Der Prinz trägt Rot - Sina Junker - E-Book
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Der Prinz trägt Rot E-Book

Sina Junker

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Beschreibung

Über die Macht der Worte, das Bewahren von Geheimnissen und die Kraft des Vertrauens! Die junge Journalistin Debbie McComfort ist tough, ehrgeizig und zielstrebig. Seit sie für Londons führende Zeitung Fallen Leaves arbeitet, hofft sie auf die Chance, sich beweisen zu können. Ihr nächster Auftrag führt sie nach Bonyard Isle, denn es ist ausgerechnet Prinz Damian, über den sie einen vernichtenden Artikel verfassen soll, ein unnahbarer und verschlossener Mann. Ihre große Chance im Blick setzt Debbie alles daran, ihrem Durchbruch näher zu kommen. Doch Damian macht ihr genau das unheimlich schwer. Wenn Debbie ihren Job nicht verlieren will, muss sie wohl oder übel einen Weg finden, Damians Geheimnis zu lüften. Viel zu schnell überschlagen sich die Ereignisse und was als unmögliche Aufgabe begann, entwickelt sich zu etwas viel Größerem. Plötzlich sieht Debbie nicht nur Damian in einem anderen Licht, sondern auch sich selbst. Am Ende ist für die junge Frau nur eine Frage von Bedeutung: Würdest du dein eigenes Leben retten, indem du das eines anderen zerstörst?

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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SINA JUNKER
Der Prinz trägt Rot
Für alle, die sich von einem Lächeln inspirieren lassen
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- 1 -
Deborah McComfort ist an den Straßenlärm von London gewöhnt. Sie wohnt bereits ihr ganzes Leben hier. Eigentlich macht es ihr nichts aus, im Morgengrauen durch von Abgase verpestete Straßen zu gehen, vorbei an einigen Obdachlosen, die eingeschlagen in Decken oder gold glänzendes Rettungspapier liegen. Sie hat sich so an dieses Bild gewöhnt, dass sie es normalerweise mühelos schafft, jeder leeren Bierflasche, die auf dem Gehweg liegt, auszuweichen und einen großen Schritt über die Hundehaufen zu machen, um nicht mit ihren Pfennigabsätzen in ein stinkendes Exemplar zu treten.
Doch an diesem Morgen sind ihre Schritte gedämpfter, langsamer. Deborah geht nicht, wie sonst, den Blick starr geradeaus in Richtung U-Bahn-Station gerichtet, sondern sie schaut links und rechts. Tief seufzend registriert sie zwei Tauben, die sich um ein Stück Brot streiten, das wohl das Schmackhafteste sein wird, das sie heute zu fressen bekommen werden. Die Sirene eines Krankenwagens heult laut auf und Deborah zuckt für den Bruchteil einer Sekunde zusammen. Sie schiebt den Riemen ihrer schwarzen Ledertasche ein Stück höher auf die Schulter und streicht über ihre hellblaue Bluse, die aufgrund der schwülen Temperaturen schon jetzt anfängt, sich wie ein nasses Tuch auf ihre Haut zu legen. Dann schüttelt sie den Kopf, reckt ihr Kinn vor und geht zielstrebig weiter.
In den vergangenen Jahren hat Deborah, die eigentlich von allen nur Debbie genannt wird, es beinahe perfektioniert, ihr Äußeres so weit herzurichten, sich einen kultivierten Sprachgebrauch anzueignen und jede Geste fließend und gleichzeitig erhaben wirken zu lassen, dass nichts, aber auch wirklich nichts darauf hinweisen könnte, aus welcher Gegend im Allgemeinen und welcher Familie im Besonderen sie stammt. Innerlich bedankt und verbeugt sie sich bei niemand Geringerem als der Queen, bei der sie sich die ein oder andere Bewegung abgeschaut hat. Debbies Fassade bröckelt in der Regel nicht, es sei denn, ihre jüngste Schwester Judy tapst abends, barfuß und in den Teddybär-Pyjama gekleidet, den Debbie ihr zum achten Geburtstag geschenkt hat, in ihr Zimmer, kuschelt sich eng an sie und lauscht, wie sie ihr eine Gutenachtgeschichte vorliest.
Der Gedanke an Judy lässt Debbie schmunzeln und ohne, dass das Hupen zweier Autos sie aus dem Konzept bringen kann, durchschreitet sie den Eingang der Stockwell Station. Judy ist Debbies Herzstück, das einzige Familienmitglied, bei dem Debbie Ähnlichkeiten mit sich selbst feststellt. Sie als die Älteste von fünf Geschwistern und Judy mit ihren acht Jahren als Nesthäkchen könnten vom Alter nicht weiter auseinanderliegen. Es trennen die beiden ganze sechzehn Jahre, aber schon immer bestand zwischen ihnen eine besondere Verbindung, ein engeres Band, als Debbie es je zu ihren Geschwistern oder ihren Eltern hat aufbauen können. Ob es an dem Umstand liegt, dass Andrew, ihr Vater, kurz vor Judys Geburt starb und ihre Mum sich ab diesem Tag kaum noch um ihre Kinder gekümmert hat, sondern Debbie die Rolle übernommen hat, weiß sie nicht genau. Vielleicht liegt es aber auch viel mehr an Judys klugem und gescheitem Gemüt, ihrer fröhlichen und aufgeweckten Art, ihrem Drang, Neues zu erfahren und sich nicht, wie ihre älteren Geschwister, mit ihrem Schicksal abgeben zu wollen. In diesem Punkt ähnelt sie Debbie wohl am meisten.
»Huch, sorry«, murmelt Debbie, als sie mit einem kleinen Strauchler in die Bahn einsteigt und dabei versehentlich eine auf einen Krückstock gestützte alte Dame anrempelt.
»Das macht doch nichts, Kindchen.« Aus trägen grauen Augen lächelt die Dame sie an und entblößt dabei gleich mehrere Zahnlücken. Der runde Körper der Frau wird von einem Oberteil bedeckt, das so viele kleine Blumen ziert, dass Debbie unweigerlich blinzeln muss. Weil es ihr der Anstand gebietet, sie aber auch nicht anders kann, lässt Debbie die Dame an sich vorbeigehen und wartet, bis diese einen freien Platz gefunden hat, auf dem sie sich behäbig niederlässt. Gerade als Debbie weitergehen möchte, um einen freien Fensterplatz anzusteuern, klopft die Dame auf den Sitz neben sich. Mit einem deutlichen Nicken fordert sie sie auf, sich neben sie zu setzen.
Für einen Moment ist Debbie unschlüssig. Am liebsten verbringt sie die wenigen freien Minuten am Tag, die ihr bleiben, bis sie im Büro ankommt, im Stillen. Die wenigen Momente, die sie ohne das Geschrei ihrer Geschwister oder Jaspers laut dudelnden Computer hat, kostet sie voll aus. Meistens beginnt ihr Bruder bereits in den frühen Morgenstunden damit, Counter Strike zu spielen. Vielleicht fängt er auch schon am Abend an und hört einfach nie auf damit, so genau weiß man es nicht.
Aber der flehende und auffordernde Blick bewegt etwas in Debbie, was sie am Weitergehen hindert. Also setzt sie sich auf den äußeren Rand des Sitzes neben einen grünen Fleck, dessen Ursprung sie nicht ergründen möchte, nieder und lächelt ihre Sitznachbarin höflich an.
»Auf dem Weg zur Arbeit?«, fragt die Dame und mustert Debbie.
»Wie jeden Tag«, nickt Debbie vage lächelnd. »Und Sie?«, stellt sie die Gegenfrage.
»Ach, ich fahre mal hierhin, mal dorthin.« Sie seufzt und lässt sich dabei etwas zur Seite sinken. Debbie spürt den warmen Arm der Frau, der sich gegen ihre Seite schiebt. Augenblicklich klebt ihre Bluse noch ein wenig mehr an ihr. »Wissen Sie …«, beginnt sie den Dialog, der sich für Debbie mehr nach einem beginnenden Monolog anhört, »ich arbeite schon lange nicht mehr. Meine Beine …, Rheuma, Gicht, ein Unfall, der mir die Kniescheibe zertrümmert hat. Aber was soll’s. Soweit geht es mir gut. Zwar kann ich nicht auf großem Fuß leben und habe nur eine kleine Einzimmerwohnung, aber solange ich genug Futter für meine zwei Katzen habe, bin ich zufrieden.« Wie um sich selbst zu bestätigen, nickt die Dame.
