Der Polarbären-Entdeckerclub 2 – Insel der Hexen - Alex Bell - E-Book

Der Polarbären-Entdeckerclub 2 – Insel der Hexen E-Book

Alex Bell

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Beschreibung

»Ein Expeditionspicknick kann nur stattfinden, sofern Rosinenbrötchen, magische Laternen, Koboldtörtchen und eine Auswahl von Feengelees vorhanden sind.«Aus den Regeln des Dschungelkatzen-EntdeckerclubsStellas Vater wird auf die Insel der Hexen verschleppt! Um ihn zu retten, begibt sich Stella zusammen mit ihren Freunden, den Junior-Entdeckern Ethan, Shay und Beanie, auf eine neue Expedition. Das Zeppelin des Dschungelkatzen-Entdeckerclubs bringt sie zum sagenumwobenen Berg der Hexen, wo es vor brenzligen Gefahren wie Vampirtrollen und Giftkaninchen nur so wimmelt. Und hier lebt auch Jezzybella, die grausamsten Hexe aller Zeiten …Der zweite Teil der phantastischen Serie: Nach den Eisländern bereisen die abenteuerlustigen Junior-Entdecker jetzt die Insel der Hexen!Mit zahlreichen Illustrationen von Iacopo Bruno

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Seitenzahl: 298

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Alex Bell

Der Polarbären-Entdeckerclub

Insel der Hexen

Aus dem Englischen von Sibylle Schmidt

Mit Bildern von Iacopo Bruno

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung]1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. KapitelZwei Wochen späterRegeln im POLARBÄREN-ENTDECKERCLUBRegeln im WÜSTENSCHAKAL-ENTDECKERCLUBRegeln im DSCHUNGELKATZEN-ENTDECKERCLUBRegeln im MEERESKRAKEN-ENTDECKERCLUBDanksagung

Für Shirley und Fred Dayus

Danke, dass ihr mich so herzlich in eure Familie aufgenommen habt. Und danke, dass ihr den wunderbarsten Mann großgezogen habt, dem ich jemals begegnet bin.

1. Kapitel

Stella Starflake Pearl setzte sich im Garten auf ihre Lieblingsbank aus Eis und seufzte. Über die Expedition mit ihren Freunden Beanie, Shay und Ethan war in allen Zeitungen und Entdeckerzeitschriften ausführlich berichtet worden. Und zwar nicht nur, weil die vier Junior-Entdecker als Erste den kältesten Teil des Eislands erforscht hatten – und weil Stella das erste Mädchen war, das jemals Mitglied des Polarbären-Entdeckerclubs werden durfte. Sondern auch, weil sich herausgestellt hatte, dass Stella wirklich und wahrhaftig eine Eisprinzessin war.

Sie blickte hinauf zum Turmfenster im Ostflügel des Hauses, wo sie den spitzen Hut der Hexenpuppe erkennen konnte. Als Stella damals gemerkt hatte, dass dieses Zauberding aus dem Eisland sich von ganz alleine bewegen konnte, war sie hellauf begeistert gewesen. Aber ihr Adoptivvater Felix bestand darauf, die Hexenpuppe dort oben im Turmzimmer einzusperren.

Jetzt beobachtete Stella, wie die Marionette ruhelos hin und her wanderte. Ab und zu blieb sie stehen und klopfte mit ihren hölzernen Fingerknöcheln an die Fensterscheibe. Das Hämmern war deutlich zu hören, und Stella lief ein kalter Schauer über den Rücken.

»Sie muss nicht für immer eingesperrt bleiben«, hatte Felix versprochen. »Aber wir sollten sehr vorsichtig sein. Die Puppe ist ein exaktes Abbild von Jezzybella. Und die hat nicht nur deine Eltern umgebracht, sondern wollte auch dich töten. Es gibt Hexen, die so eine Puppe von sich zaubern und dann durch deren Augen alles beobachten. Falls das so ein Ding ist, darf es auf keinen Fall in deiner Nähe sein.«

Stella wusste wohl, dass Felix’ Vorsicht vernünftig war. Aber sie hatte nun mal das Gefühl, dass er sich irrte. Die Marionette war zwar wirklich eine Spielzeugversion der Hexe, die Stellas Eltern, den Schneekönig und die Schneekönigin, getötet hatte. Doch Stella hatte sich im Eisschloss unwiderstehlich zu dieser geheimnisvollen Puppe hingezogen gefühlt, und eigentlich war das jetzt immer noch so.

Wieder war das klägliche Klopfen am Fenster zu hören, und Stella musste sich mit aller Kraft beherrschen, um nicht ins Turmzimmer zu rennen und die Hexenpuppe freizulassen. Felix hatte einen Marionettenexperten aus Coldgate herbestellt, und bis der nicht seine Meinung geäußert hatte, musste die Puppe bleiben, wo sie war.

Stella strich die Röcke ihres taubenblauen Kleids glatt und berührte sachte die glitzernden aufgestickten Silberkrönchen. Ihr magisches Diadem war mit den anderen Kuriositäten im Polarbären-Entdeckerclub ausgestellt worden, und die Geschichten von den spannenden Abenteuern der Junior-Entdecker hatten sich schnell herumgesprochen. In den zwei Wochen, seit Stella wieder zu Hause war, hatte sie jede Menge Geschenke von Menschen bekommen, die sie gar nicht kannte: wunderschöne Kleider, Spitzenhandschuhe, hübsche Schachteln voller rosa Geleepralinen, bestäubt mit Puderzucker, niedliche kleine Plüscheinhörner und noch allerlei mehr.

Zu Anfang hatte Stella sich sehr gefreut. Geschenke mag ja schließlich jeder gern, und als Eisprinzessin bekommt man besonders entzückende Sachen. Leider gab es aber auch etwas, das ausgesprochen hässlich war. Sie hatte Briefe erhalten, in denen stand, Eisprinzessinnen mit kaltem Herzen hätten in einer zivilisierten Gesellschaft nichts zu suchen. Sie sollten im öden Eisland bleiben und dort ihre böse Magie ausüben. Felix hatte die Briefe sofort ins Feuer geworfen und Stella gesagt, sie solle doch bloß keinen einzigen Gedanken darauf verschwenden, das würde alles bald vergessen sein. Aber sie spürte immer noch einen kleinen kalten Klumpen aus Sorge im Bauch.

