Der Planet der verbotenen Erinnerungen - Sebastian Pirling - E-Book

Der Planet der verbotenen Erinnerungen E-Book

Sebastian Pirling

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Beschreibung

In der fernen Zukunft hat der Mensch die gesamte Galaxie besiedelt und sich in ein vollkommen technisiertes Wesen weiterentwickelt. Religionen, Erinnerungen, Träumen und "Schwächen" des alten Menschen wurden abgeschafft. Der junge Benjamin G. Sacharow, ein Gedankendesigner, unternimmt eine Forschungsreise zu dem abgelegenen Agrarplaneten Makoto. Er will dem Gerücht nachgehen, auf dieser Welt der Teeplantagen und Siliziumbäume gäbe es eine geheime Gemeinschaft, die offenbar verbotene Rituale praktiziert. Als er dort eintrifft und das Vertrauen dieser einfachen Menschen gewinnt, begegnet er einer Macht, die alles übersteigt, was er für möglich gehalten hätte: der Macht des Glaubens und der Erinnerung. In einer Welt, in der es keine Religion mehr gibt, versuchen diese Menschen, eine neue Sprache für die Begegnung mit dem Göttlichen zu finden. Doch diese Gemeinschaft ist bedroht - und für Benjamin beginnt das Abenteuer seines Lebens.

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Seitenzahl: 344

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-96140-124-6

© 2019 dieser Ausgabe by Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH, Moers

Einbandgestaltung: Brendow Verlag, Moers

Titelfoto: fotolia Vadimsadovski

Satz: Brendow Web & Print, Moers

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2019

www.brendow-verlag.de

Für die Liebe meines Lebens. Weißt du noch?

Die endgültige Eroberung des Menschen erweist sich als die Abschaffung des Menschen.

C. S. Lewis

Wir harren einer Theophanie, von der wir nichts wissen als den Ort, und der Ort heißt Gemeinschaft.

Martin Buber

INHALT

Cover

Titel

Impressum

1

Die Ausstellung

2

Aufmerksamkeiten

3

Erinnerungen aus der Galaktopole

4

Unterwegs auf dem Salzmeer

5

Persönliche Gründe

6

Das Semesteranfangsbankett

7

Eine neue Begegnung

8

Ankunft auf der Plantage

9

Der Absturz

10

Ein gefährliches Angebot

11

Das unsichtbare Lager

12

Ruhe nach dem Sturm

13

Die Fabel von der Mücke

14

Auf der Kristallwelt

15

Eine alte Liege

16

Abschied von Hamarzad

17

Die Nacht der Worte

18

Das Ende der Gemeinschaft

19

Ein letztes Experiment

20

Nachrichten vom Rand des Müllbergs

Danksagung

Weitere Bücher

Benjamin G. Sacharow neigte den Kopf, ging unter dem silbrig glänzenden Darmtrakt der Künstlerin hindurch und griff sich noch ein Glas Elektrolytsekt. Der Lärm in der vollen Halle, die Gespräche der Ausstellungsbesucher, ihr Gelächter und die laute Musik umspülten ihn. Das Licht der Partysphären, die überall herumschwebten, wurde tausendfach zurückgeworfen von den vielen Metallröhren und chromblitzenden Darmschlaufen, die sich über ihm ins Dunkel hinaufwanden, dorthin, wo man das Hallendach nur noch vermuten konnte. Benjamin hatte schon aufregendere Erinnerungen gebaut, klar, aber das hier war real. Er war wirklich hier, in diesem unmöglichen Raum, der Innen und Außen miteinander vertauscht hatte, und das machte es so besonders.

Benjamin starrte nach oben. Dass diese Röhren und alles andere hier tatsächlich zur Künstlerin gehörten, beeindruckte ihn. Wie war das überhaupt möglich? Er hatte schon von Langstreckenfrachtern auf der Orionroute gehört, deren Kapitäne im Laufe der Jahrhunderte ihren biologischen Anteil immer weiter reduziert hatten, um den «Humanballast», wie sie es nannten, nicht länger warten und nachzüchten zu müssen. Stattdessen hatten sie ihre Körperfunktionen an die Schiffsleitungen angeschlossen und ihre Gehirne an die Memkreise des Stroms, bis sie irgendwann ihre Schiffe nicht mehr bloß flogen, sondern selbst zu ihren eigenen Schiffen geworden waren. Manche von ihnen waren dabei durchgedreht, und man hatte sie schließlich aus der Milchstraße schießen müssen. Aber das hier – dieses Gefunkel aus Tausenden von Körpertechteilen überall um ihn her, erschaffen von einer Person und verbunden mit ihr, das war etwas ganz anderes. Benjamin nahm noch einen Schluck. Hatte er erst hierher nach Makoto, einem der vielen abgelegenen Agrarplaneten des Wega-Mbeke-Sektors der Galaxie, kommen müssen, um so etwas zu sehen? Er blinzelte und machte mit seinen Augen ein paar Bilder. Nicht schlecht für so einen Provinzplaneten, gar nicht schlecht.

<OPEN> nannte sich die Künstlerin, die hier auf Makoto jedes Jahr eine neue Installation schuf. Im Strom war sie eine Berühmtheit, wahrscheinlich der einzige Grund, warum der Rest der Galaktischen Republik den Namen dieses Planeten überhaupt kannte. Diesmal jedoch hatte sie kein aussortiertes Körpertech für ihre Installation eingesetzt, sondern nur einen einzigen Menschen zum Ausstellungsobjekt gemacht. Hier, in einem stillgelegten Fabrikkomplex am Rand der Hauptstadt, hatte <OPEN> ihre eigenen Organe und Körperteile ausgebreitet und ins schier Unermessliche vervielfältigt. Je weiter man in die ehemaligen Produktionshallen hineinging, desto tiefer drang man auch in ihren Körper vor, denn das war die Ausstellung: sie selbst. Jede Halle, jeder Gang, jede Nische in diesem Komplex waren einem Teil ihres Körpers gewidmet. In der halben Stunde, die Benjamin bereits hier war, hatte er nur einen Bruchteil von der Ausstellung gesehen und noch viel weniger davon begriffen.

«Haben Sie …» Der Rest von dem, was sein Begleiter, der Dekan der Technischen Hochschule von Makoto, ihm gerade ins Ohr gerufen hatte, ging im Wummern der Bässe unter.

«Was?», schrie Benjamin zurück. Der Sound wurde durch die Holoeffekte, die das körpereigene nanoorganische künstliche Intelligenzsystem aller Besucher, kurz Noki genannt, mithilfe der Musik erzeugte, noch wilder, lauter und bunter. Auf Benjamin wirkte das schon wieder retro, schließlich hatte er selbst vor noch nicht allzu langer Zeit auf den Unipartys Holosounds aufgelegt und die Noki-Algorithmen dafür selbst programmiert.

