzählerischen Mitteln gelingt es ihr, den Gegensatz zwischen westlicher und östlicher Kultur in einprägsamen Bildern sichtbar zu machen", so die Jurorin Ulrike Längle in ihrer Laudatio zur Preisverleihung.

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Seitenzahl: 73

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Einleitende Worte

Die hier vereinten Kurzgeschichten habe ich zwischen 2012 und 2018 geschrieben. Heute sehe ich darin zwei Entwicklungslinien: der therapeutische Prozess und die Aneignung von Handwerk.

Die Arbeit an „Road Girl“, der chronologisch ersten Geschichte, begann ich als eine Art therapeutisches Experiment. Ich hatte mich damals bereits einige Jahre lang mit der Diagnose einer Dissoziativen Identitätsstörung (DIS) auseinandergesetzt und versuchte durch das Schreiben, die dahinterstehenden Traumata begreifbar zu machen. Wer war ich als achtjähriges Kind? Wie funktionierte mein Denken? Und der Vater, der mich missbrauchte – was trieb ihn an? Im therapeutischen Sinne habe ich von „Road Girl“ viele Einblicke gewonnen. Vom handwerklichen her betrachtet – besonders in puncto Perspektivwechsel – misslang das Experiment; aber die Motivation, handwerklich voranzukommen, war geweckt.

In der Geschichte „Es war so … “ setzte ich die Ergründung von Kindheitsmissbrauchserinnerungen fort. Diesmal aber fügte ich eigene Erinnerungen und fiktionale Elemente zu einem tragfähigen narrativen Bogen zusammen. Dieser Schritt in die neue Gattung Autofiktion hat mir – gepaart mit wesentlichen Fortschritten im literarischen Handwerk – neue schöpferische Freiheiten eröffnet. Die Aufnahme der Geschichte in der Anthologie des Schwäbischen Literaturpreises 2016 hat mich darin bestärkt, diesen Weg fortzusetzen.

Bei den letzten beiden Geschichten, „Der Philosoph und der Kimono“ und „Papayri und Tatami“, handelt es sich um leicht überarbeitete Kapitel aus meinem Roman Paris Choice (erscheint in Kürze im englischsprachigen Original). Hier treten nun literarische Aspekte wie etwa narrative Einheit, Atmosphäre, erzählerische Mittel ganz in den Vordergrund. „Der Philosoph und der Kimono“ gewann 2016 den zweiten Preis beim Schreibwettbewerb Das Kopfkissenbuch des Autorenhaus-Verlags in Berlin; 2018 wurde „Papyri und Tatami“ mit dem ersten Preis des Schwäbischen Literaturpreises ausgezeichnet.

Ich freue mich, dass diese Geschichten nun in diesem Band versammelt auf Deutsch erscheinen können. Mein Dank gebührt allen, die mir auf dem Weg bis hierher mit Einsatz above and beyond the call of duty geholfen haben, insbesondere meiner langjährigen Therapeutin, Frau Gaby Breitenbach.

Inhalt

Road Girl

Es war so …

Der Philosoph und der Kimono

Papyri und Tatami

Road Girl

Mama weinend neben dem Radio in der Küche. Mama weint nie. „Mama! Was ist los!“

Los Angeles, 17:15 Uhr. Sie hatte am Samstag ihren Psychiater, Dr. Ralph Greenson, angerufen und sich über Schlaflosigkeit beklagt. Er habe ihr geraten, eine Spazierfahrt zu machen, berichtete die Polizei.

Manchmal erzählt Mama die Geschichte, wie ihr Papi starb und danach ihre Mama. Manchmal weint sie.

Dr. Greenson hat einen Schürhaken vom Kamin geholt, ein Fenster eingeschlagen und das Zimmer betreten. Er sagte Kommissar R. E. Byron, dass Frau Monroe bis über die Schultern von einem Laken und einer champagnerfarbenen Decke zugedeckt war.