In diesem Moment kam ihr Eisbär Gruff über den verschneiten Rasen getappt und riss sie aus ihren trüben Gedanken. Felix hatte Gruff aus der Eiswüste gerettet, genauso wie Stella, und der riesige weiße Bär war ihr Freund, seit sie denken konnte. Gäste kriegten oft einen Schreck, weil er so gigantisch war; vor allem, wenn Gruff ein bisschen angeben wollte und sich stolz auf die Hinterbeine stellte. Dann war er gut drei Meter hoch und überragte natürlich noch den allergrößten Mann. Das hatte der Eisbär auch gemacht, als er Tante Agatha, Felix’ Schwester, zum ersten Mal begegnet war. Worauf Agatha einen schrillen Schrei ausgestoßen hatte und in einem wilden Wirbel aus Parfüm und Röcken ohnmächtig umgefallen war. Was Stella damals furchtbar unhöflich fand, denn Gruff trug eine sehr schicke Fliege, die Felix ihm speziell für diesen Anlass gemacht hatte.

Jetzt steckte der Eisbär seine schwarze Nase in die Taschen von Stellas Umhang, um dort Fischkekse aufzustöbern, seine Leibspeise. Behutsam schob Stella Gruff beiseite und trug ihm auf, sich zu setzen. Artig ließ er sich in den Schnee plumpsen und bekam zur Belohnung einen der heißgeliebten Leckerbissen, den er so glücklich schmatzend verspeiste, dass ihm jede Menge Krümel um die Ohren flogen. Danach leckte Gruff Stella dankbar die Wange ab und trabte gemächlich zum See. Felix hatte einmal erzählt, Eisbären seien exzellente Läufer und könnten eine Geschwindigkeit bis zu vierzig Stundenkilometern erreichen. Stella hatte Gruff allerdings bisher immer nur gelassen schlendern sehen. Vielleicht lag es daran, dass er von Geburt an eine verkrüppelte Pfote hatte. Aber Stella glaubte eher, dass er einfach ein gemütlicher, fauler alter Bär war.

Sie stand auf. Es war ja sinnlos, hier herumzuhocken und zu grübeln. Felix sagte immer, wenn man beunruhigt oder ängstlich war, sollte man entweder etwas Nützliches tun oder etwas, das Spaß machte. Spaß war natürlich am besten, denn davon bekam man garantiert gute Laune.

Stella schaute zu Felix hinüber, der auf der Terrasse stand und die gläserne Kugel inspizierte, die er am Vortag von den Feen geschenkt bekommen hatte. Feen liebten Felix heiß und innig; deshalb lag es natürlich nahe, dass er Feenforscher geworden war. Auch jetzt flatterten Feen um ihn herum, und ihre Flügel schimmerten im Licht.

Felix schaute auf und winkte Stella zu. Sie winkte zurück und beschloss dann, einen Schneebären zu bauen. Noch lieber hätte sie ein Einhorn gemacht, aber das hatte sie noch nie geschafft, weil es so schwierig war. Als Stella sich bückte, um einen Schneeball zu formen, sprühten ganz plötzlich blaue Funken aus ihren Fingerspitzen.

Sie erstarrte. Vor ihr stand ein wunderschönes glitzerndes Schneeeinhorn. Es war kaum größer als eine Hand, aber Stella konnte jedes Haar in der prachtvollen Mähne, jede Windung des weißen Horns und sogar die dichten langen Wimpern genau erkennen. Und mit seinen zauberhaften Augen schaute das Schnee-Einhorn Stella so direkt an, als könne es sie tatsächlich sehen und warte darauf, dass sie es ansprach.

Verwundert sah Stella sich um. Hatte jemand anderer das Einhorn herbeigezaubert? Aber da war nur Felix, und selbst er konnte nicht solche makellosen Schneetiere erschaffen. Und es war eindeutig eben erst erschienen! Im einen Moment hatte Stella sich ein SchneeEinhorn gewünscht, im nächsten Moment hatten ihre Finger blaue Funken versprüht, und das hübsche Tier war aufgetaucht, fast wie durch Magie. Aber ohne ihr Diadem konnte Stella doch gar keine Eismagie wirken. Und das befand sich meilenweit entfernt in einer Vitrine des Polarbären-Entdeckerclubs.

Ganz langsam streckte Stella die Hand aus. Sie hätte schwören können, dass die Ohren des Einhorns sich leicht bewegten …

Sie zuckte erschrocken zusammen, als plötzlich das Klirren von splitterndem Glas zu hören war.

»Stella!«, schrie Felix angstvoll.

Sie fuhr herum. Felix hatte die Feenglaskugel fallen gelassen, die in glitzernde Splitter zersprungen war. Erschrocken schlug Stella beide Hände vor den Mund. Feenkugeln waren ungeheuer selten, und wahrscheinlich würde Felix nie wieder eine finden. Wieso um alles in der Welt ließ er etwas so Wertvolles fallen?

»Pass auf, über dir!«, brüllte Felix in dem Moment, als auch schon ein riesiger schwarzer Schatten über Stella fiel.

Der Angstschrei blieb ihr im Halse stecken, als sie nach oben schaute. Ein gigantischer Geier schwebte über ihr wie in einem furchtbaren Albtraum. Die Flügel, an die sechs Meter breit, peitschten die eisige Luft. Das Gefieder des unheimlichen Vogels war schmutzig grau, er hatte einen langen sehnigen Hals und einen kahlen hässlichen Kopf mit krummem Schnabel. Die Krallen waren ausgestreckt, die Augen leuchteten gierig. Mit ihrem Diadem hätte Stella das abscheuliche Wesen einfrieren können. Aber so blieb ihr nichts anderes übrig als zu rennen, was das Zeug hielt.