«Ob Sie so etwas schon mal erlebt haben!», brüllte ihm der Dekan ins Ohr. Er klang so künstlich euphorisiert wie jemand, der definitiv zu selten feierte und zu oft in endlosen Meetings hockte.

«Ja. Ich meine, nein!», antwortete Benjamin belustigt. Wir sollten, fuhr er mit seiner Stimme fort, subvokal weitersprechen. Dann brauchte der Dekan ihn nicht weiter anzubrüllen und ihm ins Ohr zu pusten.

Die Ausstellung dominiert gerade den Strom auf ganz Makoto. Morgen weiß es der halbe Sektor, sagte der Dekan. Sie müssen sie unbedingt kennenlernen!

Benjamin war ungeduldig. Ein Treffen mit der Künstlerin wäre zwar nett, aber er saß nun schon seit sieben Tagen in der Hauptstadt dieser kleinen Provinzwelt fest. Sieben Tage Verzögerungen bei der Weiterreise, sieben Tage Abweisungen und Terminverschiebungen, sieben Tage immer unangenehmere Verhöre in der Planetenverwaltungsbehörde. Nun ja, das war bei der Menge an Flüchtlingen, die gerade täglich auf Makoto eintrafen, eigentlich kein Wunder. Inzwischen musste ja das benachbarte Demini-System beinahe entvölkert sein. War die Wolke schon bis hierher gekommen? Benjamin konnte es sich nicht vorstellen, auch wenn die Nachrichten über das Konklave, wie die interstellare Wolke inzwischen genannt wurde, in den letzten Tagen immer bedrohlicher geworden waren. Es hieß, sein Linienschiff sei das letzte gewesen, das es vor der Wolke noch ins Makoto-System geschafft hatte. Ihm blieb nicht mehr viel Zeit. Taliesins Gedächtnis brannte in ihm und trieb ihn vor sich her.

Wie sieht es denn mit den Kontakten aus, die Sie mir versprochen haben?, fragte er seinen Begleiter, ohne auf dessen Vorschlag mit der Künstlerin einzugehen.

Dieser wackelte nur mit dem Kopf. Geduld, junger Freund! Ein Teeblatt wächst auch nicht über Nacht. Lassen Sie mich den Kontakt mit der Künstlerin herstellen, und alles andere ergibt sich später. Damit verschwand der Dekan in der Menge.

Benjamin sah sich um. Das Gelächter der Gäste übertönte beinahe die Musik. Bunte Holos flimmerten zwischen ihnen hin und her wie elektrische Funken, Bilder, Clips, Eindrücke, die verschwenderisch mit dem offenen Strom geteilt wurden. Er berührte eine der herabhängenden Röhren. Sie glänzte wie ein Schlauch aus flüssigem Quecksilber, dabei fühlte sie sich kalt und glatt an. In ihrer metallenen Oberfläche sah er sein verzerrtes Spiegelbild, und er zog die Hand wieder weg. Sein sorgfältig modelliertes Haar glänzte schwarz, mitten im Gesicht saß seine Nase, überdimensioniert groß und spitz, ein dem Betrachter entgegengewölbter Vulkan auf einem halbrunden, gesichtsförmigen Kunstplaneten. Er blinzelte. Auf Alpha Centauri hatte er sich die Augen neu machen lassen, genauso wie das Flexoskelett, die allerneueste Version. Er machte ein Bild und dann noch eins. Sein von der Wölbung der Chromröhre deformiertes Gesicht starrte ihm entgegen, es hatte sämtliche Proportionen verloren, als hätte man ihn mitten im Flug bei annähernder Lichtgeschwindigkeit eingefroren, gestaucht und verzerrt von der unbarmherzigen Physik der Relativität, und dann hierhertransportiert, mitten in das bunte Treiben unter den metallenen Darmschlaufen, die als Teil der Kunstinstallation überall von der Decke hingen. Unwillkürlich hatte Benjamin wieder den Kloakengeruch von der Fahrt hierher zur Ausstellung in der Nase. Oder war es seine Nase, die sich an den Geruch erinnerte? Er schüttelte sich und ging weiter.

Schon auf der Herfahrt in der Schweberikscha hatte der Dekan sich beharrlich darüber ausgeschwiegen, was sie in der Ausstellung erwarten würde. Die Fahrt endete in einem Außenbezirk im Norden der Hauptstadt, wo sich kaputte Industrieanlagen und ärmliche Wohnsilos aneinanderreihten und wo der faulige Geruch des Flusses schon bald alles andere überdeckte.

Immerhin hatte sich Benjamin inzwischen an das Klima gewöhnt. Er spürte, wie sich der salzige, muffige Geruch bereits in seinen Haaren, seiner Kleidung, ja selbst auf seiner Haut festgesetzt hatte. Es war hier immer und überall warm und feucht. Benjamin hatte noch nirgendwo so viel geschwitzt wie auf Makoto. Die Cryobank im Linienschiff hatte seinen Organismus zwar auf das hiesige Klima eingestellt, aber nur weil sein Körpertech mit dem Planeten zurechtkam, bedeutete das nicht, dass er sich schon daran gewöhnt hatte.

Der Rikschafahrer hatte ihn und den Dekan an der Lehmmauer eines halb verfallenen Areals entlassen, das noch durch analoge Elektrozäune gesichert war. Eine stillgelegte Algenverarbeitungsanlage, hieß es. An der Zufahrt zum Fabrikgelände waren sie von einem Labyrinth aus wallendem Haar empfangen worden. Man sah nichts als Zöpfe, Fransen und Kaskaden von wallendem Haar ringsherum, das in allen Regenbogenfarben schillerte. Tausende Diodensegmente, die mit kurzen Lichtblitzen pulsierten, leiteten die ankommenden Gäste durch die verworrene Haarpracht hindurch zum eigentlichen Eingang der Ausstellung. Dahinter führte jeder Schritt weiter hinein in die Ausstellungsräume, hinein in ein Geflecht aus Schläuchen, die sich wie Weinranken um die Säulen der Fabrikhallen wanden und in denen die zähe, schwarze Nanoflüssigkeit der Noki-Sonden floss, hindurch zwischen glänzenden Kupfermalachitkabeln, die allein durch die unverhüllte Ausstellung dieses teuren Rohstoffs protzig wirkten, und vorbei an Intelliplastbändern, auf denen die Gedanken der Künstlerin entlangflimmerten wie ein unaufhörliches digitales Flüstern.

Jetzt, eine halbe Stunde später, stand Benjamin in dem Raum, der wohl der Bauchhöhle gewidmet war. Hier hatte man das Buffet angerichtet. Alle Speisen und Getränke hatten einen seltsam elektrischen Beigeschmack, als nähme man mit ihnen auch die Stromnachrichten der Künstlerin in sich auf. In der Mitte des Buffettisches war ein Altar aufgebaut, über dem man die Reste von Tellern und Gläsern ausschütten konnte. Sofort versickerten die Nahrungsmittel in der porösen Oberfläche des Altarsteins und wurden an seiner Rückseite mit einem gläsernen Pumpsystem hinauf in den gewaltigen, halb transparenten Magenbeutel befördert, der unter dem Hallendach hing.

