der rechte weg - Brigitte Blobel - E-Book

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Brigitte Blobel

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Beschreibung

Jung, weiblich, rechtsradikal

Linda ist wütend. Ihr Exfreund hat sie wegen einer Türkin verlassen, ausgerechnet. Noch dazu sollen in ihrem Dorf zweihundert syrische Flüchtlinge aufgenommen werden – laufen bald nur noch glutäugige Schönheiten durch die Straßen, die den Jungen den Kopf verdrehen? Auch ihre Eltern, die Fremdenzimmer vermieten, fürchten, dass bei den vielen Asylanten in der Stadt weniger Gäste kommen. Linda nimmt an einer Demo gegen die Flüchtlinge teil und lernt eine Gruppe Jugendlicher kennen, die genauso denken wie sie – nur noch radikaler. Linda macht mit, lässt ihrer Wut freien Lauf. Und gerät in einen Strudel, aus dem es kaum ein Entkommen gibt ...

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Brigitte Blobel

der rechte weg

Kinder- und Jugendbuchverlagin der Verlagsgruppe Random House

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1. Auflage 2014

© 2014 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Lektorat: Andreas Rode

Umschlagfoto: Plainpicture/Ulrike Schacht; Gettyimages/Thinkstock/shironoso

Umschlaggestaltung: init Kommunikationsdesign, Bad Oeynhausen

kg · Herstellung: AJ

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-14202-5V002www.cbj-verlag.de

1. Kapitel

Linda sieht, wie Dennis die Hände im Nacken verknotet und seinen Lockenkopf zurückwirft. Wie er lacht, wie er übermütig in die Luft boxt, tänzelt, bevor er sich wieder zu Ceylan wendet. Wie er Ceylans Hand nimmt und sie auffordert, stehen zu bleiben.

Jetzt hat sie beide im Profil. Linda hebt ihr Smartphone höher und zoomt die beiden näher heran.

Wenn sie sich jetzt umdrehen, fliege ich auf, denkt sie. Dann wissen sie, dass ich ihnen gefolgt bin. Und was mach ich dann?

In einer plötzlichen Panikattacke schreckt sie zurück, drückt sich gegen die Mauer. Ihr ist plötzlich schwindelig, die Wände stürzen auf sie zu, der Boden unter ihren Füßen schwankt wie ein Schiffsdeck. So ähnlich muss sich Seekrankheit anfühlen, wenn oben plötzlich unten ist und die Schwerkraft außer Kraft. Wenn man nirgendwo Halt findet.

Linda ist noch nie auf einem Schiff gefahren – zumindest nicht auf dem Meer. Mit ihren sechzehn Jahren war sie praktisch noch nirgendwo. Sie ist hier in Großwalde geboren, einer mittelalterlichen Stadt in der Nähe von Weimar, war hier in der Kita und besucht nach der Grundschule nun seit fünf Jahren den Realzweig der Gesamtschule. Hier in Großwalde auf dem Waldfriedhof sind ihre Großeltern begraben und hier ist vor fast einem Jahr ihr geliebter Spaniel Flappi an einem Hühnerknochen erstickt. Und vor allem: Hier haben Dennis und sie sich eines Tages ineinander verliebt, und zwar so sehr, dass sie ein halbes Jahr später schließlich miteinander geschlafen haben – nach einigem ungeschickten Tasten und Streicheln und Stöhnen und schlaflosen Sehnsuchtsnächten. Zwei Tage vor Weihnachten war es und fühlte sich an, als tue der Himmel sich auf.

Und jetzt, am 10. Februar, flirtet er mit dieser Ceylan! Und sieht so verliebt aus, dass einem davon schlecht wird.

Dennis und Ceylan, denkt Linda. Wieso hab ich nichts geahnt? Wieso bin ich so naiv? Wie lange geht das schon mit denen?

Sie lugt um die Ecke: Die beiden stehen noch da, in enger Umarmung, ein Bild wie eingefroren für die Ewigkeit.

Ein Hustenreiz quält sie plötzlich, wie immer im unpassenden Moment. Sie keucht, hält die Hand vor den Mund, krümmt sich, japst nach Luft, presst beide Hände vor das Gesicht.

Als die Attacke vorbei ist und sie ihre Augen wieder aufreißen kann, sind Dennis und Ceylan schon weitergegangen, Hand in Hand, in einer Art kindischem Schlendergang, irgendwie lustbetont. Linda bekommt einen heißen Kopf, allein vom Zusehen. Sieht, wie die Arme der beiden Schwung nehmen, so als würden sie ein Kind, das zwischen ihnen geht, gleich vor Übermut nach vorn schleudern und wieder zurück. Dann müssen sie sich schon wieder anschauen. Und dann hebt Dennis die verschlungenen Finger und drückt einen langen Kuss darauf. Ceylan lacht. Und ihre Hände schwingen weiter.

Ceylan trägt natürlich hochhackige Stiefeletten, stakst durch den Schneematsch wie ein Flamingo, lächerlich. Bestimmt hat sie nasse Füße. Alles für Dennis, damit ihre Schönheit ihn blendet. Damit sie größer erscheint und ihre Beine länger und schlanker wirken.

Aber es hilft dir nichts, denkt Linda grimmig, deine Beine sind nun mal kurz und dick. Ich bin zehn Zentimeter größer als du! Sieht Dennis das nicht? Und findet er es nicht albern, wenn dein rechter Fuß plötzlich umknickt, weil die ultrahohen Absätze eher für den Catwalk geeignet sind als für die matschigen Bürgersteige von Großwalde?

Doch jedes Mal fängt Dennis Ceylan ritterlich auf, als habe er nur auf diesen Anlass gewartet, und sie lässt sich in seine Arme sinken wie ein Burgfräulein, das kurz vor der Ohnmacht ist.

Wenn ich solche Schuhe tragen würde, denkt Linda, wäre das vielleicht auch sexy. Bloß wäre ich damit einen halben Kopf größer als er. Ob er sich dann auch als Ritter gefühlt hätte? Was für ein Scheißspiel!

Dennis legt jetzt seinen Arm um Ceylans Taille. Ceylan hat ihren Wollmantel so eng gegürtet, dass sie eigentlich kaum noch Luft bekommen kann. Die beiden wiegen sich jetzt im Gleichklang in den Hüften, kein Blatt Papier passt mehr zwischen sie. Dennis in seiner Daunenjacke und Ceylan in ihrem Mantel, zu dem sie immer einen langen, zweimal geknoteten Schal trägt. So kommt sie meist auch in die Schule: mit hohen Stiefeln und einem Mantel, den man eher zu einem Theaterbesuch tragen würde. Aber vielleicht ist für Ceylan alles Theater.

