Der Professor - Charlotte Brontë - E-Book

Der Professor E-Book

Charlotte Bronte

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Beschreibung

Der Professor“ ist die Geschichte von William Crimsworth, eines jungen Mannes und beschreibt seine Reifung, seine Karriere als Lehrer in Brüssel und seine persönlichen Beziehungen. Die Geschichte beginnt mit einem Brief, den William an seinen Freund Charles schickt, in dem er seine Ablehnung Geistlicher zu werden, sowie sein erstes Treffen mit seinem reichen Bruder Edward beschreibt. Auf der Suche nach Arbeit als Handwerker wird William von Edward die Position eines Angestellten angeboten. Edward ist jedoch eifersüchtig auf Williams Bildung und Intelligenz und behandelt ihn schrecklich. Durch die Handlungen Mr. Hunsdens wird William zwar seines Postens enthoben, beginnt aber eine neue Stelle in einem Jungeninternat in Belgien. Die Schule wird von dem freundlichen Monsieur Pelet geleitet, der William freundlich und höflich begegnet. Bald erreicht der Ruf über Williams Verdienste als „Professor“ die Direktorin der benachbarten Mädchenschule. Die Leiterin Mademoiselle Reuter bietet ihm eine Stelle an ihrer Schule an, die er auch annimmt. Obwohl sie älter ist als er, ist er zunächst von ihr fasziniert und beginnt sich in sie zu verlieben. Dann jedoch hört er ein Gespräch mit, das ihre Verlobung mit Pelet offenbart. Ernüchtert wendet William sich von ihr ab. Doch als er sich einige Zeit später in die junge Lehrerin Frances Henri verliebt, schürt dies den Unmut von Mlle. Reuter, die gekränkt versucht, einen Keil zwischen das junge Glück zu treiben … Diese Liebesgeschichte ist ein Roman mit autobiographischen Bezügen, treffsicheren zeitkritischen Anmerkungen und einfühlsamen Persönlichkeitsstudien, geschrieben mit feiner Ironie, die dieses Werk zu einem großen Vergnügen macht. Der Roman liegt hier als E-Book in einer vollständig modernisierten Fassung der deutschen Übersetzung aus dem Jahr 1858 vor.

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DerProfessor

Charlotte Brontë

Verfasserin von Jane Eyre, Shirley, Vilette

Elmshorn mach-mir-ein-ebook.de

1. E-Book-Auflage, Januar 2022

E-Book: www.mach-mir-ein-ebook.de, Elmshorn

ISBN: 978-3-946813-32-3

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Originalausgabe: Der Professor von Currer Bell, übersetzt von Dr. Büchele; Franckh’sche Verlagsbuchhandlung, Stuttgart, 1858

Cover-Gestaltung: mach-mir-ein-ebook.de unter Verwendung des Gemäldes A Wet Sunday Morning von Edmund Blair Leighton

Schriftart: »Crimson« von Sebastian Kosch: Diese Schriftart ist unter der SIL Open Font License v1.10 verfügbar.

Inhalt

Vorwort

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebentes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Vierzehntes Kapitel

Fünfzehntes Kapitel

Sechzehntes Kapitel

Siebzehntes Kapitel

Achtzehntes Kapitel

Neunzehntes Kapitel

Einundzwanzigstes Kapitel

Dreiundzwanzigstes Kapitel

Vierundzwanzigstes Kapitel

Fünfundzwanzigstes Kapitel

Orientierungsmarken

Inhaltsverzeichnis

Cover

Hauptteil

Vorwort

Dieses kleine Buch wurde sowohl vor Jane Eyre als auch vor Shirley geschrieben, und doch darf es keinen Anspruch auf die Nachsicht für einen ersten Versuch erheben. Ein erster Versuch war es gewiss nicht, da die Feder, welche dasselbe schrieb, bereits zuvor durch jahrelange Übung stark abgenützt worden war. Ich hatte in der Tat noch nichts veröffentlicht, ehe ich den »Professor« anfing, aber in manchen rohen Ausarbeitungen, die fast ebenso schnell zerstört wie geschrieben wurden, einen Geschmack überwunden, den ich einst für geschmückte und weitschweifige Komposition gehabt haben mochte, und es dahin gebracht, demjenigen, was einfach und ungekünstelt war den Vorzug zu geben. Zu gleicher Zeit hatte ich mir eine Reihe von Grundsätzen bezüglich der Zwischenhandlung usw. zu eigen gemacht, wie sie wohl im Allgemeinen in der Theorie gebilligt werden mochten, aber nach ihren Resultaten, wenn sie in Ausführung gebracht werden, für einen Schriftsteller oft mehr Erstaunen als Vergnügen zur Folge haben.

Ich sagte zu mir selbst, mein Held sollte sich seinen Weg durchs Leben bahnen, wie ich dies bei real existierenden Männern gesehen hatte – er sollte nie einen Schilling gewinnen, den er nicht verdient hatte – keine plötzlichen Schicksalsfälle sollten ihn in einem Augenblick zu Reichtum und hoher Stellung emporheben; welches geringe Auskommen er auch erreichen würde, es sollte durch den Schweiß seines Angesichts erworben sein; er sollte, ehe er auch nur eine Laube fände, um sich zu setzen, wenigstens die Hälfte des »Hügels der Mühsal« erstiegen haben; er sollte nicht einmal ein schönes Mädchen oder eine Dame von Rang heiraten. Als Adams Sohn sollte er Adams Spruch teilen und sein Leben lang nur einen gemischten und mäßigen Kelch der Freude zur Neige bringen.

In der Folge jedoch fand ich, dass Verleger im Allgemeinen diesem System selten ihren Beifall schenkten, sondern gern etwas mehr Erfinderisches und Poetisches gehabt hätten – etwas mehr im Einklang mit einer hochgeschraubten Fantasie, mit einem Geschmack für Pathos, mit zarteren, gehobeneren, unwirklicheren Empfindungen. Wahrlich, wenn ein Schriftsteller nicht versucht hat, ein solches Manuskript zu verfassen, kann er nie wissen, welche Vorräte an Dichtung und Empfindsamkeit in Herzen liegen, von denen er nie geahnt hätte, dass sie solche Schätze bergen. Von Geschäftsleuten glaubt man gewöhnlich, dass sie das Reale vorziehen; bei näherer Prüfung wird sich dieser Gedanke oft als Irrtum erweisen: Eine leidenschaftliche Vorliebe für das Wilde, Wunderbare und Spannende – das Seltsame, Erschreckende und Bestürzende – bewegt manche Seelen, die eine ruhige und nüchterne Oberfläche zeigen.

Unter solchen Umständen wird der Leser begreifen, dass diese kurze Erzählung, um in der Form eines gedruckten Buches zu ihm zu gelangen, manche Kämpfe durchgemacht haben muss – wie es auch wirklich der Fall ist. Und nach allem soll der schlimmste Kampf und das strengste Urteil erst noch kommen; aber es spricht sich Trost zu – überwältigt die Furcht – lehnt sich auf den Stab einer gemäßigten Erwartung – und murmelt im Stillen, während es sein Auge zu dem des Publikums erhebt:

»Wer niedrig ist, braucht den Fall nicht zu fürchten.«

Currer Bell

Das vorangehende Vorwort wurde von meiner Frau im Hinblick auf die Veröffentlichung des »Professor« geschrieben, kurz nach dem Erscheinen von »Shirley«. Nachdem man sie von ihrem Plan abgebracht hatte, dieselben Themen in einem darauffolgenden Werk zu benutzen – »Vilette«. Allerdings unterscheiden sich beide Geschichten in den meisten Aspekten stark voneinander, so dass mir nahegelegt wurde, diese Geschichte dem Publikum nicht vorzuenthalten. Daher habe ich der Veröffentlichung zugestimmt.

A. B. NICHOLLS

Haworth Parsonage,

22. September 1856

Erstes Kapitel

Zur Einleitung

Eines Tages, als ich meine Papiere durchsah, fand ich in meinem Schreibtisch die folgende Abschrift eines Briefs, den ich vor etwa einem Jahr von einem alten Schulfreund erhalten hatte.

»Lieber Charles!

Ich glaube, als Du und ich zusammen in Eton waren, dass keiner von uns das war, was man einen beliebten Charakter nennen konnte: Du warst eine sarkastisches, beobachtendes, gerissenes, kaltblütiges Individuum; mein eigenes Bild will ich nicht zu zeichnen versuchen, aber ich kann mich nicht erinnern, dass es auffallend anziehender Art gewesen ist – nicht wahr? Welcher animalische Magnetismus Dich und mich einander näher brachte, weiß ich nicht; gewiss empfand ich nie etwas von der Pylades-und-Orestes-Empfindung1 für Dich, und ich habe Grund, zu glauben, dass Du Deinerseits ebenso frei von allen romantischen Rücksichten auf mich warst. Nach unseren Schulstunden sprachen wir auf unseren Wegen unaufhörlich miteinander; galt das Thema der Unterhaltung unseren Kameraden oder unseren Lehrern, so verstanden wir einander, und kam ich auf irgendein Gefühl von Zuneigung, auf eine vage Liebe irgendeines ausgezeichneten oder schönen Gegenstandes, sei er belebter oder unbelebter Natur, zu sprechen, so machte Deine sardonische Kälte keinen Eindruck auf mich. Ich fühlte mich damals erhaben über eine solche Kränkung, wie es noch heute der Fall ist.

