Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
- Er lebte in einer Phantasie, nicht allein, sondern mit anderen, und das überall, wo ein leerer Platz sich in eine andere Welt verwandelte, in einen neuen Traum. Einen reisenden Traum. - Nach zehn Jahren Tourneelebens beim Circus kehrt Daniel zu seinem kranken Vater zurück, der seinen Lebensentwurf immer abgelehnt hat. In langen Gesprächen erzählt er ihm von der poetischen Welt des Circus, von der Vielfalt der Nationalitäten, und wie durch Toleranz und Zusammengehörigkeit ein gemeinsames Ziel erreicht werden kann.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 120
Veröffentlichungsjahr: 2025
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Unsere Geschichte, die wir erlebt haben, ist schon wahr, obwohl sie ein Traum ist, aber vielleicht kann sie nur wahr sein, weil der Träumende es nie für möglich gehalten hat, dass er nur träumt. So musst du unsere Geschichte vom Circus erzählen.
( Ein Freund während der Tournee )
Kapitel: 1
Kapitel: 2
Kapitel: 3
Kapitel: 4
Kapitel: 5
Kapitel: 6
Kapitel: 7
Kapitel: 8
Kapitel: 9
Kapitel: 10
Kapitel: 11
Kapitel: 12
Kapitel: 13
Kapitel: 14
Kapitel: 15
Kapitel: 16
Kapitel: 17
Kapitel: 18
Kapitel: 19
Kapitel: 20
Kapitel: 21
1
Die Einfahrt zum Haus sah schrecklich aus, überall wucherte Gras zwischen den Steinen und an den Rändern wuchsen sogar Brennesseln in die Höhe. Vor der Garage stand das alte Auto der Familie, ein blauer Ford, der genauso verwahrlost aussah wie das ganze Grundstück. Offenbar war sein Vater schon lange nicht mehr mit dem Auto gefahren.
Der Vorgarten war ebenso verwildert, die Hecke war seit langem nicht geschnitten worden, das Haus war eine graue Fassade mit gelben Gardinen vor den kleinen Fenstern und auf einigen Dachpfannen wuchs Moos.
Für einen Moment dachte Daniel an die Zeit, als das Haus seiner Eltern ein richtiges Schmuckstück in der Strasse gewesen war, mit Blumenbeeten im Vorgarten und sauberer Einfahrt.
Er selber sah sich als Junge in Sonntagskleidung auf dem frisch geschnittenen Rasen mit einem Ball spielen und seine Schwester trug ein weißes Kleid und weiße Söckchen.
Dann sah er im Vorgarten aber auch die ersten Schneeglöckchen. Sie drangen durch das Winterlaub, grün und weiß, und der Frühlingswind ließ das alte welke Laub in der Einfahrt aufwirbeln. Er suchte nach dem alten Haustürschlüssel in der Manteltasche, hielt ihn unschlüssig in der Hand. Dann beschloss er an der Haustür zu klingeln. Er hörte, wie der Klingelton im Inneren des Hauses ertönte. Wie gut er den kannte. Er hörte Schritte und dann stand seine Schwester Monika vor ihm.
Sie hatte sich kaum verändert, hatte vielleicht etwas zugenommen. Ansonsten eine recht hübsche Frau mit kurzen braunen Locken, was ihre burschikose Art betonte. Manchmal war sie schroff bis zur Abweisung. Sie und ihr Mann hatten zwei Söhne, die sich gerade in der Pubertät befanden.
Für ihn, für Daniel, und für seinen Lebensentwurf hatte seine Schwester immer nur nachsichtigen Spott übrig gehabt.
„Da bist du ja“, sagte sie. Sie sah müde aus, lächelte jedoch.
„Hallo“, sagte er und versuchte eine Umarmung, die ihm so halbwegs gelang. Er dachte an die beliebte Begrüssung beim Circus. Dort küsste man sich auf die Wange, nicht zweimal, sondern dreimal. Das hätte er bei seiner Schwester nie gewagt.
Im Hausflur roch es nach Hühnersuppe und es standen viele ausgetretene Schuhe herum. Da war noch die alte Garderobe mit den Jacken seines Vaters. Auf einer Ablage sah Daniel den Autoschlüssel.
Daniel stellte seine Reisetasche ab. Ihm fiel auf, dass er damals, vor zehn Jahren, genauso losgefahren war, mit einer einzigen Reisetasche. Mit dieser Tasche.