Linda folgt den beiden, seit sie die beiden auf der Ringstraße vor Budnikowski entdeckt hat. Sie hatte Teelichter und einen Nagellack in irgendeiner coolen neuen Farbe kaufen wollen. Aber gerade als sie die Straße überquerte, entdeckte sie die beiden. Wie sie sich küssten, mitten unter den Großwaldern, mitten unter all den Leuten. So als wäre es das Normalste auf der Welt.

Dabei war sie doch Dennis’ Freundin!

Dabei war er doch ihr Freund!

Im ersten Moment wusste Linda nicht, was sie tun sollte. Es war zu überraschend, es kam aus dem Nichts. Eine Minute vorher war ihr Leben noch in Ordnung gewesen. Da hatte sie sich für einen glücklichen Menschen gehalten, war verliebt, hatte sich hübsch und begehrenswert gefühlt und daran gedacht, ihr Zimmer ein bisschen mit Teelichtern und Räucherstäbchen zu dekorieren.

Wegen der Stimmung. Weil Dennis doch am Samstag kommen wollte, wenn ihre Eltern zum Skatabend gingen. So wie an all den anderen Samstagen, an denen sie immer ihr Bett frisch bezogen hat, damit es schön duftete, frisch und verführerisch, wenn sie und Dennis sich hineinlegten.

Und jetzt läuft er seit einer halben Stunde mit dieser Ceylan herum, plaudert und lacht und umarmt und küsst sie, als gebe es keine Linda. Als gebe es kein Bett, in dem er mit ihr gelegen hat. Als habe sie nicht für ihn Plätzchen gebacken und Herzchen gemalt, als hätten sie nicht halbe Nächte geskypt und sich dabei sehnsuchtsvoll angelächelt.

Sie sind doch ein Paar! Die ganze Klasse weiß, dass sie seit dem Sommer ein Liebespaar sind.

Wohin wollen die beiden eigentlich? Diese Straße führt aus Großwalde hinaus, an einem im Winter abgesperrten Busparkplatz vorbei und weiter in Richtung Burg. Die Festungsanlage hat einen Wehrturm aus dem frühen Mittelalter und wurde über Generationen von einem Grafengeschlecht bewohnt.

Ceylans granatrot gefärbte Haarmähne leuchtet in der Wintersonne.

Aber, ätsch, gleich wird die Sonne untergehen! Dann leuchten deine beschissenen Haare nicht mehr so, dass Dennis davon ganz besoffen wird, denkt Linda. Dann sind sie so mausfarben wie meine. In der Nacht sind alle Katzen grau, oder? Um diese Jahreszeit zieht die Sonne nur einen niedrigen Bogen über Großwalde.

Es ist so kalt, dass man den Atem der beiden sieht, wenn sie reden. Jetzt bleiben sie wieder stehen. Dennis beugt sich vor und flüstert ihr etwas ins Ohr. Ceylan macht einen Kussmund, biegt den Oberkörper zurück. Dennis drängt sich an sie. Sie kommt seinem Gesicht mit ihren aufgeschürzten Lippen entgegen.

Mit trockener Kehle hebt Linda das Smartphone, geht auf Kamera, sucht die Zoomeinstellung und drückt ab.

Das kleine Geräusch, dieses leichte Klicken, kann nicht einmal sie selbst hören. Um sie herum ist ein Brummen und Brausen von den vorbeifahrenden Autos und dem eisigen Wind.

Sie merkt erst jetzt, dass sie ihre Handschuhe mal wieder irgendwo vergessen hat. Ihre Finger sind ganz gefühllos. Sie verstaut ihr Smartphone in der Innentasche ihres Anoraks und haucht in die Hände, um sie zu wärmen. Ihre Augen füllen sich mit Tränen. Linda stellt sich vor, wie diese Tränen auf ihrem kalten Gesicht zu kleinen Eiskristallen gefrieren. Sie wischt die Tränen weg, dreht sich um und marschiert zurück.

Die Kälte kriecht in ihren Körper. Obwohl sie pelzgefütterte Stiefel trägt, sind ihre Waden wie Eis. Ihr Rücken schmerzt, als wäre ein kalter Luftstrahl auf ihn gerichtet. Und in ihrem Kopf ist nichts.

Ceylan!, denkt sie, plötzlich rasend vor Eifersucht. Du Schlange! Was hast du mir vorgespielt?

Gestern war sie noch in der Reinigung gewesen, die Herrn Kaya, Ceylans Vater, gehört. Ceylan stand am Bügelautomaten und bügelte ein Oberhemd. Ganz professionell sah das aus. Ceylan hilft oft bei ihren Eltern in der Reinigung aus, wenn viel zu tun ist.

Als die Türglocke läutete, drehte Ceylan sich um.

»Hi, Linda!«, strahlte sie.

»Hi, Ceylan. Wie geht’s?«

»Super, und dir?«

»Oh, mir geht’s auch supi. Ich muss nur Mamis Jacke abholen. Sollte gestern schon fertig sein.«

»Ist sie bestimmt. Kommt gleich jemand. Ich kann hier im Moment nicht vom Bügelautomaten weg.«

»Okay, kein Problem.«

Alles ganz normal. Da hat sie ja auch noch keine Ahnung gehabt. Jetzt fragt sie sich natürlich, was Ceylan da gedacht hat. Ob sie ein schlechtes Gewissen hatte oder ob sie ihren heimlichen Triumph genossen hat?

Stattdessen hat sie gefragt: »Hast du den Abholzettel dabei?«

»Ich denk schon. Bin ja ein ordentlicher Mensch.«

»Echt? Bist du? Davon müsste es mehr geben. Was meinst du, wie viele Kunden hier ohne ihren Abholschein antanzen.« Ceylan imitierte einen Mann mit tiefer Stimme: »War so ’ne dunkle lange Hose.«Sie verdrehte die Augen. »Ey, glaubt der Typ, er hat als Einziger eine dunkle Hose?«

Sie haben beide gelacht. Dann zog Linda den Abholschein aus der Seitentasche ihres Rucksacks und legte ihn auf den Tresen, während Ceylan das Eisen auf den Hemdkragen drückte.

»Und du? Was machst du sonst so?«, fragte Ceylan.

