Der Purpurjunge - Eva Maaser - E-Book
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Der Purpurjunge E-Book

Eva Maaser

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Beschreibung

Was könnte derart großen Hass ausgelöst haben? Der packende Regio-Krimi »Der Purpurjunge« von Eva Maaser jetzt als eBook bei dotbooks. Ein lebloser Körper im Licht der Straßenlaterne, so sehr übersäht von Wunden und Blutergüssen, dass er wie in Purpur getaucht wirkt ... Hauptkommissar Rohleff ist zutiefst erschüttert, als er die Leiche des Jungen sieht, die Müllmänner in einem Container in Steinfurt gefunden haben. Hat die Bikergang, die sich neuerdings im sonst so ruhigen Ort herumtreibt, ihn so übel zugerichtet und anschließend in der Müllpresse entsorgt? Mitten in den Ermittlungen verschwindet plötzlich Rohleffs junger Assistent Patrick, der einer wichtigen Spur folgte. Der Verdacht gegen die Biker erhärtet sich. Oder hat Patrick, der selbst ein begeisterter Motorradfahrer ist, etwa einen Grund gehabt, unterzutauchen? »Was Brunetti in Venedig kann, das ist für Rohleff Ehrensache.« Münstersche Zeitung Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der fesselnde Kriminalroman »Der Purpurjunge« von Eva Maaser, auch bekannt unter dem Titel »Die Nacht des Zorns«, ist der vierte Band ihrer Regiokrimi-Reihe um Kommissar Rohleff, der auch unabhängig von den anderen Bänden gelesen werden kann. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 491

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Über dieses Buch:

Ein lebloser Körper im Licht der Straßenlaterne, so sehr übersäht von Wunden und Blutergüssen, dass er wie in Purpur getaucht wirkt … Hauptkommissar Rohleff ist zutiefst erschüttert, als er die Leiche des Jungen sieht, die Müllmänner in einem Container in Steinfurt gefunden haben. Hat die Bikergang, die sich neuerdings im sonst so ruhigen Ort herumtreibt, ihn so übel zugerichtet und anschließend in der Müllpresse entsorgt? Mitten in den Ermittlungen verschwindet plötzlich Rohleffs junger Assistent Patrick, der einer wichtigen Spur folgte. Der Verdacht gegen die Biker erhärtet sich. Oder hat Patrick, der selbst ein begeisterter Motorradfahrer ist, etwa einen Grund gehabt, unterzutauchen?

»Was Brunetti in Venedig kann, das ist für Rohleff Ehrensache.« Münstersche Zeitung

Über die Autorin:

Eva Maaser, geboren 1948 in Reken (Westfalen), studierte Germanistik, Pädagogik, Theologie und Kunstgeschichte in Münster. Sie hat mehrere erfolgreiche Krimis, historische Romane und Kinderbücher veröffentlicht.

Bei dotbooks erschienen bereits Eva Maasers Kriminalromane »Der Clan der Giovese« sowie die Rohleff-Reihe mit »Das Puppenkind«, »Die Eisfrau« und »Das Schwanenmädchen«. Kommissar Rohleffs erster Fall »Das Puppenkind« ist auch im Sammelband »Tatort: Deutschland« erhältlich.

Eva Maaser veröffentlichte bei dotbooks außerdem ihre historischen Romane »Krone der Merowinger – Das Schicksal der Königin«, »Krone der Merowinger – Die Herrschaft der Königin«, »Der Moorkönig«, »Die Rückkehr des Moorkönigs«, »Der Paradiesgarten« und »Die Astronomin«.

Zudem erschienen bei dotbooks Eva Maasers Kinderbuchserien um Leon und Kim: »Leon und der falsche Abt«, »Leon und die Geisel«, »Leon und die Teufelsschmiede« und »Leon und der Schatz der Ranen«, »Kim und die Verschwörung am Königshof«, »Kim und die Seefahrt ins Ungewisse« und »Kim und das Rätsel der fünften Tulpe«

***

eBook-Neuausgabe Dezember 2014, Juni 2021

Dieses Buch erschien bereits unter dem Titel »Die Nacht des Zorns« 2005 bei Aufbau und 2014 bei dotbooks.

Copyright © der Originalausgabe 2005 Aufbau Taschenbuch Verlag GmbH, Berlin

Copyright © der Neuausgabe 2014, 2021 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/lassedesignen, Lukas Gojda

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ae)

ISBN 978-3-95520-607-9

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Eva Maaser

Der Purpurjunge

Kommissar Rohleffs vierter FallKriminalroman

dotbooks.

Auch wenn es einigen Steinfurtern sicherlich anders lieber wäre: Alle Personen und die Handlung sind frei erfunden. Und wenn die eine oder andere dieser Figuren rote oder schwarze Haare hat, diesen oder jenen Namen trägt, so ist das kein Hinweis auf eine real existierende Person, sondern schlichter Zufall. Irgendwie muß ja auch ein erfundener Mensch heißen dürfen.

Kapitel 1

1

Die Maus ließ sich nicht stören. Emsig schob sie mit ihren Vorderpfoten irgend etwas hin und her. Der Kopf zuckte vor und zurück, manchmal verschwand er in Grasbüscheln, braunen Blättern und dem Unrat, der sich in einer winzigen Mulde zwischen einer Tanne und einem Rhododendrongebüsch nicht weit vom Friedhofstor entfernt angesammelt hatte.

Hauptkommissar Karl Rohleff spähte zu dem Tierchen, um sich abzulenken. Aber eine Bewegung schräg gegenüber zog in der allgemeinen Starre seine Aufmerksamkeit auf sich. Patrick Knolle, sein junger Assistent, hatte den Kopf gewandt, und die Sonne, die sich vor zehn Minuten aus dem Dunst eines verhangenen Nachmittags gequält hatte, ließ sein Karottenhaar rotgolden aufschimmern. Wie einen Heiligenschein. Patrick gehörte zu den Leidtragenden, aber seine Miene spiegelte eher steinernen Trotz als Trauer.

Vielleicht war er für eine neue Trauer noch nicht empfänglich. Es war erst ein paar Monate her, daß genau auf diesem Friedhof, in dieser Familiengrabstätte, sein Großvater, an dem er sehr gehangen hatte, beigesetzt worden war. Auch Rohleff hatte Opa Knolle sehr gemocht.

Ein Stück weiter stand Patricks älterer Bruder, flachshaarig, rundschädelig und rotbackig, unverkennbar ein Bauer im Sonntagsstaat, steif, stur, mit absolut unbewegter Miene. Die Mutter klammerte sich an ihn, ihr schwarzgewandeter Arm war fest mit seinem verhakt, als könnte sie sich aus eigener Kraft nicht mehr aufrecht halten. Scheinbar blicklos starrten ihre Augen am Sarg vorbei in das Dunkel der Grube.

Rohleff mußte plötzlich daran denken, wie ihm Knolle kürzlich erzählt hatte, er habe als Kind Wyandotten gezüchtet und einmal sogar bei einem Wettbewerb einen Preis gewonnen, einen kleinen, nicht sehr wertvollen, mit einer Gravur versehenen Pokal, den der Vater an sich genommen und im Schrank weggeschlossen hatte. Was sind Wyandotten, überlegte Rohleff. Eine Art Meerschweinchen?

Lilli Gärtner, die einzige Frau in Rohleffs vierköpfigem Ermittlungsteam, stand mit ihrem Kollegen Harry Groß so weit abseits, daß sie sich gedämpft unterhalten konnten.

»Warum gehen mir Trauerbirken und dunkelgrüne Tannen mit hängenden Zweigen als Friedhofsbepflanzung so auf die Nerven?« Sie deutete auf die riesige Tanne. »Und überhaupt Friedhöfe?«

Groß' Blick glitt flüchtig über Lillis kräftige, untersetzte Gestalt und haftete einen Moment an ihrem breiten, flächigen Gesicht, auf dem sich deutlich Widerwillen spiegelte.

»Solltest du an so einer Art schlechtem Gewissen leiden, weil unser Broterwerb mehr oder weniger von Leichen abhängig ist? Ich hätte nicht gedacht, daß du so empfindlich bist, Lilliken. Es ist doch sehr friedlich auf diesem Friedhof. Guck mal, diese Wühlmaus läßt sich überhaupt nicht von uns stören.« Groß deutete mit vorgerecktem Doppelkinn auf die Mulde unter dem Baum.

»Die Ratte«, zischte Lilli zurück, »und wo eine auftaucht, gibt es wenigstens zehn. Was machen wir überhaupt auf dieser Beerdigung?«

»Unsere Anteilnahme bekunden, es ist immerhin Patricks Vater, der unter die Erde gebracht wird.« Groß hatte die Stimme gesenkt, sie kam jetzt wie ein unterirdisches Grollen tief aus seinem Bauch heraus, als müßte sie durch all seine Fettschichten nach außen dringen. »Und schließlich haben wir den Alten gekannt.«

Lilli wollte widersprechen. Patricks Vater waren sie nur einmal begegnet, als sie alle zusammen, das ganze Team, im gerade vergangenen Sommer auf Knolles elterlichem Hof ein Grillfest mitgemacht hatten. An diesem Tag war der Großvater gestorben, und das Fest hatte sich in Chaos und Trauer aufgelöst. Mit Patricks Vater verband sie kaum mehr als eine undeutliche Erinnerung an einen nicht übermäßig freundlichen Mann.

»Was ist mit Patrick los?« fragte sie. Beide betrachteten abschätzend das Gesicht des Kollegen. »Er schaut irgendwie finster drein, oder irre ich mich? Finster, als wenn er …«

»Der Anzug kneift unter den Achseln. Patrick fühlt sich nur in Lederkluft wirklich wohl«, fiel ihr Groß ins Wort.