Schneeklumpen flogen hinter ihr hoch, als sie aufs Haus zuraste. Aber das Haus war so weit weg, sie würde es niemals schaffen. Das Ungeheuer gab ein widerliches Kreischen von sich. Im nächsten Moment flog es so dicht über ihr, dass sie seine feuchten schmutzigen Federn riechen konnte. Und den Gestank von fauligem Fleisch, als der Geier einen weiteren ohrenbetäubend schrillen Schrei ausstieß.

Dann spürte Stella, wie sich die Krallen des Vogels in ihre Schultern gruben. Sie verlor den Boden unter den Füßen, und mit Grauen wurde ihr klar, dass der Geier sie wirklich gepackt hatte und mit ihr davonfliegen würde, und sie konnte nicht das Geringste dagegen tun …

Doch dann stürzte sich Felix mit solcher Wucht auf sie, dass sie sich mit dem Gesicht im Schnee wiederfand. Felix schützte sie mit seinem Körper vor dem Ungeheuer, das sofort versuchte, ihn wegzuzerren. Stella hörte, wie Stoff zerriss und wie ihr Vater keuchte, als habe er Schmerzen.

Sie versuchte, ihn herunterzustoßen, damit er nicht verletzt würde. Aber Felix war viel stärker und hielt sie fest, während der Geier markerschütternd kreischte. Er wird uns beide töten, dachte Stella. Sie konnten sich nicht wehren, und weit und breit war niemand, der ihnen helfen konnte. Selbst wenn die Hausangestellten die Szene sahen, waren sie machtlos, denn Felix hatte etwas gegen Waffen, und er duldete keine einzige im Haus.

Dann bebte plötzlich der Boden unter ihnen. Stella hob den Kopf und sah, wie Gruff angewetzt kam, schneller als sie ihn jemals hatte rennen sehen. Fontänen funkelnder Eiskristalle flogen durch die Luft, als die riesigen Tatzen den Schnee aufwühlten. Der Eisbär schirmte Felix und Stella mit seinem mächtigen Körper ab, fletschte die Zähne und gab ein furchterregendes Brüllen von sich.

Noch nie zuvor hatte Stella Gruff so bedrohlich erlebt, und sie sah auch zum ersten Mal, wie viele scharfe Zähne er im Maul hatte. Der Geier kreischte erschrocken und flog etwas höher. Gruff richtete sich zu seiner vollen Größe auf, schlug mit den Pranken nach dem riesigen Vogel und versetzte ihm einen heftigen Hieb.

Felix zerrte Stella vom Boden hoch, nahm sie auf die Arme und sprintete aufs Haus zu. Über seine Schulter sah sie, dass Gruff wieder auf allen vieren stand, und immer noch wütend zu dem Geier hinaufbrüllte, der jetzt weiter oben am Himmel kreiste.

Mit einer Hand stieß Felix die Haustür auf und setzte Stella ab. Dann schrie er: »Gruff! Komm rein! Schnell!«

In gestrecktem Galopp peste der Eisbär auf die Tür zu. Von dem unheimlichen Riesenvogel war nichts mehr zu sehen. Sobald Gruff im Haus war, knallte Felix die Tür zu und schob den Riegel vor.

2. Kapitel

»Bist du verletzt?«, fragte Felix, fasste Stella bei den Armen und beäugte sie besorgt.

»N-nein«, stammelte Stella. »Alles okay.«

»Dem Himmel sei Dank«, murmelte Felix und drückte sie fest.

»Und du, bist du in Ordnung?«, fragte Stella, weil ihr das reißende Geräusch wieder einfiel.

»Ja, ja, natürlich.« Felix ließ sie los und schlang Gruff die Arme um den Hals. »Du wunderbarer riesiger Bär! Für dich gibt’s einen ganzen Monat lang Walspeckpastete, das versprech ich dir!«

»Was war das bloß für ein unheimliches Wesen?«, fragte Stella.

Felix runzelte die Stirn. »Ich bin mir nicht ganz sicher. Muss erst noch mal in meinen Büchern nachlesen …« Er verstummte, und Stella fiel auf, dass er käsebleich geworden war. Im nächsten Moment stützte er sich auf Gruffs Rücken und sagte ruhig: »Stella, mach dir bitte keine Sorgen, aber ich fürchte, der scheußliche Vogel hat mir ein paar Kratzer zugefügt. Könntest du vielleicht Mrs Sap aus der Küche holen? Möglicherweise muss sie mir helfen, mein Hemd auszuziehen.«

Stella trat hinter Felix und keuchte erschrocken. Die Krallen hatten Felix’ Jacke und Hemd zerfetzt, sein Rücken war mit knallroten Striemen übersät. Das weiße Hemd war blutverschmiert. Das waren nicht nur ein paar Kratzer, sondern tiefe Wunden, von denen Narben zurückbleiben würden.

Tränen stiegen ihr in die Augen, aber sie blinzelte heftig, um sie zurückzuhalten. Weinen und sich graulen konnte sie später noch, aber jetzt musste erst einmal Hilfe her. Stella wollte gerade zur Tür laufen, als sie abrupt aufflog. Hereingestürmt kam Mrs Sap, die Haushälterin, die ein gigantisches altes Gewehr umklammerte. In Kombination mit der frisch gestärkten weißen Schürze und dem Rüschenhäubchen war das ein recht bizarrer Anblick.

»Wo ist es?«, schrie Mrs Sap und fuchtelte so wild mit dem Gewehr herum, dass ihre grauen Locken in alle Richtungen flogen. »Wo ist das grässliche Vieh?«

»Guter Gott, ist das etwa ein Gewehr?«, fragte Felix.