Hätte sie da etwas merken können? Hat Ceylan sie früher, wenn sie in die Reinigung kam, je gefragt, was sie sonst so macht? Sie waren schließlich nicht befreundet. Zwar hatten sie bis zum Sommer die gleiche Klasse besucht, aber nie bei irgendwelchen AGs zusammen gelernt. Ceylans Busenfreundin ist Hayat, auch eine Türkin, deren Eltern den Imbiss »Antalya« betreiben. Die beiden machen immer alles zusammen und sind auch im letzten Sommer zusammen auf eine Handelsschule nach Weimar gewechselt. Jeden Morgen eine Stunde mit dem Bus, jeden Nachmittag wieder zurück. Linda würde so etwas nicht wollen.

»Ich?«, erwiderte Linda mit etwas Verzögerung auf Ceylans Frage. »Eigentlich nichts Besonderes. Aber es ist okay, hier passiert ja nicht viel.«

Dabei dachte sie an Dennis und daran, wie schön ihre Liebe ist. Dann lächelte sie und meinte mit einem Blick nach draußen: »Arschkalt heute.«

»Ja, echt heftig. Da friert man sich schnell was ab, oder? Hoffentlich wird’s bald Frühling. Ich freu mich wie verrückt auf den Frühling. Wenn’s warm ist, wenn man draußen Sachen machen kann und so.«

Was hat sie damit gemeint? Was für Sachen machen? Ob Ceylan vielleicht noch etwas über Dennis gesagt hätte, wenn sie noch ein bisschen länger allein in dem Laden gewesen wären?

Aber der Moment verflog. Im nächsten Augenblick hatte schon jemand ihren Abholzettel vom Tresen gefischt, irgendein Mitglied aus Ceylans Sippe, irgendeine Frau mit Kopftuch jedenfalls, weil alle in der Familie Kopftücher tragen – außer eben Ceylan. Und dann setzte die Frau dieses Karussell in Gang, an dem die gereinigten Sachen auf Bügeln hängen, fischte die Jacke vom Haken und gab sie Linda, während Ceylan das gebügelte Oberhemd in eine Folie einschweißte.

Im Hinausgehen rief Linda Ceylan »Mach’s gut!« zu. Ceylan murmelte daraufhin nur ein lässiges »Tschö« in ihre Richtung.

Scheiße, denkt Linda jetzt, was sollte das sein, dieses Tschö? Ich würde dir dein blödes Tschö am liebsten in den Mund zurückstopfen.

Wenn sie da schon gewusst hätte, dass zwischen Ceylan und Dennis etwas lief, dann wäre dieses Treffen in der Reinigung garantiert anders verlaufen, mit Sicherheit. Sie spürt, wie eine diffuse Wut in ihr aufsteigt. Wie es in ihren Schläfen sirrt. Sie müsste etwas tun, um sich abzureagieren, so wie früher, wenn sie einfach im Keller auf den Punchingball eindreschen konnte, bis sie sich besser fühlte, ruhiger. Aber der Punchingball hängt jetzt in Franks Studentenbude.

Oder vielleicht auch nicht. Sie hat ihren Bruder noch nie in Heidelberg besucht.

Zu Hause stapft Linda türenknallend durch die Wohnung, wirft erst das Smartphone aufs Bett und schwingt sich dann hinterher. Sie ruft das Beweisfoto auf. Bei dem Anblick des ineinander versunkenen Paares wird ihr sofort schlecht. Sie will das Bild löschen, zuckt zurück, geht auf ihre Nachrichten. Kein Anruf, keine SMS, keine Mail. Sie gehört nicht zu den Leuten, die ständig angemailt und angesimst werden. Sie gehört nicht zu den Stars an der Schule, die zweihundert Facebookfreunde haben.

Das hat sie nie gestört, ihr hat nie etwas gefehlt. Als das mit Dennis und ihr begann, war alles andere unwichtig. Mehr brauchte sie nicht: nur Dennis und sie. Das reichte ihr, um glücklich zu sein.

Sie überlegt, wem sie mal eine Nachricht schicken könnte, einfach nur so, um mitzuteilen, dass sie noch am Leben ist. Um sich abzulenken. Um sich nicht so gotterbärmlich allein zu fühlen.

Clio vielleicht? Mit der sie früher auf dem Reiterhof war? Mit der zusammen sie die Pferde des Bauunternehmers bewegt hat, wenn der keine Zeit hatte? Mit Clio hatte sie Boxen ausgemistet, Trensen poliert, Wassereimer geschleppt und eine ganze Nacht auf der Futterkiste gehockt und Wache gehalten, als ein Pferd Kolik hatte. Clio hat Linda später, als die Pferdephase vorbei war, überredet, mit ihr in den Kirchenchor zu gehen. Das Singen hatte Linda Spaß gemacht, bis der Chorleiter herausfand, dass sie keinen Ton treffen konnte, eine musikalische Niete war, wohingegen Clio mit glockenheller Stimme alles vom Blatt singen konnte.

Wann hatte sie zuletzt mit Clio gesprochen? Mehr als nur: »Hi, wie geht’s?«

Clio hat ihre Freunde jetzt im Chor. Mit denen macht sie Chorfahrten und tritt bei Konzerten vor fremdem Publikum auf. Linda und sie haben sich immer weiter voneinander wegbewegt.

Linda zappt durch ihr Telefonverzeichnis.

Oder vielleicht Sara? Mit der sie mal ein Jahr im Badmintonverein war, bis ihnen beiden auffiel, dass sie die Schlechtesten waren?

O Gott, nein, denkt sie. Die ist ja jetzt beseelt von diesem Sozialkram, hilft nachmittags freiwillig in einer Behindertenwerkstatt, begleitet erwachsene Menschen aufs Klo und wischt ihnen nach dem Essen den Mund. Einmal hat Sara sie mitgenommen. Für Linda war es ein Schockerlebnis, als ein schwerbehinderter Junge, der angeschnallt in seinem Rollstuhl saß, die Arme nach ihr ausstreckte und sie küssen wollte. Sie hatte das nicht gekonnt und nur stocksteif dagestanden.

»Der ist so süß!«, hat Sara lachend gesagt. »Der möchte immer alle Menschen umarmen. Wieso stellst du dich so an?«

Nein, dann doch lieber Emilia. Emilia ist irgendwie normal. Sie kennt Emilia noch aus der Grundschule. Da wohnten sie in der gleichen Straße und hatten den gleichen Schulweg. Nach der Schule haben sie abwechselnd bei Lindas oder Emilias Eltern zu Mittag gegessen. An den Wochenenden hat mal Linda bei Emilia übernachtet, mal Emilia bei ihr. Sie konnten fünf Stunden lang mit Barbies spielen, ohne dass ihnen langweilig wurde. Oder die Hüpfburg in Emilias Garten! Da waren sie gar nicht wieder wegzubekommen. Doch das war alles zu jener Zeit, als Emilias Großeltern noch das Haus in dem Gartenviertel hatten. Als die starben, sind Emilia und ihre Eltern weggezogen.