»Armleuchter.« Lilli rückte ein Stück ab, als sie bemerkte, daß einige aus der Trauergesellschaft sie mit mißbilligenden Blicken bedachten.

Groß rückte nach.

»Bleib mir weg«, fuhr sie fort, »deine unmittelbare Gegenwart verleitet mich dazu, mich danebenzubenehmen. Das ist eine Beerdigung.«

»An der du rumgemäkelt hast, nicht ich. Dir paßt was nicht daran.«

»Patrick steht weder bei seinem Bruder noch bei der Mutter …« Sie stockte und schaute zu Rohleff hinüber.

Offensichtlich fühlte er sich ebenfalls unbehaglich, so wie er die junge Ratte studierte, die unter dem Rhododendron herumhuschte. Seine Miene wirkte so altersgrau und vergrämt, als würde er als einziger aus seinem Ermittlungsteam echte Anteilnahme wenn nicht sogar Trauer empfinden.

Er ist mit seinem eigenen Kummer beschäftigt, er hätte ganz bestimmt nicht herkommen sollen, dachte sie.

»Wann können wir endlich gehen?« flüsterte sie Harry ins Ohr.

»Jetzt.«

Die Trauergesellschaft löste sich tatsächlich auf. Wenig später drückte Rohleff den Onkeln und Tanten, den zahllosen Vettern und Cousinen als Beileidsgeste knapp und präzise die Hand, Knolles Mutter, dem Bruder und der Schwägerin etwas länger, strich der Ältesten des Bruders mit einer verlorenen müden Geste über das Flachshaar und wandte sich abrupt ab, als schämte er sich auf einmal dieser Zärtlichkeit. Knolle legte er die Hand auf die Schulter.

»Morgen sehe ich dich wieder im Büro, oder?«

Einen flüchtigen Augenblick lang weiteten sich Knolles Augen in einem Anflug von Panik, dann zogen sich die Lider zusammen, und Rohleff nahm irritiert ein Aufflackern von Ärger oder sogar Wut wahr.

Der Kerl ist völlig durcheinander, dachte er.

»Ich könnt jetzt schon, ist doch erst drei«, wandte Knolle ein.

Verständnislos schüttelte Rohleff den Kopf.

»Kommt nicht in Frage. Kümmere dich um deine Angehörigen.«

Mit einer ruckhaften Kopfbewegung schaute Knolle zu der kleinen Gruppe, in der sein Bruder stand.

»Besser nicht.«

Rohleff tat so, als hätte er nichts gehört. »Geh schon.« Müde schob er ihn auf die Gruppe zu, dann signalisierte er Harry Groß und Lilli Gärtner mit einer Handbewegung, daß sie ihm über den Hauptweg zum Ausgang folgen sollten.

2

Knolle zog die schwere alte Eichentür heftig ins Schloß, sekundenlang zitterte sie in der Zarge nach, während die erregten Stimmen aus der Diele wie abgeschnitten verstummt waren. Das Glas der Kugellampe über der Tür klirrte, das Licht flackerte und erlosch. Jetzt erleuchtete nur noch das Neonlicht, das aus den Lüftungsschlitzen des neuen Schweinestalls an der gegenüberliegenden Seite hervorblitzte, in schmalen Bahnen den gepflasterten Hof. Regungslos verharrte Knolle leicht vornübergebeugt vor der Tür, die Kiefer verkrampft, die Hände derart zu Fäusten geballt, daß sich die Nägel tief ins Fleisch gruben, während das Neonlicht seine Gestalt als seltsames buckliges Ungeheuer auf der Tür nachzeichnete.

Als ihm niemand nach draußen folgte, drehte er sich um, stapfte zu seiner an der Hauswand abgestellten BMW riß sie mit einem Ruck von ihrem Ständer, trat heftig das Gaspedal durch und ließ den Motor derart aufröhren, daß sich der Schall an den Mauern brach, in seine Glieder fuhr und überlaut und herrisch als schwindelerregendes Dröhnen im Gehirn festsetzte. Ungeschickt schwang er sich in den Sitz, prellte sich das Knie dabei und spürte doch nicht mehr als einen dumpfen Schlag. Sobald er dicht am Schweinestall vorbeibretterte, hörte er, wie Unruhe unter den zweihundert Tieren ausbrach, der ungewohnte Lärm machte sie wild, sie begannen zu schreien.

Nachdem er den Hof verlassen und das Stück Wald bis zur Straße nach Burgsteinfurt durchquert hatte, bog er in Richtung Ochtrup ab, außerstande, direkt nach Hause zu fahren. Eine Stunde später, es ging auf elf Uhr zu, war er noch immer unterwegs und hatte wenigstens dreimal die Strecke Ochtrup, Burgsteinfurt, Borghorst und retour zurückgelegt. Wieder fuhr er am Friedhof vorbei und schwenkte diesmal nach rechts in eine Neubausiedlung. Der Scheinwerfer irrlichterte über Vorgärten, die mit ihren kleinen Steinstelen, dem geschnittenen Buchs und der blühenden Sommerheide allesamt wirkten, als wären in ihnen Hunde und Katzen begraben.

Das Viertel gehörte zu den verkehrsberuhigten Zonen, hier und da zweigten Stichstraßen ab, die nur für Fußgänger gedacht waren, aber Knolle ignorierte hartnäckig sämtliche, im Licht der Laternen blauweiß mahnenden Schilder. Seine Wut machte ihn zeitweise so gut wie taub und blind für die Außenwelt.

Aufmerksam wurde er erst wieder, als in der absolut leeren, verlassenen Straße schräg von links eine Harley-Davidson auf ihn zuhielt. Einen seltsam abgehobenen Moment verlor er sich in eine Vision von langen breiten Teerstraßen, von Freiheit und Abenteuer bis zum tiefliegenden Horizont. Einen entrückten Moment staunte er nur, völlig selbstvergessen und hingegeben an die chromschimmernde Erscheinung, dann aber schreckte ihn ein hochtouriges Dröhnen von rechts hinter ihm auf. Ein Vorderrad erschien neben seinem, und er sah sich neben der von links kommenden Harley auf der anderen Seite von einem weiteren Motorrad eskortiert. Von einem Reiskocher, einer Guzzi.

Die fremden Motorräder schlossen zu dicht auf, sie zwangen ihn unmißverständlich, stur geradeaus der Straße zu folgen, die aus der Stadtrandsiedlung führte. Knolle spürte, wie sich die gerade eben noch vergessene Wut wieder Bahn brach.

Er trat hart auf die Bremse. Das Pflaster unter ihm schien die Maschine wie ein ungeheurer Magnet festzuhalten, sein Körper dagegen gehorchte weiter der Fliehkraft, er spürte, wie sich sein Hintern hob, wie er im Begriff stand, über den Lenker zu fliegen. Und erst kurz vor dem unwiderruflichen Drehpunkt gelang es ihm, hinter den beiden anderen Maschinen eine enge Kurve zu ziehen und sich aus der Umfesselung zu lösen. Den Kopf rückwärtsgewandt, gewahrte er, wie die vierschrötige Gestalt auf der Harley ebenfalls zu wenden versuchte. Ein grüner verwaschener Fleck wie ein Clubabzeichen schimmerte am Helm des Verfolgers auf.

Dann mußte Knolle auf engem Raum hastig ausweichen, vor und hinter ihm kreischten schwere Maschinen, um ein Haar hätte er eine davon gerammt. Das gefährliche Manöver forderte jede Aufmerksamkeit, aber gerade an der fehlte es ihm wohl, denn ihn traf ein harter Schlag in den Nacken, dicht unter dem Helm. Knapp, bevor er mit dem Visier auf dem Lenker aufgeschlagen wäre, riß er den Kopf hoch.

Von einem in schwarzes Leder verpackten Arm schwang eine Motorradkette drohend im Fahrtwind und näherte sich seinem Knie. Zu der Kette gehörte eine Honda. Noch einmal riß Knolle die BMW herum und fuhr beinahe der Harley in die Seite. Ein weiterer Schlenker brachte ihn auf Abstand.

Trotz zunehmender Wahrnehmungsschwierigkeiten gelang es ihm festzustellen, daß er von fünf Bikes umkreist wurde. Der Ermittler in ihm war aufgestachelt, Details zu erfassen. Die Harley kam ihm so nahe, daß er den Fleck auf dem Helm genauer sah, einen kleinen, stummelschwänzigen Drachen. In diesem Moment erwischte ihn die Kette oberhalb des Knies. Sie durchschnitt die Lederhose wie Butterbrotpapier und drang ins Fleisch ein, es tat so höllisch weh, daß weiße Blitze vor den Augen explodierten, er schwankte auf dem Sitz, eine gemeine Schwäche überkam ihn und zum ersten Mal, wie ein flüchtiger Schatten, Angst.

Das Schauspiel, das sechs röhrende Bikes boten, rief inzwischen den ersten Zuschauer auf den Plan, flüchtig erhaschte Knolle den Anblick längsgestreifter, schlotternder Schlafanzughosen, während er sich tief geduckt zwischen der Honda und der Harley durchwand. Verbissen wehrte er den Versuch, ihn erneut in die Ausfallstraße zu drängen, ab, er wollte auf keinen Fall wissen, was die Biker ihm in der einsamen Gegend, die hinter dem Wohngebiet lag, mitzuteilen hatten. So plötzlich, wie es die Maschine zuließ, gab er Gas, zog das Vorderrad hoch, setzte über einen Randstein mitten zwischen niedrige Astern und Azaleen, preschte weiter und schnurrte, eh die anderen sein Manöver begriffen, an der Guzzi vorbei, die an der Spitze der anderen auf der Straße geblieben war.