»Also, ich kenn ja Ihre Meinung zu Waffen, Mister Felix, und das ist schon alles recht und gut, aber wenn man hier draußen im Schnee lebt, weiß man doch nie, ob nicht ein Yeti angreift.«

»Yeti!«, rief Felix aus. »Meine Beste, Yetis wurden zuletzt meilenweit entfernt von diesem Haus gesichtet!«

»Mag ja wohl sein, aber sind Sie nicht grade draußen von einem Drachen angefallen worden? Hab ihn mit eigenen Augen gesehen!«

»Das war, sofern ich mich nicht irre, ein knochenfressender Geier«, erwiderte Felix mit einem Seufzer. »Und jetzt hören Sie bitte auf, mit dem Gewehr herumzufuchteln, Mrs Sap. Sonst schießen Sie uns noch alle ab. Der Geier ist weg. Gruff hat ihn im Alleingang verjagt.«

Stella fiel auf, wie Felix den letzten Satz betonte. Mrs Sap war nämlich alles andere als begeistert gewesen, als Felix den Eisbären damals aus der Eiswüste mitgebracht hatte. Mrs Sap war ganz und gar nicht der Meinung, dass Eisbären als Haustiere geeignet waren. Sie fand es auch ungeheuerlich, wenn Gruff sich im besten Badezimmer in der Wanne mit den Klauenfüßen aalte oder gar im Gästezimmer auf dem Himmelbett fläzte, wenn gerade keine Gäste da waren. (Manchmal tat er das allerdings auch, wenn welche da waren. Das hatte Tante Agatha zu ihrem maßlosen Entsetzen bei ihrem letzten Besuch erlebt. Man hätte gerade meinen können, sie hätte ein Nest gehörnter Paviantaranteln unter der Decke gefunden, so ein Theater machte sie.)

»Felix ist verletzt«, sagte Stella jetzt, damit endlich gehandelt wurde. »Der Geier hat ihm den Rücken aufgerissen.«

Mrs Sap schnaubte entrüstet. »Wären Waffen in diesem Haus nicht verboten, hätte ich das Gewehr nicht zwischen den Marmeladengläsern verstecken müssen. Dann hätte ich viel schneller zu Ihrer Rettung eilen können, Mister Felix.«

Felix zog eine Augenbraue hoch. »Sie erinnern sich vielleicht noch, Mrs Sap, wie der Wirt vom Gasthaus Weißes Einhorn mir eine saftige Rechnung schickte, da Sie beim Dart-Wettbewerb die altehrwürdigen Holzwände mit Pfeilen gespickt hatten. Wir können uns wohl allesamt glücklich schätzen, dass dieses Schießinstrument beim Gelee aufbewahrt wurde.«

Mrs Sap grummelte ärgerlich vor sich hin, stellte das Gewehr aber in eine Ecke und eilte zu Felix. Als sie seinen Rücken sah, zuckte sie entsetzt zusammen und befahl ihm, sich sofort zu setzen.

»Grundgütiger, das sieht ja aus, als seien Sie ausgepeitscht worden!«, rief sie. »Da muss sofort der Arzt her!«

Wenn Mrs Sap etwas beschlossen hatte, war Widerspruch zwecklos, und im Nu traf der Doktor ein und verarztete Felix im Obergeschoss. Stella wurde mit Gruff in die Küche beordert.

»Du bist ein muffelndes sabberndes zottiges Ungetüm«, sagte Mrs Sap zu Gruff und tätschelte ihm den Kopf, »aber heute warst du eine Wucht. Eine absolute Wucht.«

Dann sorgte sie dafür, dass Stella sich im kuscheligsten Sessel am Kamin niederließ, brachte ihr einen Becher heiße Schokolade und verwöhnte Gruff mit einem ganzen Brathuhn aus der Tiefkühltruhe. Der Eisbär verputzte es glücklich mampfend auf dem Teppich am Feuer. Stella umklammerte den Becher mit beiden Händen, bekam aber keinen Schluck von der Schokolade runter. Immer wieder hörte sie das schrille Kreischen des Geiers und das Reißen des Stoffes. Vor ihrem inneren Auge sah sie das zerfetzte blutverschmierte Hemd und Felix’ übel zugerichteten Rücken. Und als ihr jetzt die Tränen über die Wangen liefen, konnte sie nichts dagegen tun.

»Ach, mein armes Häschen!«, rief Mrs Sap aus und kam sofort angestürzt. »Was für ein schreckliches Erlebnis, meine kleine Maus!«

Die Haushälterin nahm Stella den Becher aus den zitternden Händen und zog sie dann auf ihren Schoß, wie früher, als Stella noch klein gewesen war.

»Alles wird gut«, murmelte Mrs Sap tröstend. »Wein dich nur aus, wenn es hilft. Da hätten sich ja die meisten anderen Menschen längst die Augen aus dem Kopf geheult.«

»Wird … Felix wieder gesund?«, fragte Stella mit zittriger Stimme.

»Aber sicher doch, mein Schätzchen. Der ist eine zähe alte Haut. Ist bestimmt nicht das erste Mal, dass er auf seinen Expeditionen von irgendwelchen grässlichen Ungeheuern angefallen wurde, das sag ich dir.« Mrs Sap seufzte. »Warum ihr alle andauernd in irgendwelchen wildfremden Ländern herumstreifen müsst, wird mir für immer ein Rätsel bleiben. Aber dass man Entdecker nicht zur Vernunft bringen kann, hab inzwischen sogar ich verstanden. Die haben nun mal immer nur Landkarten und Kompasse und Abenteuer im Hirn, mehr nicht. Aber Felix kommt schon wieder in Ordnung. Die Schrammen sehen zwar wüst aus, werden aber bald wieder heile sein.«

Tatsächlich war es dann aber so, dass Felix eine Woche lang kaum laufen konnte. Mrs Sap war unbedingt dafür, Tante Agatha einzubestellen, damit sie ihn pflegte. Aber Felix sagte, etwas Schlimmeres könne er sich gar nicht vorstellen, und wenn Mrs Sap ihn auch nur ein klitzekleines bisschen leiden könnte, würde sie solchen Unfug unterlassen.