Auch in Lindas Elternhaus hat sich einiges verändert. Lindas Mutter hatte die Idee gehabt, im ersten Stock des Hauses drei Fremdenzimmer und unter dem Dach noch einmal ein Zimmer auszubauen, alle mit eigenem Bad, was die Kosten enorm in die Höhe getrieben hat. Aber da Lindas Eltern »gute« Gäste haben wollen, war diese Investition unvermeidbar. Linda gehörte früher das große Zimmer unter dem Dach, das mit den schrägen Wänden. Jetzt ist es in einen Wohn- und einen Schlafbereich unterteilt und wird im Internet als »romantische Suite im Haus Sonnenschein der Familie Schütte« angeboten.

Das frühere Esszimmer ist nun der Frühstücksraum für die Gäste, das Arbeitszimmer ist die Rezeption. Nur der Garten ist noch unverändert, mit Hollywoodschaukel und Trampolin. Aber Bertram und Evi Schütte träumen bereits von einer großen Terrasse, auf der die Gäste im Sommer frühstücken und abends etwas trinken können. Überhaupt nicht geklärt ist bislang, wo sie und ihre Eltern dann bleiben, an schönen Sommerabenden, wenn die Gäste sich überall breitmachen. Irgendwie war früher alles schöner gewesen.

Aber so lange Dennis und Linda zusammen waren, war alles gut. Fast perfekt.

Aufstöhnend klickt Linda wieder das Foto von Dennis und Ceylan an. Es ist nicht besonders scharf und ein bisschen schief. Sie spuckt darauf, beobachtet, wie die Spucke das Bild der beiden verzerrt. Fast, als küssten sie sich. Linda wirft das Smartphone an die Wand, schnappt es sich aber sofort und checkt panisch, ob es den Wutanfall heil überstanden hat.

Ich bin eine blöde Kuh, denkt sie, ich hab nichts im Griff!

Sie säubert das Smartphone mit einem Zipfel ihrer Bettdecke.

Dennis, du fieser Hund, denkt sie.

Wo warst du gestern, als du angeblich für deinen Vater was erledigen musstest? Bei Ceylan, ja? Und was habt ihr da gemacht? Und am Mittwoch, als du diesen Zahnarzttermin hattest, warst du da vielleicht auch mit ihr zusammen? Schläfst du mit ihr? So wie mit mir? Vielleicht schon lange? Schläfst du vielleicht abwechselnd mit ihr und mit mir?

Lindas Wangen brennen. Sie presst ihre eiskalten Fäuste auf das Gesicht.

Ich ruf ihn an, denkt sie. Der kriegt von mir was zu hören. Den mach ich fertig.

Und dann kommen gleich die Zweifel: Nein, ich ruf nicht an. Ich hab auch meinen Stolz.

Aber was, wenn alles ganz anders ist? Wenn Dennis längst bereut, dass er auf Ceylans Flirtattacke reingefallen ist? Wenn er sich schämt, weil er unsere Liebe verraten hat?

Sie wählt Dennis’ Nummer, lässt sich zurückfallen, lauscht.

Ihr Herz pocht.

»Ja?«, knurrt Dennis. »Was ist?«

Linda zieht ihre großen Füße nah an den Körper. Ihre Knie ragen spitz nach oben. Sie hätte gerne runde Knie und zierliche Füße. Aber das Leben ist kein Wunschkonzert, wie ihre Mutter immer sagt.

»Hallo, du bist ja zu Hause.«

»Ja, wieso?«

»Weiß nicht, ich dachte, du bist vielleicht noch unterwegs.«

»Nee, bin ich nicht. Steck mitten in Mathe. Hab gerade nicht so viel Zeit zum Quatschen.«

Er wartet. Sie muss etwas sagen. Sie hat schließlich angerufen. Aber ihr fällt nichts ein. Vor ihren Augen tanzen Sterne.

»Dennis? Ich hab dich gesehen. Ich dachte zuerst, das ist nicht wahr. Aber es ist wahr.« Sie stockt, wartet, hört auf das Rauschen in ihren Adern. »Oder?«

Stille. Dennis schweigt. Sie kann seinen Atem nicht hören, auch wenn sie das Smartphone fest ans Ohr presst. Hat er sein Handy einfach weggelegt?

»Dennis? Bist du noch da?«

»Ja. Ja, bin ich.« Ganz raue Stimme. »Was meinst du genau?«

Linda lacht. Besser gesagt: Sie versucht ein Lachen. Zwingt sich dazu. Sie will sarkastisch rüberkommen, irgendwie locker, so als schmerze sie das alles gar nicht, so als sei sie nicht kurz vor einer Ohnmacht.

»Ich rede von Ceylan und dir.«

Wieder Schweigen. Tief und schwer.

Dann, nach einer gefühlten Ewigkeit, räuspert Dennis sich. »Ja«, sagt er rau, »also, das kam wahrscheinlich bei dir anders an als …«

»Kam bei mir anders an?«

»Also ich hoffe nicht, dass du …«

»Was?«, schreit Linda. »Was hoffst du nicht?«

»Dass du das in den falschen Hals kriegst.«

»In den falschen Hals kriegst?«

»Es ist irgendwie passiert«, sagt Dennis. »Keine große Sache.«

»Keine große Sache? Wenn du mich vor aller Augen betrügst?«

Linda presst die Lider zusammen, weil Tränen sich in ihren Augenwinkeln sammeln. Sie legt den Kopf schief und fühlt, wie ein kleines Rinnsal vom linken Auge über ihre Schläfen in die Haare läuft, irgendwie tröstet es sie, ihre eigene warme Tränenflüssigkeit zu spüren. Überhaupt etwas von sich zu spüren, wo sie doch eigentlich ein Eisblock ist.

»Erklär es mir«, bettelt sie.

»Ja … also … was soll ich sagen …«

»Nein, nein. Warte! Warte! Dennis? Bist du noch da?«

»Ja, Mensch. Ich bin nicht taub.«

»Kannst du herkommen, bitte? Bitte, Dennis! Das ist doch Mist, so am Telefon.«

»Was? Jetzt? Ich soll jetzt noch zu dir kommen?«

»Ist doch erst sieben.«

»Hast du mal rausgeguckt? Was für ein Sauwetter da ist? Jetzt soll ich noch mal durch die halbe Stadt?« Sie hört, wie er aufstöhnt. »Das ist nicht dein Ernst! Wieso können wir nicht morgen nach der Schule reden?«

»Ich will aber nicht morgen nach der Schule reden! Ich will jetzt reden, hörst du? Jetzt! Ich will nicht eine ganze Nacht daliegen und grübeln und überlegen und denken …«

»Linda! Das war wirklich alles ganz harmlos!«

Sie schüttelt den Kopf, aber das kann er nicht sehen.