Noch bewegten sie sich in die falsche Richtung, daher riß er die BMW ein paar Vorgärten weiter herum und bretterte zurück, drehte sich aber um, sobald er die letzten beiden Bikes passiert hatte, statt unter Vollgas weiterzufahren.

Zwei Nummernschilder leuchteten im Licht der Rückscheinwerfer. Das eine gehörte zur Harley, aber das andere? Im Vorüberflitzen hatte er nur dunklen Lack und Vollverkleidung ausgemacht. Auf alle Fälle handelte es sich nicht um die Honda.

Die Hose klebte an seinem Bein. Unerträgliche Hitze stieg aus der Wunde auf, das Bein glühte. Einige Abzweigungen weiter, auf der Straße Richtung Ochtrup, zeigte ihm ein Blick in den Rückspiegel, daß eines der Motorräder weit vor den übrigen rasend schnell aufholte.

Geschicklichkeit nutzte ihm nichts mehr, es kam nur auf die Geschwindigkeit an, und dabei war seine BMW unterlegen. Eine winzige Fluchtmöglichkeit blitzte auf, als rechts der erste Weg auftauchte, der nur für landwirtschaftliche Fahrzeuge zugelassen war. Hinter der Abzweigung lag vertrautes Gebiet. Maisfelder, Wiesen, Wallhecken. Knolle schlug Haken wie ein Feldhase, bis Feld und Wiese von Wald abgelöst wurden. Die BMW stöhnte, röchelte, am Ende würgte er den Motor ab und kippte in Zeitlupentempo seitwärts, bis ihn ein Baumstamm aufhielt.

Erst nachdem er sich den Helm und die Sturmhaube vom Kopf gerissen hatte und die glühend heiße Wange an der glatten Rinde kühlte, ging ihm auf, wie still es um ihn war. Nicht einmal eine Eule klagte. Den Verfolger hatte er längst abgehängt, er war allein.

Um so überraschender und heimtückischer überkam ihn Panik. Der Schmerz im Nacken verdichtete sich und griff aufs Herz über. Beschleunigter Herzschlag füllte die Brust aus, hämmerte von innen gegen die Rippen, dröhnte wie Gewitter in den Ohren. Knolle krümmte sich unter diesen Schlägen, sank auf den Waldboden ins trockene Laub und zitterte so, daß ihm die Zähne klapperten. Kein Atemzug konnte das Hämmern dämpfen, im Gegenteil, es zog bis unter die Kopfhaut und ließ die Haare senkrecht stehen. Da waren keine Muskeln mehr in Armen und Beinen spürbar. Ströme von Schweiß liefen ihm über das Gesicht, er schmeckte Salz auf den Lippen. Gerade noch gelang es ihm, die Arschbacken zusammenzukneifen, aber der Innendruck wurde stärker, er mußte mit einer Hand gegendrücken, doch damit ließ sich am Ende auch nichts aufhalten.

Auf dem Weg nach Hause verfuhr er sich zweimal, weil er die Hauptstraßen aus verschiedenen Gründen mied, vor allem aber, weil er mehr oder weniger im Stehen fuhr.

3

Der Tag hatte noch gar nicht richtig angefangen, als Knolle nach einer nahezu schlaflosen Nacht benommen aufstand. Das Septemberlicht kämpfte draußen noch mit der Dunkelheit. Vorsorglich stellte er den Wecker ab, damit Maike nicht aufwachte, bevor er mit sich selbst ein bißchen mehr im reinen war. Er konnte sich ihre Fragen vorstellen, vor allem, nachdem er ihnen in der Nacht halbwegs geschickt ausgewichen und den meisten sogar zuvorgekommen war.

Maike hatte ihn zusammengerollt in der Sofaecke erwartet, und er hatte ihre Hilfe in Anspruch nehmen müssen, um die Wunde im Nacken zu versorgen. Die schlimmere oberhalb des Knies hatte er selbst desinfiziert, bandagiert und mit einem Geldbeutel aus dem Eisfach gekühlt, während Maike auf dem Badewannenrand saß und ihm wie einem ungezogenen Jungen in einer entnervend mütterlichen Art gut zuredete.

»Hast du Meldung gemacht?«

Er hatte nur abwehrend gebrummt.

»Warum nicht?« hatte sie nachgehakt.

Im kumpelhaften Ton früherer Tage hatte er ihr eine ausgemachte Lügengeschichte erzählt, aber vor ihrem fast schon beleidigend nachsichtigen Blick war sein Redestrom langsam versiegt, während er nun ihr lauschte und das aufnahm, was sie zugleich als Mahnung wie als Trost meinte.

Er schlurfte ins Badezimmer.

Die ganze Nacht hatte der Verband im Nacken gedrückt und gescheuert, vorsichtig zupfte er jetzt eine Seite ab, griff nach dem Handspiegel, drehte sich halb herum und betrachtete die Wunde, sie hatte sich bereits geschlossen. Die Finger gespreizt, fuhr er oberhalb des roten Rands in den Haaransatz und ganz durch den Schopf. Im Halbschlaf hatte er den vergangenen Abend immer wieder durchlebt, jede Wiederholung ein Alptraum, und auch jetzt, beim Anblick der Verletzung, kroch die Angst auf ihn zu, eine demütigende Angst, die in einer peinlichen Hilflosigkeit geendet hatte. Die Erinnerung belebte das flaue Gefühl im Magen, hastig legte er den Handspiegel fort und lehnte die Stirn an das kühle Spiegelglas über dem Waschbecken.

»Wieso bist du schon auf? Kannst du nicht mehr schlafen?« Maike rüttelte an der Klinke, während wieder diese mütterliche Besorgtheit durch die Tür zu ihm drang.

»Laß mich, ja? Ich muß nachdenken.« Im Bemühen, fest und beherrscht zu klingen, hatte er gebrüllt.

Prompt erhob sich ein Zwitscherstimmchen aus dem angrenzenden Kinderzimmer, immerhin ließ ihn Maike sofort in Ruhe.

Er hätte gern weitergebrüllt. Statt dessen mußte er wirklich dringend nachdenken, scharf nachdenken.

Nachdenken.

Sein Blick fiel auf eine Schale mit Lippenstiften auf der Marmorablage, er wühlte einen der Stifte heraus und begann zu malen. DO schrieb er auf das Spiegelglas und wiederholte die Buchstaben gleich noch einmal. Zumindest dabei war er sich sicher, aber bei den Zahlenfolgen versagte sein Gedächtnis weitgehend, denn inzwischen drängten sich andere Szenen in den Vordergrund, nämlich die einer ungeheuren Kränkung. Verrat und Verlust waren im Spiel, damit hatte am Abend alles angefangen, ohne den Streit auf dem Hof wäre nichts passiert. Fast hätte er jetzt bei der Erinnerung auf den Spiegel eingeschlagen, er stützte sich aber nur am Waschbeckenrand ab und starrte angewidert auf all die ausgefallenen roten Haare, die sich dort ringelten.

4

Um sieben Uhr morgens war die Luft bei klarem Himmel angenehm kühl, seidenweich und frisch. Hannes Altorf drehte bedächtig ein paar Zigaretten auf Vorrat, während er auf Beat wartete. Als dieser kurz darauf am Müllaster aufkreuzte, nickte Hannes dem jungen Kollegen halb wohlwollend, halb brummig zu.

»Hast du alles? Nichts vergessen?«

Der Junge streckte ihm ungehalten ein Blatt entgegen.

»Die Fahrtroute.«

»Kenn ich auswendig, steig auf.«

Hannes hatte eine Theorie, was den Verlauf eines Tages betraf, und achtete mit einigen Kunstgriffen darauf, daß sich die Theorie auch bewahrheitete. Dieser Tag versprach, angenehm zu werden. Erstens des Wetters wegen, das an diesem Freitagmorgen keinerlei sicht- und fühlbare Anzeichen einer Änderung verriet und auf ein ungetrübtes Wochenende hindeutete. Und zweitens hatte er ohne vorwurfsvolles Japsen Beats in aller Gemütsruhe die erste Zigarette genießen können. Schon deshalb ging ihm drittens die schlaffe Haltung des dünnen, sommersprossigen, ewig bleichen Knaben nicht so wie sonst gegen den Strich. Er schwang sich in den Fahrersitz, schaute in den Rückspiegel, bis er Beats Hand mit dem nach oben gereckten Daumen sah, und fuhr an.

Sie machten sich auf die Tour durch Burgsteinfurt, drei Stunden später waren sie nach einer Zwischenentleerung oben an der Ochtruper Straße angelangt und schlängelten sich schwerfällig durch die gewundenen Straßen des Neubaugebiets, in denen aggressiv in die Fahrbahn vorgeschobene Bauminseln und Pflanzkübel die Orientierung und das Durchkommen erschwerten. Eine Zwangsverkehrsberuhigung, die mehr Unfallgefahren barg als jede herkömmlich gerade Straßenführung.

Hannes fluchte verhalten und fädelte sich behutsam an den Rand des Hofs, der hinter dem einzigen Mehrfamiliengebäude des Viertels lag. Er kurbelte das Seitenfenster herunter und sah im Rückspiegel zu, wie sich Beat anstrengen mußte, um den ersten von drei Großcontainern an die hydraulische Müllrampe zu bugsieren. Zeit für eine schnell gerauchte Zigarette. Erst nachdem er den Stummel ausgedrückt und in den Hof geschnippt hatte, ging ihm auf, daß schon eine Weile kein Rumpeln und kein Scharren der schweren metallenen Gleitdeckel mehr zu ihm herüberklang. Er schaute in den Außenspiegel.

Der Junge hatte eine Hand an den Seitengriff des letzten Behälters geklammert, die andere auf die Brust gepreßt und hechelte. Geduldig wartete Hannes. Die Zeit tropfte vor sich hin, das rechte Bein drohte ihm einzuschlafen.