Benjamin senkte den Kopf und trank aus. Er hatte sich geschworen, sich in dieser feuchtwarmen Körperwelt nicht zu übergeben. Die Magensaftwerte rechts unten in seinem Blick leuchteten allerdings bedrohlich gelb auf. In diesem Augenblick sprach ihn einer der Gäste an.

«Sie kommen also von der Universität Alpha Centauri?»

Benjamin blendete seine Körperwerte aus. Der Strom hatte die Identität des anderen bereits ermittelt: Frederic Nahisi Malenguare, SaltTec Industries, erschien in Benjamins Blick und legte sich dann wie ein bläuliches Namensschild auf die Brust seines Gegenübers.

«Das hat sich aber schnell herumgesprochen», antwortete Benjamin. «Und Sie sind wohl ebenfalls Künstler?»

Sein Gegenüber lachte. Er war etwas größer als Benjamin – siebenkommadrei Zentimenter, um genau zu sein –, hatte schmalgeschnittene Gesichtszüge und dunkelbraune Haut, die mit kleinen Schweißperlen übersät war.

«Nein, nein. Ich bin Agrarunternehmer. Meine Kunst», jetzt senkte er die Stimme zu einem Flüstern, «besteht darin, aus Salz und Tee Gold zu machen!» Wieder lachte er.

Was für ein Langweiler. Der andere schwadronierte weiter von der Bedeutung der Salzindustrie auf Makoto, während Benjamin im Augenwinkel eine Gruppe von Creams bemerkte, die sich anscheinend tatsächlich als Künstler fühlten, nach dem neonfarbenen Flackern der Clips und Ads zu urteilen, die sie sich wie Creme auf ihren Körpern verteilt hatten und mit denen sie nun ihr ganzes hippes Selfproject-Unternehmertum spazieren führten. Benjamin wandte sich ab. Das war ja schlimmer als bei seinen Erstsemestern.

Dennoch faszinierte ihn die seltsame Zusammensetzung des Publikums. Da gab es die Creams und andere Fans der Künstlerin, die als aufgeregte Meute durch die Hallen strömten. Dazwischen stolzierten diverse Würdenträger der Stadt herum und kontakteten, was das Zeug hielt.

«… und dann, stellen Sie sich vor, kommt doch der Vorarbeiter zu mir und will mir erklären, bei allen Erntehelfern seien die Unterarmschläuche korrodiert. Von heute auf morgen!» Frederic Malenguare grinste Benjamin an. Der beeilte sich so zu tun, als habe er die ganze Zeit zugehört.

«Was Sie nicht sagen. Und dann?»

«Das werden Sie nicht glauben. Ich zeig’s Ihnen.» Ehe sich Benjamin dagegen wehren konnte, hatte sein Gesprächspartner schon sein Handgelenk gepackt und tippte nun mit dem Zeigefinger dagegen. Sofort wurde ein Clip abgespielt, auf dem man aus den Augen von Frederic Malenguare auf den von zwei Sonnen beschienenen Hof einer Salzfabrik blickte. Vor ihm stand ein gebeugter Arbeiter in grauen, verkrusteten Hosen aus Viskosedrillich, den er, also Frederic, am Arm festhielt. Und ehe Benjamin begriffen hatte, worum es ging, zuckte der Arbeiter unwillkürlich zurück, und auf einmal hielt er dessen Unterarm in der Hand. Der Arbeiter schrie auf, hielt sich das Ellenbogengelenk, aus dem nun Blut und schwarze Nanoflüssigkeit sickerten, und rannte davon. Völlig perplex sah Benjamin mit Frederics Augen auf den runzligen Unterarm in seiner Hand und auf den davonlaufenden Vorarbeiter … und schon war der Clip zu Ende. Benjamin wurde zurückgeworfen in die Gegenwart.

Frederic Malenguare schüttelte verwundert den Kopf, als könne er es immer noch nicht glauben. «Er ist einfach davongerannt und hat seinen Arm zurückgelassen – wie eine Eidechse!»

Gerade wollte Benjamin darauf antworten, als ein Mann in einem dunklen Anzug und silbern glänzender Fliege auf ihn zutrat. Sein Begleiter, der Dekan.

«Benjamin, kommen Sie. Die Künstlerin möchte Sie gern kennenlernen!»

Mit einem unverbindlichen Kopfnicken verabschiedete sich Benjamin von dem Agrarunternehmer und ließ sich vom Dekan fortziehen. Dabei ließ ihn ein unangenehm kribbelndes Gefühl nicht los, als hielte er immer noch den abgetrennten Arm des Vorarbeiters in der Hand. Benjamin schauderte es.

Dumpfer Filtertechno pumpte mit tiefen, fast unhörbaren Bässen durch die nächste Halle. Der Raum war in ein dämmriges, dunkelrotes Licht getaucht. Zunächst konnte Benjamin nur ein unablässiges Pulsieren erkennen, bis er sah, dass die Leute im Raum nicht still standen, sondern sich ständig auf und ab bewegten. Noch ein paar Schritte weiter, und Benjamin spürte, wie der Boden plötzlich unter ihm nachgab. Jeder Schritt führte ihn auf ein neues Bodensegment, das sich wie ein Pumpkolben unter seinen Füßen absenkte und ihn sogleich wieder aufsteigen ließ. Es fühlte sich an wie Treppensteigen, ohne dass man wirklich an Höhe gewann. Alle Besucher in diesem Raum, es waren nicht viele, pumpten mit ihren Füßen und stiegen dabei auf und nieder.

Benjamin sah zur Decke auf, und auch dort war alles in Segmente unterteilt, die sich ebenfalls wie Kolben bewegten und in demselben rotorangenen Licht pulsierten. Die Farbe rauschte, die akustischen Wellen der Musik massierten Benjamin am ganzen Körper, und er fühlte sich mehr und mehr wie ein kleines, unbedeutendes Blutkörperchen, das von der gewaltigen Kraft eines riesigen Herzmuskels vorangeschoben und weitergespült wurde.