»Ich schreie nicht«, flüstert sie. »Dennis?«

»Ja.«

»Kommst du?« Ihre Stimme ist nur noch ein Flüstern, ein Flehen. »Du kannst mich nicht einfach so abservieren wie … wie einen Hund … wie … Ich hab mit dir geschlafen, Dennis!«

Jetzt schreit sie doch. Aber so einen Satz kann man nicht flüstern, nicht in einem Augenblick wie diesem.

»Das weiß ich doch, Mensch.«

»Bedauerst du das jetzt oder was?«

»Nein, natürlich nicht.«

»Du bist der Einzige, mit dem ich je Sex hatte.«

»Ja, weiß ich.«

»Ey! Ich war vorher noch Jungfrau.«

»Ja. Weiß ich auch.«

»Vorher hat noch nicht einmal ein Typ meinen Busen anfassen dürfen!«

»Linda, meine Mutter ruft gerade, dass …«

Sie unterbricht ihn. Ihre Stimme wird schriller. »Ich hab vorher nicht einmal einen Zungenkuss erlaubt! Du warst der Allererste!« Von Selbstmitleid übermannt schluchzt sie auf und hasst sich sofort dafür.

Dennis verliert die Geduld. Er reagiert wütend. »Ist das jetzt meine Schuld oder was? Dass wir gefickt haben? Du wolltest das doch auch.«

Linda kriegt fast einen Erstickungsanfall. »Gefickt?«, schreit sie. »So nennst du das jetzt? Bin ich ’ne Nutte oder was?«

»Linda, komm wieder runter!«

»Ich hab das Liebe genannt, Mensch! Ich hab gedacht, wir sind jetzt ein Paar, wir gehören zusammen. Und du nennst das ficken?«

Stille. Jetzt hört sie seinen Atem, das tiefe Luftholen, hört, wie er sich freiräuspert und trotzdem nichts sagt.

»Kannst du herkommen?«, flüstert Linda. »Jetzt gleich? Wir müssen reden!«

Sie hört ihr Herz schlagen. Vielleicht wird alles gut, denkt sie. Vielleicht kriegen wir es wieder hin. Ich kann verzeihen. Ich bin nicht nachtragend. Vielleicht kann er nichts dafür. Vielleicht hat Ceylan ihn so lange angemacht, ihm irgendwelche Versprechungen gemacht, was weiß ich. Vielleicht ist er da so reingerutscht. Vielleicht ist ja noch gar nichts passiert!

»Hast du gehört?«, flüstert sie.

Ein tiefes Aufseufzen. »Okay«, sagt er. »Gut. Aber nicht sofort. Ich muss erst noch Mathe fertig machen.«

Das geht schnell, denkt sie, ihr Herz hüpft. In Mathe ist er gut.

Sie fährt sich mit der Hand über ihr tränenverschmiertes Gesicht, richtet sich auf. »Gut. Ich warte. Aber beeil dich, ja? Meine Eltern sind noch irgendwo unterwegs.«

Dennis schweigt.

Linda lauscht.

»Dennis?«, flüstert sie.

»Was denn noch?«

»Ich hab dich doch so lieb!«

Dennis drückt das Gespräch einfach weg und Linda lässt sich rückwärts auf ihr Bett fallen. Wie ein Baum, den man über der Wurzel angesägt hat.

Sie liegt, sie atmet, sie hat die Augen geschlossen, sie hört nichts. Sie sieht nichts.

Um sie herum ist es schwarz und leer.

Eine Stunde später kommen ihre Eltern vom Großeinkauf in Weimar zurück. Es fehlte noch an Bettwäsche, Handtüchern und Geschirr. In Weimar gibt es einen Großhandel für Gastronomie- und Hotelbedarf.

»Linda! Halloho!« Evi Schüttes Stimme schallt durch das Haus.

Linda wälzt sich stöhnend auf ihrem Bett.

»Linda!« Die Tür zu ihrem Zimmer fliegt auf. Da steht die Mutter, wie immer leicht erhitzt und leicht erschöpft. »Kommst du mal? Hast du uns nicht gehört? Kannst du tragen helfen, bitte? Und wieso liegst du hier so rum? Hast du nichts für die Schule zu tun?«

»Ja. Nein.«

»Was ist das denn für eine Antwort?«

»Keine vermutlich. Aber egal.« Linda rappelt sich hoch. »Ist gut. Ich komme ja schon.«

Ihre Mutter verschwindet wieder.

Draußen klappen Autotüren, ein kalter Windzug fegt durchs Haus.

Linda fährt sich mit den Fingern durch die Haare und übers Gesicht.

Ihre Schläfen sind nass von Tränen. Sie will nicht, dass die Eltern was merken. Sie hat gehofft, dass Dennis kommt, bevor ihre Eltern zurück sind.

Sie muss ins Bad, Dennis wird gleich kommen, sie muss sich zurechtmachen. Sie will gut aussehen für Dennis, besser als Ceylan. Sie möchte, dass Dennis sie sieht und denkt: Wie verrückt bin ich denn, dass ich mit Ceylan rummache, wenn ich eine wie Linda habe?

Sie schlurft nach draußen. Ein eisiger Wind ist aufgekommen, der ihr fast die Luft nimmt. Schneeflocken peitschen ihr gegen das Gesicht wie kleine scharfe Pfeile. Sie kämpft sich zur Garage vor, lässt sich von ihrem Vater einen riesigen Waschmittelkarton in die Hand drücken. »Das muss in die Küche.«

»Okay.«

»Aber das ist noch nicht alles!«, ruft ihr Vater ihr nach.

Sie geht in die Küche, lädt das Zeug ab, schlurft zurück in die Garage. Auf den drei Metern bis zur Garage ist es, als ginge man durch einen Tiefkühlschrank. Das Thermometer ist in den letzen zwei Stunden bestimmt um zehn Grad gefallen. Ihre Nasenspitze wird rot und kitzelt.

Bertram Schütte hat Atemwölkchen vor dem Mund, wenn er spricht. »Saukalt«, sagt er. »Als wär hier Sibirien. Mach die Haustür immer hinter dir zu, ja? Heizöl ist teuer.«

Linda nickt. Sprechen will sie nicht. Sie will jedes Wort, zu dem sie noch Kraft hat, aufbewahren für den Augenblick, wenn Dennis vor ihr steht.