»Was ist?« raunzte er schließlich und wandte den Kopf.

Unter dem Mülldeckel lugte etwas in der Farbe von Bleichsellerie hervor, etwas mit fünf Fingern, und wahrscheinlich dachte der Einfaltspinsel Beat noch darüber nach, ob für den Gummihandschuh der gelbe Sack zuständig war.

Ohne das Bürschchen ein weiteres Mal mit einem Ruf aufzuscheuchen, wuchtete Hannes seine vorwiegend im Rumpf konzentrierten einhundertundfünf Kilo aus dem Fahrerhaus, stapfte zum Müllcontainer und schob den Deckel halb auf. Innen war alles voll Blut. Während er noch starrte, machte sich der Deckel selbständig und glitt wieder herunter. Beim zweiten Mal stemmte er ihn mit beiden Fäusten hoch und hielt ihn fest.

Hätte es nicht die Hand gegeben und den Arm daran, hätte er denken können, daß da jemand den Abfallbehälter mit Resten aus einer Schlachterei gefüllt hatte. Den Inhalt grausig zu nennen überstieg im Grunde genommen bereits Altorfs Fassungsvermögen.

Er trat zurück und ließ den Deckel herabschnellen, stupste aber im letzten Moment mit dem Feuerzeug, das er aus der Overalltasche gerissen hatte, die fünf Finger an und sah zu, wie sie im Bauch des Containers verschwanden. Benommen schüttelte er den Kopf, stakste steifbeinig zum Laster und fingerte ungeschickt das Sprechfunkgerät aus der Ablage. Nachdem er etwas in die Tastatur getippt hatte, hielt er es sich ans Ohr.

»Funktioniert nicht«, sagte er geradeaus zur Windschutzscheibe.

Etwa dreihundert Meter weiter hörten vor ihm die Bürgersteige auf, und die Straße ging in einen geteerten Feldweg über. An der Schnittstelle machte die Straße eine Schleife als letzte Wendemöglichkeit für einen tonnenschweren Laster.

Während Beat die beiden ersten Müllcontainer entleert hatte, war der Motor weitergelaufen, seine Vibrationen ließen die Fahrerkabine leise erzittern. Den Fuß auf dem Gaspedal, wandte sich Altorf zum Fenster hinaus und brüllte den Kollegen an, obwohl er gar nicht schreien wollte.

»Wieso ist das Funkgerät kaputt? Hast du das gewußt? Was sollen wir denn jetzt machen?« Unmerklich schob sich der Laster vorwärts. »Wie kommen wir denn jetzt an ein Telefon?« brüllte Altorf weiter.

Beat näherte sich dem Seitenfenster, er mußte etwas schneller gehen, um Schritt zu halten, antwortete aber nicht, sondern starrte nur mit schreckgeweiteten Augen zu Altorf auf.

»Du bleibst bei dem Container, du rührst dich nicht vom Fleck. Ich fahr durch die Wendeschleife, um den Pott zu drehen.«

Der Junge verschwand aus Altorfs Blickfeld, aber einige Augenblicke später schwang die Seitentür auf, und Beat kletterte hinein.

»Ich hab dir gesagt …«, fing Altorf an, verstummte aber, als er das jetzt besonders fahle Gesicht seines Beifahrers bemerkte.

»Warum soll ich neben dem Container bleiben?« fragte Beat.

»Um die Leute wegzuscheuchen, falls welche mit ihrem Müll kommen.«

Der Lastwagen hoppelte, weil Altorf abwechselnd Gas gab und auf die Bremse trat.

»Die nehmen den ersten Container, warum sollten sie bis zum letzten gehen? Der erste ist leer, der zweite auch, also hat keiner einen Grund, bis zum letzten zu gehen, die Leute sind doch nicht doof.« Beats Gerede klang abgehackt, sein Atem ging unruhig.

Altorf stand der Schweiß auf der Stirn, während er die Wendeschleife durchfuhr.

»Ich meine, es muß jemand hier bleiben. Für alle Fälle.«

Sie näherten sich wieder den Containern. Der letzte stand ein bißchen zurückgesetzt, vom Haus aus war er nur zu erreichen, wenn jemand um die beiden vorderen herumlief.

»Aber vielleicht hast du recht mit den Leuten und dem Müll«, fuhr Altorf fort, »wir fahren jetzt direkt zur Polizeiwache. Ehe ich bei wildfremden Leuten klingele und denen erst lange was erklären muß, fahr ich lieber direkt zur Polizei. In fünf Minuten sind wir da oder in sechs.«

5

Der Mann hatte, wie der Wachhabende knapp berichtete, zuerst versucht, sich ohne Anmeldung Zutritt zum Polizeigebäude zu verschaffen, war aber am Sicherungssystem gescheitert und hatte vor der Tür randaliert, bis ihn zwei Polizisten draußen unter den Armen ergriffen und zur Vernehmung hereingeschleift hatten.

Schwer angeschlagen lehnte er nun an der Wand und hustete.

Rohleff diagnostizierte ihn schon der Ausdünstungen wegen als unverbesserlichen Raucher. Er griff nach dem Telefon, es fiel ihm nicht ein, an der Grundaussage des gerade gehörten Gestammels zu zweifeln oder höchstens ein bißchen. Vielleicht handelte es sich ja doch um Schlachtabfälle. Falls aber der Mann recht hatte, hatten sie es mit einem Novum zu tun. Denn in den letzten beiden Jahren hatte Rohleff ausschließlich in Fällen ermittelt, in denen es um geradezu beängstigend schöne Leichen gegangen war.

»Warum um Himmels willen sind Sie persönlich hergekommen statt anzurufen?«

»Das hab ich Ihnen doch schon erklärt. Das Funkgerät ist kaputt.«

»Sie haben kein Handy dabei?«

»Wozu? Wenn ich schon ein Funkgerät mitschleppe.«

Rohleff sah ein, daß es wenig Sinn hatte, auf diesem Punkt weiter herumzureiten. Ohnehin traten jetzt die Kollegen ein, zuerst Knolle, der ein bißchen bedrückt wirkte und sichtlich schlecht gelaunt. Nach Knolle drängte Harry Groß, der Spurensicherer, herein, zusammen mit Lilli Gärtner.

»Harry, hol alle zur Spurensicherung zusammen, die du auftreiben kannst. Es gibt häßlich viel zu tun. Ich fahr mit dir, Lilli. Was du über den Leichenfund wissen mußt, erklär ich dir unterwegs.«

Draußen vor der Wache versperrte der Müllaster die Ausfahrt. Rohleff wandte sich an Altorf und seinen blassen Kollegen, der bisher kaum zwei Worte gesagt hatte.

»Sie folgen mir. Ich muß Sie am Fundort vernehmen. Parken Sie Ihren Laster vor den Containern exakt so wie vorhin.«

Auf der Fahrt hatte ihm Lilli zugehört, ohne ihn zu unterbrechen.

»Karl, so etwas gibt es nicht, nicht bei uns«, begann sie dann, »die beiden Müllfahrer haben überreagiert, so ungewöhnlich scheint mir das gar nicht. Die haben den Deckel zugeknallt und sind völlig verstört zu uns gerast. Wer kann denn schon der eigenen Wahrnehmung trauen? Gestern auf dem Friedhof hat Harry eine Ratte für eine Wühlmaus gehalten. Wenn wir schon versagen …«

»Es war eine Maus, Lilli, eine Feldmaus, Friedhofsmaus oder Vertreterin einer ähnlichen Mausspezies.«

»Nichts gegen deinen Scharfblick«, Lilli klang mitleidig, »aber es war wirklich nicht die erste Ratte, die ich gesehen habe.«

»Ich hätte gar nichts dagegen, wenn sich der Fund als Irrtum herausstellte.«

6

Die drei Großcontainer waren leer, sie sahen sogar so blitzsauber aus, als wären sie noch nie mit Müll in Berührung gekommen. Und drum herum fehlte alles, was Müllplätzen die abrundende Note verlieh: Papierschnitzel mit Resten von Mayonnaise und Ketchup, Kippen, Glasscherben und andere Rudimente zivilisierten Lebens. Um die Container herum, durch staubige Erde und verdorrtes Gras, zogen sich Rechenfurchen.

Verdutzt trat Altorf neben Rohleff, seine breite Hand schob den Deckel der letzten Tonne ein paarmal auf und zu, wie geölt bewegte er sich lautlos in seinen Scharnieren.

»Leute, packt gar nicht erst aus. Ihr habt Feierabend. Heute ist der erste April.« Harry Groß hatte die Arme ausgebreitet und zuckte mit den Schultern.

Die Situation schien eindeutig, Rohleff fing einen halb mitleidigen, halb ironischen Blick von Harry Groß auf.

»Kleine Überraschung, was?« wandte er sich bedächtig an Altorf. »Oder sollten Sie sich in der Adresse geirrt haben? Diese Stadtrandsiedlungen sehen doch überall gleich aus.«

Gelbe, grüne und weiße Kreidemalereien erstreckten sich über die Fahrbahn, unglaubliche Fabelwesen wanden sich in einer Richtung unter dem Müllaster durch und verloren sich in der anderen im Asphalt. Auf gleicher Höhe mit Rohleff befand sich ein mit Reißzähnen bewehrtes Riesenmaul. Im Bauch des Untiers tummelten sich weitere bizarre Kreaturen. Rohleff riß seinen Blick los.

Altorf schnaufte hörbar.

»Sie mögen mich ja inzwischen für beknackt halten, aber ich bleibe bei meiner Aussage. Es …«

Eine belegte Stimme mischte sich ein.