Beinahe taub und blind stampfte Benjamin hinter dem Dekan her. Nein, er hatte noch nichts Derartiges erlebt, keine Party und erst recht keine Kunstausstellung, die so sehr einer ins Unbegreifliche überhöhten körperlichen Erfahrung glich. Umso überraschender war der Kontrast, den die Installation in der nächsten Fabrikhalle zur gerade durchquerten Herzkammer bildete. Weißes Licht blendete ihn. Das Wummern der Bässe verklang, und in der Stille nach dem Lärm hörte Benjamin nun ein fast lautloses Rascheln und Rauschen. Als seine Augen sich an das Weiß angepasst hatten, fand sich Benjamin in einem Raum voller Hände wieder, unzähliger Hände, die an hell leuchtende Wände montiert waren und sich in einer einzigen flirrenden, wellenartigen Bewegung öffneten und schlossen, sich drehten und deuteten, sich ballten und sich wieder ausstreckten. Nun sah er auch, dass einige Wände sowie der Boden und die Decke aus Spiegelflächen bestanden, die das Flimmern der Hände vervielfältigten und einem den Eindruck vermittelten, durch einen unendlichen Raum zu schweben. Die Frequenzen der Handbewegungen waren gerade so gleichmäßig, dass die Illusion von Unendlichkeit erzeugt wurde, aber auch so unregelmäßig, dass die Software in den Augen der Besucher Schwierigkeiten hatte, die Grenzen zwischen Installation und Spiegelwänden zu bestimmen. Ein Schwindelgefühl erfasste Benjamin. Schon krümmte er sich zusammen, als er in der Mitte des Saals, genau an jenem Punkt, an dem die Hände sich mit vollkommenen geometrischen Fluchtlinien in der Unendlichkeit der Spiegelflächen verloren, sich plötzlich getragen und aufgehoben fühlte. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen, um mit diesem neuen Gefühl der Sicherheit weiterzugehen. Jetzt zupfte ihn der Dekan am Ärmel. Benjamin sah sich noch einmal um, und es schien ihm, als würde ihm die Unendlichkeit Lebewohl winken.

Genau in diesem Augenblick kreuzte eine fünfköpfige Besuchergruppe seinen Blick, die aus dem Ambiente dieser Ausstellung krass hervorstach. Zwischen all den bunten Farbtupfern der Displaykleider, Galauniformen und kunstvoll verzierten Ausgehkostüme fielen diese Besucher mit ihren graugrünen Arbeiteroveralls und ihren schlichten Kurzhaarfrisuren besonders durch ihre Gleichförmigkeit auf. Zielstrebig durchquerten die fünf Besucher den Saal der Hände, ohne sich auch nur im Geringsten von den optischen Illusionen beeindrucken zu lassen. Benjamin wollte sich schon wieder abwenden, als eine Frau aus der Gruppe sein Starren bemerkte und sich zu ihm umdrehte. Ihre dunkelbraunen Augen blitzten, und unverhohlener Zorn flammte plötzlich in ihrem ebenmäßigen Gesicht auf, so als fühlte sie sich allein durch Benjamins Aufmerksamkeit belästigt.

Er riss seinen Blick von ihr los, getroffen von dieser unmittelbaren, ungeschützten, ja geradezu vulgären Gefühlsäußerung, und eilte hinaus. Vor ihm ging der Dekan, und Benjamin schloss zu ihm auf. Sie betraten einen Gang, der in den größten Ausstellungssaal im Zentrum des Fabrikkomplexes führte, den innersten Raum der Körperwelt.

«Das Publikum hier ist faszinierend», sagte Benjamin.

«So, meinen Sie?», antwortete der Dekan, halb über die Schulter gewandt. Benjamin fragte sich, warum der andere sich so beeilte.

«Nun ja, ich war zwar noch nicht auf vielen Vernissagen, aber normalerweise kommen doch nur ein paar Künstlerfreunde und Kulturfunktionäre. Hier allerdings …»

«Hier interessieren sich offenbar alle Schichten der Bevölkerung für Kunst? Ist es das, was Sie sagen wollen?»

Benjamin konnte den Gesichtsausdruck des Dekans nicht entziffern. «Ich … wollte nicht unhöflich sein.»

Der Dekan lachte. «Nein, nein, ich weiß, was Sie sagen wollen. Sie hätten in dieser Ausstellung keine Arbeiter erwartet, nicht wahr?»

«Nicht unbedingt.» Benjamin war verlegen. Auf diesen abgelegenen Planeten wusste man nie, wem man mit welcher Formulierung auf die Füße trat, und offenbar war es hier noch weniger schicklich, über soziale Schichten zu sprechen, als auf den zentralen Stationen und Ringwelten. Wahrscheinlich, weil hier die Besiedelungsstrategie noch nicht abgeschlossen war und die individuellen Entwicklungsmöglichkeiten immer noch stark begrenzt waren. In den letzten Tagen war Benjamin bereits aufgefallen, wie viele von schwerer Arbeit Gezeichnete oder als prekär Markierte in der Stadt lebten. Auf Alpha Centauri wäre das undenkbar. Wer auch nur den Hauch einer Abhängigkeit von körperlicher Arbeit erkennen ließ, galt als rückständig und «verwahrlost». Man war beschäftigt, ja, aber nicht, um davon leben zu müssen. Nein, man konnte es sich leisten, «Projekte» zu verfolgen – alles andere hatte einen unangenehmen Beigeschmack von Kontrollverlust. Darum war Benjamin die Arbeiterin mit ihren Begleitern gerade eben auch so ins Auge gestochen. Solche Leute gab es an der größten Universitätsstation der Galaxie einfach nicht, oder er hatte sie nie gesehen.

«Das kann ich Ihnen nicht verdenken.» Der Dekan deutete voraus in den dunklen Gang. «Dies war einmal der Abfalltrakt, durch den die Algenreste und der überschüssige Salzschlamm in den Innenhof transportiert wurden. Heutzutage, mit der fortschreitenden Personalisierung der Industrie, sind solche Großanlagen auf Makoto nicht mehr rentabel. Wir sind nicht ganz so rückständig hier, wie man in den Innenwelten vielleicht denken mag, wissen Sie.»

Benjamin behielt seine Gedanken dazu für sich. «Erzählen Sie mir etwas über die Künstlerin», bat er seinen Begleiter stattdessen.

Der Dekan verzog seinen Mund. «Es nützt überhaupt nichts, wenn ich Ihnen irgendetwas über sie sage. Sie werden sie gleich treffen, dann werden Sie sehen.»

Er nahm Benjamin am Arm und zog ihn weiter durch den Gang. In der völligen Dunkelheit des Tunnels leuchtete nur das weiße Viereck des Ausgangs oder auch Eingangs in die Halle, je nachdem, wie man das sehen wollte. Benjamin war sich noch nicht sicher, was er von den Worten des Dekans halten sollte, da schritten sie schon durch die Tür.

Hier war sie, die Künstlerin.

Nach all den Hallen, in denen Benjamin auf immer aufregendere Weise durch das Innenleben von <OPEN> geführt worden war, stand er nun auf einmal in einem leeren Saal. Die Ausmaße der zentralen Fabrikhalle waren gewaltig, und sie wirkte noch größer, da alles hier weiß leuchtete. Benjamins Augen rekalibrierten sich, und dann erblickte er den Kopf der Künstlerin.