Die Badezimmertür geht auf. Ihre Mutter kommt heraus und zieht im Gehen den Reißverschluss ihrer Hose zu. Der klemmt immer. »Räumst du schon mal den Küchentisch frei?«, sagt sie. »Gibt dann gleich Abendbrot!«

»Dennis kommt gleich noch vorbei«, sagt Linda, als wäre das eine Antwort.

»Muss Liebe schön sein«, sagt ihr Vater, der plötzlich hinter ihr steht. Linda wirbelt herum. Bertram Schütte lacht gutmütig. Linda kann auch Gutmütigkeit nicht ertragen.

Sie dreht sich wortlos um und verschwindet in ihrem Zimmer.

Der Esstisch im Wohnzimmer ist fürs Abendessen gedeckt. Ein quadratischer Bauerntisch mit unpraktisch dicken Tischbeinen, der früher in der Küche stand. Dazu gehört eine Eckbank, die im Wohnzimmer irgendwie fehl am Platz wirkt. Lindas Mutter hat neue Kissenbezüge genäht. Gelb-weiß gestreift, genau wie die Küchengardinen. Sie sagt, dass sie in der Küche sonnige Farben braucht, weil das Küchenfenster doch nach Norden geht.

Es gibt Pellkartoffeln mit Schnittlauchquark. Dazu klein gehackte Zwiebeln. Lindas Vater nennt es »dieses Arme-Leute-Essen«. Er will lieber etwas mit Fleisch. Aber Linda mag das. Eigentlich. Doch jetzt hockt sie auf der Bank, kaut an den Fingernägeln herum und bringt keinen Bissen herunter.

Bertram beobachtet sie schon eine ganze Weile mit leicht zusammengezogenen Augenbrauen. Schließlich sagt er: »Linda, falls du es noch nicht weißt: Fingernägel haben keine Kalorien.« Ihr Vater versucht immer, Ermahnungen in einen Witz zu packen. Aber Linda verzieht nicht mal ihr Gesicht.

»Komm, Maus, iss was«, mahnt Evi. Seit die Tochter von Hartmanns aus der Nachbarschaft wegen Magersucht in die Jugendpsychiatrie gekommen ist, hat Lindas Mutter immer Angst, dass bei ihnen so was auch passieren könnte.

Linda lässt sich auf ihrem Stuhl zurückfallen und legt die Hände auf den Bauch. »Ich krieg nix runter. Ich hab so ein Völlegefühl. Das ist eklig.«

»Mach dir einen Kamillentee«, rät Evi fürsorglich, »das entspannt den Bauch. Das tut dir doch immer gut.«

Linda zuckt mit den Schultern, ein Kamillentee würde ihr nicht gerade weiterhelfen. Dennis soll kommen! Er soll ihr endlich sagen, was los ist!

Und die Eltern sollen aufhören, sie zu belauern.

Irgendwann wechseln sie das Thema. Ihr Vater erzählt, dass es in den nächsten Tagen eine Protestveranstaltung geben soll, weil die Stadtverwaltung Flüchtlinge aus Syrien in die leer stehende Kaserne einquartieren will. »Zweihundert Leute wollen die da reinpferchen! Dabei funktioniert in dem alten, maroden Gebäude doch gar nichts mehr! Wie viel Geld da in die Sanierung gesteckt werden müsste. Da gibt es weder genug Kochstellen noch genug Bäder und Klos. Manche Teile des Gebäudes können nicht mal geheizt werden. Das wird doch ein Pulverfass.«

»Zweihundert Menschen aus Syrien?« Evi verdreht die Augen. »Alle in unseren kleinen Ort? Das ist ja eine tolle Werbung für unsere Stadt! Und das gerade jetzt, wo wir unsere Fremdenpension ins Internet gestellt haben?«

»Was hat unsere Pension mit den Flüchtlingen zu tun?«, fragt Bertram gereizt.

»Nichts, außer dass es eine kleine Stadt wie die unsere schnell in Verruf bringen kann«, gibt Lindas Mutter patzig zurück. »Wir werben doch damit, dass in Großwalde die Welt noch heil ist, oder?«

Lindas Vater schweigt. Evi redet sich in Rage. »Und? Was ist heil in einem Ort, der überschwemmt wird von Leuten, die keine Arbeit haben, die unglücklich sind und für deren Kinder es keine Perspektive gibt, sodass die kriminell werden?«

»Evi, du übertreibst mal wieder«, sagt Bertram hilflos. »So schlimm wird es schon nicht kommen.«

»Bertram! Wir werben mit einem Foto von unserem idyllischen Marktplatz!« Sie verändert ihren Tonfall. »Das romantisch-verträumte Wohnzimmer der Großwaldener. Wie verträumt ist ein Wohnzimmer, in dem ausländische Typen rumlauern, die unseren Gästen entweder das Smartphone klauen oder ihnen Drogen anbieten?«

»Das letzte Wort in dieser Sache ist ja noch nicht gesprochen«, sagt Bertram kleinlaut. »Vielleicht bewirkt der Protest ja noch was.«

Evi seufzt. »Ich dachte, diese alte Kaserne, dieser Schandfleck, sollte im Frühjahr endlich abgerissen werden.«

»Geht wohl nicht, wenn unsere Politiker alle Fremden mit offenen Armen aufnehmen«, meint Lindas Vater. »Manchmal frag ich mich, warum die alle ausgerechnet zu uns nach Deutschland wollen.«

»Weil es hier schön ist.« Evi steht auf, holt ihre Zigarettenschachtel und den Aschenbecher und setzt sich wieder hin.

»Ich denke, du willst aufhören mit dem Rauchen«, mault Linda. Das mit dem Rauchen ist zwischen ihnen ständig ein Thema. Linda hat in ihrem Leben keine Zigarette angerührt.

»Ja, ja, Maus«, meint ihre Mutter mit einem Lächeln. »Schon gut. Sieh du nur zu, dass du dich an deine eigenen Vorsätze hältst. Was ist mit Joggen vor der Schule?«

»Doch nicht im Winter«, sagt Linda, »und schon gar nicht bei Schnee.«

»Die Flüchtlinge sollen schon in ein paar Wochen hier einquartiert werden. Na, die werden sich wundern, mitten im Winter. Da zieht es doch durch alle Löcher, in dem alten Schuppen.«

Lindas Mutter zündet sich eine Zigarette an, nimmt einen ersten, tiefen Zug, legt den Kopf zurück und sagt: »Bis vor Kurzem war da die Fernmeldedivision der Bundeswehr stationiert. Für die musste es auch gut genug sein.«

Bertram zuckt nur mit den Schultern.