Trotz der stickigen Luft in der Bahn, die alle Gerüche verstärkt, fröstelt es Debbie. Ihre Gesprächspartnerin erinnert sie viel zu sehr an ihre eigene Mutter, sodass sie überhaupt nicht die Chance besitzt, die Worte neutral zu hören. Ein leises Seufzen verlässt ihren Mund. Wenn Debbie eines nicht mag, ja beinahe zutiefst verabscheut, dann ist es Aufgeben. Sowohl das Aufgeben bei einem Projekt als noch viel mehr die Selbstaufgabe gehören zu den größten Gräueln, die Debbie sich nur vorstellen kann. Sie glaubt fest daran, dass man sein eigenes Schicksal in die Hand nehmen kann und es das Mindeste für sich selbst ist, es auch tun zu müssen. Jeder Mensch kommt in seinem Leben an einen Punkt, an dem er strauchelt und ins Wanken gerät. Dann hat man zwei Möglichkeiten: Entweder man bleibt liegen und ergibt sich seinem Schicksal, oder man steht auf, schüttelt den Dreck ab und wird stärker als je zuvor. Für Debbie hat die erste Möglichkeit nie bestanden.
»Hmm«, sagt sie nur, weil ihr an diesem Morgen keine passenden Worte einfallen, die sie der Dame mit auf den Weg geben kann. Glücklicherweise hat die Tube keine Verspätung und Debbie springt beinahe von ihrem Sitz auf, als die Durchsage ertönt und London Bridge ankündigt. »Einen schönen Tag noch.« Sie schenkt der Dame, nach deren Namen sie gar nicht gefragt hat, ein letztes Lächeln.
»Ihnen auch, Liebes«, kommt es gedehnt zurück. Selbst in diesen wenigen Worten schwingt ein resignierter Unterton mit.
Debbie ist sich sicher, dass zu viele Leute versäumt haben, aufzustehen und den Dreck abzuklopfen.
Debbie mochte die Station London Bridge schon immer. Sie erscheint ihr wie das Tor in eine andere Welt. Hinaus aus der Welt, in die sie geboren wurde, hinein in die Welt, in der sie  sich wohlfühlt. Sobald sie sich in dem Strom geschäftiger Menschen nach draußen schiebt, schießt ihr die schwüle Luft erneut entgegen.
Es ist Juli. Dass es warm ist, ist nichts Ungewöhnliches. Allerdings hat das Wetter in den vergangenen Monaten verrücktgespielt. In den letzten Tagen sind mehrere Gewitter über die Stadt gezogen. Regenwolken haben sich entladen. Anstatt allerdings Erfrischung über die Stadt zu bringen, hat es lediglich dazu geführt, dass man den Geruch von Asphalt noch deutlicher wahrnimmt und die Luft stickiger als zuvor ist.
Debbie schiebt sich gekonnt an einer Gruppe junger Männer vorbei, die allesamt in akkurat sitzende, dunkle Anzüge gekleidet sind. Sie unterhalten sich lachend und einer von ihnen erwähnt einen Artikel, den er am Morgen in der Financial Times gelesen hat. Debbie hört nur mit einem Ohr zu. Sie macht ein paar Schritte zur Seite und steuert ein Café an. Gespräche über Finanzen, den Aktienmarkt, den neuesten Artikel aus einer Zeitung, sei es dem Daily Mirror, dem Telegraph oder auch der Vogue, geben Debbie ein gutes Gefühl. Es zeigt doch, dass es Menschen gibt, die interessiert sind, sei es in Mode, Finanzen oder dem Leben allgemein.
Sie erinnert sich, dass sie im Alter von fünfzehn Jahren von ihrem hart erarbeiteten Geld eine Ausgabe der Vogue sowie der Sun gekauft hat. Allerdings hat sie den Fehler gemacht und beide Zeitschriften offen auf ihrem Schreibtisch liegen lassen, was damit endete, dass ihre jüngeren Geschwister Jane und Jonah jede einzelne Seite herausgerissen und sich damit beworfen haben. Sie schienen großen Spaß daran gehabt zu haben, doch Debbie hat es nur die Tränen in die Augen getrieben. Als sie ihrer Mutter davon berichtete und erwartete, dass diese ihre Geschwister dazu auffordern würde, Debbie die Zeitschriften zu ersetzen, musste sie feststellen, dass sie vollkommen falschlag. Ihre Mum lächelte nur müde, fuhr sich durch das orange gefärbte Haar (das wohl das Resultat eines Fehlversuches war) und schalt Debbie, nicht so pingelig zu sein. »Warum willst du Sachen lesen, die mit uns nichts zu tun haben?« Die Worte ihrer Mutter haben sich damals mit der Macht eines heißen Eisens in Debbies Gedächtnis eingebrannt. Bis heute hat sie diese nicht vergessen. Und doch hat sie allen bewiesen, dass sie etwas erreicht hat. Dass sie alles erreichen kann, wenn sie will. Sie muss nur hart genug dafür arbeiten.
Debbie kreist ihre Schultern und zupft an ihrer Bluse. Ein winziger Lufthauch streift ihre Haut. Warum sie ausgerechnet heute von so vielen Erinnerungen heimgesucht wird, weiß sie selbst nicht. Vielleicht war es die Begegnung in der U-Bahn, vielleicht aber auch nur ein Zufall. Sie lässt ihren Blick über die Straße gleiten, saugt das Aussehen der vielen Menschen auf. Sie bewegen sich wie kleine flinke Ameisen fort.
Debbie schüttelt damit alle Gedanken an ihr Zuhause, den fehlenden Rückhalt und ihre Familie ab. Dann betritt sie das kleine Café, so wie sie es jeden Morgen macht. Die Schlange an Wartenden ist lang. Debbie stellt sich hinten an und schielt auf ihre silberne Armbanduhr. Als sie sieht, dass sie gut in der Zeit liegt, stellt sie sich ein wenig entspannter hin. Sie studiert den Aushang über dem Tresen, obwohl sie ihn bereits auswendig kennt. Nach einigen gefühlt endlosen Minuten ist sie an der Reihe. »Guten Morgen«, lächelt sie die junge Barista an, die sie aufmerksam anblickt. »Ich hätte gerne einen großen Kaffee, aber bitte mit glutenfreier Hafermilch, dazu einen Schuss Karamellsirup. Dann einen großen Latte macchiato und zwei Cookies mit Schokoladenstückchen. Haben Sie heute wieder die glutenfreien Cookies?«
Der aufmerksame Blick der Bedienung nimmt einen leicht genervten Zug an. Sie kann es wohl nicht leiden, wenn bereits am Morgen jemand Sonderwünsche hat. Sie zieht ihre linke Augenbraue hoch. Ein silberner Ring zappelt bei der Bewegung darin. »Nein, haben wir nicht.«
»Schade«, lächelt Debbie, noch immer motiviert, etwas Passendes zu finden. »Dann vielleicht einen glutenfreien Brownie?«
Die Augenbraue von Debbies Gegenüber wandert ein weiteres Stück höher. »Nein, auch keine glutenfreien Brownies.«
»Hmm, schade. Letzte Woche gab es welche, die waren wirklich gut.«
»Letzte Woche ist letzte Woche und heute ist heute«, antwortet die Bedienung, mittlerweile sichtlich genervt.
»Das heißt, Sie haben gar nichts Glutenfreies zum Essen?«
Mit einem Augenrollen dreht die junge Frau sich um. Ein Tattoo in ihrem Nacken kommt zum Vorschein: eine Blume, die sich um ein Schwert schlängelt. Debbie denkt gerade darüber nach, ob sie das Bild kunstvoll oder doch zu kitschig findet, als die Stimme der Bedienung durch das Café schallt. »Hey, Steve«, ruft sie zu jemandem, der in der Küche steht. »Haben wir irgendwas Glutenfreies?«
»Nein, heute nicht. Morgen wieder«, erklingt die Stimme besagten Steves.
»Haben Sie gehört?«, kommt die Antwort gequält. »Morgen wieder.«
»Prima«, lächelt Debbie höflich.