»Schließlich bin ich nicht schwerverletzt«, betonte Felix. »Ich muss weder von meiner Schwester noch von sonst wem betüddelt werden.«

Das Gewehr kassierte er zur Sicherheit aller ein – was Mrs Sap absolut empörend fand –, und Stella bekam die Anweisung, unter keinen Umständen nach draußen zu gehen, nicht einmal um ihr Einhorn Magic zu besuchen. Sie protestierte heftig, aber Felix ließ sich nicht umstimmen. Man könne nicht ahnen, ob der Riesengeier wiederkommen würde, sagte er, und müsse extrem vorsichtig sein.

»Aber ich kann doch nicht dauernd im Haus bleiben!«, widersprach Stella. »Hier gab es noch nie Geier, der hatte sich bestimmt nur verflogen und ist längst über alle Berge.«

Felix seufzte. »Dieser Vogel kam von der Hexeninsel im Eisland, Stella. Und ich fürchte, er hatte sich nicht verflogen. Jezzybella muss ihn geschickt haben, um dich zu holen.«

Stella schauderte, als sie den Namen hörte. »Aber woher soll die denn wissen, wo ich wohne? Glaubst du, es hat etwas mit der Hexenpuppe zu tun?«

»Wäre denkbar. Wir müssen auf den Experten warten.«

Der Marionettenexperte traf schon wenige Tage später ein. Er hieß Sir Erwin Rolfingston und war ein großer hagerer Mann mit gewaltiger Adlernase und einem schwarzen Schnurrbart mit nadelspitzen Enden. Die zwirbelte er unentwegt, was Stella bislang nur bei Schurken im Theater gesehen hatte.

Sie brauchten ziemlich lange für die Wendeltreppe im Ostturm, weil Felix mehrmals anhalten und tief durchatmen musste, denn sein Rücken tat noch immer weh.

»Geht es Ihnen auch gut?«, fragte Sir Rolfingston und beäugte Felix zweifelnd. »Sie bleiben schon zum zweiten Mal stehen.«

»Ich bitte um Entschuldigung. Habe mir neulich den Rücken verletzt, und Treppen sind noch etwas schwierig für mich.«

Sir Rolfington gab mit seinem gewaltigen Riechorgan ein lautstarkes Schnauben von sich. »Ist mir vor ein paar Jahren auch passiert«, sagte er. »Hatte mich in einer Riesenmarionette verheddert. Enorm lästig, wie?«

»Und ob«, antwortete Felix.

Stella trat näher zu Felix, damit er sich auf ihre Schulter stützen konnte, und bald standen sie vor dem Turmzimmer. Felix schloss die Tür auf, und sie drängten sich rasch hinein und schlossen sie hinter sich, damit die Hexenpuppe nicht entkommen konnte.

Zuerst konnte Stella sie nirgendwo entdecken, da der kleine runde Raum mit Plüscheisbären vollgestopft war. Vor einigen Jahren hatte Felix einen Plüscheisbären für Stella zum Geburtstag bestellt, doch durch einen Irrtum waren statt einem Bären einhundert eingetroffen.

Mit Grauen sah Stella, dass einer der Bären aufgeschlitzt worden war – vermutlich von der Hexenmarionette. Die Füllung war überall verstreut, und – was noch viel schlimmer war – der Stoff war flach auf dem Boden ausgebreitet, genau wie das riesige Eisbärenfell im Polarbären-Entdeckerclub.

»Blutrünstig«, seufzte Sir Rolfingston, sah Felix an und zwirbelte die Schnurrbartspitzen. »Früher gab es viele singende, tanzende oder hüpfende Marionetten. Aber heutzutage, kann ich Ihnen sagen, da sind blutrünstige Marionetten offenbar der letzte Schrei.«

»Wo ist sie denn?«, fragte Stella. In diesem Moment ragte der Hexenhut zwischen den weißen Plüschbären auf, und die Marionette kam zum Vorschein.

Das Holzstück, an dem ihre Fäden befestigt waren, schwebte wie von unsichtbarer Hand geführt in der Luft. Als Sir Rolfingston danach griff, versuchte die Hexe, wieder abzutauchen, aber der Experte war schneller, und so baumelte sie schlapp an ihren Fäden.

Stella betrachtete die Marionette neugierig. Von ihrem spitzen Hut bis zur krummen Nase sah sie so aus, wie man Hexen aus Büchern kannte. Sie war aus Holz geschnitzt, trug Kleider aus echtem Stoff, und unter dem Hut quoll eine wirre graue Lockenmähne hervor. Abgesehen davon, dass die Puppe sich von alleine bewegen konnte, waren das Seltsamste an ihr die von furchtbaren Brandwunden übersäten Füße. Im Eisschloss der Schneekönigin hatte Stella von einem Zauberspiegel erfahren, dass eine Hexe aus Rache ihre Eltern getötet hatte. Denn das Königspaar hatte bei der Hochzeit die Hexe dazu gezwungen, in glühenden Eisenschuhen zu tanzen. Auch wenn die verbrannten Füße nur zu einer Marionette gehörten – Stella war ganz übel vor Scham, weil ihre leiblichen Eltern so etwas Entsetzliches getan hatten.

Sir Rolfingston brauchte nur einen einzigen Blick auf die Marionette zu werfen, die jetzt wild zappelte und um sich schlug. »Hier handelt es sich zweifellos um eine Ebenbild-Spionmarionette«, sagte der Experte.

Felix seufzte tief. »Das hatte ich befürchtet.«

»Was ist eine Ebenbild-Spionmarionette?«, fragte Stella, obwohl sie die Antwort bereits zu kennen glaubte.

»Eine Marionettenversion einer lebenden Person«, antwortete Sir Rolfingston. Er schniefte erneut und musterte die Puppe von Kopf bis Fuß. »Die beiden sind durch einen Zauber verbunden, verstehst du. Das kommt nur sehr selten vor. Die echte Person sieht alles, was die Marionette sieht.« Er warf einen Blick auf Stella. »Und an dir scheint sie ausgesprochen interessiert zu sein.«

Wahrhaftig drehte und wand sich die Marionette, um Stella richtig sehen zu können. Als Sir Rolfingston die Puppe auf den Boden stellte, schwebte das Brett wie zuvor in der Luft. Die Marionette drehte sich um und stapfte sofort auf Stella zu. Die Holzfüße klapperten auf dem Boden. Dann packte die Hexe mit ihrer knorrigen Hand Stellas Kleidsaum und zupfte energisch daran.