»Nee«, sagt Evi. »Die sind heilfroh, weil es hier friedlich ist. Alles geregelt. Ich wette, die kriegen vom Staat sofort Geld.«

»Klar. Von irgendwas müssen sie ja leben.«

»In ihrem Land hat das niemanden interessiert, wie die eigenen Leute leben«, empört sich Lindas Mutter, »aber wir müssen uns ja immer gleich kümmern. Wir ziehen uns ja jeden Schuh an.« Sie wendet sich an Linda, die den Wasserkocher aufsetzt und daneben stehen bleibt.

»Doch einen Tee, Maus?«, fragt die Mutter.

Linda nickt.

»Was haltet ihr denn in der Schule von der Sache mit den zweihundert Flüchtlingen?«, fragt Lindas Vater.

»Keine Ahnung«, brummt Linda.

»Wie finden deine Lehrer das denn? Die müssen doch eine Meinung dazu haben!«

»Weiß nicht, mir egal. Wir haben nicht darüber gesprochen.«

»Habt ihr nicht so was wie Gemeinschaftskunde? Oder Politik?«

»Doch. Aber da reden wir gerade über das alte Rom.«

»Aber das hier betrifft uns! Und unsere kleine Stadt!«

Linda stöhnt auf. Diese ganze Unterhaltung nervt sie. »Na und? Was soll daran schlimm sein, wenn die kommen?«

Lindas Mutter ereifert sich. »Na, schau dich doch um! Guck doch, was in Berlin los ist! Da laufen die Nutten aus dem Osten vor den Kindergärten herum und die Drogendealer gehen auf die Schulhöfe, um den jungen Leuten Stoff zu verkaufen. So sieht das doch aus!«

»Und weil sie nicht genug Geld haben und das Leben in so einem Asylantenheim lausig ist, überlegen sie, wie sie an mehr Geld kommen können«, sagt Bertram. »Verstehst du? Die sehen unsere schönen deutschen Autos und unsere schönen deutschen Flachbildschirme …«

»Ich denke, die kommen aus China?«, fragt Linda.

»Aus Deutschland auch! Und die Kühlschränke, und die Klamotten!«

»Kommen die nicht aus Pakistan oder Indien?«, fragt Linda.

Lindas Vater bekommt einen roten Kopf. Er hasst es, wenn Linda ihm immer über den Mund fährt. »Die haben nichts zu tun, die schlendern den ganzen Tag durch die Stadt, schauen bei den Einwohnern in die Fenster, in die Gärten, sehen all das teure Zeug und denken, das wollen wir auch.«

»Genau«, sagt Lindas Mutter. »Und diese ganzen jungen Männer, vollgepumpt mit Testosteron, die belagern im Sommer unser Schwimmbad und grapschen die Mädchen an …«

»Selber schuld«, sagt Linda, »wenn die sich das gefallen lassen.«

Lindas Mutter drückt ihre Zigarette aus. Linda fuchtelt mit den Händen vor dem Gesicht, um den Rauch nicht abzubekommen.

»Ich hab nichts gegen Ausländer«, sagt Lindas Mutter. »Und diese Flüchtlinge, das sind ja arme Schweine, die haben alles verloren. So wie unsere Eltern nach dem Krieg. Das ist schon schlimm. Ich weiß ja, irgendwo müssen die hin. Aber wieso ausgerechnet zu uns? Nach Großwalde? Und das jetzt, wo wir so viel Geld in den Ausbau unserer Fremdenzimmer gesteckt haben?«

»Wo ist da der Zusammenhang?«, fragt Linda.

»Wir mussten einen Kredit aufnehmen«, sagt Lindas Vater empört. »Wenn wir den nicht pünktlich zurückzahlen können, bekommen wir ein Problem.«

Lindas Mutter fährt mit der flachen Hand immer wieder nervös über die Tischfläche, als wolle sie Krümel wegwischen. »Wir haben mit unseren Steuergeldern gerade die Altstadt saniert. Alles ist schön für die Touristen, damit sie hier Geld ausgeben, in den Hotels, in den Restaurants, in den Geschäften. Doch stattdessen kommen bettelarme Flüchtlinge und halten die Hand auf. Und wir Steuerzahler werden mal wieder zur Kasse gebeten. Es ist schon ein Graus, wenn man’s richtig bedenkt.«

»Und dann machen sie einem auch noch ein schlechtes Gewissen, wenn man mit vollen Einkaufstaschen an denen vorbeigeht«, sagt Lindas Mutter, »oder wenn man vom Friseur kommt.«

»Ich krieg beim Friseur kein schlechtes Gewissen. Ganz im Gegenteil. Das ist immer meine Sternstunde. Apropos …« Linda streckt die Hand aus. »Ich brauch dringend ein neues Styling. Könnt ihr das finanzieren? Kostet im Hairstudio nur fünfundvierzig Euro.«

»Nur fünfundvierzig Euro!«, krächzt ihr Vater augenrollend.

»Wieso willst du ein neues – wie sagst du? – ein neues Styling?«

»Weil diese Haare mich nerven. Seit Ewigkeiten schon.«

»Ewigkeiten lebst du aber noch nicht.« Wieder mal einer der Scherze ihres Vaters.

»Mann, Papi, hör doch mal zu. Diese blöden Haare hab ich von dir. Die sind so dünn. So glatt! Und ewig elektrisch.«

Ihr Vater grinst. »So sparen wir Strom.«

»Haha.« Linda wirft ihrem Vater einen vernichtenden Blick zu. »Mit denen kann man gar nichts anfangen. Ich sehe immer scheiße aus.«

»Kein Mensch sieht scheiße aus«, sagt Lindas Vater streng. Aber Linda denkt an Ceylans dicke Mähne, an ihre granatapfelrote Haarfarbe.

Aus irgendeinem Grund steigen ihr plötzlich die Tränen in die Augen. Sie spürt, dass die Eltern sie ansehen, dass sie auf irgendeinen Satz von ihr warten. Linda stammelt: »Es ist … wegen Dennis … wir … das heißt ich … ich habe heute Dennis gesehen.«

Ihr Vater lehnt sich vor und zieht seinen Geldbeutel aus der Hosentasche. Er blättert zwei Zwanziger hin. »So, den Rest zahlst du von deinem Taschengeld.«

»Danke«, murmelt Linda und greift hastig nach dem Geld.