Er und seine Schwester gingen in die Küche. Auch hier hatte sich nichts verändert. Auf dem Küchenschrank lag allerdings ein kleiner Stapel von Papieren, die meisten der Briefe sahen amtlich aus. Ein Teller stand auf dem Tisch, daneben lag ein benutzter Löffel, eine zerknüllte Serviette.
„Hühnersuppe“, sagte Daniel, „du hast ihm deine Hühnersuppe gekocht.“
„Er mag sie immer noch.“
„Wo ist er? Schläft er?“
„Ja.“
Sie gingen aus der Küche hinaus ins Wohnzimmer. Der Fernseher lief, eine Quizsendung, halblaut. Auf dem fleckigen Glastisch stand ein halbvolles Trinkglas mit Orangensaft. Das Glas sah verschmiert aus. Seine Schwester schaltete den Fernseher aus. Schwaches Sonnenlicht drang durch die Jalousien und malte Muster auf den abgeschabten Teppich. Sie nahm das Glas und brachte es in die Küche.
„Ich habe noch nicht richtig aufräumen können. Und du hast ja gesehen, wie es draußen aussieht.“
Aus dem Schlafzimmer drang eine Stimme zu ihnen. Daniel zuckte etwas zusammen.
„Kommst du nicht? Wo bist du denn?“ rief die Stimme.
„Doch, ich komme gleich“, rief seine Schwester zurück. „Daniel ist gerade gekommen.“
Er stand vor einer Fotografie, die neben dem Hochzeitsfoto der Eltern in dem wuchtigen Wohnzimmerschrank stand. Es zeigte die ganze Familie an einem Sommertag vor dem ersten eigenen Auto stehen. Damals war es auch ein Ford gewesen - sein Vater blieb sein Leben lang bei einer Automarke - und das Blech leuchtete und blitzte für alle Zeit in der Sonne. Es war ein Sonntag und sie guckten alle stolz und glücklich.
Wie lange war das her, überlegte er, sicher dreißig Jahre. Denn damals gab es eine Zeit, da waren sie alle am Ort, und dort, wo sie waren, da gehörten sie hin. Es gab einen Winter, da fiel Schnee, selbst in ihrer grauen Industriestadt mit den Zechen, Fabriken und Kohlehalden, und sie holten ihre Holzschlitten aus dem Keller und zogen sie über die Bürgersteige bis zu der Kleingartenanlage, die etwas tiefer vom Bahndamm in einer Mulde lag, sodass sie einen kleinen verschneiten Hang hinunter rodeln konnten mit vielen anderen Kindern aus der Nachbarschaft.
Da waren im Sommer die Klettereien an den rostigen Teppichstangen auf dem Hinterhof, wenn sie in ihrer Einbildung an himmelhohen Schiffsmasten in die schwindelnde Höhe hinaufkletterten. Er schwang sich hinauf und ließ sich dann in die Tiefe fallen, ein unbesiegbarer Held.
„Und wie geht es dir?“ fragte er seine Schwester.
„Wie immer. Stress. Die Kinder, Bernd in der Firma, du weißt ja, er ist endlich Gebietsleiter geworden, und jetzt das mit Vater.“
„Was ist denn passiert? Du hast am Telefon von einem Unfall gesprochen.“
Beim Räumen der Einfahrt mit Besen und Schneeschieber sei es passiert, sagte seine Schwester, da sei der Vater gestürzt. Es hatte noch einmal Schneefall und auch Frost gegeben, spät im Februar, praktisch über Nacht.
Auf einem kleinen Buckel aus festem Eis war er ausgerutscht. Lang hingeschlagen. Wütend war er deswegen, hatte tagelang geschimpft. Er verstand einfach nicht, wie er auf diesem Stück Eis hatte ausrutschen können, das war doch idiotisch, fand er. Ausgerechnet ihm musste das passieren.
„Du kennst ihn“, sagte seine Schwester. Er wollte widersprechen, tat es aber nicht.
Als er aus dem Krankenhaus zurückkam, brauchte er Hilfe. Das konnte, wie sein Hausarzt meinte, vielerlei Gründe haben. Er war mit dem Kopf aufgeschlagen. Es klang, als spielte es keine Rolle, welche Gründe es hatte. Es würde wohl auch in absehbarer Zeit besser werden, sagte der Arzt.