»Höchst eigenartig«, bemerkte Sir Rolfingston. »Wo hast du sie gefunden?«

»Im Schloss einer Schneekönigin«, antwortete Stella und versuchte, ihr Kleid zu befreien. Warum nur hatte sie das vermaledeite Ding überhaupt mitgenommen? Wieso hatte sie es nicht in dem Schrank gelassen, wo sie es gefunden hatte? Dann wäre der scheußliche Geier niemals hier aufgetaucht, und Felix wäre nicht verletzt. Stella konnte nicht einmal sich selbst erklären, weshalb sie von der Hexenpuppe so fasziniert gewesen war.

»Äußerst unerquickliche Orte, wie ich gehört habe«, sagte Sir Rolfingston. »Nichts Gutes kommt aus Schlössern von Schneeköniginnen.« Plötzlich musterte er Stella prüfend, schien erst jetzt ihre bleiche Haut, das weiße Haar und die eisblauen Augen zu bemerken. »Meine Güte, du bist doch wohl nicht die Eisprinzessin, von der alle reden, oder?«

Stella sah ihn kläglich an. Sie wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Ja, sie war eine Eisprinzessin, wollte es aber gar nicht sein. Zwar hatte sie sich früher immer gewünscht, das Geheimnis ihrer Herkunft zu kennen. Aber nun, da sie es wusste, wünschte sie sich beinahe, das Schloss der Schneekönigin niemals betreten zu haben. Wer wollte denn schon wissen, dass die eigenen Eltern furchtbar böse gewesen waren? Dass man Eismagie ausüben konnte, durch die nach und nach das eigene Herz gefror? Und durch die man immer grausamer wurde?

»Stella ist aber noch viel mehr«, sagte Felix gelassen. »Vor allem ist sie exzellente Navigatorin, kühne Entdeckerin, geliebte Tochter, elegante Schlittschuhläuferin, Leseratte, treue Freundin und geschickte Herstellerin von Luftballon-Einhörnern.«

Stella lächelte Felix dankbar an. Es tröstete sie, dass er in ihr nicht nur die Eisprinzessin sah. Über das Kompliment für die Luftballon-Einhörner freute sie sich besonders. Nach der Rückkehr von der Expedition hatte Felix ihr geduldig das Luftballonknoten beigebracht. Stellas erste Versuche hatten wie moppelige Elche ausgesehen, aber inzwischen brachte sie recht gelungene Einhörner zustande.

»Hmm.« Sir Rolfington beäugte Stella zweifelnd. »Aber von Eisprinzessinnen ist bekannt, dass sie ein gefrorenes Herz haben, nicht wahr?«

»Und von Marionettenexperten ist bekannt, dass sie verschrobene Sonderlinge sind, nicht wahr?«, sagte Felix munter. »Wo kämen wir denn hin, wenn wir alle nur in Vorurteilen denken? Vielen Dank jedenfalls für Ihre Expertise, Sir Rolfingston. Darf ich Ihnen vielleicht einen Tee anbieten, bevor Sie die Rückreise antreten?«

Sir Rolfingston warf erneut einen Blick auf Stella und sagte: »Danke, nein. In den Pinienzapfenbergen wartet eine wertvolle Sammlung von Schneeungetüm-Marionetten auf mich, die ich dringend begutachten muss.« Er drehte sich noch einmal um und schaute auf die Hexenpuppe. Sie hatte sich auf ihren Eisbärteppich gesetzt und beobachtete die drei. »Aber ich möchte Ihnen noch einen Rat geben. Was diese Marionette hier erfährt, weiß im selben Augenblick auch die echte Hexe. Seien Sie lieber vorsichtig.«

3. Kapitel

In den nächsten Wochen bekam Stella ihren Vater kaum zu Gesicht. Nachdem sich der Verdacht bestätigt hatte, dass der knochenfressende Geier vermutlich von der Hexe geschickt worden war, stürzte sich Felix Hals über Kopf in Arbeit. Die monströsen Vögel kamen nur an einem einzigen Ort der Welt vor, und zwar am Hexenberg, der Insel am Rande des Eislandes. Felix nahm an, dass die Hexe sich nach dem Mord an Stellas Eltern dorthin verzogen hatte. Deshalb schrieb er nun in einem fort Briefe an die Behörden, damit man die Hexe verhaftete und wegen ihres Verbrechens vor Gericht brachte.

Doch als die Wochen ins Land gingen, zeigte sich, dass die Behörden keinerlei Wert auf die weite Reise durchs Eisland legten, um eine gefährliche Hexe zu verhaften, die vor zehn Jahren zwei Leute ermordet hatte. Stella las heimlich einen der Briefe, während Felix damit beschäftigt war, Gruff zu baden.

Sehr geehrter Mister Pearl,

vielen Dank für Ihr Schreiben. Bedauerlicherweise müssen wir Ihnen mitteilen, dass die Königliche Rechtsbehörde für Verbrechen im Gebiet des Eislandes nicht zuständig ist. Ferner gehören blutrünstige Streitereien zwischen Yetis, Schneeköniginnen, Eisungeheuern und dergleichen nicht in den Aufgabenbereich der Königlichen Rechtsbehörde.

Falls Sie jemanden aus dem Zaubervolk für zauberische Verbrechen belangen wollen, wenden Sie sich bitte an das Gericht für Zauberrecht. Es befindet sich in der Wildnis des Waldes für Schwarzmagie auf der anderen Seite des Erdballs. Vor der Reise dorthin wird jedoch gewarnt.

Sie führt durch unerforschte Gebiete, in denen es vor Gefahren aller Art wimmelt.

Besten Dank für Ihre Anfrage. Wir bedauern es, Ihnen in dieser Angelegenheit nicht behilflich sein zu können.