»Was ist daran neu, dass du Dennis gesehen hast? Ihr seht euch doch jeden Tag«, sagt Lindas Mutter. Und zu Lindas Vater. »Du hättest nicht gleich das Geld zücken müssen. Du musst deiner Tochter nicht immer jeden Wunsch erfüllen, kaum dass sie den Mund aufmacht.«

»… mit Ceylan«, sagt Linda, die nicht auf die Worte ihrer Mutter geachtet hat. »Das ist eine Türkin. Die Tochter vom Kaya.«

»Ach, von den Kayas in der Reinigung? Das sind so nette, fleißige Leute!« Lindas Mutter runzelt die Stirn. »Oh, meine Jacke. Hast du zufällig daran gedacht, sie abzuholen?«

»Ja. Zufällig hab ich daran gedacht.«

Linda zwingt sich, nicht schon wieder an ihr Treffen mit Ceylan in der Reinigung zu denken.

»Oh, toll. Die will ich morgen anziehen.« Evi wirft ihrer Tochter eine Kusshand zu. »Danke, Schatz.«

Bertram schaut auf die Uhr, erhebt sich. »Nachrichten. Ich bin dann mal weg.« Er greift sich im Hinausgehen eine Bierflasche aus dem Kühlschrank und geht ins Wohnzimmer. Sekunden später geht der Fernseher an.

Lindas Mutter deckt den Tisch ab. Linda hilft ihr, verstaut Butter und Quark im Kühlschrank. »Was ist mit den Zwiebeln?«, fragt sie.

»Mit Folie abdecken und auch in den Kühlschrank«, antwortet ihre Mutter.

»Kommt mal her!«, ruft Lindas Vater aus dem Wohnzimmer. »Wir sind im Fernsehen.«

»Im Ernst? Ich komme!« Lindas Mutter wirft das Geschirrtuch auf die Anrichte und stürzt aus der Küche. Linda bleibt in der Tür zum Wohnzimmer stehen, lehnt sich an den Türrahmen. Das Fernsehen zeigt eine Reporterin vor dem Großwaldener Rathaus, einem mittelalterlichen Fachwerkbau. Sie ist dick eingemummelt. Schneeflocken wirbeln um sie herum. »Großwalde ist ein idyllisches Städtchen mit zehntausend Einwohnern«, sagt die Reporterin. »Hier lebt man noch in einer heilen Welt. Deutsche Gemütlichkeit.« Bilder von den zwei Restaurants am Alten Markt werden eingeblendet. In dem einen gibt es Pizzas, das andere hat vor Kurzem ein Grieche übernommen. Aber das weiß die Reporterin wahrscheinlich nicht. Sie plappert weiter.

»Der Bürgermeister und die Geschäftsleute setzen auf den Tourismus.« Der kitschige Eingangsbereich des Wellnesshotels mit dem Swarowski-Kronleuchter wird gezeigt. »Aber nun sollen ausgerechnet hier zweihundert der syrischen Flüchtlinge, die die Bundesrepublik aufnimmt, unterkommen. In einer ehemaligen Kaserne, für die es schon einen Abrissplan gab.« Schnitt auf die Kaserne, eine Kamerafahrt durch trostlose Flure, mit Einblicken in vergammelte Bäder.

»Hier sollen diese Leute, die all ihre Habe in Syrien zurücklassen mussten und nichts als dreißig Kilo Gepäck mitnehmen konnten, fürs Erste eine neue Heimat finden«, sagt die Reporterin.

Linda stößt sich vom Türrahmen ab. »Ich geh in mein Zimmer«, sagt sie.

Ihre Eltern schauen sie verblüfft an. »Interessiert dich das nicht? Das ist doch spannend! Zum ersten Mal ist unsere Stadt im Fernsehen und unsere Tochter guckt nicht hin?«

»Ich kenn das Rathaus«, sagt Linda. »Das muss ich mir nicht auch noch im Fernsehen angucken.« Sie geht in ihr Zimmer.

Plötzlich ist Linda froh, dass ihre Eltern nicht reagiert haben, als sie von Dennis und Ceylan erzählen wollte. Es ist besser so. Sie will nicht von ihren Eltern bemitleidet werden. Sie hat sich schon vor einiger Zeit vorgenommen, nicht mehr wie früher jede Sache mit ihrer Mama zu besprechen. Ihre Mutter sagt immer, sie möchte wie eine Freundin für sie sein. Sie benutzt Ausdrücke wie »Das ist der Hammer!« oder »supergeil« und hat einen ähnlichen Modegeschmack wie Linda. Linda geht gern mit ihrer Mutter shoppen. Einmal im Monat fahren sie nach Magdeburg, bummeln die Einkaufsstraßen entlang, probieren Klamotten an und gehen ins Café Neuner, wo es superleckere heiße Schokolade und Blaubeerpfannkuchen gibt.

Aber Evi Schütte ist eben keine Freundin, sie bleibt auf ewig ihre Mutter. Sie ist eine andere Generation, sie ist erwachsen, verheiratet und kann gar nicht mehr wissen, wie die erste oder zweite Liebe sich anfühlt, wie heiß man für jemanden schwärmen kann. Ihre Mutter hat einmal, als Linda noch ganz kurz mit Dennis zusammen war und sich jeden Tag furchtbar grämte, wenn sie ihn nicht sehen konnte, gesagt, dass sie Lindas Liebeskummer süß fände. Aber süß ist etwas anderes als tragisch. Linda findet Liebeskummer tragisch. Sie will nicht belächelt, sondern ernst genommen werden.

Sie fixiert das Fenster, das auf die Straße hinausgeht. Wenn Dennis die Einfahrt heraufkommt, wird sie seinen Schatten an der Gardine sehen können. Man sieht immer die Ankommenden, weil die Bogenlampe gegenüber aus jeder Person auf der Einfahrt ein Schattenspiel macht.

Dennis, wo bleibst du?

Vor siebzig Minuten hat sie mit Dennis telefoniert. Dennis brüstet sich damit, dass er in seinem ganzen Schulleben nie länger als eine halbe Stunde für Mathe gebraucht hat. Also: Was ist? Mit dem Fahrrad sind es von ihm bis zu Linda nicht mehr als zwanzig Minuten. Selbst bei Gegenwind höchstens fünfundzwanzig. Sagen wir eine halbe Stunde. Als er sie noch liebte, hat er es in zwölf Minuten geschafft.

Sie steht mit verschränkten Armen am Fenster. Es schneit nicht mehr, aber alles ist wie unter einer weißen Wolldecke. Ein Auto fährt vollkommen geräuschlos an ihrem Haus vorbei. Nur zwei dunkle Spuren bleiben im Schnee zurück.

Vielleicht ist er durch irgendwas aufgehalten worden?, denkt sie. Oder vielleicht hofft er, dass seine Mutter nach Hause kommt und ihn im Auto vorbeibringt.