»Also, nehmen Sie dann die Cookies?«
»Nein, danke. Bitte nur die beiden Getränke.«
»Was war das noch mal?«
Nun ist es an Debbie, kurz davor zu stehen, ihre Augen zu verdrehen, doch sie reißt sich im letzten Moment zusammen und bewahrt Haltung. Die Queen würde es schließlich auch so machen, oder etwa nicht? Ruhig gibt Debbie ihre Getränkebestellung erneut auf, wohl darauf bedacht, das genervte Räuspern hinter sich zu ignorieren. Als sie endlich ihre beiden Getränke in einer Papphalterung überreicht bekommt, klebt nicht nur Debbies Bluse noch ein wenig mehr an ihrem Rücken, auch ihr enger Bleistiftrock fühlt sich mittlerweile so an, als wolle er ihre Beine vakuumieren.
Debbie bezahlt und dreht sich motiviert und voller Vorfreude um. In wenigen Minuten wird sie im Büro sein und ihre Lieblingszeit des Tages, abgesehen von den Momenten mit Judy, beginnt.
Gerade als sie an dem Mann, von dem das Räuspern ausgegangen ist, vorbeigehen möchte, sieht dieser sie  grinsend an. Er trägt einen perfekt sitzenden Anzug, der sehr offensichtlich kein Modell von der Stange ist. Das Gesicht des Fremden ist symmetrisch, die Nase gerade, die dunklen Augenbrauen in Form gezupft. Genau die richtige Menge Gel hält das Haar davon ab, in die Richtungen zu entgleiten, in die es keineswegs fallen darf. Als der Mann lächelt, kommen so strahlend weiße Zähne zum Vorschein, dass Debbie kurz in Erwägung zieht, nach dem Zahnarzt zu fragen. Ihr Herz pocht für den Bruchteil einer Sekunde schneller. Doch dann wird das Grinsen des Mannes breiter und verwandelt sich in etwas Anzügliches, Unangenehmes. Er leckt sich über die Lippen und zieht seine Augenbrauen ein wenig zusammen, was ihn urplötzlich nicht mehr attraktiv, sondern nur noch dämlich erscheinen lässt. »Wenn du magst, zaubere ich dir etwas. Vollkommen glutenfrei«, säuselt er. »Gibst du mir deine Nummer? Ich bin mir sicher, wir können jede Menge Spaß zusammen haben.«
Debbie schnappt erschrocken über die unverfrorene Art des Mannes nach Luft. Dann macht sie einen Schritt nach vorn. Dank der hohen Absätze ihrer High Heels kann sie ihm direkt in die Augen sehen, ohne aufblicken zu müssen.
»Ja?«, fragte sie und legt ebenfalls einen säuselnden Ton an den Tag. »Das hättest du gerne?« Ihre Stimme wird noch ein wenig süßer.
»Oh ja«, raunt der Fremde und beugt sich vor, sodass ihre Gesichter nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt sind. Sein Aftershave dringt in Debbies Nase und verbreitet einen so massiven Geruch, dass sie kurz Angst hat, ihren Geruchssinn für den Rest des Tages zu verlieren.
»Pech für dich«, sagt Debbie laut und deutlich. »Von jemandem wie dir mit einer so dummen und einfältigen Anmache belästigt zu werden, ist wohl das Letzte, was ich mir an diesem Morgen wünsche. Vielleicht solltest du das nächste Mal darauf achten, etwas mehr Kultiviertheit an den Tag zu legen. Oder ist das für Männer mit Penissen so klein wie Bohnen nicht machbar?«
Debbies Gegenüber öffnet den Mund. Doch es kommt kein Ton heraus. Nun sieht der Mann lediglich wie ein Fisch aus, der auf dem Trockenen liegt. Zufrieden wendet sie sich ab, nicht ohne den ein oder anderen ehrfurchtsvollen Blick einiger Umherstehender aufzufangen. Zwei junge Frauen, die ebenfalls in der Reihe der Wartenden stehen, recken ihr einen Daumen nach oben entgegen.
Debbie räuspert sich und setzt wieder ihre professionelle und ruhige Miene auf. Manche Situationen bedürfen eben eines kurzen Verlassens des Höflichkeitsprotokolls. Dagegen hätte bestimmt auch die Queen nichts einzuwenden.
- 2 -
Zehn Minuten vor acht schiebt sich die gläserne Tür des Gregory-Komplexes zur Seite. Es handelt sich um ein viergeschossiges, modernes Gebäude, das erst Anfang der 2000er erbaut wurde, nachdem ein maroder, heruntergekommener Bau dafür weichen musste.
Debbie betritt das großzügige Foyer. Die Absätze ihrer High Heels ertönen auf dem Marmorboden. Ein Geräusch, das Debbie schon in ihrer Kindheit mochte. Etwas, das für sie stets nach Erfolg klang. Wann immer sie mit ihren Eltern im Zentrum der Stadt war, und das war nicht allzu oft, hielt sie Ausschau nach adrett gekleideten Frauen in schicken Kostümen oder angesagten Styles, die selbstbewusst durch London gingen. Schon immer träumte Debbie davon, eine von ihnen zu sein.
Und jetzt? Jetzt ist sie eine von ihnen.
»Guten Morgen, Miss Filantou«, begrüßt sie eine der drei Empfangsdamen, die aufpassen, dass auch wirklich nur diejenigen zu den Aufzügen gelangen, die entweder einen Termin haben oder eine Chipkarte besitzen.
»Guten Morgen, Miss McComfort.« Susy Filantou, die eigentlich Susan heißt, aber großen Wert darauf legt, mit ihrem Spitznamen angesprochen zu werden, um sich nicht zu alt zu fühlen (was sie mit Ende vierzig definitiv nicht ist), schenkt Debbie ein fröhliches Lächeln. Das tut sie immer. Debbie kann sich nur an zwei Momente erinnern, in denen Susy nicht strahlend wie die Sonne höchstpersönlich ausgesehen hat. Der eine war, als sie von einem schlimmen Virus heimgesucht wurde, der sie auch Tage nach der Genesung noch elendig hat aussehen und fühlen lassen. Der andere, als John Arthur, Debbies ehemaliger Chef, seinen Posten aufgegeben hat, um sich in der Zweigstelle in Bristol niederzulassen. Was ihn dazu bewegen konnte, das herrliche London aufzugeben, ist Debbie bis heute ein Rätsel. Regelmäßig steht sie im Austausch mit ihm, wenn es um neue Artikel geht, über die sie ihn informieren soll. Leiden kann sie ihn allerdings nicht, im Gegensatz zu Susy, die wohl vom ersten Augenblick an verzückt von ihm war und nach seinem Fortgehen in ein kurzes, trauriges Loch stürzte.
»Wie geht es Lucy?«, möchte Debbie wissen, während sie mit einer Hand die beiden Kaffeebecher balanciert und mit der anderen in ihrer Handtasche nach der Chipkarte kramt.
»Großartig«, strahlt Susy. »Sie hat schon wieder zugenommen und macht sich prächtig.«
»Hast du ein aktuelles Foto?«
Susy nickt hastig und nimmt ihr Handy zur Hand. Dann strahlt sie noch ein wenig mehr. Ihre Wangen färben sich leicht rosa, als sie den Bildschirm entsperrt und Debbie Sekunden später ein Foto ihres Welpen unter die Nase hält. Ein dunkelbrauner Labrador blickt Debbie mit großen Kulleraugen entgegen.
»Oh«, entweicht Debbie ein hohes Lachen. »Die ist aber wirklich gewachsen. War sie nicht letztens noch so winzig?« Mit der freien Hand macht sie eine Bewegung, die eine ungefähre Maßeinheit beschreiben soll.
»Ja«, seufzt Susy wohlig. »Sie werden so schnell groß, die Kleinen.«
»Wohl wahr«, grinst Debbie. »Also dann, ich muss jetzt hoch.«
»Einen schönen Vormittag wünsche ich dir«, erwidert Susy.
Debbie hebt eine Hand, um damit lässig zu winken, doch Susy bemerkt es gar nicht, da sie immer noch verträumt auf den Bildschirm ihres Handys starrt.
Der Fahrstuhl bringt Debbie in den dritten Stock. Bevor sie aussteigt, wirft sie einen letzten prüfenden Blick auf die gläserne Wand der Kabine. Ihr Lidstrich ist akkurat gezogen und die Kontur ihrer Lippen perfekt nachgezeichnet. An diesem Morgen hat Debbie sich für einen Lippenstift in einem dunklen Rosé entschieden, das gut zu dem Blau ihrer Bluse passt.