Es ist lange Zeit her, seit ich Dir geschrieben, und noch länger, seit ich Dich gesehen habe. Als ich eines Tages zufällig ein Zeitungsblatt aus Deiner Grafschaft zur Hand nahm, fiel mein Auge auf Deinen Namen. Ich begann, der alten Zeiten zu gedenken; die Ereignisse durchzugehen, die seit unserer Trennung eingetreten sind; und ich setzte mich nieder und fing diesen Brief an. Wie es Dir ergangen ist, weiß ich nicht; aber wenn Du mir Deine Aufmerksamkeit schenken willst, sollst Du hören, wie die Welt mit mir umgesprungen ist.

Zuerst hatte ich nach dem Abschied von Eton eine Zusammenkunft mit meinen Onkeln mütterlicherseits, Lord Tynedale, und dem ehrenwerten John Seacombe. Sie fragten mich, ob ich in den Dienst der Kirche treten wolle, und mein Onkel, der Edelmann, bot mir, wenn ich dazu geneigt wäre, die Pfründe von Seacombe an, welche er zu vergeben hatte; dann deutete mein zweiter Onkel, Mr. Seacombe, an, wenn ich Pfarrer von Seacombe-cum-Scaife würde, bekäme ich vielleicht die Erlaubnis, mir als Herrin meines Hauses und Haupt meiner Pfarrei eine von meinen sechs Cousinen, seinen Töchtern, zu nehmen, die mir allesamt sehr zuwider waren.

Ich lehnte sowohl die Kirche als auch die Ehe ab. Einen guter Geistlicher ist eine gute Sache, ich aber würde einen sehr schlechten abgegeben haben. Was die Frau betraf – ach was für ein Alptraum ist der Gedanke, lebenslang an eine meiner Cousinen gebunden zu sein! Ohne Zweifel waren Sie gebildet und hübsch; aber keine Bildung, kein Reiz derselben schlägt eine Saite in meinem Herzen an. Zu denken, die Winterabende am Kamin des Wohnzimmers der Pfarrei von Seacombe allein mit einer von ihr – zum Beispiel der großen und gut gebauten Statue, Sarah, zu verbringen – nein; ich würde unter solchen Umständen ein ebenso schlechter Gatte, wie schlechter Geistlicher sein.

Nachdem ich die Anerbietungen meiner Onkel abgelehnt hatte, wollten sie wissen, was meine Absichten wären. Ich sagte, ich würde es mir überlegen. Sie erinnerten mich daran, dass ich kein Vermögen besaß und keines zu erwarten hätte, und nach einer beträchtlichen Pause richtete Lord Tynedale die strenge Frage an mich, ob ich etwa im Sinn hätte, ›in meines Vaters Fußstapfen zu treten und mich dem Handel zu verpflichten‹. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich keine Absichten dieser Art. Ich glaube nicht, dass meine Geistesrichtung mich zu einem guten Handelsmann qualifiziert; mein Geschmack, mein Ehrgeiz gehen sich nicht in diese Richtung; aber als er das Wort Handel aussprach, drückte sich ein solcher Hohn in Tynedales Miene – ein so geringschätziger Sarkasmus in seinem Ton aus, dass ich augenblicklich entschlossen war. Mein Vater war ein bloßer Name für mich, doch hörte ich nicht gern, dass dieser Name mit einem Naserümpfen erwähnt wurde. Ich antwortete also schnell und mit Wärme: ›Ich kann nichts Besseres tun, als in meines Vaters Fußstapfen zu treten; ja, ich will ein Handelsmann werden.‹ Meine Onkel erhoben keine Einwände dagegen; wir trennten uns mit gegenseitigem Widerwillen. Wenn ich auf diese Verhandlung zurückblicke, finde ich, dass ich völlig im Recht war, die Bürde von Tynedales Patronat abzuschütteln, aber ein Narr, sogleich meine Schultern zur Aufnahme einer anderen Last anzubieten – einer Last, welche noch unverträglicher sein mochte und welche bis jetzt noch unerprobt war.

Ich schrieb sogleich an Edward – Du kennst Edward – meinen einzigen Bruder, zehn Jahre älter als ich, mit einer reichen Fabrikbesitzerstochter verheiratet und jetzt Besitzer der Fabrik und des Geschäfts, das meinem Vater, ehe er scheiterte, gehört hatte. Du weißt, dass mein Vater – einst an Reichtum einem Krösus gleichgeschätzt - kurz vor seinem Tod Bankrott gemacht hatte, und dass meine Mutter sechs Monate lang nach ihm in Armut lebte, ohne Hilfe von ihren aristokratischen Brüdern, welche sie durch ihre Verbindung mit Crimsworth, dem -shire Fabrikanten tödlich beleidigt hatte. Am Ende der sechs Monate brachte Sie mich zur Welt und verließ sie selbst, wie ich denke, ohne viel Bedauern, da dieselbe wenig Hoffnung oder Trost für sie enthielt.

Die Verwandten meines Vaters nahmen sich Edwards an, und ebenso meiner, bis ich neun Jahre alt war. Um diese Zeit geschah es, dass der Parlamentssitz eines wichtigen Bezirks in unserer Grafschaft vakant wurde; Mr. Seacombe trat als Bewerber dafür an. Mein Onkel Crimsworth, ein schlauer, merkantiler Mann, nutzte diese Gelegenheit, um einen groben Brief an den Kandidaten zu schreiben, des Inhaltes, wenn er und Lord Tynedale nicht einwilligten, etwas zur Unterstützung der verwaisten Kinder ihrer Schwester zu tun, würde er das unbarmherzige und böswillige Benehmen derselben gegen ihre Schwester an die Öffentlichkeit bringen und alles Mögliche tun, um die Umstände gegen Mr. Seacombes Wahl zu wenden. Jener Gentleman und Lord Tynedale wussten recht gut, dass die Crimsworths nichts weniger als eine skrupulöse und unentschlossene Familie waren; sie wussten auch, dass dieselben in dem Wahlbezirk von X- Einfluss hatten; so machten sie also aus der Not eine Tugend und willigten ein, die Kosten meiner Erziehung zu tragen. Ich wurde nach Eton geschickt, wo ich zehn Jahre blieb, während jener Zeit haben Edward und ich uns niemals gesehen. Er trat, als er herangewachsen war, in ein Geschäft und verfolgte seinen Beruf mit solchem Eifer, Talent und Erfolg, dass er jetzt, in seinem dreißigsten Jahr, im Begriff steht, sich schnell ein Vermögen zu machen. Davon wurde ich durch gelegentliche kurze Briefe in Kenntnis gesetzt, die ich von ihm drei- oder viermal im Jahr erhielt; besagte Briefe schlossen niemals ohne einen Ausdruck entschiedener Feindschaft gegen das Haus Seacombe und einen Vorwurf darüber, dass ich, wie er sagte, von der Gnade dieses Hauses lebte. Anfänglich, solange ich noch im Knabenalter war, konnte ich nicht begreifen, warum ich nicht, da ich keine Eltern hatte, meinen Onkeln Tynedale und Seacombe für meine Erziehung verpflichtet sein sollte; aber als ich heranwuchs und stufenweise von der beharrlichen Feindseligkeit, dem Hass bis zum Tode hörte, welchen sie gegen meinen Vater an den Tag legten – von den Leiden meiner Mutter – kurz von all dem Unrecht gegen unser Haus – da empfand ich Scham über die Abhängigkeit, in der ich lebte, und bildete in mir den Entschluss, kein Brot mehr den von Händen anzunehmen, die sich geweigert hatten, meiner sterbenden Mutter in ihrer Not beizustehen. Unter dem Einfluss dieser Gefühle geschah es, dass ich die Pfarrei von Seacombe und die Vereinigung mit einer von meinen patrizischen Cousinen ausschlug.

Da nun ein unheilbarer Bruch zwischen mir und meinen Onkeln erfolgt war, schrieb ich an Edward, erzählte ihm, was vorgefallen war, und benachrichtigte ihn von meinem Vorhaben, seinem Beispiel zu folgen und ein Handelsmann zu werden. Ich fragte weiterhin, ob er mir Beschäftigung geben könnte. Seine Antwort drückte keine Billigung meines Benehmens aus, aber er sagte, ich sollte nach herauf -shire kommen, wenn es mir lieb wäre, und er wollte sehen, was zum Zweck, mir Arbeit zu verschaffen, geschehen könnte. Ich unterdrückte jeden – selbst stillschweigenden Kommentar zu diesem Brief, packte meinen Koffer und Reisesack und brach direkt nach Norden auf.