„Jedenfalls will er etwas klären, glaube ich. Vielleicht das mit dem Haus hier und dem Grundstück, ich weiß es nicht genau“, sagte seine Schwester.
Er schwieg dazu. Er ging zum Wohnzimmerschrank und öffnete eine Schranktür. Es war die sogenannte Bar. Daniel betrachtete kurz die Schnapsflaschen, die sich in der rückwärtigen Spiegelwand der kleinen Bar vervielfachten. Unweigerlich musste er an die Familienfeste denken, wenn diese Bar geöffnet war und die Flaschen herausgeholt wurden. Korn und Gin, blauer Curacao, dessen Namen ihn immer von der Ferne träumen ließ, Brandwein für die Herren und Liköre für die Damen. Auf dem Tisch zahlreiche Schalen mit Salzgebäck.
Er schloß die Tür wieder.
„Nun, in zwei Wochen beginnt die nächste Tournee.“
Seine Schwester lächelte nur milde. Er sah ihr Lächeln und es ärgerte ihn. Warum konnte sie sein Leben und seine Verpflichtungen nicht ernst nehmen?
Jetzt lauschte er. Hatte sein Vater wieder gerufen?
Sie gingen beide in den Flur zurück. Seine Schwester betrat als erste das Schlafzimmer, dann folgte er. Es roch nach Medizin und Alter. Sein Vater lag wie leblos im Bett, beide Arme auf dem Federbett ausgestreckt.
Daniel wich für einen Moment zurück. Er hatte nicht mit dieser Veränderung gerechnet. Sein Vater war abgemagert und wirkte vollkommen kraftlos, der Mann, den er ganz anders in Erinnerung hatte. Er lag auf seiner Seite des Bettes wie schon sein halbes Leben lang, nur dass auf der anderen Hälfte des Bettes eine schwere, olivgrüne Decke lag, die ihre Mutter vor vielen Jahren gekauft hatte.
Daniel schaute sich schnell im ganzen Raum um. Auch der war unverändert, seit er ein Junge gewesen war.
„Hallo“, sagte Daniel leise. Sein Vater hob unmerklich und fragend den Kopf, als habe er eine Stimme gehört, die er nicht richtig zuordnen konnte. Seine Augen suchten die Decke ab.
„Es ist Daniel“, sagte die Schwester. „Es ist dein Sohn.“
„Daniel“, sagte sein Vater tonlos. Er hob die rechte Hand, zitterte, und ließ sie wieder sinken.
Daniel machte einen Schritt auf das Bett zu, konnte die Hand aber nicht ergreifen.
„Um sechs kommt noch Conny, die Pflegerin, wegen der Medikamente. So, ich muss los“, sagte seine Schwester. „Die Familie wartet aufs Mittagessen. Du hast ja meine Nummer.“
Kühl schaute seine Schwester ihn an, suchte sein Gesicht ab, als wollte sie etwas wiederentdecken.
„Ich könnte vielleicht mal vorbeikommen, nachmittags, wenn die Kinder da sind“, sagte Daniel. „Alle Kinder wollen doch etwas vom Circus hören.“
„Ja, vielleicht, mal sehen“, antwortete seine Schwester.
„Ich würde gerne mal kommen.“
„Ich habe den Rest von der Hühnersuppe in den Kühlschrank gestellt. Die reicht noch bis morgen. Sie reicht für euch beide. Wenn er aufstehen will, lass ihn ruhig.
Er schafft das, wenn auch langsam.“
„Okay.“
Daniel graute es etwas. Was sollte er machen, wenn etwas geschah? Wenn etwas mit dem alten Mann passierte? Wenn er wieder stürzte und hilflos vor ihm lag? Erriet Monika seine Gedanken? Sicher war sie froh, dass sie heimfahren konnte. Was glaubte sie, würde passieren, wenn er mit dem Vater allein war? Sollte das eine Prüfung sein?
Aber war sie nicht mal auf seiner Seite gewesen? Als sie jung waren. Hatte sie sich so sehr verändert oder lag es an ihm?