In der Mitte des Saals stand ein Podest, eine eigenartig verzierte, altertümlich wirkende Säule. Auf dieses Podest war der Kopf der Künstlerin montiert. Unten aus dem Sockel führten künstliche Nervenstränge sternförmig in alle Richtungen weg, zunächst am Boden, dann an den Wänden der Halle hinauf, um sich dort, das konnte Benjamin erst jetzt erkennen, im Dunkel des Hallendaches in einem einzigen, gewaltigen Geflecht aus Kabeln und Filamenten zu verlieren.

Ein paar Sonnenstrahlen durchschnitten die Halle und kreuzten sich in der Mitte des Raums, sodass der Kopf der Künstlerin wie von Licht gekrönt schien. Ihr Gesicht wirkte alt und jung zugleich, männlich und auch weiblich, freundlich mit einer darunter durchscheinenden Härte wie schwarzer Granit.

Benjamin war ergriffen.

«Da sind Sie ja. Ich habe Sie schon erwartet!» Die Stimme der Künstlerin klang angenehm, aber auch ein wenig durchdringend.

Der Dekan trat näher an den Kopf heran und zog Benjamin am Ärmel mit sich. Dann sagte er, zur Künstlerin gewandt: «Madame, darf ich Ihnen unseren Gast von der Universität Alpha Centauri vorstellen? Benjamin G. Sacharow ist ein aufstrebender junger Wissenschaftler, der sich der Erforschung neuartiger Bewusstseinsformen gewidmet hat.» Und zu Benjamin gewandt fuhr er fort: «Benjamin, dies ist <OPEN>. Sie haben ganz sicher von ihr gehört, ihre Kunst ist im gesamten Universum berühmt. Sie ist eine Zierde unseres Planeten, und darauf sind wir auf Makoto sehr stolz!»

<OPEN> sah Benjamin in die Augen. «Sehr angenehm! Noch werde ich nicht so unhöflich sein und Sie fragen, was Sie von meiner Ausstellung halten. Erzählen Sie mir lieber etwas über sich!»

Benjamin wollte schon zur Antwort ansetzen, doch der Dekan kam ihm bereits zuvor.

«Wir haben Benjamin eingeladen, seine psychophysischen Forschungen hier auf Makoto weiter zu betreiben. Es war uns dabei ein Anliegen …»

Mit einem eisigen Lächeln unterbrach die Künstlerin den Dekan. «Mein lieber Trumball, ich hatte unseren Gast gefragt. Benjamin – ich darf Sie doch so nennen? –, warum sind Sie ausgerechnet hierhergekommen? Ich könnte mir vorstellen, dass jemandem von einer so renommierten Universität die ganze Galaxie offensteht. Warum Makoto? Was interessiert Sie so an unserer kleinen Teeplantagenwelt?»

Benjamin war etwas überrumpelt von dieser direkten Frage. Diese Künstlerin faszinierte ihn mehr, als er vor sich selbst zugeben wollte. Kein Text, kein Ereignis im Strom, kein Gedächtnisclip hatten ihm bisher so sehr «Ich bin der neue Mensch!» zugerufen wie <OPEN> und ihre Selbstausstellung.

«Sie dürfen alles!», brach es aus ihm heraus. «All dies hier macht mich sprachlos. Einfach großartig! Ich habe so etwas noch nie gesehen …»

Die Künstlerin lachte. «Das will ich doch hoffen!»

«Aber Sie hatten nach meiner Forschung gefragt.» Jetzt musste Benjamin nach Worten suchen. Warum war er überhaupt hier? Ach ja, richtig … «Ich will die Auswirkungen gewisser territorialer Anomalien auf die menschliche Psyche untersuchen und die Konsequenzen daraus für das Noki-Gedächtnis. Es heißt, auf dem östlichen Kontinent von Makoto gäbe es Agrargemeinschaften, die sich diesen geophysikalischen Umständen angepasst und neue Formen der Vernetzung entwickelt hätten.» Mehr würde er dazu an dieser Stelle nicht sagen, und an mehr zu denken war in dieser hochvernetzten Umgebung sowieso nicht ratsam.

Wie aufs Stichwort klinkte sich nun der Dekan wieder ins Gespräch mit ein. «Solch ein Forschungsprojekt betrifft, wie Sie sich denken können, äußerst empfindliche planetare Verwaltungsangelegenheiten, die nur mit dem größten administrativen Fingerspitzengefühl behandelt werden können.» An dieser Stelle warf er Benjamin einen Seitenblick zu und zuckte mit den Schultern. «Daher, mein lieber Sacharow, auch die bedauerliche, ahem, Verzögerung mit Ihrer Reisegenehmigung in die Ostprovinzen …»

Benjamin hielt das zunehmend für Schauspielerei. Dies war nun schon sein achter Tag auf Makoto, aber außer Teeempfängen, Dinnerpartys und dieser Ausstellungseröffnung, auf denen er herumgereicht wurde wie ein seltenes Artefakt, war er seiner eigentlichen Suche noch keinen Schritt nähergekommen.

«Ich für meinen Teil wünschte, diese leidige Verwaltungspolitik würde sich etwas flexibler zeigen», antwortete die Künstlerin. «Aber sagen Sie, wie stehen die Dinge auf Alpha? Wie geht es meiner Alma Mater?»

Benjamin war verblüfft. «Sie waren auch auf Alpha Centauri?»

<OPEN> lachte. «Auch ist gut. Ich war eine der Mitgründerinnen dieser Universität!»

«Was? Aber das ist ja mindestens … fünfhundert galaktische Standardzyklen her!»

Die Künstlerin neigte kokett den Kopf. «Wie sagt man so schön: Reisen macht jung. Ich habe mich seit meinen Tagen an der Universität in der ganzen Galaxie herumgetrieben. Ich habe sogar eine Zeitlang drüben im Sagittariusarm gelebt. Wobei der Charme neuer Sternsysteme auch seine Grenzen hat.»

Benjamin kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. «Das ist ja unglaublich. Darüber müssen Sie mir unbedingt noch mehr erzählen. Aber wie sind Sie dann ausgerechnet hier gelandet?»

Als der Dekan eine Augenbraue hob, fügte Benjamin eilig hinzu: «Nichts für ungut …»

Wieder lachte <OPEN> ihr perfekt moduliertes, perlendes Lachen, das Benjamin zunehmend verzauberte.

«Lassen Sie nur, Trumball. Ja, manchmal frage ich mich auch, wie um alles in der Galaxie ich hier gelandet bin … Aber Sie reisen ja bald über das Salzmeer, und Sie werden auch die Berge sehen mit den Siliziumbäumen und den Teeplantagen. Sie werden es spüren, Benjamin. Dies mag wie ein abgelegener Planet wirken, aber wenn Sie eine Weile unterwegs sind, fühlen Sie es überall: Dies ist eine elektrisierende Welt. Es liegt hier eine Verheißung in der Luft, eine alles durchdringende Leitfähigkeit, ein Summen, wie ich es gerade heute, hier, in meinem ganzen Körper spüre. Das will ich mit meiner Kunst zeigen – dass es für den Neuen Menschen keine Schande sein muss, sich zu verorten und ganz auf einer Welt zu Hause zu …»

Die Künstlerin unterbrach sich und drehte ihren Kopf. Benjamin wandte sich um und sah, wie hinter ihm eine weitere Gruppe den Saal betrat. Es waren die Arbeiter von vorhin. Mit gemessenen Schritten gingen sie direkt auf das Podest mit dem Haupt der Künstlerin zu, ohne Benjamin oder den Dekan eines Blickes zu würdigen.