Als sie aussteigt, wird sie von Stimmengewirr und eilig umherlaufenden Kollegen empfangen. Zwar geht es in der dritten Etage des Gregory-Komplexes, dem Ort, der das Herzstück von Fallen Leaves ist, immer geschäftig zu, eine solche Dynamik und aufgeregte Stimmung wie an diesem Morgen hat Debbie allerdings schon lange nicht mehr wahrgenommen.
Schnellen Schrittes eilt sie auf das Büro zu, das sie sich mit drei ihrer Kollegen, darunter ihre engste Vertraute Edith, teilt. Debbies Schritte werden durch den weichen, dicken Teppich gedämpft. Er ist in einem dezenten Beige gehalten. Ihre Chefin Dora hat nach John Arthurs Abgang und ihrer eigenen Übernahme der Zeitung den anthrazitfarbenen Steinboden durch einen Teppich ersetzen lassen. Sie fand, er trage zu einer angenehmeren und gemütlicheren Arbeitsatmosphäre bei. Debbie kann bestätigen, dass dieser Boden um einiges besser ist, wenn man bis nach Mitternacht im Büro sitzt, um einen wichtigen Artikel zu Ende zu bringen. Wenn kaum noch jemand auf der dritten Etage ist, sich die Büros langsam leeren und nur noch Edith und Debbie über den Zeilen ihrer Texte sitzen, stoßen die beiden die High Heels von den Füßen und gönnen sich ein Glas Sekt aus dem geheimen Vorrat. Genau in diesen Momenten ist ein weicher Boden durchaus praktisch.
»Edith«, ruft Debbie, als sie ihre Freundin zwischen Victoria und Collin, dem einzigen Mann ihres Gespanns, ausmacht.
Edith hat ihre langen schwarzen Locken heute prachtvoll hochgesteckt und mit einer großen glitzernden Spange befestigt. Sie legt Collin die Hand auf den Arm und schiebt sich an ihm vorbei. »Debbie, da bist du endlich.« Obwohl sie wie üblich strahlt und ihr Make-up tadellos ist, sind die kleinen roten Stressflecken an ihrem Hals nicht zu übersehen.
»Was ist los? Bin ich zu spät? Ist etwas passiert?« Debbie sieht sich um und sucht den Raum nach etwas Ungewöhnlichem ab. Doch sie erkennt nichts, was anders ist. Außer dass ihre Kollegen über Ediths Schreibtisch gebeugt stehen und aufgeregt murmeln, sieht alles aus wie immer.
»Du hast es noch nicht gelesen?«, fragt Edith mit erstickter Stimme und die roten Flecken nehmen an Intensität zu.
Debbie schüttelt den Kopf und überfliegt in Gedanken die wenigen Stunden, die sie bereits auf den Beinen ist. Aber sie kann sich beim besten Willen an keine Schlagzeilen erinnern, die ihr auf dem Weg hierher aufgefallen sind. Sie war so in Gedanken versunken, dass sie auch im Café die Zeitschriften der Konkurrenz übersehen hat. Ebenso die Anzeige in der U-Bahn.
Schlagartig macht sich eine Aufregung in Debbie breit, die immer dann aufkommt, wenn eine große Story in Sichtweite rückt. Dass es sich um etwas dieser Art handelt, steht außer Frage. Nichts könnte ihre Kollegen in eine solch hektische Stimmung versetzen wie der große Fang. Die Schlagzeile, mit der sie es schaffen, sich gegen alle anderen Zeitungen Englands durchzusetzen. Es ist der tägliche Kampf, den Markt für sich zu gewinnen, die Leser an sich zu binden, die eine große Story unter den vielen zu bringen, den Coup schlechthin zu erlangen. »Erzähl mir alles«, fordert Debbie ihre Freundin auf. Edith nickt und zieht sie am Arm hinter sich her zu den anderen.
Noch im Gehen drückt Debbie ihrer Freundin einen der beiden Becher in die Hand. »Wie immer mit glutenfreier Hafermilch«, sagt sie, den Blick allerdings schon auf die anderen gerichtet. »Glutenfreie Cookies waren leider aus, aber morgen bringe ich dir wieder welche mit«, flüstert Debbie.
»Du bist ein Schatz«, gibt Edith dankbar zurück und nimmt einen großen Schluck aus ihrem Becher. Die roten Flecken an ihrem Hals werden ein wenig blasser. »Was würde ich nur ohne dich machen?«
»Zumindest über Bauchweh klagen.« Debbie zwinkert ihrer Freundin zu. Ein wenig ist sie selbst über sich erstaunt, dass sie in dieser energiegeladenen Stimmung so entspannt atmen kann, obwohl sie zeitgleich so aufgeregt und neugierig über den Ursprung der aufgeheizten Stimmung ist. Aber wahrscheinlich ist es die Tatsache, dass Debbie es nicht nur gewohnt ist, sich um alles und jeden zu kümmern. Vielmehr ist es dem Fakt geschuldet, dass ihr nicht nur die Zeitung, für die sie seit sieben Jahren arbeitet, sehr am Herzen liegt, sondern auch das Wohl ihrer Freunde, insbesondere Ediths. Oft ist es ihr sogar wichtiger als ihr eigenes.
Edith lächelt schief. »Erinnere mich bloß nicht an Bauchschmerzen, ich möchte lieber nicht daran denken«, murmelt sie und verdreht ihre Augen.
Debbie stößt mit ihrem Becher gegen Ediths, um ihr zuzuprosten, was so viel bedeutet wie, dass sie ganz sicher gerade an diesen besonderen Vorfall denkt.
Über Edith muss man nicht nur wissen, dass sie einen Kopf kleiner ist als Debbie, in ihrer Freizeit die stylishe Kleidung durch Sportoutfits ersetzt und einen Halbmarathon nach dem nächsten absolviert, sondern auch, dass sie den sensibelsten Körper hat, den man sich nur vorstellen kann. Sobald Edith Weizenmehl zu sich nimmt, beginnt ihr Magen, einige Extrarunden zu drehen. Gesellt sich dazu noch Laktose, gerät ihr Körper in eine Art Ausnahmezustand. Eigentlich schafft Edith es spielend, sich um alle Besonderheiten ihrer Nahrungsaufnahme zu kümmern, aber Ausnahmen bestätigen bekanntlich die Regel. Nämlich etwa, als sie im letzten Monat um zwei Uhr in der Früh (sie und Debbie hatten gerade einen Artikel über die Eskapaden von Lord Shaveneer beendet) im Zuge der Müdigkeit zu Debbies lauwarmem Kaffee griff und ihn in einem Zug leerte. Zu spät erkannte sie ihr Missgeschick. Es dauerte nur einige Minuten, bis Edith ihren Mageninhalt entleerte. Zum Glück schaffte sie es, dies in einer Ecke des Büros zu tun und nicht inmitten des Raumes. Der Fleck wäre auch heute noch zu sehen, wenn Debbie nicht eine große Topfpflanze gekauft und sie mitten auf den spröde gewordenen runden Fleck gestellt hätte.
Mit einem belustigten Lächeln verdrängt Debbie die Gedanken an jegliche Sauereien in diesem Büro, stellt ihre Tasche neben einen Schreibtischstuhl und nimmt einen Schluck ihres Latte macchiato.
»Guten Morgen zusammen«, ruft sie in die Runde.
»Debbie, hey.« Ihre Kollegen heben die Köpfe. Angestrengte, aufgeregte Blicke schießen ihr entgegen. Es muss sich wirklich um etwas sehr Wichtiges handeln.
»Ich möchte alles wissen«, verkündet Debbie und schiebt sich zwischen Victoria und Collin.
»Es ist der Wahnsinn«, flüstert Collin tonlos neben ihr. Die blonden Locken fallen ihm in die Stirn, während er sich über den Tisch beugt. Seine blauen Augen funkeln Debbie spitzbübisch an.
In der Mitte des Schreibtisches liegt die heutige Ausgabe der Push, dem größten Konkurrenten der Fallen Leaves und damit insgeheimer Gegner Nummer eins.
Debbie stützt sich mit der freien Hand auf dem Schreibtisch ab. Dann dreht sie die Zeitung zu sich, um die Schlagzeile lesen zu können.
Prinz Damian – Totalabsturz?