Nach zweitägiger Reise (es gab noch keine Eisenbahn) kam ich an einem regnerischen Oktobernachmittag in der Stadt X- an. Ich war immer der Meinung gewesen, Edward wohne in dieser Stadt, nun aber erfuhr ich bei meinen Erkundigungen, dass sich nur Mr. Crimsworths Fabrik und Lagerhaus in der rauchigen Atmosphäre von Bigben Close befanden, seine Residenz jedoch vier Meilen davon entfernt, auf dem Land lag.

Es war spät am Abend, als ich am Tor der Wohnstätte, welche man mir als die meines Bruders genannt hatte, abstieg. Als ich die Allee hinaufschritt, konnte ich durch die Schatten des Zwielichts und die dunklen, düsteren Nebel, welche jene Schatten verstärkten, wahrnehmen, dass das Haus groß und die umliegenden Anlagen recht weitläufig waren. Ich machte einen Augenblick auf dem Rasen davor Halt, lehnte mich an einen hohen Baum, der sich in der Mitte erhob, und betrachtete mit Interesse das Äußere von Crimsworth-Hall.

Edward ist reich, dachte ich bei mir selbst, ich glaubte allerdings, dass es ihm gut ginge, – aber ich wusste nicht, dass er Herr eines Herrenhauses gleich diesem wäre. Alle Verwunderung, Beobachtung, Vermutung usw. kurz abschneidend, näherte ich mich der Eingangstür und läutete. Ein Diener öffnete – ich kündigte mich an – er nahm mir meinen durchnässten Oberrock und meine Reisetasche ab und führte mich in ein als Bibliothek eingerichtetes Zimmer, wo es ein helles Feuer gab und Lichter auf dem Tisch brannten; er deutete an, dass sein Herr noch nicht von dem X-Markt zurückgekehrt sei, aber gewiss im Laufe einer halben Stunde zu Hause sein werde.

Mir selbst überlassen, nahm ich Platz auf dem gepolsterten, mit rotem Maroquin überzogenen Armsessel, der neben dem Kamin stand, und während meine Augen den Flammen, die von den glühenden Kohlen in die Höhe schossen, und der Asche, die von Zeit zu Zeit auf den Rost niederfiel, zusahen, beschäftigte sich mein Geist mit Vermutungen über das bevorstehende Zusammentreffen. Mitten unter all dem, was in Bezug auf diese Vermutungen zweifelhaft war, erschien eines ziemlich sicher – ich lief keinerlei Gefahr, eine bittere Enttäuschung zu erleben; davor bewahrte mich die Mäßigkeit meiner Erwartungen. Ich erwartete keine Überwallungen brüderlicher Zärtlichkeit; Edwards Briefe waren immer der Art gewesen, um der Erzeugung oder Hegung von dergleichen Illusionen vorzubeugen. Noch immer, wie ich so seine Ankunft erwartend dasaß, fühlte ich mich aufgeregt – sehr aufgeregt – ich kann nicht sagen, warum; meine Hand, dem Druck einer verwandten Hand so gänzlich fremd, ballte sich selbst zusammen, um dem Zittern zu widerstehen, womit Ungeduld sie gern geschüttelt hätte.

Ich dachte an meine Onkel; und während ich eben dabei war, mich neugierig zu fragen, ob Edwards Teilnahmslosigkeit der kalten Geringschätzung, die ich stets von ihnen erfahren hatte, gleichkommen würde, hörte ich das Öffnen des Alleentors: Räder näherten sich dem Haus; Mr. Crimsworth war angekommen; und nach Verlauf einiger Minuten und einem kurzen Zwiegespräch zwischen ihm und seinem Diener in der Halle, näherte sein Schritt der Tür der Bibliothek – dieser Schritt allein kündigte den Herrn des Hauses an.

Ich besaß noch immer eine verworrene Erinnerung an Edward, wie er vor zehn Jahren gewesen war – ein langer, steifer, rauer Junge; jetzt, als ich mich von meinem Sitz erhob und zur Zimmertür wandte, sah ich einen gut aussehenden, gewaltigen Mann, von heller Gesichtsfarbe, gut gebaut und von athletischer Figur. Der erste Blick offenbarte mir ein schnelles, scharfen Naturell, das sich ebenso in seinen Bewegungen, wie im Zustand der Ruhe in seinen Augen und in dem allgemeinen Ausdruck seines Gesichtes zeigte. Er grüßte mich kurz und maß mich im Augenblick des Händeschüttelns vom Kopf bis zu den Füßen; er nahm in dem maroquinüberzogenen Sessel Platz und deutete mit der Hand auf einen anderen Stuhl.

›Ich nahm an, Du würdest im Kontor im Close vorsprechen‹, sagte er; seine Stimme, bemerkte ich, hatte eine kurzen schroffen Tonfall, der ihm wahrscheinlich zur Gewohnheit geworden war; außerdem sprach er mit einem nördlichen Guturalton, welcher mir scharf in den Ohren klang, der ich an den silbernen Laut des Südens gewöhnt war.

›Der Wirt des Gasthauses, wo die Kutsche hielt, schickte mich hierher‹, sagte ich. ›Ich zweifelte zuerst an der Genauigkeit seiner Angabe, da ich nicht wusste, dass du ein solches Wohnhaus wie dieses hast.‹

›Oh, ganz richtig‹, erwiderte er, ›nur wurde ich eine halbe Stunde über die Zeit aufgehalten, da ich auf dich wartete – das ist alles. Ich dachte mir, du müsstest mit der Acht-Uhr-Kutsche kommen.‹

Ich drückte mein Bedauern aus, dass er hatte warten müssen; er gab keine Antwort, sondern stocherte in dem Feuer, als wenn er eine ungeduldige Bewegung verbergen wollte; dann musterte er mich wieder.

Ich fühlte eine innere Beruhigung, dass ich nicht in dem ersten Augenblick des Zusammentreffens irgendeine Wärme oder Begeisterung verraten, dass ich diesen Mann mit einer ruhigen und festen Gleichmut begrüßt hatte.

›Hast du mit Tynedale und Seacombe völlig gebrochen?‹ fragte er hastig.

›Ich denke nicht, dass ich eine weitere Unterredung mit ihnen haben werde; ich denke, meine Ablehnung ihrer Vorschläge wird jedem künftigen Verkehr einen Riegel vorschieben.‹

›Nun‹, sagte er, ›ich will dich ebenfalls gleich zu Anfang unserer Verbindung darauf aufmerksam machen, dass ›niemand zwei Herren dienen kann‹. Eine Bekanntschaft mit Lord Tynedale ist unverträglich mit einer Unterstützung von mir.‹ Es lag eine Art von unnötiger Drohung in seinen Augen, als er mich am Schluss dieser Bemerkung anschaute.

Da ich kein Verlangen hatte, ihm zu antworten, begnügte ich mich mit einer inneren Betrachtung der Unterschiede, welche in der Verfassung des menschlichen Geistes existieren. Ich weiß nicht, welchen Schluss Mr. Crimsworth aus meinem Schweigen zog – ob er es als ein Symptom von Widerspenstigkeit oder als einen Beweis, dass ich durch sein vernichtendes Wesen eingeschüchtert war, betrachtete. Nach einem langen und strengen Blick auf mich stand er rasch von seinem Sitz auf.

›Morgen‹, sagte er, ›werde ich deine Aufmerksamkeit auf andere Punkte lenken; aber nun ist es Zeit zum Abendessen, und Mrs. Crimsworth wartet wahrscheinlich; willst du kommen?‹

Er schritt aus dem Zimmer und ich folgte. Während ich die Halle durchquerte, fragte ich mich neugierig, wie Mrs. Crimsworth sein mochte. Ist sie, dachte ich, so anders von dem, was mir gefällt, wie Tynedale, Seacombe, die Fräuleins Seacombe – wie der herzliche Verwandte, der jetzt vor mir hermarschiert? Oder ist sie besser als diese? Werde ich mich im Gespräch mit ihr frei genug fühlen, etwas von meiner wahren Natur zu zeigen; oder –?‹ Weitere Vermutungen wurden durch meinen Eintritt in das Speisezimmer abgebrochen.

Eine Lampe, die unter einem Schirm aus mattiertem Glas brannte, zeigte ein hübsches, mit Eichenholz getäfeltes Gemach; das Abendessen war aufgetragen; am Kamin stand, als ob sie auf unseren Eintritt wartete, eine Dame; sie war jung, hochgewachsen und wohlgestaltet. Ihre Kleidung war hübsch und modisch: So viel konnte ich auf den ersten Blick feststellen. Eine fröhliche Begrüßung wurde zwischen ihr und Mr. Crimsworth ausgetauscht; sie schalt ihn halb scherzhaft, halb schmollend, dass er so spät kam, ihre Stimme (beim Urteil über den Charakter ziehe ich immer die Stimme mit in Betracht) war belebt – sie zeigte, dachte ich mir, eine gute natürliche Vitalität. Mr. Crimsworth beendete schnell ihr lebhaftes Schelten mit einem Kuss – einem Kuss, der noch immer von dem Bräutigam erzählte (sie waren noch kein Jahr verheiratet); in bester Stimmung nahm ihren Sitz am Esstisch ein. Bei meinem Anblick bat sie mich um Verzeihung, dass sie mich nicht früher bemerkt hatte und bot mir dann die Hand, wie es Damen tun, wenn ein Übermaß guter Laune sie geneigt macht, gegen jedermann, selbst die Gleichgültigsten ihrer Bekanntschaft, freundlich zu sein. Weiterhin konnte ich erkennen, dass sie eine gute Gesichtsfarbe und stark ausgeprägte, aber angenehme Züge hatte; ihr Haar war rot – ganz rot. Sie und Edward hatten vieles zu bereden, immer in einem Hang scherzhaften Streites; sie war verärgert oder gab vor, es zu sein, dass er heute mit einem bösartigen Pferd im Gig ausgefahren war, und er spöttelte über ihre Befürchtungen. Zuweilen appellierte sie an mich.