»Mensch, Hannes, das sind nicht die Container von vorhin.«

Rohleff wartete ab.

Altorf atmete tief aus. »Hast recht, Junge, hätte ich auch sofort bemerken müssen.«

»Und wo sind die richtigen?« fiel Harry laut ein. »Könnten Sie uns einen Tip geben?«

»Harry, halt dich zurück«, fuhr Rohleff dazwischen. »Ich wünsche keine Einmischung, bis es definitiv etwas für dich zu tun gibt.« Er starrte den jüngeren Kollegen so lange an, bis dieser den Blick senkte und zurücktrat.

Fühlbar lastete die Spannung jetzt auf allen, nur Knolle blieb scheinbar unbeeindruckt, er studierte die Kinderzeichnungen. Die Augen auf die Straße gerichtet, entfernte er sich, als ginge ihn die ganze verworrene Geschichte nichts an. Rohleff spürte das dringende Bedürfnis, ihn aufzuhalten und ein paar Worte mit ihm zu wechseln, aber dafür war jetzt nicht die Zeit. Lilli lief in der Gegenrichtung auf einen Mann im grauen Kittel zu, der am Rand des Hofs aufgekreuzt war. Als würde es keiner seiner engsten Mitarbeiter mehr in seiner Nähe aushalten. Rohleff fühlte sich allein gelassen.

»Nun?« fragte er Altorf scharf.

»Seit drei Jahren fahre ich diese Tour, ich kenne sie in- und auswendig, wir waren vorhin hier und haben …« Altorf stockte, klopfte sich auf die Brust, holte mit schlecht koordinierten Bewegungen Feuerzeug und Zigaretten heraus und fuhr erst fort, nachdem er einen tiefen Zug inhaliert hatte.

»Beat, hol die Fahrtroute. Wir haben die Tour ja schwarz auf weiß mit. Sie können sich zumindest davon überzeugen, daß wir hier richtig sind.«

Nachdem sich Beat entfernt hatte, näherte sich Lilli mit dem Mann im Kittel.

»Hier ist jemand, der uns eventuell weiterhilft.«

Bis auf den Kittel sah er nicht nach Hausmeister aus. Durch seinen wuscheligen steingrauen Haarkranz und die kleine runde Brille ganz vorn auf der Nase entsprach er viel eher Rohleffs Vorstellung von einem grün angehauchten, alternativen Gelehrten. Lilli stellte ihn vor.

Herr Decker schüttelte den Kopf, als würde er das Polizeiaufgebot wegen eines abhanden gekommenen Müllcontainers zutiefst mißbilligen.

»Sie versehen hier den Hausmeisterposten?« mutmaßte Rohleff, da sich Lilli nicht weiter zu dem Mann geäußert hatte.

»Sozusagen.«

Wenn Rohleff etwas haßte, vor allem wenn er schlecht drauf war, dann unklare Antworten in einer ohnehin verworrenen Lage.

»Ein einfaches Ja oder Nein«, forderte er gereizt.

»Jein«, antwortete Decker renitent.

»Immerhin«, Rohleff gab sich Mühe, ruhig zu bleiben, »können Sie uns zweifelsfrei bestätigen, daß vor einer halben Stunde noch andere Container mit Müll statt diesen hier standen.«

Das Kopfschütteln hielt an.

»Gestern standen hier noch die alten. Ob diese da bereits Müll enthalten, kann ich Ihnen nicht sagen. Als ich die neuen bemerkte, habe ich die herumliegenden Reste zusammengefegt. Falls Sie mich noch fragen wollen, ob ich oder andere im Haus von der Austauschaktion gewußt haben, sag ich Ihnen schon einmal, daß das zuständige Entsorgungsunternehmen uns größtenteils entmündigte Bürger einer solchen Mitteilung nicht für wert befunden hat. Unter uns gesagt, ich bin froh, die alten Container los zu sein. Die Deckel quietschten, und die Frauen beklagten sich über die Schwergängigkeit. Kann ich sonst noch was für Sie tun?« Unverdrossen schüttelte er weiterhin den Kopf, fraglos wollte sie der Mann ein bißchen auf den Arm nehmen.

Trotz zunehmender Gereiztheit erlaubte sich Rohleff keine Unhöflichkeiten. Menschen wie Decker irritierten ihn und setzten ihn in Verlegenheit. Unauffällig spähte er zu Knolle, denn der neigte am ehesten zu Ausbrüchen. Aber augenscheinlich hörte er nicht einmal zu, sondern blieb in die Kinderzeichnungen vertieft. Er schritt, ein Bein leicht nachziehend, selbstversunken einen Riesendrachen ab.

Knolle hinkte? Und warum trug er bei geschätzten und gefühlten zweiundzwanzig Grad Lufttemperatur einen Rollkragenpullover unter der Lederjacke? Ohne aufzuschauen deutete Patrick auf den Müllaster.

»Frag da mal nach.«

Groß und deutlich standen über der Ladeklappe Name und Telefonnummer des Müllunternehmens. Rohleff zog das Diensthandy aus der Jackentasche und warf es Knolle zu.

»Wenn du schon so geistreiche Einfälle hast, mach's selbst.«

Knolle ging beim Auffangen mit einem leichten Aufstöhnen in die Knie, und sein Blick signalisierte, daß jede Nachfrage nach seinem Befinden unerwünscht war. Augenscheinlich wollte er unbehelligt in seiner schlechten Verfassung weitersumpfen. Rohleff erwog kurz, ihn nach Hause zu schicken, wandte sich aber dann Decker zu und entließ ihn mit einer knappen Handbewegung.

»Sie können gehen, aber geben Sie meiner Kollegin, Frau Gärtner, Ihre Telefonnummer für eventuelle spätere Rückfragen.«

Decker unterbrach das Schütteln durch ein kurzes Kopfnicken, während Rohleff bereits Altorf heranwinkte. So rasch wie möglich wollte er die Sache jetzt beenden.

»Sie haben also eine Leiche gesehen. Machen Sie mal ein paar nähere Angaben. Wie sah sie aus? Mann, Frau, Alter, äußerlicher Typ und so weiter.«

Altorfs Gesicht überzog sich mit einer fleckigen Röte.

»Was da im Müll lag, sah aus wie durch den Fleischwolf gedreht. Da war kein Gesicht mehr.« Die bullige Gestalt Altorfs krampfte sich zusammen, der Mund zuckte. Er fuhr sich über die Wange und hielt sich dann die Hand vor Augen. »Die Hand sah nicht wie die hier aus. Das war eine junge Hand, die heraushing. Kann sein, eine Jungenhand. Er hat solche Hände.« Flüchtig wies er mit dem Kinn zu Beat, der sich, mit einem Blatt Papier in der Rechten, nicht aus dem Schatten des Lasters gerührt hatte. »Und wenn ich so darüber nachdenke! Hab's wohl für eine Perücke gehalten, aber wenn da schon Haare waren, muß auch ein Kopf dagewesen sein. Strohhaare, so wie seine.« Wieder nickte er zum semmelblonden Beat.

Beat hustete, das Husten ging nach ein paar trockenen Stößen in ein Keuchen über. Die Augen quollen hervor, das Blut wich aus den Wangen, die Haut lief bläulich an. Der Zettel, den der Junge geholt hatte, segelte zu Boden. Haltlos fuhren Beats Hände durch die Luft, er begann zu würgen. Atemblockade. Keine Luft mehr von außen. Eingesperrt, versiegelt. Nahezu alle glotzten wie paralysiert.

»Mein Gott, mein Gott«, schrie Altorf auf, »hast du denn dein Spray nicht dabei?« Beim Rennen stolperte er, fing sich aber und fiel gegen den Jungen, den er mit beiden Händen packte. Zwei im Veitstanz. Der schmächtige Körper Beats zuckte konvulsivisch. Endlich bewegte sich auch Rohleff, bekam einen Ärmel zu fassen, danach einen Arm und hielt Beat im Drehgriff fest.

»Patrick, ruf den Notarzt.«

Altorf klopfte mit einer gewissen Routine die Taschen des zappelnden Jungen ab und zog schließlich aus der Gesäßtasche einen kleinen buntbedruckten Zylinder hervor, wobei er Beat beinahe aus seinem Overall schälte. Eine Hand legte er ihm um das Ding und half ihm, es an den Mund zu führen.

Das fürchterliche Röcheln verebbte nur langsam. Jeden der mühsamen Atemzüge vollzog Rohleff in Gedanken mit, als könnte er so helfen, daß die Luft auch wirklich in die Lungen strömte.

»Asthma«, sagte Altorf lakonisch.

»Ein Asthmatiker bei der Müllabfuhr? Wo gibt's denn so was?« Knolle hatte sein Telefongespräch mit der Entsorgungsfirma beendet, unterließ es aber, die Notrufnummer in die Handytastatur einzugeben.

Altorfs Blick flackerte. »Gibt's, wenn es für junge Leute nicht genug Jobs gibt. Der eine versauert zu Hause, der andere nimmt, was er kriegen kann.« Ihm war sichtlich unbehaglich zumute, wahrscheinlich dachte er im Grunde genauso wie Knolle.

»Braucht er noch einen Arzt?« setzte Knolle lakonisch nach.

Beat stand vornübergebeugt auf der Straße, die Arme vor der Brust verschränkt, und wiegte sich vor und zurück. Als er antwortete, war seine Stimme nicht mehr als ein heiseres, wundes Krächzen.

»Kein Arzt, mir geht's gut.«

Knolle schielte zu Rohleff, der sich mit fragendem Blick Altorf zuwandte.

»Jetzt kann der Arzt auch nichts mehr machen. Setz dich ins Fahrerhaus und warte da. Oder legen Sie noch auf eine Befragung Wert?«

»Nicht sofort.« Rohleff winkte ab und sah zu, wie der Junge in gebückter Haltung zum Laster schlurfte. Nach zwei vergeblichen Versuchen gelang es ihm, die Tür zu öffnen.