Am gestrigen Mittwoch wurde Prinz Damian dabei gesichtet, wie er wankend und sichtlich aus der Fassung geraten einen heruntergekommenen Bürokomplex verließ. Nehmen die Alkoholeskapaden des jungen Prinzen nun überhand? Im Gegensatz zu seiner Schwester, Prinzessin Sophie, die ein exzellentes und vorbildliches Bild einer zukünftigen Königin abgibt, häufen sich die negativen Auftritte ihres Bruders.
Anders als die britischen Prinzen schneidet Prinz Damian deutlich schlechter ab, was seine royalen Pflichten betrifft. Damit wirft er einen Schatten auf das Königreich von Bonyard Isle, den selbst seine Schwester sowie König Erasmus und Königin Constance nicht verdrängen können.
Es bleibt spannend, mit welchem Fehltritt uns der Prinz als Nächstes in Aufregung versetzen wird.
Eines ist sicher: Für unser Nachbarkönigreich sind seine Eskapaden gewiss nicht von Vorteil auf dem politischen Parkett.
Debbie liest den Text ein zweites Mal. Ihr Herz pumpt augenblicklich schneller. Die Fotos, welche der Push von einer anonymen Quelle zugespielt wurden, sind eindeutig. Zwar sind die Aufnahmen nicht ganz scharf, weil sie im Dämmerlicht geschossen wurden, aber das Aussehen des Prinzen ist wenig royal. Prinz Damians Haltung ist eindeutig. Mit einer Hand sich durch die Haare fahrend, geht der Prinz über einen zwielichtigen Parkplatz. Debbie registriert die Müllcontainer sofort. Die Hausfassade, die noch am Rand der Fotos zu erkennen ist, ist abgebröckelt und hat schon bessere Zeiten erlebt. Ganz offensichtlich hat sich der Prinz an einem Ort aufgehalten, der wenig königlich ist.
»Meinst du, er ist Alkoholiker?«, murmelt Edith leise. Dann trinkt sie mit nachdenklicher Miene von ihrem laktosefreien Kaffee.
»Oder er nimmt Drogen und auf dem Bild kommt er gerade von einem Dealer?«, wirft Victoria ein. Ihre langen blonden Haare glänzen hell, obwohl die Sonne gar nicht ins Büro scheint. Victoria lebt, was sie selbst gerne zugibt und jedem auf die Nase bindet, am Limit. Die Haare sind so blond, dass jederzeit die Gefahr besteht, dass sie beim nächsten Färben ausfallen, ihre Haut hingegen so gebräunt, was auf die unzähligen Besuche im Sonnenstudio zurückzuführen ist. Die Fingernägel so lang, dass sie es gerade noch schafft, damit ihre Tastatur zu bedienen, und so rot, dass es einem in den Augen schmerzen kann. Dennoch oder gerade weil ihr Aussehen so anders ist als das der anderen, ist sie kein oberflächlicher, sondern herzensguter Mensch und Debbie schätzt sie sehr. Victoria ist einfach ein gutes Beispiel dafür, Menschen nicht nach dem Äußeren zu beurteilen. Das lenkt jedoch nicht von der Tatsache ab, dass sie über eine blühende Fantasie mit dem Hang zum Melodramatischen verfügt. Daher ist es nicht verwunderlich, dass sie den Prinzen im Drogenmilieu vermutet.
»Vielleicht ist er aber auch schwul und hat gerade seinen Liebhaber besucht«, kichert Collin. Die Aufregung in seiner Stimme lässt sich nicht leugnen.
Debbie rollt die Augen und stupst Collin sanft ihren Ellbogen in die Rippen.
»Wieso?«, lacht dieser auf, weil er genau weiß, was Debbie ihm damit sagen möchte. »Kann doch sein.«
»Natürlich kann es sein.« Debbie stellt ihren Macchiato-Becher auf den Tisch und macht eine ausladende Handbewegung. »Vielleicht hat er auch vier uneheliche Kinder oder ist schon zwei Mal geschieden.«
»Hey!« Collin macht ein schmollendes Gesicht. »Nimm mir nicht meine Illusionen.« Theatralisch legt er seine Hände auf sein Herz, das definitiv nicht geschunden ist. Collin hat die Gabe, sich innerhalb weniger Minuten gleich mehrfach zu verlieben. Allerdings hegt er schon sehr lange eine ziemlich offensichtliche Schwärmerei für den Prinzen von Bonyard Isle.
»Was vermutest du denn?«, will Edith wissen und mustert Debbie interessiert. Bislang hat sie sich mit möglichen Ideen über die Ausfälle des Prinzen zurückgehalten. Nicht etwa, weil sie besondere Sympathien für ihn hegt, sondern weil sie das Gefühl hat, dass etwas nicht stimmt. Es ist nur ein Gefühl, aber bislang hat sich Debbie darauf immer einigermaßen gut verlassen können.
Aber sie zuckt ratlos die Schultern. »Ich weiß es nicht. Ehrlich. Das passt alles nicht zusammen. Letzte Woche wurde er dabei gesehen, wie er ziemlich merkwürdige Dinge eingekauft hat. Die Push hat extra einen Lebensmittelexperten befragt, der ihnen bestätigt hat, dass der Inhalt von Prinz Damians Einkaufswagen vollkommener Irrsinn sei. Neben Unmengen von Süßigkeiten und Büchern hat er den Inhalt eines gut gefüllten englischen Kühlschranks gekauft. Dann aber glutenfreie Sachen, laktosefreie Milch, Hafermilch und Vollmilch …«
»… was für ihn spricht«, wirft Edith mit einem Lächeln auf den Lippen ein.
»Na ja, entweder vertrage ich Milch oder nicht. Ich kann doch nicht alle Sorten kaufen«, wirft Debbie ein, die versucht, das Ganze systematisch anzugehen.
»Vielleicht kauft er einfach für die Familie ein?«, mutmaßt Victoria und spitzt ihre angepinselten Lippen.
»Aber welcher Prinz kauft überhaupt ein?«, säuselt Collin. »Dafür hat er doch Personal.«
»Vielleicht hat er doch mehrere Frauen und muss jeder ihre Wünsche erfüllen.« Victoria tippt mit ihren langen Fingernägeln ungeduldig auf den Tisch, was Edith ein genervtes Räuspern entlockt.
»Keine Ahnung«, sagt Debbie und ruft die anderen Artikel der letzten Wochen aus ihrem Gedächtnis hervor. »Dann wurde er dabei beobachtet, wie er in eine vegetarische Snackbar geht und Fish and Chips bestellt.«
»Vielleicht sollte das lustig sein?«, denkt Edith laut, aber ihrem Gesicht ist deutlich abzulesen, dass sie davon selbst nicht überzeugt ist.
»Und erinnert ihr euch an seine Rede im vergangenen Monat zur Eröffnung einer Schule in Headtown? Seine Hände haben so gezittert, als er auf der Bühne stand und die Schüler begrüßen sollte. Er sah aus, als würde er sich jeden Moment übergeben müssen.«
»Spricht vielleicht doch dafür, dass er Alkoholiker ist«, murmelt Victoria. »Oder für die Drogen. Vielleicht ist er auf Entzug. Ist man dann nicht zitterig?« Sie wirft die langen Haare über ihre Schulter zurück und tippt sich mit dem Zeigefinger gegen die Lippen. »Egal was sein Problem ist, er ist heiß.«
Debbie reißt ihre Augen auf und starrt ihre Freundin über den Tisch hinweg an.
»Oh ja«, wirft Collin ein und kichert.
»Edith, sag mir, dass wenigstens du einen klaren Kopf behältst.« Hilfe suchend, aber auch ein wenig belustigt, sieht Debbie ihre Freundin an.
»Na ja.« Edith dreht den Kaffeebecher in ihrer Hand. »Süß ist er schon.«
»Edith«, stöhnt Debbie auf.
»Was denn?«, lacht diese. »Er hat irgendwas Niedliches an sich. Ein bisschen wie ein Reh, das man beschützen möchte.«
»Was seid ihr nur für Journalisten«, rügt Debbie ihre Kollegen grinsend. Doch genau dafür liebt und schätzt sie sie. Sie alle verbindet mehr als die Arbeit. Die Stimmung unter ihnen ist so entspannt, fröhlich und humorvoll, dass Debbie jede Stunde am Tag genießt, inmitten ihrer Freunde zu sein. Natürlich mag sie auch den Rest ihres Kollegenteams, zumindest den größten Teil davon, aber da sie mit den anderen Abteilungen weit weniger Zeit verbringt als mit diesen drei Menschen, kommt es ihr doch wie ein Geschenk des Himmels vor, dass sie so vertraut miteinander umgehen können.