›Nun, Mr. William, ist es nicht albern von Edward, so zu reden? Er sagt, er will mit Jack fahren, und mit keinem anderen Pferd, und das Tier hat ihn schon zweimal umgeworfen.

Sie sprach mit einer Art von Lispeln, nicht unangenehm, aber kindisch. Ich erkannte auch bald, dass etwas mehr als Mädchenhaftes – ein gewisser kindlicher Ausdruck in ihren durchaus nicht zarten Zügen lag; dieses Lispeln und dieser Ausdruck waren ohne Zweifel in Edwards Augen reizvoll und würden es für die der meisten Männer sein, aber waren es nicht in den meinen. Ich suchte ihre Augen, begierig, dort die Intelligenz zu lesen, die ich weder in ihrem Gesicht erkennen, noch in ihrem Gespräch vernehmen konnte; ihre Augen waren fröhlich, eher klein; abwechselnd sah ich Lebhaftigkeit, Eitelkeit, Koketterie durch die Iris herausschauen, doch ich wartete vergeblich auf einen Lichtblick aus der Seele. Ich bin kein Orientale; weiße Nacken, karminrote Lippen und Wangen, Wogen glänzender Locken reichen für mich nicht ohne jenen prometheischen Funken aus, welcher noch leben wird, wenn die Rosen und Lilien verwelkt sind und das glänzende Haar grau geworden ist. Im Sonnenschein, im Glück blühen die Blumen sehr schön; aber wie viele nasse Tage gibt es im Leben – November-Perioden von Missgeschick, wenn es in eines Menschen Herz und Heim wahrhaft kalt ist ohne den klaren, erheiternden Schimmer der Intelligenz.

Nachdem ich diese hübsche Seite von Mrs. Crimsworths Gesicht untersucht hatte, verriet ein unwillkürlicher Seufzer meine Enttäuschung; sie hielt ihn für eine ihrer Schönheit dargebrachte Huldigung, und Edward, der offenbar stolz auf seine reiche und hübsche Frau war, warf mir einen Blick, halb lächerlich, halb zornig, zu.

Ich wandte mich von beiden ab und schaute ermüdet im Zimmer umher, ich sah zwei Gemälde in die Eichentäfelung eingesetzt – eines auf jeder Seite des Kaminsimses. Ohne weiter an der neckenden Unterhaltung, welche zwischen Mr. Crimsworth und seiner Frau hin- und herwogte, teilzunehmen, richtete ich meine Gedanken auf die Untersuchung jener Gemälde. Es waren Portraits – eine Dame und ein Gentleman, gekleidet nach der Mode, wie sie vor zwanzig Jahren gewesen war. Der Herr befand sich im Schatten. Ich konnte ihn nicht deutlich sehen. Die Frau hatte den Vorteil des vollen Strahls einer sanft beschatteten Lampe. Ich erkannte sie sofort; ich hatte dieses Gemälde früher schon, in der Kindheit, gesehen; es war meine Mutter; dies und das nebenan hängende Gemälde waren die einzigen Erbstücke, die aus dem Verkauf von meines Vaters Eigentum gerettet worden waren.

Dieses Gesicht, erinnerte ich mich, hatte mich als Knabe erfreut, aber damals verstand ich es nicht; jetzt wusste ich, wie selten diese Klasse von Gesichtern in der Welt ist, und würdigte seinen nachdenklichen aber sanften Ausdruck mit Begeisterung. Die ernsten grauen Augen hatte für mich einen mächtigen Reiz, ebenso wie gewisse Linien in den Gesichtszügen, welche das wahrste und zarteste Gefühl andeuteten. Es tat mir leid, dass es nur ein Gemälde war.

Ich überlies bald Mr. Crimsworth und seine Frau sich selbst; ein Diener führte mich zu meinem Schlafgemach; indem ich die Zimmertür schloss, versperrte ich allen Eindringlingen den Zugang – Dir, Charles – so gut wie den Übrigen.

Für jetzt lebe wohl.

William Crimsworth.«

Auf diesen Brief bekam ich niemals eine Antwort; ehe mein alter Freund ihn erhielt, hatte er einen Regierungsposten in den Kolonien angenommen und war bereits unterwegs zu dem Schauplatz seiner amtlichen Tätigkeit. Was seitdem aus demselben geworden ist, weiß ich nicht.

Die Zeit der Muße, über die ich nun zu gebieten habe und die ich zu seinen besonderen Gunsten zu verwenden gedachte, will ich jetzt dem allgemeinen Publikum widmen. Meine Erzählung ist nicht aufregender Art und vor allem nicht wunderbar, aber sie mag für manche Personen interessant sein, welche, nachdem sie sich in demselben Beruf wie ich abgemüht, in meiner Erfahrung zahlreiche Widerspiegelungen ihrer eigenen finden werden. Der obige Brief wird als Einleitung dienen. Ich fahre nun fort.

Zweites Kapitel

Ein schöner Oktobermorgen folgte auf den nebeligen Abend, der Zeuge meiner ersten Einführung in Crimsworth-Hall gewesen war. Ich stand früh auf und spazierte über die großen parkähnliche Grünflächen, welche das Haus umgaben. Die Herbstsonne, welche über den -shire-Hügeln aufging, offenbarte eine angenehme Landschaft; Waldungen, braun und weich, brachten Abwechslung in die Felder, von denen die Ernte erst kürzlich heimgebracht worden war; ein zwischen den Wäldern dahingleitender Fluss fing in seiner Oberfläche den etwas kalten Glanz der Oktobersonne und des Oktoberhimmels auf; in häufigen Abständen an den Ufern des Flusses zeigten hohe, zylindrische Kamine, schlanken, runden Türmen ähnlich, die Fabriken an, die unter den Bäumen halb verborgen lagen; hier und da nahmen Herrensitze, in der Art von Crimsworth-Hall, die angenehmen Lagen an der Hügelseite ein; die Landschaft trug im Ganzen ein heiteres, geschäftiges, fruchtbares Aussehen. Dampf, Gewerbe, Maschinerie hatte längst aus ihr alles Romantische, Abgeschiedene verbannt. In einer Entfernung von fünf Meilen barg ein zwischen den niedrigen Hügeln sich öffnendes Tal, in seinem Kelch die große Stadt X-. Ein dicker, fortwährender Dunst brütete über dieser Ortschaft – hier lag Edwards »Geschäft«.

Ich zwang meine Augen, diese Aussicht eingehend zu prüfen, ich zwang meinen Geist, einige Zeit auf ihr zu verweilen, und als ich fand, dass sie meinem Herzen keine erfreulichen Regungen auslöste, – dass sie in mir keine jener Hoffnungen hervorrief, die ein Mensch empfinden sollte, wenn er den Schauplatz seiner Lebenslaufbahn vor sich ausgebreitet sieht, – sagte ich zu mir selbst: »William, du bist ein Rebell gegen die Verhältnisse; du bist ein Narr und weißt nicht, was du willst; du hast das Gewerbe erwählt und du sollst ein Handelsmann werden. Sieh!« fuhr ich im Inneren fort – »Sieh auf den rußigen Rauch in jener Schlucht und begreife, dass dort dein Posten ist! Dort kannst du nicht träumen, kannst nicht grübeln und Pläne machen – dort sollst du sein und arbeiten!«

Nachdem ich mich auf diese Weise selbst ermahnt hatte, kehrte ich nach Hause zurück. Mein Bruder war im Frühstückzimmer. Ich begegnete ihm gefasst – ich konnte ihm nicht heiter begegnen; er stand auf dem Teppich vor dem Kamin, mit dem Rücken gegen das Feuer – wie viel las ich in diesem Ausdruck seiner Augen, als mein Blick auf den seinen traf, als ich auf ihn zutrat, ihm einen guten Morgen zu wünschen; wie sehr dies meiner Natur widersprach! Er sagte abgehackt »Guten Morgen« und nickte mit dem Kopf, und dann fuhr, nicht griff er nach einer Zeitung vom Tisch und begann mit der Miene eines Mannes zu lesen, der einen Vorwand benutzt, um der Unannehmlichkeit eines Gesprächs mit einem Untergebenen zu entgehen. Es war gut, dass ich mir vorgenommen hatte, eine Zeitlang auszuharren, sonst hätte sein Benehmen den Widerwillen, den ich eben zu unterdrücken versucht hatte, unerträglich gemacht haben. Ich schaute ihn an: Ich musterte seinen robusten Körperbau und seine kräftigen Proportionen; ich sah mein eigenes Abbild in dem Spiegel über dem Kaminsims; ich amüsierte mich damit, beide Bilder zu miteinander zu vergleichen. Im Gesicht glich ich ihm, obwohl ich nicht so gutaussehend war; meine Züge waren weniger regelmäßig; ich hatte dunklere Augen und breitere Augenbrauen – an Körperbau stand ich tief unter ihm – ich war dünner, schmächtiger, nicht so groß. Körperlich war mir Edward weit überlegen; sollte er sich ebenso herrschend an Geist erweisen, wie er es an Statur war, musste ich mich ihm unterordnen – denn ich durfte von ihm nicht die Großmut eines Löwen gegenüber einem Schwächeren als er selbst es war erwarten; seine kalten, habsüchtigen Augen, sein strenges, abschreckendes Benehmen sagte mir, dass er mich nicht schonen würde. Hatte ich die geistige Stärke, es mit ihm aufzunehmen? Ich wusste es nicht; ich war noch nie geprüft worden.