«Willkommen!» <OPEN> begrüßte auch sie mit einem Nicken. Ihr Blick hatte etwas Wachsames.

«Sei gegrüßt!» Der Anführer der Gruppe, ein etwas untersetzter, aber drahtiger Mann mittleren Alters, trat vor und verneigte sich. Der ganze Auftritt hatte etwas Theatralisches, fand Benjamin, aber vielleicht kannte er die Gepflogenheiten der einfachen Bevölkerung von Makoto auch nicht gut genug. Um Zeichen lesen zu können, musste das, was man betrachtete, überhaupt erst einmal ein Zeichen sein.

«Wir kommen aus den Ostprovinzen und sind einfache Teebauern. Aber als Zeichen unserer Bewunderung für diese …» Der Mann machte eine weit ausholende Geste, die den Saal und das ganze Gebäude umfassen sollte. Dabei schien er nach Worten zu suchen. «… für diese erhabene Darbietung haben wir Ihnen ein Präsent mitgebracht.»

Jetzt traten auch die anderen vor und stellten sich neben ihren Anführer. Benjamin beobachtete aufmerksam die junge Frau. Ihr Ernst, ihre Schönheit, aber vor allem die Kälte, mit der sie ihn nun zu ignorieren schien, nachdem sie ihn doch vorhin so zornig angesehen hatte, faszinierten ihn.

Jetzt holte der Mann etwas hervor. Benjamin ging ebenfalls einen Schritt nach vorn und beugte sich vor, um zu sehen, was sie der Künstlerin mitgebracht hatten. Der Anführer hob die Hände und präsentierte dem Kopf der Künstlerin einen schlichten, würfelförmigen Kasten aus olivgrünem Holz.

«Dies soll dir als Zeichen dienen und dir zeigen, welchen Wert wir deiner Kunst und den Ideen beimessen, die sie repräsentiert!» Die letzten Worte hatte der Mann beinahe gerufen. Jetzt öffnete er den Kasten und zeigte <OPEN> den Inhalt – und ihr Kopf schien zu explodieren. Mit weit aufgerissenen Augen, geöffnetem Mund und entgleisten Gesichtszügen erstarrte die Künstlerin plötzlich zu einer Maske des Schreckens und des Zorns.

Benjamin beugte sich noch weiter vor, um einen Blick auf den Inhalt der Holzschachtel zu erhaschen. Doch schon schlug der Anführer der Gruppe krachend den Deckel zu. Benjamin meinte, etwas Graues gesehen zu haben. War das Asche?

Ein kreischendes Geräusch schnitt durch den Saal, und Benjamin zuckte zusammen. Die Hallenwände begannen plötzlich rot zu leuchten, und das Kreischen wurde immer lauter und durchdringender, bis Benjamin begriff, dass er einen beinahe übermenschlich klingenden Schrei hörte und dass es die Künstlerin selbst war, die diesen Schrei ausstieß. Sie schrie mit ihrem ganzen Körper, mit jedem Installationsbauteil, mit jeder Wand und jeder Röhre und jedem Gerät überall in dem ganzen Fabrikkomplex, sodass alles und jeder von diesem Schrei durchdrungen wurden und mit diesem Schmerzenslaut mit vibrierten.

Im nächsten Augenblick brach der Schrei ab. In der darauf folgenden Stille war Benjamin wie betäubt. Dann dröhnten die Worte der Künstlerin von überall her, und jetzt kamen sie nicht mehr nur von dem auf der Säule sitzenden Kopf, sondern aus der ganzen Ausstellungshalle:

RAUS! ALLE RAUS! Sicherheitsdienst, entfernt diese Subjekte!

Benjamin begriff gar nichts. Was war geschehen? Was hatte es mit der Asche auf sich, dass sie eine solche Reaktion bei der Künstlerin hervorrief?

Die vier anderen der Gruppe hatten sich bereits in Richtung Hallenausgang in Bewegung gesetzt, doch der Anführer stand noch immer vor dem Kopf der Künstlerin und blitzte sie triumphierend an.

«Ihr glaubt, Ihr seid unsterblich – aber das ist ein Irrtum. Ihr werdet sterben! Und Ihr wisst das auch. Nur wer stirbt, kann auch leben!» Der Mann hob die rechte Faust, dann rannte er hinter den anderen her.

Der Kopf wandte sich ihnen zu. «Bitte, Sie müssen sofort geh… AAAHH!» Wieder entgleisten ihr die Gesichtszüge. «Diese Terroristen!» Damit verstummte die Künstlerin, ihre Augen schlossen sich, und der Kopf sackte zur Seite.

Hastig zog der Dekan Benjamin fort. Sie eilten zurück durch den Gang und die anderen Hallen, versuchten gemeinsam mit den anderen Gästen so schnell wie möglich den Ausgang zu finden. Dort sah Benjamin, wie der Sicherheitsdienst die Gruppe bereits in Gewahrsam genommen hatte. Zwischen den mattschwarzen Gestalten in Hochsicherheitsrüstung, mit Panzerhelmen und vollverspiegelten Gesichtsvisieren, nahmen sich die fünf Menschen in ihrer graugrünen Arbeitskleidung wie zusammengetriebene Herdentiere aus. Während Benjamin vom Dekan vorwärtsgedrängt und irgendwann in eine Schweberikscha geschoben wurde, konnte er den Blick nicht von ihnen abwenden, und die letzten Worte ihres Anführers hallten in seinem Kopf wie ein dröhnendes Echo.

Benjamin saß auf der Bettkante in seinem Wohnheimzimmer, schaute hinaus in den Morgen einer neuen, ihm immer noch ungewohnten Welt und rauchte eine rauchlose Zigarette. Er war früher aufgewacht als sonst. Die Uhr in seinem Blick zeigte vieruhrfünfundvierzig, aber er war bereits hellwach. Aus irgendeinem Grund hatte er hier auf Makoto wieder angefangen zu träumen, und das gefiel ihm gar nicht. Eigentlich sollten die Einstellungen in seinem Noki das herausfiltern. An der Uni hatte er jedenfalls jahrelang traumlos geschlafen und darüber beinahe vergessen, wie sich das anfühlte, willenlos und allein diesen Bilderfetzen und Filmsequenzen ausgeliefert zu sein, die ihn in den letzten Nächten jedes Mal überfallen hatten.