»Also, ich würde ihn daten, wenn man mich zwingen würde«, grinst Edith und setzt ein unschuldiges Lächeln auf.
»Bin auch dabei«, nickt Victoria und ahmt mit ihren langen Nägeln das Fauchen einer Katze nach.
»Aber zuerst bin ich an der Reihe«, ruft Collin aufgeregt.
Die anfänglich aufgeregte Stimmung entspannt sich merklich. Collin, Edith und Victoria gehen dazu über, sich über den Prinzen und dessen körperliche Vorzüge auszutauschen.
»Ich habe mal ein Bild von ihm oben ohne gesehen«, flüstert Edith so laut, dass sie es auch gleich hätte hinausschreien können.
Victoria quietscht aufgeregt, Collin klatscht verzückt in die Hände.
Debbie verdreht zum hundertsten Mal an diesem Morgen ihre Augen.
»Deb, was sagst du denn zu ihm?«, will Edith wissen.
»Zum Prinzen?«, wiederholt sie.
»Zu wem denn sonst?«, lacht ihre Freundin auf.
Sofort richten sich drei Augenpaare abwartend auf Debbie. Sie sieht auf das Bild in der Zeitung hinab. Sie hat sich nie besonders viele Gedanken über den Prinzen gemacht. Ihr bleibt schlicht nicht die Zeit, sich neben der Arbeit und ihrem turbulenten Zuhause romantischen Illusionen hinzugeben. Außerdem findet sie die Eskapaden des Prinzen weder niedlich noch draufgängerisch, sondern einfach nur peinlich und unverständlich. Sie kann nicht nachvollziehen, dass jemand, der so privilegiert ist wie ein Prinz, sich zu einem solchen Verhalten herablässt. Sollte man nicht etwas mehr Geradlinigkeit und Contenance von jemandem wie ihm erwarten? »Keine Ahnung, ich habe mir noch nie Gedanken über ihn gemacht«, sagt Debbie lässig.
»Ha, gelogen. Das glaube ich dir nicht«, wirft Collin ein und nun ist es an ihm, Debbie seinen Ellbogen in die Seite zu schieben. »Du bist eine Frau, er ist ein Mann. Natürlich macht man sich Gedanken darüber, ob man jemanden attraktiv findet.«
»Okay, also nein. Finde ich nicht. Ich finde ihn absolut uninteressant. Und wenn ihr euch gerne dem Traum hingeben wollt, ihn zu daten, bitte sehr. Ich würde ihn niemals daten. Ich würde mich nicht mal in einem Raum mit ihm aufhalten wollen. Er nutzt seine Position nicht, obwohl er alle Möglichkeiten dazu hat. Das reicht, um ihn absolut schrecklich zu finden.«
Dass Debbie ihren Kollegen gerade einen tiefen Einblick in ihre Seele gegeben hat, überhören die anderen zum Glück, weil sie erstaunt darüber sind, wie furchtbar Debbie den in ihren Augen hochinteressanten Prinzen findet.
»Das tut weh.« Collin ist heute Morgen in bester theatralischer Verfassung und legt dramatisch einen Handrücken an seine Stirn. »Debbie, du enttäuschst mich. Ich habe dir etwas mehr Geschmack zugetraut.«
»Sorry, Collin. Ich muss dich enttäuschen. Der Prinz interessiert mich nicht. Du kannst ihn haben.« Sie lacht auf, als Collin zu einem Luftsprung ansetzt. »Nicht mal seine haselnussfarbenen Augen können mich vom Gegenteil überzeugen.« Noch während Debbie spricht, merkt sie, dass sie einen Fehler begangen hat.
»Woher kennst du seine Augenfarbe, wenn er dich nicht interessiert?« Edith verschränkt die Arme vor der Brust und setzt sich seitlich auf den Tisch.
Doch bevor Debbie zu einer Antwort ansetzen kann, ertönt die dominante Stimme ihrer Chefin: »Collin, Edith, Victoria, Debbie. Sofort herkommen!«
Debbie atmet erleichtert aus und blickt in Richtung des     Besprechungsraums, aus dem Dora Sullivan sie soeben gerufen hat.
Zum Glück sind alle bei dem warnenden Ton ihrer Chefin in Alarmbereitschaft versetzt. So bemerkt niemand, dass Debbie, bevor sie ihren Kollegen folgt, einen letzten Blick auf das Foto von Prinz Damian wirft. Es entlockt ihr ein winziges, kaum sichtbares Lächeln.
- 3 -
Die Falte zwischen Dora Sullivans Augenbrauen tritt an diesem Morgen besonders sichtbar hervor. Sie kommt immer dann zum Vorschein, wenn Dora aufgeregt, ärgerlich oder voller Tatendrang ist, was in der Regel ununterbrochen der Fall ist.
Dora ist Anfang vierzig und seit dem Wechsel von John Arthur neue Chefin der Fallen Leaves. Das bedeutet im Klartext, dass sie nicht nur verantwortlich für die tägliche Zeitungsausgabe, sondern auch für die im Zwei-Wochen-Rhythmus erscheinende Zeitschrift ist. Der Teil, für den Debbie und ihre Kollegen zuständig sind. Natürlich sitzen im Vorstand des Unternehmens noch einige andere wichtige und einflussreiche Personen, aber Dora steht über allen. Sie wird gehasst und verehrt gleichermaßen. Als Dora den Chefposten besetzte, war sie gerade einmal in den Dreißigern und niemand hatte der jungen Frau aus Liverpool zugetraut, die großen Fußstapfen von John Arthur auch nur annähernd zu füllen. Doch zu der Überraschung aller hat sie es geschafft. Wahrscheinlich würden einige sogar behaupten, dass sie schon jetzt weit größere Abdrücke hinterlassen hat, als John es in zehn Jahren geschafft hat.
Um so weit zu kommen, bedarf es allerdings einer gehörigen Portion Selbstbewusstsein, Durchsetzungskraft und Willensstärke. Dora besitzt alles. Und zwar in einem so ausgeprägten Maße, dass es nicht nur einmal vorgekommen ist, dass Mitarbeiter den Besprechungsraum weinend (natürlich nur hinter vorgehaltener Hand) verlassen haben.
Debbie gehört zu denjenigen, die keine Angst vor Doras stets schwankender Stimmung haben. Auch die cholerische Art ihrer Chefin bereitet ihr keine Sorgen. Vielmehr schaut Debbie zu ihr auf. Dora verdeutlicht ihr jeden Tag aufs Neue, dass man alles schaffen kann, wenn man nur hart genug arbeitet. Darum ist sie das größte Vorbild, welches Debbie sich nur vorstellen kann.
Aus diesem Grund betritt Debbie den Besprechungsraum deutlich entspannter als Edith, Collin und Victoria. Collin fährt sich immer wieder nervös über seinen Ringfinger, Victoria versucht, ihre perfekt sitzenden Haare aus der Stirn zu streichen, obwohl sich keine dorthin verirrt haben, und Edith schaut hektisch durch den Raum.
»Tür zu!«, befiehlt Dora, noch während Debbie als Letzte den Raum betritt. Diese nickt und zieht die Glastür hinter sich zu.
Dora lehnt an ihrem Schreibtisch. Er ist aus grauem Stahl gefertigt und strahlt eine solche Dominanz aus, wie es ein Möbelstück nur tun kann. Dann drückt sie einen Knopf. Sofort verfärbt sich die Glastür und das Milchglas verhindert jegliches Hineinschauen. Allerdings ist auch ein Hinausschauen nicht möglich, sodass die Atmosphäre sofort an Enge zunimmt.
Dora bedeutet den anderen mit einem winzigen Kopfnicken, sich auf die schwarzen Lederstühle zu setzen. Edith schafft es nur, sich auf der Kante des Stuhles niederzulassen. Ihre Beine wippen nervös auf und ab.
Debbie setzt sich neben ihre Freundin. Zu gerne hätte sie ihr beruhigend über den Arm gestrichen, aber jede zusätzliche Geste würde nur dazu führen, dass Dora aus der Haut fahren könnte.
»Sie wissen, warum ich Sie alle herbestellt habe?«, donnert Dora mit gepresster Stimme.