»Hat er das öfter?«

Auf einmal wirkte Altorf brummig, mehr belästigt als besorgt um seinen Kollegen.

»Na, lassen wir das, damit müssen Sie klarkommen«, fuhr Rohleff fort und drehte sich zu Knolle um. »Was herausgefunden?«

»Die Container sind routinemäßig ausgetauscht worden, weil sie überaltert sind, und landen in der Presse.« Knolle steckte das Handy in die Hosentasche.

»Mit Müll oder ohne?« mischte sich Groß ein.

Rohleff enthielt sich einer weiteren Zurechtweisung, schließlich hatte Groß die einzige Frage von Belang gestellt.

Knolle faßte sich in den Nacken.

»Hast du schon einmal versucht, etwas herauszufinden, wenn du bei einer Behörde von einem zum anderen weitervermittelt wirst?« sagte er mürrisch.

»Das Müllunternehmen ist privat«, erklärte Lilli, die gerade zurückkam, nachdem sie Decker zum Haus begleitet hatte.

»Davon hab ich nichts gemerkt, die müssen unsere Verwaltungsstrukturen übernommen haben.«

»Ist doch völlig wurscht. Haben wir uns jetzt mit einer Leiche zu befassen oder nicht?« fiel Groß erneut ein. »Meine Leute stehen sich die Beine in den Bauch. Braucht ihr uns, oder können wir abschieben?«

Grimmig musterte Rohleff die Wampe, die Groß herausgereckt hatte. Der Kerl nahm sich kein bißchen zurück.

»Du darfst hier abgrasen, was Decker übriggelassen hat. Auf so was verstehst du dich doch.«

»Tu ich das?« Milde lächelnd zog Groß die lachsfarbenen Augenbrauen hoch. »Erst mal knöpf ich mir den Spastiker vor, wo ist er hin?«

Rohleff war wieder drauf und dran, Groß zurechtzuweisen. Daß Decker offensichtlich an Schüttellähmung litt, war kein Grund, ihn als »Spastiker« zu bezeichnen.

»Kleiner Arsch«, zischte Lilli aufgebracht.

»Klein würde ich meinen nicht nennen«, entgegnete Harry jovial, »ich muß wissen, was der Fritze mit dem zusammengefegten Müll gemacht hat.«

»Mach, was du willst. Wir fahren zum Müllunternehmer und fahnden nach dem fraglichen Container und dem verschwundenen Inhalt. Halt dich bereit, uns nachzukommen, egal, wobei du hier gerade bist.« Rohleff hatte sich soweit gefangen, daß er in neutralem Ton seine Anweisungen geben konnte.

Altorf durfte seine Mülltour mit seinem Kollegen fortsetzen, falls dieser dazu in der Lage war, denn das Gesicht, das zum Fenster herausschaute, wirkte immer noch ungesund bläulich.

Statt den Dienstwagen anzusteuern, rannte Lilli zu den Müllwerkern und schwang sich auf der Beifahrerseite aufs Trittbrett, beide Hände ans offene Fenster gekrallt.

»Soll ich Sie nicht lieber doch rasch nach Hause fahren? Sie müssen uns ja für Unmenschen halten, mich und meine Kollegen. Erst bringen wir Sie in diese Lage, und dann überlassen wir Sie einfach sich selbst. Sie müssen sich vollkommen zerschlagen fühlen, ich seh es doch an Ihren Augen.«

Eine von Lillis breiten, kräftigen Händen hatte sich über die fremde gelegt, eine zarte kühle mit langen Pianistenfingern. Beats Augen schwammen in ihren Höhlen wie dunkle Teiche ohne Spiegelung. Lilli sprach in erster Linie zu diesen Augen.

Knolle nagte an seiner Unterlippe, eine Hand im Nacken, Harrys massige Schultern zuckten, nur Rohleff hörte äußerlich gelassen Lillis Ausbruch ostentativer Mütterlichkeit zu.

»Verstehen Sie?« fuhr sie eindringlich fort. »Sie sollten unbedingt ein paar Stunden ausruhen. Über einen derart schweren Anfall kann man doch nicht einfach hinweggehen. Es war schon an der Grenze …«

… zum Ersticken hatte sie sagen wollen, brachte es aber nicht fertig, weil sich die Hand unter der ihren, die sich stetig erwärmt hatte, langsam zurückzog, wie auch das Gesicht zurückwich, das nichts außer einem Anflug von Erstaunen gezeigt hatte. Die brüchige Stimme des Jungen tat Lilli weh.

»Frische Luft ist alles, was ich brauche, einfach nur atmen, dann geht's wieder.«

Neben ihm pustete Altorf mit einer raschen Kopfdrehung Qualm zum Fenster hinaus und schnippte die halb gerauchte Zigarette hinterher.

Rohleff zog Lilli vom Trittbrett herunter und führte sie bedachtsam, als hätte er es mit einer Geisteskranken zu tun, zum Streifenwagen.

»Wieso kannst du dich so gut in einen Asthmatiker einfühlen?« fragte er in einem Ton, als würde er sich nach Intimitäten erkundigen, und schämte sich eigentlich für eine Grenzüberschreitung.

»Weißt du, so ein Anfall schädigt nachhaltig die Bronchien.« Lillis Stimme verlor sich in einem Aufseufzen.

7

Zunächst schien niemand zu wissen, was mit dem gesuchten Container passiert war.

»Bei denen da unten ist er garantiert nicht, die Registriernummern stimmen nicht überein.« Knolle stupste Rohleff an.

Rohleff wurde sich bewußt, daß er durchs Bürofenster des Müllunternehmers in den Hof starrte, wo einige ausgemusterte Container standen, die auf den Abtransport in die Schrottpresse warteten, und daß er eigentlich über sich selbst nachgedacht hatte.

Lilli hatte währenddessen leise im Hintergrund herumtelefoniert.

»Nur einer der drei ausgetauschten Container war noch voll, das wissen wir von Beat«, erklärte sie nun.

»Das ist nichts Neues, was uns interessiert, ist …«, brummte Knolle gereizt.

»Warte, bis ich fertig bin. Es waren zwei Laster unterwegs. Der eine zur Müllentleerung und der zweite, der den Austausch vornehmen sollte. Ich hab den Fahrer des zweiten per Funk erreichen können. Er hat die zwei leeren und die volle Mülltonne mitgenommen, einen anderen Müllaster unterwegs angehalten und den Kollegen gebeten, den vollen Container zu leeren.«

»Hat er reingeschaut?« fragte Knolle rasch.

»Er sagt, nein, und der andere auch nicht. Sie waren beide sauer auf Altorf und Beat. Es mußte alles sehr schnell gehen. Wie es ausschaut, ist der Inhalt von Nummer drei inzwischen auf der Deponie abgekippt worden. Wenn überhaupt, sollten wir uns dort umschauen.«

Rohleff betrachtete Lillis kurzen Rock und die hochhackigen Sandaletten. Sie war seinem Blick gefolgt.

»Ich fahr schnell nach Hause, mich umziehen.«

Mit der Erlaubnis zögerte Rohleff einen Augenblick. »Ruf vorher Harry an. Er soll für jeden von uns Schutzanzüge mitbringen und mit dem größten Teil seiner Truppe bei der Deponie aufkreuzen.«

Eine halbe Stunde später traf Lilli hinter dem Tor der Deponie auf Gestalten in aufgeplusterten Raumanzügen mit Kapuzen über den Köpfen und Atemfiltern vor dem Gesicht, die Markierstangen verteilten.

»Wird Zeit, Prinzessin«, nölte Harry und hielt einladend einen der Anzüge für sie bereit, half ihr sogar mit einem gutmütigen Herumzupfen an Armen und Beinen hinein.

Aus einem offenstehenden Karton angelte sie sich den letzten Mundschutz, zog das Gummiband über den Kopf und ließ das kleine weiße Ding bis auf weiteres unter einem Ohr baumeln. Rohleff winkte ungeduldig, er preßte mit der anderen Hand eine Karte an die Wand eines Einsatzwagens, ihm gegenüber hielt der Manager der Deponie die andere Hälfte fest.

»Diese schraffierten Zonen hier …«, der Manager fuhr mit einem Finger der freien Hand auf und ab, »… sind dicht. Dort wird nicht mehr abgeladen, dieser Bereich dagegen ist offen.« Der Finger beschrieb einen Kreis. »Hier ist seit heute früh Müll angekarrt worden, der Bulldozer fährt das Zeug zusammen, sonst wäre die Deponie in ein paar Tagen belegt.«

»Kommt der Bulldozer denn nicht den Müllastern ins Gehege?« fragte Rohleff.

»Zwei Mann weisen den ganzen Tag ein. Jetzt allerdings ist Feierabend und Wochenende. Ich habe einen von den Einweisern abgestellt, damit er Ihnen zur Hand geht.«

»Darf ich jetzt?« fragte Groß höflich. »Leute, dann wollen wir mal. Habt ihr eure Markierstangen? Wir stecken in geraden Linien das Gelände mit dem Müll von heute ab und arbeiten uns dann daran entlang. Abstand der Linien exakt anderthalb Meter. Immer zwei bilden ein Team. Einer untersucht, einer macht Fotos, die wir nachher zum Auswerten haben, falls sich die Sache hinzieht. Auf geht's.« Nach ein paar weiteren Anweisungen wandte er sich an Lilli.

»Offen gestanden, brauch ich dich da oben nicht. Es wäre mir lieber, wenn du mit Karl und Patrick wartest, bis wir auf was Verdächtiges gestoßen sind.«

Lilli nickte erleichtert.