Selbstverständlich wusste er, dass das Noki sein Unterbewusstsein nicht vollständig im Zaum halten konnte. Schließlich scheiterte er in seiner Forschungsarbeit schon seit Jahren immer wieder an dieser tückischen Schwelle, die den kontrollierbaren, quantifizierbaren und vor allem digitalisierbaren Teil des menschlichen Geistes von den wilden und ungezähmten Regionen der Psyche trennte. Dass es diese Schwelle immer noch gab und dass sie sich den Überwindungsversuchen der Psychophysik so hartnäckig widersetzte, war ihm ein beständiger Stachel im Fleisch. Immerhin hatte seine wissenschaftliche Arbeit daraus erste verwertbare Resultate ziehen können, mit der Folge, dass die großen Noki- und Körpertechkonzerne sich seine Forschungsergebnisse in ihren neuesten Apps zunutze machten. Auf Tiggle war er besonders stolz, eine vernetzte Organfunktion, mit der man Berührungen direkt über den Strom verschicken konnte und für die Cyberia sich exklusiv die Verwertungsrechte an seinem letzten größeren Paper gesichert hatte. Von dem Geld hatte er sich erst vor kurzem die neuen Augen gekauft, natürlich auch mit Blick auf die kommende Reise nach Makoto.

Wahrscheinlich wurmte es Benjamin deswegen umso mehr, dass er mit solch banalen Problemen wie Träumen zu kämpfen hatte, und das ausgerechnet jetzt. Dies war die wichtigste Reise in Benjamins Leben. Dafür hatte er sogar die X-Con auf der Kristallwelt sausen lassen, die wichtigste Entwicklerkonferenz diesseits des Orionarms, und vor allem die größte. Aber das hier war größer. Wenn das, was er in den geheimen Erinnerungen mit sich herumtrug, tatsächlich real war, dann … Ja, dann war womöglich sein ganzes Leben bisher nichts als ein Traum gewesen, ein Trugbild, aus dem er jetzt unter Schmerzen erwachte. Er musste sich vergewissern, musste etwas Handfestes finden, an dem er den Wahrheitsgehalt von Taliesins Gedächtnis überprüfen konnte.

Dazu musste er klug vorgehen. Die gegenwärtige politische Lage erlaubte keinen Fehler, und deshalb musste er vorgeben, hier auf Makoto weiterhin seine Karriere als Psychophysiker zu verfolgen, auch wenn diese schon mit dem Betreten des interstellaren Linienschiffs auf Alpha Centauri vor fünfeinhalb Standardmonaten ein bitteres Ende gefunden hatte. Dieser Abschied war unumkehrbar, das wusste Benjamin. Danach einfach wieder Seminare für Erinnerungsdesign zu geben und nebenher Noki-Anwendungen zu entwickeln, das war für ihn jetzt undenkbar. Nach dem Tod von Taliesin val Akumai, seinem Professor, seinem langjährigen Mentor und väterlichen Freund, war plötzlich nichts mehr wie vorher. Das Koordinatensystem seines Lebens hatte sich verschoben, und so saß er nun hier auf Makoto, rauchte und hatte alles verloren – alles, außer seinen Fragen.

Ungeduld packte ihn. Er musste endlich weiter, hinaus auf den Ostkontinent von Makoto, dorthin, wo hoffentlich die Antworten warteten, wo er die Gemeinschaft der Exegeten vermutete, von denen Taliesin in seinen Erinnerungen sprach. Noch hing er allerdings in diesem muffigen Studentenwohnheim der Uni von Makoto fest und wartete auf die Reisegenehmigung der Planetenverwaltungsbehörde. Eigentlich hatte der Dekan ihm die Bescheinigung schon vor vier Tagen fest versprochen, aber auf diesem hinterwäldlerischen Planeten legte man fremden Wissenschaftlern offenbar gern ein paar Steine in den Weg. Nicht dass Benjamin sich davon aufhalten lassen würde. Heute hatte er einen Termin bei der Behörde, und so leicht würde er sich nicht abblitzen lassen.

Benjamin seufzte und stand auf. Er ging zur Küchenzeile hinüber und kochte sich einen Instantkaffee. Das Heißgetränk roch verführerisch, und als er den ersten Schluck nahm, meinte er förmlich zu spüren, wie die Geschmacksrezeptoren seiner Zunge die Signatur der Instantmischung an sein Noki schickten, das daraufhin die Ausschüttung von Koffeinersatzstoffen veranlasste, die langsam sein Gehirn schwemmten, die Blutgefäße weiteten und seinem Organismus das allgemeine Signal übermittelten: Aufgewacht, Benjamin, der Tag beginnt!

Auf seinem Weg durch die Stadt kam Benjamin an die Brücke über den Fluss Makoto. Wie schon vor ein paar Tagen, als er angefangen hatte, die Stadt zu erkunden, überkam Benjamin auch jetzt wieder ein starkes Gefühl der Enttäuschung. Die Makoto Bridge war eine der wenigen Sehenswürdigkeiten, die ihm schon vor der Reise ein Begriff gewesen waren und auf die er sich besonders gefreut hatte.

Benjamin stand am Aussichtspunkt neben dem Steilufer und sah zur Brücke hinüber. In seinem Blick erschienen die Bilder und Sequenzen, die ihn schon damals so beeindruckt hatten und die sich nun vor seinen Augen wie eine bunte, holografische Folie über die tatsächliche Szenerie legten: Einige Bilder hatten bereits mehrere Millionen Hits und zeigten den stolzen Bogen, in dem sich die Brücke über die tiefe Schlucht wölbte, die hier mitten durch die Stadt schnitt und den Fluss an ihrem Grund sowie die unzähligen, ärmlichen Schwebecamps der Arbeitslosen vor den Blicken der Stadtbewohner verbarg. Darüber schimmerte das stechende Blau eines Frühlingshimmels. Tausende Bilder aus dem Strom zeigten die Häuser auf der Brücke, die wie Schuppen die beiden steil aufragenden Brückenpfeiler hinauf- und am Brückenbogen entlanggewuchert waren und die im Morgenlicht in allen Farben des chromatischen Spektrums leuchteten. Das Flimmern der mit den Augensensoren aufgenommenen Bilder vermischte sich mit dem Summen, Kreischen, Lachen, Schreien und Brausen des Straßenlärms auf der Brücke und pulsierte um Benjamin herum wie der Lebensstrom einer aufregenden Metropole. Diese unglaubliche Brücke, aber vor allem diese Mischung aus planetarem Leben und exotischer Rückständigkeit hatten Benjamin vor sieben Monaten, als er anfing, sich auf diese Reise vorzubereiten, am meisten fasziniert.