Collin räuspert sich und betrachtet seine Finger eingehend. Stille legt sich über den Raum.
»Nun … wirklich nicht?« Einen nach dem anderen sieht sie an, wobei ansehen viel zu harmlos für das ist, was Dora macht. Sie fixiert jeden Einzelnen, als wolle sie sich mittels eines einfachen Blickes in den Kopf ihres Gegenübers einnisten.
Es ist wieder einmal an Debbie, die Situation vor der Eskalation zu retten und das Wort zu ergreifen. »Hat es etwas mit dem neuesten Bericht über Prinz Damian zu tun?«, fragt sie, weil ihr beim besten Willen nichts anderes einfällt.
»So ist es.« Dora greift neben sich und hebt ihrerseits eine Ausgabe der Push empor. Erneut schaut ihnen eine leidende Ausgabe des Prinzen von Bonyard Isle entgegen. »Und warum habe ich Sie wohl hergerufen?«
»Weil wir den Gerüchten nachgehen sollen?«, wispert Edith, die all ihren Mut zusammennimmt, um ihrer Chefin Rede und Antwort zu stehen.
»Falsch!«, dröhnt Dora.
»Warum haben wir nicht über die Totalausfälle dieses weinerlichen, royalen Mannes berichtet?«, lacht sie hysterisch auf. Damit ist eindeutig klar, was Dora über den Prinzen des Nachbarkönigreiches denkt.
»Weil wir uns auf die englischen Royals fokussiert haben«, schafft es nun auch Collin, das Wort zu ergreifen.
»Genau«, stimmt Victoria ihm zu. »In der letzten Ausgabe haben wir über die viel zu hohen Ausgaben des Thronfolgers während seines Cannes-Urlaubs geschrieben. Viele Briten sind deswegen ziemlich erzürnt, weil die Steuergelder dafür draufgehen, dass ein Prinz auf einer Zwanzig-Meter-Jacht über das Meer schippert.« Victoria und Collin wechseln einen zustimmenden Blick. Sie glauben, damit alles erklärt zu haben. Beinahe erwarten sie, dass Dora entspannt seufzt und das Thema fallen lässt.
Doch es ist nicht wenig überraschend, dass Dora nur ihre Augenbrauen noch weiter zusammenzieht. Sie zupft an dem Revers ihres roten Blazers. »Das sind aber keine Themen, die die Welt interessieren«, blafft sie. Ihre Stimme nimmt weiter an Lautstärke und Kraft zu.
»Die Welt vielleicht nicht, aber die Briten, insbesondere die Londoner Gesellschaft, schon«, erklärt Victoria. Damit hat sie eine imaginäre Stufe überschritten, eine unausgesprochene Regel, die jeder Mitarbeiter, der bei Fallen Leaves anfängt, schon nach zehn Minuten kennt: Du darfst Dora Sullivan niemals widersprechen. Und niemals heißt in diesem Fall wirklich niemals. Tut man es doch, gleicht dieses einem Vulkanausbruch oder einem Tsunami, einer gehörigen Explosion oder einem Flächenbrand. Zumindest kommt es einer Naturkatastrophe gleich.
Dora schnauft wie ein aufgebrachtes Pferd. Sie schließt für einen Moment die Augen, um sich zu beruhigen. Doch als sie sie wieder aufschlägt, ist ihr Gesicht noch zorniger als zuvor.
Voller Wucht klatscht sie die Zeitung auf den Schreibtisch, was alle im Raum zusammenzucken lässt. Victoria zieht ihr Gesicht schmerzerfüllt zusammen. Edith rutscht noch ein wenig mehr an den Rand ihres Stuhls und Collin knetet so sehr an seinen Fingern herum, dass er im Nachgang bestimmt eine halbe Tube Handcreme benötigt, um seine Haut wieder in Ordnung zu bringen.
Nur Debbie zeigt bis auf ein kleines Zucken, das mehr dem Überraschungsmoment gilt, keine Regung. Verbale Ausbrüche solcher Art sind ihr nicht fremd. Sie hat sich antrainiert, darauf nicht zu reagieren, ja, sie beinahe mit stoischer Gelassenheit über sich ergehen zu lassen.
»Nun. Das Königshaus von Bonyard Isle ist nicht gerade begeistert von Zeitungsartikeln dieser Art, wie Sie sich vorstellen können.« Wie um Gesagtes zu unterstreichen, hebt sie die Zeitung mit spitzen Fingern hoch und wedelt damit. »In den letzten Wochen sind die Umfragewerte des Königshauses und damit der Rückhalt des Volkes deutlich zurückgegangen. Nebenbei bemerkt, munkelt man, dass unser britisches Königshaus auch nicht gerade begeistert über die Eskapaden unserer Nachbarn ist. Schließlich gibt es so einige Anlässe, bei denen man zusammenkommt. Das Königshaus von Bonyard Isle wünscht sich eine Gegendarstellung, einen umfassenden Artikel, der den Prinzen wieder in ein gutes Licht rückt. Sie wollen, dass er als Charmebolzen in die Herzen seines Volkes schwebt. Weiß Gott, wie das gelingen soll.« Dora verdreht die Augen. »Und wie der Zufall es will, hat man uns damit beauftragt.«
Sie schaut in die Runde und verharrt bei jedem ein paar Sekunden. »Die Royal-Abteilung der Fallen Leaves soll einen mehrseitigen süßen Bericht über den Prinzen schreiben, dass es mir bei dem bloßen Gedanken daran schon Karies in den Zähnen verursacht.« Dora nickt und lächelt belustigt, als möchte sie sich selbst zu diesem Vergleich beglückwünschen. »Selbstverständlich nehmen wir diesen Auftrag an, schließlich kann uns nichts Besseres passieren. Außerdem haben wir nicht wie die Push die Eskapaden des Prinzen ausgeschlachtet.«
Collin und Victoria wechseln einen irritierten Blick. Denn das, was ihre Chefin gerade sagt, entspricht genau dem Gegenteil von dem, was sie noch vor einigen Minuten hat verlauten lassen. Aber diese Art ihrer Chefin ist ihnen nicht unbekannt, also tun sie einfach, als hätten sie diese Äußerung nicht gehört. Sie verbuchen sie einfach als weiteren Fakt auf der Liste verwirrender Dinge ihrer Chefin (Eine solche Liste gibt es tatsächlich. Sie liegt gut versteckt in Collins Schreibtisch, gleich unter seiner Großration Kaugummis).
»Allerdings«, tönt Dora, »ist dieser Artikel nur der erste Teil.« Damit hat sie schlagartig die hundertprozentige Aufmerksamkeit ihrer Mitarbeiter, falls diese in den letzten Minuten ein wenig nachgelassen haben sollte. »Selbstverständlich schreiben wir ein paar freundliche Worte über den Prinzen. Darüber, was er Tolles für sein Land macht, auch wenn ich nicht weiß, was das sein soll. Aber es glaubt wohl niemand von uns, dass nicht irgendetwas hinter diesen Artikeln steckt. Wir wissen doch alle, wie es läuft. Dass der Prinz etwas zu verbergen hat, ist klar. Und ich will wissen, was das ist. Wir werden diejenigen sein, die sein tiefstes, dunkelstes und schmutzigstes Geheimnis ausgraben und aufdecken.« Doras Stimme wird so eisig, dass Debbie ein kalter Schauer den Rücken hinunterläuft.
»Und wie sollen wir das anstellen?«, fragt sie selbstbewusst. Dora nickt, ohne erneut aus der Haut zu fahren. »Sie werden freundlich und nett zum Prinzen sein. Wenn es sein muss, ihm schöne Augen machen. Und während Sie auf dem Schloss wohnen, versuchen Sie so unauffällig wie möglich, die Geheimnisse des Prinzen aufzudecken. Schließlich sind Sie Journalistin.«
Drei Dinge schrillen in Debbies Kopf äußerst laut. Zum einen hat Dora gerade ganz eindeutig sie angesprochen, zum anderen hat sie erwähnt, dass sie auf dem Schloss wohnen müsse, und zu guter Letzt hat sie behauptet, Debbie sei Journalistin. Das entspricht nicht der Wahrheit, denn Debbie hat Politik und Soziologie studiert und ist, wenn man es richtig beschreiben muss, Sozialwissenschaftlerin. Aber das zu erwähnen würde Doras Stimmung nicht gerade zum Positiven beeinflussen.