Der Eintritt von Mrs. Crimsworth zerstreute sogleich meine Gedanken. Sie sah gut aus, in ihrem weißen Kleid, ihr Gesicht und ihr Gewand schimmerten in der Frische des Morgens und der einer Braut. Ich sprach sie mit einem Grad an Freiheit, der ihre sorglose Fröhlichkeit der vergangenen Nacht zu rechtfertigen schien, aber sie antwortete kalt und zurückhaltend: Ihr Gemahl hatte sie bereits instruiert; sie sollte sich gegenüber seinem Gehilfen keine allzu großen Vertraulichkeiten erlauben.

Sobald das Frühstück vorüber war, teilte mir Mr. Crimsworth mit, dass man das Gig an das Tor bringen werde und dass er erwarte, mich in fünf Minuten bereit zum Aufbruch nach X- zu finden. Ich ließ ihn nicht warten; wir fuhren bald in raschem Tempo auf der Straße dahin. Das Pferd, das er angespannt hatte, war dasselbe bösartige Tier, über welches Mrs. Crimsworth abends zuvor ihre Besorgnis geäußert hatte. Ein- oder zweimal schien Jack geneigt, störrisch zu werden, doch eine kräftige und entschlossene Anwendung der Peitsche von der mitleidlosen Hand seines Herrn zwang ihn bald zum Gehorsam und Edwards erweiterte Nasenflügel bestätigten seinen Triumph über das Ergebnis der Machtprobe; während der Dauer der kurzen Fahrt sprach er kaum mit mir, sondern öffnete bloß die Lippen, um sein Pferd mehrmals zu verfluchen.

X- war voll Lärm und Geschäftigkeit, als wir einfuhren; wir verließen die sauberen Straßen, wo die Wohnhäuser und Läden, Kirchen und öffentlichen Gebäude standen; wir ließen all dies hinter uns und wandten uns abwärts in einer Gegend von Fabriken und Lagerhäusern; dann kamen wir durch zwei massive Tore in einen gepflasterten Hof und waren in Bigben Close und die Fabrik lag vor uns, aus ihren langen Kaminen brach Ruß hervor und ihre dicken Wände aus Ziegelstein erzitterten von den Bewegungen ihrer eisernen Eingeweide. Werkleute gingen auf und ab; ein Wagen wurde mit Fässern beladen. Mr. Crimsworth blickte von einer Seite zur anderen und schien mit einem Blick alles, was vorging, zu erfassen; indem er abstieg und sein Pferd und das Gig der Sorge eines Mannes überließ, welcher herbeieilte, um die Zügel aus seiner Hand in Empfang zu nehmen, forderte er mich auf, ihm zum Kontor zu folgen. Wir traten ein; dieser Ort unterschied sich sehr von den Wohnzimmern zu Crimsworth-Hall – ein Geschäftsort mit bloßem, gedieltem Fußboden, einem Speiseschrank, zwei hohen Pulten und Stühlen sowie einigen Sesseln. Eine Person saß an einem der Pulte, die ihre viereckige Mütze abnahm, als Mr. Crimsworth eintrat, und sogleich wieder in ihre Beschäftigung mit Schreiben oder Rechnen versunken war – ich weiß nicht welche.

Mr. Crimsworth setzte sich, nachdem er seinen Regenmantel abgelegt hatte, ans Feuer. Ich blieb neben dem Ofen stehen; er sagte sogleich –

»Steighton, Sie können das Zimmer verlassen; ich habe mit diesem Gentleman ein Geschäft abzuwickeln. Kommen Sie zurück, wenn Sie die Glocke hören.«

Der Mann am Pult erhob sich und verschwand, indem er die Tür hinter sich schloss. Mr. Crimsworth schürte das Feuer an, verschränkte die Arme und saß einen Augenblick nachdenklich da, die Lippen zusammengepresst und die Stirn in Falten gezogen. Ich konnte nichts tun, als ihn zu beobachten – wie gut seine Züge geschnitten waren! Was für ein schöner Mann er war! Doch woher kam diese zusammengezogene Miene – dieser beschränkte und harte Ausdruck auf seiner Stirn, in all seinen Zügen?

Sich an mich wendend, begann er brüsk:

»Du kommst also nach -shire, um ein Gewerbe zu erlernen?«

»Ja.«

»Hast du in dieser Angelegenheit einen festen Entschluss gefasst? Ich muss das unverzüglich wissen.«

»Ja.«

»Gut, ich bin nicht verpflichtet, dir zu helfen, aber ich habe hier eine unbesetzte Stelle, wenn du dich dafür qualifizierst. Ich will dich auf Probe nehmen. Was kannst du? Kannst du etwas außer jenen unnützen Plunder von College-Gelehrsamkeit – Griechisch, Latein und so weiter?«

»Ich habe Mathematik studiert.«

»Dummes Zeug! Das habe ich mir beinahe gedacht.«

»Ich kann Französisch und Deutsch lesen und schreiben.«

»Hm!« Er besann sich einen Augenblick, öffnete dann eine Schublade in einem Pult neben ihm, nahm einen Brief heraus und gab ihn mir.

»Kannst du das lesen?« fragte er.

Es war ein deutscher Geschäftsbrief; ich übersetzte ihn; ich konnte nicht sagen, ob er befriedigt war oder nicht – sein Gesichtsausdruck blieb starr.

»Es ist gut«, sagte er nach einer Pause, »dass du etwas Brauchbares kannst, etwas, das dich in die Lage versetzt, dir Kost und Unterkunft zu verdienen: da du Französisch und Deutsch verstehst, will ich als zweiten Sekretär anstellen, um die auswärtige Korrespondenz des Hauses zu führen. Ich werde dir einen guten Lohn – 90 Pfund jährlich – zahlen, und jetzt«, fuhr er mit erhobener Stimme fort – »höre mir ein für allemal zu, was ich dir über unsere Verwandtschaft und all dergleichen Humbug zu sagen habe! In diesem Punkt dulde ich keinerlei Missverständnisse: Das lasse ich mir nicht bieten. Ich werde dich aufgrund der Tatsache, dass du mein Bruder bist, für nichts entschuldigen; stelle ich fest, dass du dumm, nachlässig, zerstreut, faul oder mit Fehlern behaftet bist, welche für die Interessen des Hauses von Nachteil sind, so werde ich Dich wie jeden anderen Gehilfen fortschicken. Neunzig Pfund jährlich sind ein guter Verdienst, und ich erwarte von dir den vollen Gegenwert meines Geldes; vergiss nicht, dass die Angelegenheiten in meinem Geschäft auf einem praktischen Fundament stehen – geschäftsmäßiges Verhalten, Denken und Fühlen gefallen mir am besten. Verstehst du das?«

»Zum Teil«, erwiderte ich. »Ich vermute, du meinst, ich müsse für meinen Lohn arbeiten, hätte keine Gunst von dir zu erwarten und dürfe von dir mit keiner Hilfe rechnen, außer dem, was ich verdiene; das sagt mir genau zu, und zu diesen Bedingungen stimme ich zu, dein Handelsgehilfe zu werden.«

Ich drehte mich auf dem Absatz um und ging zum Fenster; diesmal untersuchte ich sein Gesicht nicht, um seine Meinung zu erfahren: Ich weiß nicht, welche er hatte, auch kümmerte ich mich damals nicht darum. Nach einem Schweigen von einigen Minuten fing er wieder an:

»Du erwartest vielleicht eine Wohnung in Crimsworth-Hall zu erhalten und mit mir in dem Gig hin- und herzufahren.

Ich will dich jedoch wissen zu lassen, dass ein solches Arrangement für mich sehr unbequem wäre. Ich schätze es, den Sitz in meinem Gig für einen Gentleman freizuhalten, den ich unter Umständen aus geschäftlichen Gründen über Nacht nach Crimsworth-Hall mitnehmen möchte. Du wirst dir eine Wohnung in X- suchen.«

Ich verließ das Fenster und kehrte wieder zum Ofen zurück.