Wenn er jetzt allerdings die unzähligen, in der ganzen Galaktischen Republik durch den Strom flimmernden Ansichten der Makoto Bridge mit einem Augenzwinkern ausblendete, dann blieb nur noch die triste Realität der echten, sich zweihundert Meter vor ihm erhebenden Brücke übrig. Kein stolzer Bogen war zu sehen, denn der Flussnebel türmte sich in dichten, gelblichen Wolken bis hoch in einen blassen, farblosen Himmel hinauf. Die Häuser auf der Brücke hatten ihr Schillern gegen eine gedämpfte, abgenutzte Farbskala von Hellbraun über Rötlichbraun und Gelbgrün bis hin zu Blaugrau und einem aschefarbenen Schwarz eingetauscht. Und der Klang der Hauptstadt des Planeten Makoto hatte Benjamin nicht wie ein aufregendes, pulsierendes Summen empfangen, in das er hätte eintauchen können. Stattdessen hatte ihn ein unablässiger, betäubender Lärm überflutet, der seine Sinne und seine Erwartungen mit jedem Tag mehr betäubte und ihn hilflos treibend zurückließ in diesem Moloch einer Stadt.

Und dann dieser Gestank. Dieser Geruch war auch das Erste gewesen, was ihm am Tag seiner Ankunft vor einer Woche entgegengeschlagen war. Kaum hatte er die ersten Schritte aus der Tür des Shuttles, das ihn vom Linienschiff hinunter in die Schwerkraftsenke gebracht hatte, hinaus auf die Gangway gemacht, bekam er schon keine Luft mehr. Die schwüle, muffige Hitze des Planeten traf ihn wie ein Keulenhieb. Seine Schweißdrüsen und Kapillargefäße in der äußeren Epidermis hatten sich zwar schon einskommaviersieben Sekunden zuvor an die Luftverhältnisse angepasst, aber das bedeutete noch lange nicht, dass er psychisch auf den Planetenschock vorbereitet war. Atmen, dachte er, atmen! Sein Noki passte den Erythropoetingehalt seines Blutes an, und schon eine halbe Sekunde später, er hatte gerade erst das Geländer der Gangway ergriffen und hielt sich nun mit weißen Knöcheln daran fest, normalisierten sich seine Sauerstoffwerte. Irgendwann konnte er auch wieder klar sehen. Wo war er hier bloß gelandet?

Willkommen auf Makoto, dem Teegarten der Galaxie, Bürger Benjamin Sacharow!, beantwortete die Stimme ihm diese Frage und flüsterte ihm den Gruß direkt über das subvokale Implant ins Gehirn. Andere Reisende stolperten hastig an ihm vorbei, die Gangway hinunter, offenbar unbeeindruckt vom Klima auf Makoto, aber sie hatten es eilig, jetzt, da sie in Sicherheit waren. Auch er war froh, endlich angekommen zu sein. Seine eigentliche Suche begann allerdings erst.

Benjamin stand noch immer auf der Gangway und sah sich um. Ein gelbbraunes Dunstmeer erstreckte sich vor ihm. Dies war also seine neue Welt. Von der obersten Shuttleplattform des Raumhafens konnte er die gesamte Ebene überblicken, in der die Hauptstadt lag. Sie hieß, was sollte man bei so einer Hinterwelt auch anderes erwarten, genauso wie der Planet selbst, Makoto City. Als Erstes fiel ihm auf, wie flach hier alles war. Hatte er etwas anderes erwartet, üppige Teehaine vielleicht oder sich im Wind wiegende Siliziumbäume, wolkenverhangene Berge, steil aufragende Wohntürme und glitzernde Industrieanlagen? Das Panorama vor ihm fand er jedenfalls enttäuschend. Wenn er nach links in Richtung des östlichen Horizonts blickte, sah er die Morgensonne, die sich gerade über einer violett schimmernden, flachen Bergkette erhob. Das Ostgebirge, informierte ihn sein Noki. Sehr fantasievoll, die Leute hier.

Er ließ seine Augen schweifen, weiter über die sich vor ihm ausbreitende Hauptstadt. Zu jedem Haus, jeder Fabrik, jedem Turm blendete ihm sein Noki stolz die nach der Vernetzung mit dem planetaren Strom erhaltenen Daten direkt in seinen Blick, das holografische Interface seines Nokis. Ein Gedanke, und die vielen rot, blau, grün und gelb schimmernden Informationen verblassten vor Benjamins Augen wieder zu einer kaum wahrnehmbaren digitalen Folie.

Verknüpfung vollzogen, meldete die Stimme. Siebzehnkommanullvierneun Petabyte hatte sein Noki geladen. Sein Wissen über die Welt Makoto war nun auf dem aktuellsten Stand. Da drüben ragte der Sen-Tower aus einem Gewirr von sandfarbenen Kunststeinhäusern heraus, ein pagodenartig aufgeschichteter Modulturm, in dem Apartments und Räume für eine Vielzahl von Lebens- und Arbeitsformen angeboten wurden. Die durchschnittliche Produktivitätsrate stand gerade bei siebenundachtzig Prozent, wie das Holodach des Towers stolz verkündete. Benjamin überlegte, ob er sich dort eine Wohnung nehmen sollte, aber dann fiel ihm ein, dass sein Kontakt, ein Hochschuldekan namens Rodney Trumbull, ihm wahrscheinlich schon eine Unterkunft auf dem Universitätscampus zugewiesen hatte.

Mitten in der Stadt ging ein Riss durch das Platinenmuster der Gebäude. Der Makoto River kam aus dem Norden und verschwand, kurz bevor er auf die Stadt traf, in einer tiefen Schlucht. Wasserdampf von den Strömungskraftwerken stieg in Wolken darüber auf und zog über die Stadt.

Ein Mann rempelte Benjamin von hinten an. Die zwei riesigen Packtaschen, die er hinter sich herzog, schwankten bedenklich auf der Gangway. Unten angekommen, wurde er sofort von einer Gruppe in Empfang genommen, die ihm das Gepäck abnahm. Erst als Benjamin bei den Türen zum Shuttlegate ankam, wurde ihm bewusst, was ihm an dem Mann aufgefallen war – das Humpeln. Jeder halbwegs normale Körper passte die Muskelspannung, die interne Gewichtsverlagerung und die kybernetischen Kraftreserven an die ungleichmäßige Belastung an, die bei schwerem Gepäck oder Arbeitsgerät entstand. Aber dieser Mann musste humpeln, um die Balance zu halten. Waren seine Beine defekt oder sein Noki?

Benjamin beschloss, weiterzugehen. Heute brauchte er die Genehmigung für seine Reise, unbedingt, sonst würde er es wahrscheinlich nicht länger hier aushalten. Er beugte sich über die Balustrade, blinzelte und speicherte ein paar Bilder. Seine neuen Augen hatte er sich extra für die Reise besorgt, und nun musste er zusehen, dass er sein Pflichtkontingent an stromfähigem Bildmaterial erfüllte. Die neuen Leasing-Verträge machten jetzt auch Highend-Körpertech erschwinglich, aber man durfte nicht allzu lange vom Netz gehen, sonst schalteten sie ihre intelligenten Funktionen ab und ließen einen hilflos zurück, mit nichts als den groben Funktionen des nackten Fleisches.