»Soll das heißen …«, beginnt Debbie und nun schwingt doch eine Spur Verunsicherung in ihrer Stimme mit.
Dora stützt sich auf ihrem Schreibtisch ab. »Wie lange arbeiten Sie schon für Fallen Leaves?«
»Sieben Jahre«, antwortet Debbie.
Sie war gerade siebzehn, als sie neben der Schule begonnen hat, für die Zeitung zu arbeiten. Debbie ist die Erste und Einzige ihrer Familie mit einem Studienabschluss. Sie war schon immer zielstrebig und wollte mehr erreichen, wollte ein anderes Leben als das, in das sie hineingeboren wurde. Nachts hat sie mit einer Taschenlampe unter der Bettdecke für ihre Uniseminare gebüffelt, sich am Tag mit unterschiedlichen Jobs etwas dazuverdient, um weitere Kurse belegen zu können und etwas für sich und ihre jüngste Schwester Judy anzusparen. Debbie hat das Lesen und Schreiben schon immer geliebt. Als ihre Eltern kein Geld hatten, ihr Bücher zu kaufen, wurde sie Dauerbesucherin der Bücherei. Mit zehn hat sie begonnen, sich für Geschichte zu interessieren, und immer ein historisches oder sozialpolitisches Buch neben einem Liebesroman gelesen, sozusagen als Ausgleich, um schnulzige und romantische Lektüre zu rechtfertigen. Als sie bei Fallen Leaves anfing, hatte sie noch nicht einmal ihr Studium begonnen, schließlich ging sie noch zur Schule. Aber schon damals wusste Debbie, was ihr großes Ziel war: als Redakteurin bei Fallen Leaves arbeiten. So kam es, dass ein Aushilfsjob als Reinigungskraft Debbies Eintritt in diese Welt war. Es folgten einfache Kopiertätigkeiten, als man bemerkte, dass Debbie weit mehr konnte als die Böden zu reinigen (vielleicht hat man aber auch dem ständigen Drängen und Nachfragen ihrerseits nachgegeben).
»Und wie lange versuchen Sie, Ihre große Story zu bekommen?«, fragt Dora und katapultiert sie zurück in den Besprechungsraum.
»Seit sieben Jahren«, antwortet Debbie wahrheitsgemäß.
Dora nickt und zum ersten Mal, seitdem alle in diesem Raum sitzen, blitzt ein zartes Lächeln in ihrem Gesicht auf. »Nun, dann bekommen Sie hiermit Ihre Chance. Schreiben Sie einen schnulzigen Artikel über den Prinzen, aber graben Sie, so tief Sie können. Den inoffiziellen Artikel erwarte ich so schnell wie möglich.«
Debbie ist sich nicht sicher, ob sie gerade richtig gehört hat. Ihre Gedanken nehmen eine solche Geschwindigkeit auf, dass ihr für den Bruchteil einer Sekunde ganz schwindelig wird. »Das soll heißen, dass ich …«
»Ganz richtig. Sie fahren nach Bonyard Isle und werden sich des Prinzen annehmen. Es ist schon alles geklärt. Sie werden erwartet. Weiß Gott, wie Arthur das wieder gemacht hat, aber anscheinend hat er Beziehungen, von denen ich keine Ahnung habe.« Sie verdreht die Augen. Was genervt erscheinen soll, gibt jedoch einen weit tieferen Einblick in Doras Seelenleben. Sie möchte nämlich liebend gerne wissen, über welche Kontakte John Arthur verfügt. Es ist äußerst ungewöhnlich, dass keine Zeitung von Bonyard Isle damit beauftragt wird, diesen Artikel zu verfassen, sondern eine des Nachbarlandes. Auf den Gesichtern aller Anwesenden erscheint ein kleines imaginäres Fragezeichen, denn jeder im Raum möchte wissen, worin Johns Gabe besteht, einen solchen Deal an Land zu ziehen. Vielleicht handelt es sich jedoch um keine Gabe, sondern nur Unmengen an Geld, das geflossen ist.
»Der offizielle Artikel erscheint in der kommenden Ausgabe der Zeitschrift, dafür haben Sie also zwei Wochen Zeit. Den inoffiziellen Teil, der uns weit mehr Publicity bringen und uns weit über die Grenzen Großbritanniens bekannt machen wird als diejenigen, die das Geheimnis um Prinz Damian gelüftet haben, möchte ich so schnell wie möglich. Der erscheint natürlich nicht in unserem Hochglanzmagazin, sondern auf der Titelseite der Zeitung. Am besten jeden Tag. Graben Sie sorgfältig, aber tief. Ich will jedes noch so schmutzige Detail, welches das Ansehen des Prinzen beschmutzt und zerstört.«
Debbie schluckt schwer. Sie schielt zu ihren Kollegen, die sie mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Mitleid ansehen.
Da ist sie. Die Chance, auf die Debbie jahrelang gewartet hat. Sie darf einen großen, wenn nicht den größten Artikel ihres Lebens schreiben. Endlich kann sie allen beweisen, was in ihr steckt. Was sich allerdings nicht leugnen lässt, ist das ungute Gefühl, das sich zu ihrer Freude mischt. Denn es missfällt Debbie, dass sie dem gesamten Königshaus etwas vorspielen muss, nur um ein Geheimnis, von dem niemand weiß, ob es tatsächlich besteht, aufzudecken.
Ihr Leben lang hat sie die Prämisse vertreten, durch Fleiß, harte Arbeit, aber auch durch Ehrlichkeit ans Ziel zu gelangen. Und nun impliziert der größte Auftrag ihrer Karriere, einen dieser Punkte hintanstellen zu müssen.
»Wo bleiben die Freudensprünge?«, mault Dora. »Wenn Sie nicht wollen, schicke ich jemand anderen, ich dachte nur …«
»Nein, nein«, sagt Debbie schnell und wischt alle Gedanken an das Unwohlsein in ihrer Magengegend fort. »Ich werde fahren.«
»Gut, dann wäre das geklärt. Übermorgen geht es los.« Ohne ein weiteres Wort zu sagen, rauscht Dora aus dem Raum. Sie vergisst, die Milchglasfunktion zurückzunehmen, doch das ist nun egal, da sie die Tür weit offenstehen lässt.
»Wow«, keucht Victoria. »Damit habe ich nun echt nicht gerechnet.«
»Krass«, stimmt Edith ihr zu. »Debbie, du fährst nach Bonyard Isle, das ist doch der Wahnsinn.«
»Du wirst ganz viele reiche und attraktive Männer treffen«, säuselt Collin und sieht bei dem Gedanken ganz verzückt aus.
»Und ich soll allen etwas vorgaukeln«, murmelt Debbie. Plötzlich kommt ihr die Luft im Raum deutlich stickiger als noch vor zwei Minuten vor.
»Ja, aber so läuft es eben«, meint Edith. »Es ist unser Job, solche Dinge ans Licht zu bringen. Die Leser interessieren sich dafür.«
»Und mal ehrlich«, führt Victoria die Gedanken fort. »Wenn er etwas Schlimmes oder Kriminelles zu verbergen hat, geht es alle etwas an. Du tust also etwas sehr Gutes.«
Debbie hält sich an diesen winzigen Strohhalm, der ihr allerdings wie keiner erscheint.
»Wie aufregend«, zwitschert Collin. »Ich erstelle sofort eine neue WhatsApp-Gruppe, Titel: Das düstere Geheimnis von Prinz D.«
»Klingt wie ein schlechter Film«, lacht Debbie höhnisch auf.
»Du musst uns immer auf dem Laufenden halten, wir wollen alles wissen.« Collin schaut Debbie wie ein aufgeregtes Hündchen an.
»Oh ja, bitte«, stimmt Victoria zu.
»Unbedingt«, juchzt Edith auf und lehnt sich entspannt auf ihrem Stuhl zurück.
Debbie nickt und schaut noch immer ein wenig gequält. Sie hofft inständig, dass es nichts gibt, was der Prinz zu verbergen hat. Höchstens ein paar Hundewelpen, die er in seinem Palast durchfüttert.
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Die anfängliche Anspannung des Morgens ist längst verflogen und hat sich in eine aufgeregte, energiegeladene Atmosphäre verwandelt. Zumindest, wenn man Edith, Collin und Victoria betrachtet, die kichernd durch das Büro wuseln.
---ENDE DER LESEPROBE---