„Ich weiß es nicht, Engelchen. Ich fühle mich so t-traurig … so a-allein.“

So viele Tränen! Mama hat blonde Haare vorne. Heißt Wasserstoff. Blonde Locken wie eine gehörnte Muschel da über ihr nasses Gesicht.

„Es wird schon gut, mein Herz.“ Sie putzt sich die Nase. „Zurück an die Arbeit! Wie haben keine Zeit zu vergeuden. Hast du deine Wollröcke von der Aussteuertruhe geholt?“

Aus-steuer-tru-he. Der Holzkasten von daheim, der so streng riecht. Tötet die Motten. „Heute ist zu heiß für Wollröcke!“

„Kopf hoch. Ich lege eine Platte auf. Wie wäre es mit Brubecks Take Five …“

So heiß. Besser im schattigen Schlafzimmer wo die Jalousette immer geschlossen bleibt. Oder auf dem Fliesenboden im Badezimmer. Silberfischchen in den Ecken. Bald fängt die Schule wieder an.

„Komm schon, Altkleidersammlung der Heilsarmee nächste Woche und am Wochenende danach eine Einkaufstour in Bevrlyills mit Connie, also sortier deine alten Röcke aus um Platz zu machen. Dalli! Die Babysitterin kommt in drei Stunden und ich muss noch meine Haare machen!“

„Näht Connie diesmal etwas für mich?“

„Das habe ich dir schon erklärt. Du bist zu jung und du wächst zu schnell. Es … lohnt sich nicht, in Kleider für dich zu investieren da du so schnell herauswächst, aber sie wird die Farben koordinieren und die Falten in deinen Röcken verstärken damit sie besser hängen.“

Besser hängen? „Mama, das Telefon.“

„Geh mal ran, es könnte dein Vater sein. Ich muss mit ihm reden. Hallo, Jay? Juni, geh in dein Zimmer, während ich mit deinem Vater spreche.“

Bei Patience legt man eine Figur auf, dann legt man drei Karten um. Drei Karten um. Schwarz geht auf Rot. Rot geht auf Schwarz. Reihen baut man auf Assen. Ein König kommt auf einen leeren Platz. Wenn alle Karten abgelegt sind, ist die Patience aufgegangen. Manchmal geht’s ohne Schummeln, aber eigentlich nie.

Und das, liebe Zuhörer, war unser Samstagsvormittagsprogramm hier auf KPFK, dem freien Pacifica-Runkfunk in Los Angeles – gesendet mit 75.000 Watt von Mount Wilson – mit Werken von Mozart, Beethoven und Brahms.

Mama bewegt ihr Bein über das Pedal. Es heißt Kupplung. „Connie, habe ich dir erzählt, dass die Mädels vom Büro einen Ausflug nach Las Vegas für den Herbst planen?“

„Mmmm mmmm, ja, meine Liebe. Brauchst du dafür neue Kleider? Ich habe einige sehr kurzen Röcke gesehen diese Saison, ich glaube, man nennt sie Miniröcke.“

„Bei meinen Knien?“

„Nun, wie wäre es mit Hosen, du bist ja so groß … weißt du, Courrèges hat Balenciaga verlassen und seinen eigenen Modesalon mit einem Hosenanzug diesen Herbst eröffnet. Ich habe wunderschöne türkisen Bouretteseiden-Muster dabei, die Farbe unterstreicht deine Augen – wir könnten einen Stoff bei Magnins suchen.“

Die Haare von alter Connie fallen runter und sie steckt sie wieder hoch. Sie ist dick und hat Körpergeruch. Kupplung, Gas geben, Schau-in-den-Spiegel. Der schlechte Autogeruch. Wie Tankstellen. „Wie lange noch bis wir da sind? Mir ist schlecht.“

Und jetzt Musik von den Salzburger Festspielen: Verdis Requiem mit Hu-bert van Kray-jan und die Berliner Philharmoniker.