»Ich steh doch hier nicht rum, bis du pfeifst.« Patrick schickte sich an, dem Suchtrupp zu folgen.

»Du hast keinen Mundschutz«, stellte Lilli fest und zupfte an ihrem, »kannst meinen haben.«

»Brauch ich nicht.« Knolle stapfte an ihr vorbei.

»Herkules hat den Stall des Augias auch ohne Atemmaske ausgemistet«, erläuterte Groß süffisant, »und Patricks Bruder macht in Schweinen.«

Überraschend setzte sich Rohleff ebenfalls in Bewegung. »Ich schau mich auf dem Müllberg mal um.«

Nachdem Groß als letzter der Männer zum Einsatz gegangen war, sah Lilli ihm nach. Als auf einmal über ihr in der Luft ein ungeheures Vogelgekreisch einsetzte, schreckte sie zusammen und begann zögernd, den anderen zu folgen. Nach wenigen Schritten schob sie den Mundschutz hoch. Es roch nicht eben angenehm.

Die tanzende Wolke von Flügeln verdunkelte die immer noch strahlende Sonne. Lilli wußte nicht, ob die Vögel in diesen Massen gefährlich werden konnten, unaufhörlich kreisten sie über ihr, stießen herab, hackten, zerrten an irgend etwas, schossen in die Höhe, auch mal so dicht an ihr vorbei, daß sie den Flügelschlag spürte, obwohl sie ängstlich zurückwich. Krähen, schwarz-weiße Elstern, graue Tauben. Auf der Flucht vor den Vögeln stolperte sie vorwärts, geriet mit einem Fuß in ein Loch und schrie panisch auf.

»Wird aber lästig, wenn wir hier auf dich aufpassen müssen.« Knolle war herangestakst, kniete sich ungelenk neben sie und packte oberhalb ihres festsitzenden Fußes das Bein. Sein Griff war viel zu hart, mit einer aggressiven Kraft riß er sie los. Schmatzend gab der weiche Grund sie frei, ein Anfall von Übelkeit überkam sie, den sie hastig verdrängte.

»Ist aber schon ekelhaft hier«, sagte sie tapfer und rieb das schmerzende Bein.

»Da vorn beginnt die richtige Scheiße. Aber wenn du hier mitmachen willst, dann mach's richtig oder verschwinde.« Er drückte ihr einen armlangen Metallstab mit einem Widerhaken in die Hand.

Verblüfft schaute sie zu ihm hoch.

»Du schnauzt mich an? Ich hab heute abend bestimmt blaue Flecken von deinem Polizistengriff, und du schnauzt mich auch noch an. Warum?«

Einen Augenblick sah es so aus, als würde er die Beherrschung verlieren und ihr etwas über seine Hilfsbereitschaft und ihre Dämlichkeit zubrüllen wollen, sie bemerkte die harte Kinnlinie, den verkniffenen Mund, aber Knolle wandte sich abrupt um und schloß zu den anderen auf.

Der kocht ja, dachte sie verwundert. Ich hätte alles andere erwartet, Niedergeschlagenheit, unterdrückte Trauer, Unbehagen, aber wieso hat er diese Wut? Doch nicht meinetwegen.

Gegen sechs Uhr abends machte sich eine gewisse Abstumpfung breit und gleichzeitig der Eindruck, eine Strafe für ein nicht näher bestimmbares Vergehen abzubüßen. Bis in alle Ewigkeit auf einen Müllberg verbannt. Die wenigsten Schutzanzüge sahen jetzt noch reinweiß aus. An den meisten klebte auch Blut, denn in unregelmäßigen Abständen fand sich die Truppe zusammen, um etwas blutigen Abfall zu untersuchen, den einer von ihnen freigelegt hatte. Jedesmal wurden die Vögel besonders zudringlich. An Knolles wilden Blicken merkte Lilli, wie er in Gedanken alle abknallte.

Die Leiche, die dann hervorkam, unter Kartoffelschalen, zerrissenen Kontoauszügen, alten Socken, breiigen Gemüseresten mit handtellergroßen grünen Schimmelflecken, während jeder Huckel schwere, lange Schlagschatten warf und sich das Licht langsam verabschiedete, hatte tatsächlich kein Gesicht mehr. Dem Brustkorb, dem Bauch, den Oberschenkeln und Armen war auch allerhand passiert. Mit dem Auftauchen der Leiche hatte niemand mehr so richtig gerechnet, und das vorläufige Ende der Suche drang nur zögerlich ins Bewußtsein. Einer Elster gelang es, mitten zwischen die Ermittler zu stürzen und ein blutiges Klümpchen herauszupicken, bevor jemand reagierte.

Lilli ging neben dem Toten in die Hocke, niemand hinderte sie daran.

»Aber auch ein Toter muß doch ein Aussehen haben«, stammelte sie, »man kann doch so einem Toten nicht jegliches Aussehen nehmen und nichts mehr davon übriglassen. Das ist ja teuflisch, ein unheimliches, gnadenloses Verschwinden.«

Rohleff beugte sich zu ihr herunter und sprach leise auf sie ein.

»Selbst so ein erbärmlich entstellter Toter hat noch ein Aussehen, sieh ihn dir an, begreif, daß wir nun die Hand des Täters sehen, die vor allem, das ist hier unsere Aufgabe, um diesem Toten wieder zu einem Gesicht zu verhelfen und zu Ansehen. Wir lassen uns doch jetzt nicht, wo wir am Anfang der Aufklärung stehen, kleinkriegen, nicht wahr, Lilli?«

Harry ließ den Blick so weit wie möglich in die Ferne schweifen.

»Zumindest haben wir nun einen Fall.« Signalrot stand sein Lockenhaupt scharf gezeichnet gegen den dunkelnden Abendhimmel.

Knolle, die Hand im Nacken, sprach ins Handy. »Rechtsmedizin? Schicken Sie uns …«

Flutlicht würde bald den Müllberg gleißend hell erleuchten, gegen jeden Schatten ankämpfen, gegen den kleinsten Hauch von Dunkelheit, in der sich etwas im Müll verbergen konnte. Sie würden die ganze Nacht weitersuchen und nicht wissen, wonach. Der Müll war eine große, grauenhafte See mit unruhig schwappenden Wogen, die die Dinge in ihren Tiefen heimlich verschoben und unkenntlich machten.

Knolle schien mit dem Toten am besten zurechtzukommen, er blieb völlig ruhig, eventuell rührte das von seinen Erfahrungen als Jäger. Vielleicht war er ein bißchen zu ruhig, wie er da mit markiger Metallstimme ins Handy sprach.

8

Dem Wagen aus Münster entstieg ein knochendürrer, etwa vierzigjähriger Mann, dessen schmales Gesicht hinter einer riesigen Hornbrille verschwand, die ihm das Aussehen einer besonders wachsamen Eule verlieh. Die Eule musterte Rohleff und Lilli nachdenklich, bevor sie die Hand ausstreckte und sich lässig bekannt machte.

»Mahler, Rechtsmedizin. Ich bin hierherversetzt worden, und das ist mein erster Einsatz. Also, wo ist die Leiche?«

Da der Mann keine Umstände machte, hielt sich auch Rohleff mit Erklärungen zurück.

»Hier lang«, sagte er knapp und wies mit einer Handbewegung den Weg zur Fundstelle. Nachdem Dr. Mahler ein Stück gegangen war, rief er ihm aber doch nach: »Oder wollen Sie, daß ich mitkomme?«

Dr. Mahler lief unbeirrt weiter, seine Einsatztasche unter den Arm geklemmt.

Als Lilli bemerkte, wie sich Knolle aus dem verdreckten Schutzanzug schälte, zog sie ebenfalls den Reißverschluß auf. »Und was nun?« fragte sie.

Rohleff schien angestrengt nachzudenken und warf einen Blick in die Richtung, in der der Rechtsmediziner verschwunden war. Wahrscheinlich hatte er genau wie Lilli fest damit gerechnet, daß Dr. Overesch oder Dr. Lamash, mit denen sie bisher immer zusammengearbeitet hatten, auch diesen Fall übernahm.

»Oder müssen wir noch einmal zurück in den Müll?« Unschlüssig ratschte Lilli den Reißverschluß auf und zu, dabei wäre sie die Montur nur zu gern losgeworden. In ihrer Nase hatte sich ein Geruch festgesetzt, der auch dem Anzug entströmte, ein Geruch nach Fäulnis und auf jeden Fall nach Tod.

Knolle erschien ihr in seiner schwarzen Lederkluft, die unter dem ehemals weißen Zeug hervorgekommen war, wie ein überdimensionierter Rabe, ein Galgenvogel. Noch immer trug er unter seiner Lederjacke den schwarzen Rollkragenpullover, er wirkte aber nicht erhitzt, eher kühl und leichenfahl. Eine Blässe, die sein Flammenhaar unterstrich. Er reckte sich und zuckte ein bißchen, als er den Kopf in den Nacken legte, um den kreisenden Schwarm im Abendhimmel zu beobachten.

»Ich fahr dann mal in die Siedlung, wo die Leiche zuerst aufgetaucht ist, dort müssen wir ja wohl anfangen.«

Als wüßte er nur zu genau, wie unverkennbar männlich er in der Lederkluft aussah, schritt er in lässigem Panthergang auf sein Motorrad zu, das am Zaun neben dem Tor zur Deponie abgestellt war.

»Wirst du nicht!« bellte ihm Rohleff nach. »Du wirst deinen Hintern ins Büro bewegen und auf deinen Drehstuhl schwingen. Hier bestimme ich, wer was macht. Ich will nicht, daß auch nur irgend etwas bei dieser Ermittlung durch Eigenmächtigkeit aus dem Ruder läuft. Verstanden?«

»Und was soll er im Büro?« fragte Lilli konsterniert.