 

Hochachtungsvoll

Montague Rawnsley

Sekretär der Königlichen Rechtsbehörde

Rasch blätterte Stella weitere Briefe auf Felix’ Schreibtisch durch. In allen stand mehr oder weniger das Gleiche. Sie stieß sogar auf eine Mitteilung vom Gericht für Zauberrecht auf einer dicken Pergamentrolle. Da die Ecken ziemlich verkohlt aussahen, war sie vermutlich von einem Feuerkobold überbracht worden. In diesem Schreiben stand, man sei selbstverständlich bereit, die Hexe für ihre Verbrechen zu belangen. Dazu müsse sie jedoch selbst vor Gericht anwesend sein.

Das klang alles gar nicht gut, und Stella befürchtete allmählich, dass sie für immer und ewig im Haus eingesperrt bleiben musste. Der grässliche Geier war inzwischen mehrmals wieder am Himmel gesichtet worden, hatte sich jedoch nicht näher herangewagt. Felix glaubte aber, dass er Stella sofort packen und zum Hexenberg verschleppen würde, sobald sie aus dem Haus trat.

»Tut mir wirklich sehr leid für dich«, sagte Felix zu Stella. »Ich weiß, dass du Schlittschuhlaufen, deine Einhörner besuchen und Schneepinguine bauen willst. Aber bevor wir nicht wissen, was wir mit der Hexe anstellen sollen, schwebst du dauernd in Gefahr.«

Stella war klar, dass ihr Vater recht hatte, fand es aber unerträglich, eingesperrt zu sein. Ihre Hände sehnten sich nach kaltem Schnee, ihre Haut wollte frische eisige Luft spüren. Sie war immer schon gerne draußen umhergestreift; Eisprinzessinnen fühlten sich nicht wohl, wenn sie zu lange in mollig warmen Häusern bleiben mussten.

In der Orangerie wurde es abends nach Sonnenuntergang sehr kalt, deshalb verbrachte Stella jetzt viel Zeit dort mit den Pygmäendinosauriern, die Felix erforschte. Ein kleiner Triceratops namens Toby war neu hinzugekommen. Er war zwar lieb, aber noch sehr scheu, und Stella beschäftigte sich besonders viel mit ihm, damit er sich gut einleben konnte. Und natürlich spielte sie mit ihrem Lieblingspygmäendino, dem T-Rex Buster.

Dennoch war ihr bald furchtbar langweilig, und es wurde noch schlimmer, als Felix sich bezüglich der Hexe immer geheimnistuerischer benahm und schließlich gar nicht mehr über sie sprach. Stella war sicher, dass Felix irgendwelche Pläne schmiedete, denn er gab grundsätzlich niemals auf. Und es trieb sie fast zur Raserei, dass er ihre Fragen nur ausweichend beantwortete.

Deshalb war es eine willkommene Abwechslung, als der Zauberer Zachary Vincent Rook vom Meereskraken-Entdeckerclub mit seinem Sohn Ethan Edward zu Besuch kam. Bei Stellas allererster Expedition zum kältesten Teil des Eislands hatte Ethan zum Team der Junior-Entdecker gehört. Zu Anfang waren Stella und er sich spinnefeind gewesen (weil Ethan sich manchmal unmöglich aufführte), durch die gemeinsam bestandenen Abenteuer dann aber Freunde geworden.

Stella sah Ethan zum ersten Mal ohne die schwarze Montur des Meereskraken-Entdeckerclubs. Heute trug er Hose, Weste und Krawatte und sah ungeheuer steif und förmlich aus. Die weißblonden Haare, die fast so fahl wirkten wie sein bleiches spitzes Gesicht, waren wie immer straff zurückgekämmt.

Stella begrüßte Ethan mit den Worten: »Du siehst ja aus, als gehst du zu einer Beerdigung!«

Ethan zog eine Augenbraue hoch und musterte Stella von Kopf bis Fuß. »Und du wie beim Faschingsball! Ich hab dich noch nie in Mädchenkleidung gesehen. Wie kommst du bloß mit diesen ganzen Röcken klar?«

Bei der Expedition war Stella wie die Jungen in Hosen, Umhang und Schneestiefeln unterwegs gewesen. Jetzt trug sie ein blaues Kleid mit glitzernden Einhornknöpfen. Ihre langen weißen Haare waren zum Pferdeschwanz gebunden und mit Einhornspangen festgesteckt. Das Kleid hatte tatsächlich mehrere Unterröcke, weil Stella das Rauschen und Rascheln liebte, wenn sie damit im Kreis umherwirbelte.

»Man kann in so einem Petticoat-Kleid alles genauso machen wie in Hosen«, erwiderte sie entschieden.

»Wüsste nicht wie«, widersprach Ethan zweifelnd und rückte seine bereits perfekt sitzende Krawatte zurecht. »Muss doch irre hinderlich sein.«

»Nicht weniger als ein Schnurrbart«, konterte Stella.

»Ich hab keinen Schnurrbart. Außerdem ist man nur beim Polarbären-Entdeckerclub so absurd versessen auf Schnurrbärte.«

»Ach, komm, hören wir auf, uns über Schnurrbärte und Petticoats zu streiten«, sagte Stella. »Los, ich will dich Gruff vorstellen.«

Der Eisbär räkelte sich behaglich im Rauchersalon vor dem Kaminfeuer.

»Großer Gott, ist der gigantisch!«, rief Ethan aus.

Stella dachte meist gar nicht daran, dass andere Leute nicht mit einem Eisbären zusammenlebten. Sie war ungeheuer stolz auf ihr Haustier und zog Ethan zum Kamin.

»Eisbären leben ja normalerweise im Schnee, aber Gruff ist ganz verrückt nach Kaminfeuer«, sagte sie.

Der Bär schlug träge ein Auge auf, schien aber nicht die Absicht zu haben, sich zu rühren.