„Der Long Beach Freeway. Long Beach Boulevard, Ausfahrt rechts. Meine Damen und Herren, Compton Boulevard, Ausfahrt 2 Meilen rechts. Bitte links einordnen, Ausfahrt rechts. Imperial Highway, Ausfahrt in 4½ Meilen. Bitte links einordnen … „

„Juni, hör auf mit dem Quatsch!“

„Wieso? Ich bin Radiomoderator und kündige die Ausfahrten an.“

„Sei still! Ich muss mich aufs Fahren konzentrieren.“

„Balenciagas Kostüm steht dir, aber du hast sein Sack-Kleid nicht gemocht,“ sagt Connie. „Der taillierte Chanel-Look passt besser zu dir. Und habe ich’s dir erzählt, Vogue hat einen neuen Herausgeber – eine Frau.“

„Ich überleg mir, ein neues Auto zu kaufen. Ich habe diesen alten Ford, seitdem wir in das Haus vor sieben Jahren eingezogen sind.“

Die Vorderzähne von Connie sind pelzig und rot vom Lippenstift. Sie bewegt die Zunge drüber und schmatzt. „Aber die Farb’ von deinem Auto ist so nett, so, mit dem roten Dach und der Rest grau und so … “

„Ach, dieser alte Mainline. Es gibt ein neues Modell – Falcon. Hast vielleicht die Werbung gsehen, eventuell kauft es Junis Vater für uns.“

„Der Hollywood Freeway. Bitte einordnen, meine Damen und Herren, nach rechts. Die beiden Spuren rechts Ausfahrt zum Hollywood Freeway … “

„Juni, was habe ich gesagt! Muss ich hier anhalten und bis drei zählen? Und was ist mit deinem Sicherheitsgurt – warum bist du nicht angeschnallt? Wie oft muss ich dir das sagen!“

Connie schaut gerade aus auf den Freeway.

„Aber es tut meinem Bauch weh. Ich habe Bauchweh!“

„Azure, wir fahren zuerst nach Bullocks, nicht wahr?“

„Ja, Connie, das hier ist Wilshire Boulevard.“

Ein Farbiger in Uniform kommt, das Auto zu parken. Mama sagt, dass Farbige sind wie Weiße, aber sie riechen anders.

„Behalten Sie das Kleingeld.“

„Meine Güte, Juni, das Labor-Day-Wochenende ist fast schon vorbei, und die Schule fängt am Dienstag an! Sind all deine Blusen gebügelt? Du kannst spät aufbleiben und Bonanza anschauen.“

Wir haben ein neues Bügelbrett das vir-stell-bar ist. Man kann es niedriger stellen. Mit meiner Brille kann ich TV gucken wenn ich bügele. Little Joe ist der Beste, Hoss ist seltsam. Man gibt destilliertes Wasser in das Bügeleisen, stellt es auf Baumwolle und drückt den Dampfknopf. Zuerst macht man den Kragen, Rückseite, dann Vorderseite. Blusen-Bügel-Geruch. Süß. Seifig. Toast. Wolle bügeln riecht nach Kaka. Manchmal wenn Mama bügelt lässt sie einen Fuff fahren und kichert. Sie sagt, Fuff ist kurz für Fu-fu auf Japanisch, aber sie ist weiß. Daddy ist japanisch und er nennt es Fart. Dann bügelt man die Schulter, Manschetten und Ärmel. Zuletzt den Körper. So knittert die Bluse beim Bügeln nicht. „Ich habe die rosa Bluse und die kurzärmelige geschafft.“

„Nun, mach auch die langärmelige und die hellblaue, dann hast du für die ganze Woche. Und morgen kannst du die Schuhe putzen.“

„Schnell, Juni!“ Hast du das Gesicht gewaschen und die Zähne geputzt? Hast du deine Butterbrotdose und deine Thermosflasche mit Milch? Komm, beeil dich, du willst nicht am ersten Schultag zu spät sein! Steig auf die Rückbank ein und schnall dich an. Kein Rumwursteln damit, meine Dame! Ich gehe mit dir heute rein, ich muss mit deiner Lehrerin reden. Da, lauf mal rüber und bring deine Brotzeitdose weg. Guten Tag, Frau Mader. Ich bin Junis Mutter, Frau Shimata.“