Knolle hatte sich durch den Redeschwall nicht aufhalten lassen und war weitergegangen. Vom Rücksitz der BMW riß er den Helm an sich, zog die Sturmhaube heraus, eine Art schwarzer Strickstrumpf mit Augenlöchern, und vermummte sich. Das Visier blieb aber offen. Mit einer langsamen Bewegung grätschte er über die Maschine und stand dann breitbeinig da, das Motorrad zwischen den Schenkeln haltend, ein eindeutiges Potenzgehabe gegenüber Rohleff, der mit Vorliebe Fahrrad fuhr, ein Rentnerrad mit geschwungener Gabel.

»Du gehst sämtliche Vermißtenmeldungen durch, die im Kreisgebiet in den letzten zwei oder sagen wir drei Wochen eingegangen sind«, rief Rohleff Knolle zu.

»Was soll das, Karl«, protestierte Lilli, »wir wissen doch noch nichts über die Leiche, nicht einmal, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt.«

»Doch, wissen wir. Alter bis schätzungsweise dreißig, auf alle Fälle ein Erwachsener, männlich und blond.«

Schlagartig sah Lilli die Leiche wieder vor sich, und aus dem grauenhaften Gesamteindruck schälten sich ein paar Einzelheiten wie strubbeliges helles Haar, eine Hand, wie sie Altorf bereits vorher hinlänglich beschrieben hatte, und zwischen den zerschmetterten Schenkeln hatte etwas Weiches, Weißes gelegen, in dem man mit einiger Phantasie tatsächlich die Reste eines Penis erkennen konnte.

Mit einem deutlichen Klacken schloß Knolle das Visier. Als er in der Dämmerung verschwand, befiel Lilli das merkwürdige Gefühl, daß sie ihn wohl nie wiedersehen würde. Erregt wandte sie sich an Rohleff.

»Warum hast du ihn so abgekanzelt? Patrick ist nicht richtig beieinander, den ganzen Tag schon, ich denke, es ist die Trauer, die ihn so unausstehlich macht, vielleicht setzen ihm auch Schuldgefühle zu, jedenfalls hab ich das Gefühl, es brodelt schrecklich in ihm, und das letzte, was er gebrauchen kann, ist ein sturer Vorgesetzter, der unsensibel genug ist, ihn runterzuputzen.«

»Ich hab ihn nicht runtergeputzt, sondern ihm lediglich klar und deutlich gesagt, was Sache ist. Wenn er hier ist, muß er seine Arbeit machen und zwar ordentlich. Wir haben alle unsere Probleme.«

Jetzt denkt er an Sabine, dachte Lilli. Sie war sich ganz sicher, daß Rohleff an seine Frau dachte und das große Leid, das die beiden auszuhalten hatten, denn vor drei Monaten war ihr kleiner Sohn gestorben, ein Wunschkind, ein heiß herbeigesehntes, das erst nach sieben Jahren Ehe geboren worden war. Lilli hatte die schöne Sabine immer für ein bißchen zu kapriziös gehalten für den siebzehn Jahre älteren Rohleff, aber jetzt hatte auch sie voll und ganz ihr Mitgefühl. Gegen Rohleffs war Knolles Kummer um seinen Vater, dessen Tod ja noch etwas relativ Normales darstellte, gar nichts – oder fast nichts, schwächte sie in Gedanken ab.

»Und wir?« fragte sie mit belegter Stimme.

»Wir«, antwortete Rohleff müde, »begleiten die Leiche in die Rechtsmedizin und sehen zu, was die erste Untersuchung bringt.«

Lilli überlegte, ob sie sich prophylaktisch übergeben sollte, ihr war jetzt endgültig danach.

9

Die Leiche knöpften sie sich zu zweit vor. Der eulenhafte Dr. Mahler und der kürbisköpfige Dr. Lamash murmelten mit monotonen Stimmen einem Gerichtsprotokollanten und den anwesenden Kommissaren ihre Kommentare zu, ohne sich darum zu scheren, ob sie verstanden wurden. Metall klapperte überlaut auf Ablagen, Bohrer surrten, Geräusche wie beim Zahnarzt, der aufgeplatzte Darm des Toten verströmte allerdings Gerüche, gegen die die einer Jauchegrube appetitlich anmuteten. Der gelbe Kopf von Dr. Lamash schwebte über der Leiche.

»Doppelte Kieferfraktur, Nasenbeinfraktur – nein, eine Zerbröselung, wenn Sie mir die unsachliche Erklärung gestatten.« Lamash schien sich der Zuschauer erinnert zu haben. Langsam und betont deutlich folgte eine Aufzählung sämtlicher Knochen und Knöchelchen, die der Zerstörungswut anheimgefallen waren.

Die Kleidung war größtenteils vom Körper gefetzt. In den Resten, die Stück für Stück mit Stahlpinzetten und Skalpellen heruntergepflückt oder geschabt wurden, fand sich nicht ein einziger Identitätshinweis, keine persönliche Habe, kein Kleinkram in der Gesäßtasche, der einzigen, die noch halbwegs intakte Nähte aufwies. Penibel breitete der Doktor das doppelte Stoffviereck mit den fransigen Hosenresten auf einem Tablett aus, zog es zurecht, wendete es, kratzte darin herum und betrachtete es sinnend wie vorher die blankgelegten Knochen. Was genau die Untersuchung einer leeren Tasche bezweckte, verstand Rohleff nicht.

Der Tote blieb jedenfalls ein Mann ohne Namen, ein Mensch, der von einem Moment zum anderen in eine auslöschende Ewigkeit katapultiert worden war.

»Todesursache?« unterbrach Rohleff die beklemmende Stille.

»Viele, viele.« Dr. Lamash hob eine gummibekleidete Hand und hielt das Skalpell in die Luft.

Wie mochte der Junge gestorben sein, fragte sich Rohleff, wie viele Schläge hatte er gespürt, wie weit und wie lange hatte er bei Bewußtsein das mitmachen müssen, was ihm angetan wurde, bis sich sein Körper in eine blutige Masse verwandelte, bis von seinem Menschsein kaum etwas übrig war. Unwillkürlich setzte sich Rohleff einem Schmerz aus, der nicht seiner war, der eine grelle, heiße Spur in einen nebeltrüben Alltag zog.

»Kommissar Rohleff?« Dr. Mahler hatte ihn angesprochen, vielleicht bereits zum zweiten Mal, denn er runzelte fragend die Stirn.

»Ja?«

»Zum Alter läßt sich sagen, daß es sich um einen sehr jungen Mann von vielleicht zwanzig, einundzwanzig Jahren handelte. Und die Verletzung, die zum Tode führte, werden wir diese Nacht nicht mehr bestimmen. Was den Todeszeitpunkt betrifft: Wir vermuten, daß der Tod gestern zwischen dreiundzwanzig und ein Uhr eintrat.«

Die Eulenaugen glitten einmal zwischen Rohleff und Lilli hin und her und schienen jede Anspannung in den Gesichtern zu registrieren.

»Es nimmt einen jedes Mal mit, nicht wahr?« Dr. Mahler lächelte wissend. »Aber Sie halten sich sehr gut.«

»Na, da danken wir Ihnen auch schön für das Lob«, sagte Rohleff trocken.

»Was für ein Schnösel«, murmelte Lilli, und Dr. Mahler lächelte noch etwas breiter.

Nachdem sie noch ein, zwei dringende Maßnahmen besprochen hatten, konnten sie sich verabschieden.

Bei der Rückkehr nach Steinfurt stand zu ihrer Verwunderung Knolles BMW auf dem Parkplatz vor der Dienststelle, und er selbst saß brav, aber schräg vor seinem Computer, ein Bein auf einem zweiten Stuhl abgelegt. Zögernd nahm er es herunter, faßte sogar beidhändig zu, und machte den Stuhl für Lilli frei.

»Du hast nicht etwa Gicht?« fragt sie mit einem Nicken zum Bein.

Knolle ging auf das Geplänkel nicht ein, griff statt dessen nach ein paar Blättern und hielt sie Rohleff hin.

»Die Vermißtenliste. Übrigens hast du bis jetzt nichts über den Zeitpunkt des Ablebens von dir gegeben. Der Kerl könnte schon länger im Container gelegen haben.«

»Kaum.«

»Wieso? Schaust du jedesmal mit Röntgenblick in deine Mülltonne, wenn du etwas reinwirfst?«

»Der Tod muß gestern nacht zwischen elf und eins eingetreten sein. Das ist der neueste Befund.«

»Elf und eins«, wiederholte Knolle und hielt sekundenlang die Augen auf seinen Monitor gerichtet.

»Spät genug jedenfalls, daß keiner aus dem Haus noch das Bedürfnis verspürte, seinen Müll zu entsorgen – oder vielleicht doch?« Rohleff hatte laut gedacht.

»Also Befragung aller Leute im Haus und der Bewohner der Einfamilienhäuser ringsum«, warf Lilli ein.

»Sofort?« fragte Knolle desinteressiert.

Lilli musterte unauffällig ihre Armbanduhr. Es ging mittlerweile auf zwölf zu, ungefähr sechzehn Stunden Dienst lagen hinter ihr, sie hatte nur einmal kurz zu Hause angerufen und Bescheid gesagt, daß sie in einer dringenden Ermittlung steckte, Ende ungewiß. Detlev nahm es leicht, zu leicht, wie sie fand. Er käme, was die Versorgung der beiden Töchter beträfe, ohne sie zurecht, hatte er erklärt.

Rohleff gab weitere Erläuterungen ab, während er gleichzeitig nach dem Telefon angelte, um eine größere Einsatzgruppe anzufordern.