»Komm, du großer dicker Faulpelz.« Stella stupste Gruff liebevoll mit dem Fuß an. »Steh auf und begrüß unseren Gast.«

»Ist schon okay«, sagte Ethan, der sich halb hinter Stella versteckte. »Er kann mich ja auch so begrüßen. Hast du vergessen, dass ich andauernd von irgendwas gebissen werde?«

Ethan hatte tatsächlich bei der Expedition das Pech gehabt, dass er nicht nur von einem Frostie, sondern auch noch von einem fleischfressenden Kohlkopf und der übellaunigen Gans Dora gebissen worden war.

»Und auch fies gezwickt«, fügte Ethan hinzu, der eindeutig wieder an Dora dachte. »Bestimmt fällt bald wieder irgendwas über mich her.«

»So ein Blödsinn«, versetzte Stella. »Gruff beißt nicht. Nie im Leben würde der über dich herfallen.« Sie holte eine Portion Fischkekse aus ihrer Kleidtasche und drückte sie Ethan in die Hand. »Hier, die mag er am liebsten.«

»O nein«, sagte Ethan angewidert. »Nimm die bitte wieder an dich.«

Doch es war bereits zu spät. Blitzschnell rappelte sich Gruff auf und war im Nu bei Ethan. Der erstarrte zur Salzsäule, als der Eisbär ihm grunzend und schmatzend die Fischkekse aus den Händen fraß. Danach schleckte Gruff Ethan begeistert die Wange ab, und plötzlich zuckte die schwarze Nase des Bärs heftig.

»Oje«, sagte Stella hastig. »Ethan, lauf mal schnell …«

Doch weiter kam sie nicht, denn Gruff nieste ganz gewaltig. Jede Menge Eisbärsabber mit Fischkekskrümeln landete dabei auf Ethans Weste, tropfte ihm übers Gesicht und haftete in den Haaren, die jetzt nicht mehr sehr makellos aussahen.

Gruff grunzte zufrieden und trottete zu seinem Plätzchen am Kamin zurück. Ethan blieb reglos stehen, die Hände vor sich ausgestreckt, von denen Speichel troff.

»Na ja, er hat nicht so gute Tischmanieren«, sagte Stella entschuldigend. »Manchmal niest er, wenn er Fischkekse gefuttert hat. Tut mir leid.«

»Stella«, knurrte Ethan mit zusammengebissenen Zähnen. »So etwas Furchtbares ist mir in meinem ganzen Leben noch nicht passiert.«

»Ach, manchmal bist du echt so ein Langweiler«, erwiderte Stella seufzend. »Shay würde Gruff lieben.«

Den Wolfsflüsterer Shay hatte Stella auch bei der Expedition kennengelernt, und der fand es äußerst beeindruckend, dass Stella einen Eisbären als Haustier hatte.

»Ich bin aber nicht Shay Silverton Kipling«, knirschte Ethan. »Zauberer drücken sich nicht in Wolfsgehegen herum. Und Zauberer verabscheuen es, von oben bis unten mit Schleim besabbert zu sein. Bring mich auf der Stelle zum nächsten Badezimmer.«

Stella seufzte erneut, tat aber, was Ethan verlangt hatte. Nachdem der Zauberer eine Ewigkeit im Badezimmer herumgefuhrwerkt hatte, kam er tadellos sauber und frisiert wieder zum Vorschein.

»Wieso ist dein Vater überhaupt bei Felix?«, erkundigte sich Stella auf dem Weg zur Küche.

Ethan zuckte die Achseln. »Hatte gehofft, dass du es weißt. Die planen doch wohl hoffentlich keine Expedition ohne uns, oder? Ich hab neulich gesehen, wie Vater eine Karte von der Versunkenen Stadt Muja-Muja studierte.«

»Glaub ich eher nicht«, antwortete Stella. »Felix macht sich zurzeit zu viel Sorgen wegen der Hexe, um eine Expedition zu planen.«

Stella erstattete Ethan Bericht über den Angriff des knochenfressenden Geiers und die Hexe vom Hexenberg.

Ethan runzelte die Stirn. »Ja, Felix hat uns über den Geier informiert. Wir haben ihn auch draußen kreisen sehen, aber er hat uns in Ruhe gelassen.«

»Felix glaubt, dass er es auf mich abgesehen hat«, sagte Stella düster. »Dass er mich zu der Hexe verschleppen will. Deshalb darf ich keinen Fuß mehr vors Haus setzen.«

»Das ist übel«, erwiderte Ethan. »Knochenfressende Geier sind extrem gefährlich. Mein Vater hat erzählt, dass man die – wenn man keine Hexe ist – nur in den Griff kriegt, indem man eine Zauberschelle an ihrem Bein befestigt. Dann machen die Biester wohl alles, was man ihnen aufträgt.«

»Aber das ist doch super!«, rief Stella aus. »Dann müssen wir nur eine dieser Zauberschellen finden, und das Geierproblem ist gelöst!«

»Vater hatte mal eine, ich weiß noch, wie er sie mir gezeigt hat. Aber das Problem wäre damit trotzdem nicht gelöst. Die Hexe könnte einfach den nächsten Geier schicken. Oder womöglich selbst auftauchen. Und bring so ein Ding erst mal an. Vater meint, das würde nur ein Irrer probieren. Die Viecher zerfetzen einem doch vorher das Gesicht. Denk nur an diese scharfen Krallen.«

Stella sah wieder Felix’ blutigen Rücken vor sich und schauderte. Die Wunden waren zwar vollkommen verheilt, aber es gab keinerlei Zweifel an der Gefährlichkeit dieser unheimlichen Vögel.

»Dann gibt es also keine Hoffnung«, seufzte Stella.

»Wir lassen uns schon irgendwas einfallen«, erwiderte Ethan tröstend. »Du kannst ja schließlich nicht für den Rest deines Lebens hier eingesperrt bleiben. Wäre zu blöd, wenn du nicht mit auf die nächste Expedition kommen könntest.«

Stella lächelte dankbar. Doch bevor sie etwas erwidern konnte, hörten sie beide das silbrige Klirren von Schlittenglöckchen.

»Erwartet ihr noch mehr Besuch?«, fragte Ethan.

Stella schüttelte den Kopf. »Nicht, dass ich wüsste.«