»Natürlich werde ich mir eine Wohnung in X- suchen«, antwortete ich. Es würde mir nicht passen, in Crimsworth-Hall zu wohnen.

Mein Ton war ruhig. Ich spreche immer ruhig. Doch Mr. Crimsworths blaue Augen entzündeten sich; er nahm seine Rache auf eine recht sonderbare Weise. Indem er sich zu mir umwandte, sagte er unverblümt:

»Ich vermute, du bist völlig mittellos; wovon gedenkst du zu leben, bis dein Vierteljahrs-Lohn fällig ist?«

»Ich werde mich durchbringen«, sagte ich.

»Wie gedenkst du zu leben?« wiederholte er mit lauterer Stimme.

»Wie ich kann, Mr. Crimsworth.«

»Stürze dich in Schulden auf eigene Gefahr! Gut so«, antwortete er. »So viel ich weiß, hast du extravagante aristokratische Angewohnheiten; ist dem so, so gib sie auf; ich dulde hier nichts dieser Art, und ich werde dir keinen Schilling extra geben, in welche Verbindlichkeiten du dich auch einlässt – merke dir das.«

»Ja, Mr. Crimsworth, Sie werden feststellen, dass ich ein gutes Gedächtnis habe.«

Mehr sagte ich nicht. Ich dachte, dass dies noch nicht der rechte Zeitpunkt für weitere Verhandlungen wäre. Ich hatte das instinktive Gefühl, dass es dumm würde, sein Temperament bei einem Mann wie Edward allzu oft aufbrausen zu lassen. Ich sagte zu mir selbst, »ich will meinen Kelch unter diese beständige Traufe stellen; hier soll er still und beständig stehen; ist er voll, so wird er von selbst überlaufen – bis dahin: Geduld. Zwei Dinge sind gewiss. Ich bin imstande, die Arbeit zu verrichten, die Mr. Crimsworth mir aufgetragen hat; ich kann gewissenhaft meinen Lohn verdienen, und dieser reicht für mich aus, um zu leben. Was den Umstand betrifft, dass mein Bruder mir gegenüber das Verhalten eines übermütigen, barschen Herrn annimmt, so ist das sein Fehler, nicht der meine; und wird seine Ungerechtigkeit, seine üble Laune mich sogleich von dem erwählten Pfad abweichen lassen? Nein; ehe ich vom Weg abweiche, will ich wenigstens weit genug kommen, um zu sehen, wohin meine Laufbahn führt. Bis jetzt dränge ich mich nur zum Eingang – es ist nur ein schmales Tor; es sollte zu einem guten Ziel führen.«

Während ich also argumentierte, klingelte Mr. Crimsworth; sein erster Sekretär, der vor unserer Unterredung fortgeschickte Mann, trat wieder ein.

»Mr. Steighton«, sagte er, »zeigen Sie Mr. William die Briefe von den Gebrüdern Voß und geben Sie ihm die englischen Kopien von den Antworten; er wird sie übersetzen.«

Mr. Steighton, ein Mann von etwa 35 Jahren, mit einem Gesicht, das zugleich schlau und plump war, beeilte sich, diesen Befehl auszuführen; er legte die Briefe auf das Pult, und ich saß bald an demselben und war damit beschäftigt, die englischen Antworten ins Deutsche zu übertragen. Ein Gefühl intensiven Vergnügens begleitete dieses erste Bestreben, mir meinen Lebensunterhalt zu verdienen, – ein Gefühl, weder vergiftet noch geschmälert durch die Gegenwart des Auftraggebers, der dastand und mich einige Zeit, während ich schrieb, beobachtete. Ich dachte mir, er versuche meinen Charakter zu studieren, aber ich fühlte mich so sicher gegen diese Untersuchung, als hätte ich einen Helm mit herabgelassenem Visier auf – oder vielmehr, ich zeigte ihm mein Gesicht mit jenem Vertrauen, das vor einem ungelehrten Mann ein griechisch geschriebener Brief zeigen würde; zwar könnte er die Linien sehen und die Schriftzeichen verfolgen, aber könnte nichts damit anfangen; mein Charakter war dem seinen völlig unähnlich, und dessen Zeichen waren für ihn wie Worte in einer fremden Sprache. Es dauerte nicht lange, bis er sich kurz umdrehte, als wäre er verblüfft, und das Kontor verließ; er kehrte nur zweimal im Laufe des Tages dorthin zurück; jedes Mal mischte und trank er ein Glas Branntwein und Wasser, wozu er die Zutaten aus einem Speiseschrank auf der Seite des Kamins holte; nachdem er einen Blick auf meine Übersetzungen geworfen hatte – er konnte Französisch und Deutsch lesen – ging er wieder schweigend hinaus.

DrittesKapitel

Ich diente Edward als sein zweiter Sekretär treu, pünktlich und fleißig. Was mir zu tun auferlegt wurde, das war ich willens und imstande recht zu tun. Mr. Crimsworth überwachte mich genau auf der Suche nach Fehlern, er fand jedoch keinen; er beauftragte Timothy Steighton, seinen Günstling und ersten Mann, gleichfalls achtzugeben. Tim geriet in Verwirrung; ich war ebenso pünktlich wie er und schneller. Mr. Crimsworth erkundigte sich, wie ich lebte, ob ich Schulden machte – nein, meine Rechnungen bei meiner Hauswirtin waren stets beglichen. Ich hatte eine kleine Wohnung gemietet, welche ich aus einem kleinen Fonds zu bezahlen wusste – den gesammelten Ersparnissen meines Etoner Taschengelds; denn da es meiner Natur von jeher zuwider gewesen war, um finanzielle Unterstützung zu bitten, hatte ich mir frühzeitig die Gewohnheit selbstbeschränkender Ökonomie angeeignet, indem ich mit ängstlicher Sorgfalt äußerst mit meinem Monatsgeld umging, um der Gefahr vorzubeugen, in irgendeinem Augenblick eines künftigen Bedürfnisses um eine nachträgliche Zuwendung bitten zu müssen. Ich erinnere mich, dass manche mich damals geizig nannten, und ich pflegte dem Vorwurf mit dem Trost zu begegnen –: besser jetzt missverstanden, als später eine abweisende Antwort zu erhalten. An diesem Tag erhielt ich meinen Lohn. Ich hatte ihn schon zuvor erhalten, als beim Abschied von meinen verärgerten Onkeln einer von ihnen eine Fünfpfundnote vor mir auf den Tisch warf, die ich imstande war dort mit der Erklärung liegenzulassen, dass für meine Reisekosten bereits gesorgt sei. Mr. Crimsworth beauftragte Tim, herauszufinden, ob meine Wirtin bezüglich meiner Moral etwas zu klagen hatte; die Antwort lautete, sie halte mich für einen sehr religiösen Mann, und sie fragte Tim ihrerseits, ob er glaube, dass ich die Absicht hege, mich eines Tages der Kirche zu verpflichten, denn sie habe, sagte sie, junge Hilfsgeistliche in Logis bei sich gehabt, die in Bezug auf Festigkeit und Ruhe nichts in Vergleich mit mir gewesen seien. Tim war selbst »ein religiöser Mann«; tatsächlich war er ein »unierter Methodist«, was ihn aber (möge dies richtig verstanden sein) nicht daran hinderte, zur gleichen Zeit ein ausgemachter Schurke zu sein, und er zog in großer Verwirrung ab, als er diesen Bericht von meiner Frömmigkeit hörte. Nachdem er denselben Mr. Crimsworth mitgeteilt hatte, benützte dieser Gentleman, der selbst keinen Ort der Gottesverehrung besuchte und keinen Gott außer dem Mammon kannte, diese Information als eine Waffe gegen die Stetigkeit meines Temperaments. Er begann mit einer Reihe verdeckter Spöttereien, deren Richtung ich anfänglich nicht begriff, bis meine Wirtin mir zufällig von der Unterredung erzählte, die sie mit Mr. Steighton gehabt hatte; diese klärte mich auf; von da an kam ich vorbereitet in das Kontor und als die gotteslästerlichen Sarkasmen des Fabrikbesitzers das nächste Mal auf mich gezielt waren, gelang es mir, diese mit dem Schild undurchdringlicher Gleichgültigkeit aufzunehmen. Es dauerte nicht lange, bis er es leid war, seine Munition an eine Statue zu verschwenden, doch er warf die Pfeile nicht weg – sondern bewahrte sie heimlich in seinem Köcher auf.

Einmal während meiner Dienstzeit erhielt ich erhielt ich eine Einladung nach Crimsworth-Hall; es war bei der Gelegenheit einer großen, zu Ehren des Geburtstags des Herrn gegebenen Gesellschaft; stets war es seine Gewohnheit gewesen, bei ähnlichen jährlichen Festen seine Angestellten einzuladen und so konnte er mich nicht übergehen. Ich wurde jedoch streng im Hintergrund gehalten. Mrs. Crimsworth, elegant in Atlas und Spitzen gekleidet, blühend in ihrer Jugend und Gesundheit, ließ sich zu keiner weiteren Notiz mir gegenüber herab, die durch mehr als eine entfernte Bewegung ausgedrückt werden konnte. Ich wurde keiner aus der Versammlung der jungen Damen vorgestellt, die in silberne Wolken aus weißem Gaze und Musselin eingehüllt, wie in Schlachtordnung mir gegenüber auf der entgegengesetzten Seite eines langen und großen Saales saßen. In der Tat war ich völlig isoliert und konnte die glänzenden Erscheinungen nur aus der Ferne betrachten, und wenn ich einer solchen blendenden Szene müde war, mich zur Abwechslung der Betrachtung des Teppichmusters zuwenden. Mr. Crimsworth, vor dem Kamin stehend, den Ellbogen auf dessen Marmorsims gestützt, und rings um ihn eine Gruppe sehr hübscher Mädchen, mit denen er sich munter unterhielt – Mr. Crimsworth warf aus dieser Position einen Blick auf mich; ich sah müde, einsam aus, kleingehalten wie ein Hauslehrer oder eine Gouvernante in ihrem Trübsal; er war befriedigt.

Das Tanzen begann; es wäre mir wohl lieb gewesen, einem angenehmen und klugen Mädchen vorgestellt zu werden und die Freiheit und Gelegenheit zu haben, zu beweisen, dass ich das Vergnügen geselliger Unterhaltung ebenso gut fühlen wie teilen konnte – dass ich, kurz gesagt, kein Block oder Mobiliar war, sondern ein handelnder, denkender, fühlender Mensch. Manche lächelnde Gesichter und anmutige Gestalten glitten an mir vorüber, aber das Lächeln wurde an andere Augen verschwendet, die Gestalten wurden von anderen Händen als den meinen gehalten. Mit Tantalusqualen wandte ich wandte mich ab, verließ die Tänzer und wanderte zu dem mit Eichenholz getäfelten Speisesaal. Kein Hauch von Mitgefühl verband mich mit einem lebenden Wesen in diesem Haus; ich suchte das Porträt meiner Mutter und fand es. Ich nahm eine Wachskerze von einem Ständer und hielt sie hoch, ich schaute lange und ernsthaft; mein Herz verwuchs mit diesem Bild. Meine Mutter hatte, wie ich wahrnahm, viel von ihren Zügen und ihrer Miene – ihre Stirn, ihre Augen, ihre Gesichtsfarbe – an mich vererbt. Keine regelmäßige Schönheit gefällt egoistischen menschlichen Wesen so sehr, wie ein etwas gemildertes und verfeinertes Ebenbild ihrer selbst; aus diesem Grunde betrachten Väter wohlgefällig die Züge in den Gesichtern ihrer Töchter, in denen häufig ihr eigenes Bild mit der Weichheit der Farbe und der Zartheit der Umrisse schmeichelnd vereinigt ist. Ich fragte mich gerade, welchen Einbruck dieses Portrait, das mich so sehr interessierte, wohl auf einen unparteiischen Beobachter machen würde, als eine Stimme direkt hinter mir die Worte aussprach:

»Hm, es liegt Verstand in diesem Gesicht.«

Ich wandte mich um; neben meinem Ellbogen stand ein hochgewachsener Mann, jung, obwohl er wahrscheinlich fünf ober sechs Jahre älter war als ich – mit anderen Worten von einem Aussehen, das nichts weniger als Alltäglichkeit verriet; obgleich eben jetzt, da ich nicht in der Stimmung bin, sein Portrait im Detail zu zeichnen, der Leser sich mit der gerade entworfenen Silhouette begnügen muss; es war alles, was ich selbst im Augenblick von ihm sah: Ich erforschte weder die Farbe seiner Augenbrauen, noch die seiner Augen, ich sah seine Statur und die Umrisse seiner Gestalt; ich bemerkte auch seine penibel aussehende, Stupsnase; diese Beobachtungen, gering an Zahl und allgemein an Charakter (mit Ausnahme der letzteren) reichten aus, denn sie versetzten mich in die Lage, ihn zu erkennen.

»Guten Abend, Mr. Hunsden«, murmelte ich mit einer Verbeugung, und dann begann ich wie ein schüchterner Tropf zurückzuweichen – doch weshalb? Einfach, weil Mr. Hunsden ein Fabrikant und ich nur ein Sekretär war und mich mein Instinkt von jemand, der über mir stand, zurückscheuchte. Ich hatte Hunsden oft in Bigben Close gesehen, wohin er beinahe wöchentlich kam, um Geschäfte mit Mr. Crimsworth zu tätigen, aber ich hatte nie mit ihm gesprochen, noch er mit mir, und ich trug ihm eine Art unwillkürlichen Grolls nach, weil er mehr als einmal der stille Zeuge von Beleidigungen war, die sich Edward mir gegenüber erlaubte. Ich war der Überzeugung, dass er mich nur als einen geistesarmen Diener betrachten konnte, weshalb ich zurücktrat, um seine Gegenwart zu auszuweichen und seine Unterhaltung zu vermeiden.

»Wohin gehen Sie?« fragte er, als ich seitwärts rückte.

Ich hatte bereits wahrgenommen, dass Mr. Hunsden eine schroffe Redeweise besaß, und ich sagte störrischerweise zu mir selbst:

»Er denkt, er darf mit einem armen Sekretär sprechen, wie es ihm beliebt ; aber meine Laune ist vielleicht nicht so fügsam, wie er annimmt und seine plumpe Ungezwungenheit gefällt mir keineswegs.«

Ich gab eine unbedeutende Antwort, eher gleichgültig als höflich; und setzte meinen Rückzug fort. Er pflanzte sich vor mir auf und stellte sich mir ungerührt in den Weg.

»Bleiben Sie eine Weile hier«, sagte er, »es ist so heiß im Tanzsaal; außerdem tanzen Sie nicht; Sie haben heute Nacht keine Tänzerin gehabt.«

Er hatte recht, und wie er sprach, missfielen mir weder sein Blick noch sein Ton oder seine Art; meine amour-propre, meine Selbstachtung war wieder versöhnt; er hatte mich nicht aus Herablassung angeredet, sondern weil er, in den kühlen Speisesaal gekommen war, um sich zu erfrischen, und nun für eine beiläufige Unterhaltung jemand haben wollte, mit dem er sprechen konnte. Ich hasse es, herablassend behandelt zu werden, doch ich schätze es, entgegenkommend zu sein. Ich blieb.

»Das ist ein gutes Bild«, fuhr er fort, indem er zu dem Porträt zurückkehrte.

»Finden sie das Gesicht hübsch?« fragte ich.

»Hübsch! Nein – wie kann es hübsch sein mit diesen eingesunkenen Augen und hohlen Wangen? Aber es ist ungewöhnlich; es scheint über etwas nachzudenken. Wäre sie lebendig, könnte man sich mit dieser Frau über andere Themen als über Kleider, Besuche und Komplimente unterhalten.«

Ich stimmte ihm zu – aber sprach es nicht aus. Er fuhr fort.

Nicht dass ich einen Kopf dieser Art bewundere; es mangelt an Charakter und Kraft; es ist zu viel von dem Sen-si-tiven (so artikulierte er es, indem er seine Lippen kräuselte) in diesem Mund; außerdem steht ›Aristokratin‹ auf dieser Stirn geschrieben und ist in der Haltung ausgedrückt; ich hasse eure Aristokraten.«

»Sie denken also, Mr. Hunsden, dass adlige Herkunft an einer bestimmten Körperform und Gesichtszügen zu erkennen sei?«

»Zum Henker mit adliger Herkunft! Wer zweifelt, dass eure kleinen Lords ebenso gut ›ihre bestimmten Körperformen und Gesichtszüge‹ haben können, wie wir -shire-Handelsmänner die unseren? Aber welche sind besser? Gewiss nicht die ihren. Was ihre Frauen betrifft, so ist da ein kleiner Unterschied: Sie kultivieren die Schönheit von Kindheit an, und können es durch Sorgfalt und Erziehung zu einem gewissen Grad an Vortrefflichkeit in diesem Punkt bringen. Doch selbst diese Überlegenheit ist zweifelhaft. Vergleichen Sie die Gestalt in diesem Bilderrahmen mit Mrs. Edward Crimsworth – welche ist das schönere Geschöpf?«

Ich antwortete ruhig: »Vergleichen Sie sich selbst und Mr. Edward Crimsworth, Mr. Hunsden.«

»Oh, Crimsworth ist kräftiger als ich, das weiß ich; außerdem hat er eine gerade Nase, gebogene Augenbrauen und so weiter; aber diese Vorteile – wenn es denn Vorteile sind – hat er nicht von seiner Mutter, der Adligen, geerbt, sondern von seinem Vater, dem alten Crimsworth, der, wie mein Vater sagt, der wahrhaftigste -shire Tuchfärber war, der je Indigo in eine Färbekufe geschüttet hat, und dabei der schönste Mann von den drei Landkreisen.2 Sie, William, sind der Aristokrat Ihrer Familie, und Sie sind bei weitem kein so schöner Bursche wie Ihr plebejischer Bruder.

Es lag etwas in Mr. Hunsdens unverblümter Redeweise, was mir eher gefiel als mein Missfallen erregte, da es mich in eine innere Ruhe versetzte. Ich setzte also die Unterhaltung mit einem gewissen Interesse fort.

»Wie kommt es, dass Sie wissen, dass ich Mr. Crimsworths Bruder bin? Ich glaubte, Sie und jedermann sonst sehen bloß einen armen Sekretär in mir.

»Ganz recht, das tun wir auch; und was andres sind Sie, als ein armer Sekretär? Sie arbeiten für Crimsworth und er zahlt Ihnen Lohn – einen schäbigen Lohn noch dazu.«

Ich schwieg. Hunsdens Sprache grenzte nun ans Unverschämte, und doch beleidigte mich sein Benehmen nicht im mindesten – es reizte nur meine Neugierde; ich forderte ihn auf, fortzufahren, was er nach einer Weile tat.

»Diese Welt ist eine unsinnige.« sagte er.

»Wie das, Mr. Hunsden?«

»Ich wundere mich, dass Sie das fragen können: Sie selbst sind ein starker Beweis für jene Sinnlosigkeit, auf die ich anspiele.«

Ich war entschlossen, er sollte sich aus freien Stücken erklären, ohne dass ich ihn dazu drängte – also schwieg ich erneut.

»Ist es Ihre Absicht, ein Handelsmann zu werden?«

»Es war meine ernsthafte Absicht vor drei Monaten.«

»Hm! Umso törichter von Ihnen – Sie sehen mir wie ein Handelsmann aus! Was für ein geeignetes Geschäftsgesicht Sie haben!«

»Mein Gesicht ist, wie der Herr es gemacht hat, Mr. Hunsden.«

»Der Herr hat weder Ihr Gesicht, noch Ihren Kopf für X- gemacht. Ihr Äußeres verrät weder Idealismus, Redegewandtheit, Selbstachtung noch Gewissenhaftigkeit, was soll Ihnen all das hier nützen? Aber wenn Ihnen Bigben Close gefällt, so bleiben Sie hier; es ist Ihre eigene Angelegenheit, nicht die meine.«

»Vielleicht habe ich keine Wahl.«

»Nun, ich kümmere mich nicht darum – es hat für mich wenig Bedeutung, was Sie tun, oder wohin Sie gehen; aber ich habe mich jetzt abgekühlt – ich will wieder tanzen; und ich sehe so ein schönes Mädchen dort in der Ecke des Sofas bei ihrer Mama sitzen. Sehen Sie, ob ich sie nicht in einem Pfiff für einen Tänzer gewinne! Da ist Waddy, – Sam Waddy, der auf sie zusteuert; soll ich ihn nicht ausstechen?«

Und Mr. Hunsden schritt davon. Ich beobachtete ihn durch die offenen Flügeltüren; er lief Waddy den Rang ab, bat um die Hand des schönen Mädchens und führte sie im Triumph davon. Sie war eine hochgewachsene junge Frau, gut gebaut, mit vollen Formen, bezaubernd gekleidet, ähnlich wie Mrs. E. Crimsworth. Hunsden wirbelte mit ihr lebhaft im Walzer herum; er blieb den übrigen Abend an ihrer Seite, und ich las in ihrer belebten und vergnügten Miene, dass es ihm gelang, sich selbst vollkommen angenehm zu machen. Auch die Mama (eine stämmige Person mit einer Kopfbedeckung, die an einen Turban erinnerte – Mrs. Lupton mit Namen) sah hochzufrieden aus; wahrscheinlich schwebten ihrem inneren Auge prophetische Träume vor. Die Hunsdens stammten aus alter Familie; und so höhnisch auch Yorke (dies war der Name meines Gesprächspartners von vorhin) von den Vorteilen seiner Geburt auch sprach, im Inneren seines Herzens kannte und würdigte er die Auszeichnung seines alten, wenn nicht hohen Geschlechtes, die ihm an einem Ort wie -shire, an dem neue Emporkömmlinge wie Pilze aus dem Boden schossen, erwiesen wurde, und von dessen Einwohnern man sprichwörtlich sagte, dass nicht einer unter Tausend seinen eigenen Großvater kannte. Außerdem waren die Hunsdens, ehemals reich, noch immer unabhängig, und Berichte bestätigten, dass Yorke bei seinem Erfolg im Geschäft Anlass zur Hoffnung hatte, die teilweise verfallenen Vermögensumstände seines Hauses zu ihrer früheren Fülle zurückzuführen.

Diese Umstände berücksichtigend, mochte Mrs. Luptons breites Gesicht wohl ein Lächeln des Wohlgefallens tragen, als sie den Erben von Hunsden Wood damit beschäftigt sah, ihrer geliebten Sarah Martha emsig den Hof zu machen. Ich jedoch, dessen Beobachtungen zwar weniger gespannt, aber wahrscheinlich genauer waren, bemerkte bald, dass die Grundlagen für die mütterliche Selbstbeglückwünschung eher unwesentlich waren; der Gentleman hegte offensichtlich mehr Verlangen, Eindruck zu machen, als diesen in sich aufzunehmen. Ich weiß nicht, was es in Mr. Hunsden war, das in mir, wie ich ihn so beobachtete (ich hatte nichts Besseres zu tun), hin und wieder die Vorstellung von einem Fremden hervorrief. In Gestalt und Zügen hätte er ausgesprochen englisch aussehen können, obwohl man auch hier auf einen Zusatz von etwas Französischem stieß, aber er hatte nichts von englischer Zurückhaltung: Er hatte irgendwo, irgendwie die Kunst gelernt, es sich ganz behaglich zu machen; und keiner insularen Schüchternheit zu gestatten, sich als Schranke zwischen ihn und das was zu seiner Bequemlichkeit diente oder ihm Vergnügen bereitete, zu werfen. Vornehmes Wesen war nicht das, wonach er eiferte, doch konnte er auch nicht vulgär genannt werden; er war kein Sonderling – kein Rätsel – doch glich er niemand sonst, den ich je zuvor gesehen hatte; sein allgemeines Betragen erklärte sich vollständig, völlige Zufriedenheit mit sich selbst, doch zog auch bisweilen ein unbeschreiblicher Schatten wie eine Sonnenfinsternis über sein Gesicht und erschien mir wie ein Zeichen eines plötzlichen und starken inneren Zweifels an sich selbst , seinen Worten und Handlungen – eine energische Missstimmung über sein Leben oder seine soziale Stellung, seine künftigen Aussichten oder seine geistigen Vollkommenheiten – ich weiß nicht welche; vielleicht mochte es bei allem nur eine gallige Laune sein.

Viertes Kapitel

Niemand gibt gern zu, in der Wahl seines Berufs einen Fehler gemacht zu haben, und jeder Mann, der dieser Bezeichnung würdig ist, wird lange gegen Wind und Flut anrudern, ehe er es sich selbst auszurufen erlaubt: »Ich bin besiegt!« und sich geschlagen ans Land zurücktreiben lässt. Seit der ersten Woche an meines Aufenthalts in X- fühlte ich den Verdruss meiner Beschäftigung. Die Sache selbst, die Arbeit des Kopierens und Übersetzens von Geschäftsbriefen, war bereits trocken und langweilig genug, aber wäre das alles gewesen, hätte ich diese Last lange ertragen; ich bin nicht ungeduldig und würde, getrieben von dem zweifachen Verlangen, meinen Lebensunterhalt zu verdienen und vor mir und anderen den Entschluss, Handelsmann zu werden, zu rechtfertigen, es stillschweigend ertragen haben, dass meine besten Fähigkeiten verrosteten und verdorrten. Ich würde nicht geflüstert haben, noch nicht einmal in meinem Inneren, dass ich mich nach Freiheit sehnte. Ich hätte jeden Seufzer unterdrückt, mit dem mein Herz sein Leiden unter der Eingeschlossenheit, dem Rauch, der Einförmigkeit und dem freudlosen Durcheinander von Bigben Close, und sein quälendes Verlangen nach freieren und frischeren Eindrücken zu verraten gewagt hätte. Ich würde den Götzen der Pflicht, den Fetisch der Beharrlichkeit, in meinem kleinen Schlafzimmer in Mrs. Kings Haus aufgestellt haben, und sie hätten meine Hausgötter sein sollen, von denen mich meine teure, meine insgeheim geliebte Fantasie, die zarte und mächtige, weder durch Milde, noch Strenge hätte abspenstig machen sollen. Aber dies war nicht alles; die Antipathie, welche sich zwischen mir und meinem Auftraggeber gebildet hatte, schlug täglich tiefere Wurzeln und verbreitete dichtere Schatten und schloss mich von jedem Sonnenstrahl des Lebens aus, und ich begann mich wie eine Pflanze zu fühlen, die in feuchter Dunkelheit aus den schlammigen Mauern eines Brunnens hervorwuchs.