Er konnte ein Gefühl der Einsamkeit und des Neides nur schwer unterdrücken, als er sich vorstellte, wie sie zuhause von ihrer Familie empfangen wurde, umarmt und vermisst. Daniel kannte das nicht und daher hatte er häufig überzogen romantische und harmonische Vorstellungen vom Leben anderer Leute. Es kam in letzter Zeit häufiger vor, dass er nach der Arbeit durch die Strassen der fremden Stadt lief, in der sie gastierten, und in den erleuchteten Fenstern Menschen in einer Küche sah oder in einem Wohnzimmer sitzen. Auch wenn sie nur vor dem Fernsehen saßen. Es rührte etwas in ihm an. Er wusste nicht, ob seine Schwester etwas von dem fühlte, was ihn zurzeit aufwühlte.
„Hast du übrigens mal über Bernds Vorschlag nachgedacht?“
„Ja und Nein. Ich habe mich noch nicht entschieden.“
„Du wirst dich nie ändern.“
„Ich sag‘ ihm Bescheid. Auf jeden Fall.“
„Er will nur helfen. Es ist ihm sonst egal. Er bietet nur seine Hilfe an.“
„Ich weiß. Ich weiß das.“
Daniel fühlte die alte Unsicherheit.
Bernd…, ja, Bernd, dachte er.
Eine tolle Sache sollte es für ihn sein, seine Rettung, ein großes Ding für ihn. So hatte Bernd überschwänglich einen Job angepriesen, den er ihm, Daniel, in seiner Firma vermitteln wollte. Er würde dabei nur gewinnen können. Es klang alles sehr nach Bernd, aber auch ein wenig nach seiner Schwester, nach Monika, fand Daniel.
Er hatte Bernd im Januar besucht, während der Winterpause. Er hatte keine große Lust dazu gehabt, sogar einen regelrechten Widerwillen verspürt, und darum lange gezögert.
Am Rande der Stadt, in der Nähe der Universität, hatten sich neue Firmen angesiedelt oder ältere hatten sich dort eingemietet. Zu den letzten gehörte die Firma, in der Bernd arbeitete. Bernd hatte etwas mit Kundenberatung und Investitionen zu tun und fand, dass Daniel dafür gut zu gebrauchen war.
Sein Büro lag eindrucksvoll in einem modernen Glasbau, hoch über der Stadt gelegen. Es war ein grandioser Ausblick, das musste man sagen. Daniel konnte bis zu dem Viertel gucken, wo er als Junge aufgewachsen war. Es war früher ein graues Arbeiterviertel gewesen, alles einheitlich, die Mietshäuser mit ihren kleinen Wohnungen, die Hinterhöfe, die Autos, die Menschen. Die Väter waren Arbeiter gewesen und die Mütter Hausfrauen, die meisten ihr Leben lang. Sobald es möglich war, hatte Daniel das Viertel verlassen, um in der Nachbarstadt zu studieren.
„Es wird Zeit, dass du zurückfindest“, sagte Bernd, der Daniels Nachdenklichkeit offenbar als stumme Begeisterung für das Interieur seines Büros mit all den Lampen und Computern deutete.
„Meinst du? Ich weiß nicht.“
„Es wundert mich sowieso, wie lange du das ausgehalten hast. Du könntest wieder Fuß fassen.“
„Fuß fassen?“
„Ja, das kann doch nicht von Dauer sein. Das macht man doch nur aus Not. Vielleicht Abenteuerlust, okay. Aber das wahre Leben ist doch woanders.“
Daniel wusste, was Bernd meinte und es ärgerte ihn. Dennoch verstand er Bernd. Ein Circus brachte Männer dazu zu verschwinden. Er, Daniel, war weg. Er war irgendwie keiner mehr von ihnen. Es wäre anders gewesen, wenn er in eine andere Stadt gezogen wäre. Oder erkrankt, vielleicht sogar gestorben. Dann wäre er einer von früher gewesen. Einer von ihnen wäre er jedoch geblieben.
„Vielleicht bist du nicht einverstanden mit uns“, hatte seine Schwester später einmal zu ihm gesagt. „Dir kommt unsere Welt verkehrt vor. Manchmal habe ich den Eindruck, du duldest uns. Wie großzügig, gerade von dir. Du kannst mit den anderen nichts anfangen, aber mit dir selber kannst du auch nicht viel anfangen. Wie soll man denn leben? Weißt du es etwa?“
Er wusste darauf wirklich keine Antwort, konnte es selber nicht erklären. Es war wie ein langes Warten. Er schien immer auf etwas zu warten, auch wenn er mit anderen zusammen war, ganz so, als wartete er auf jemanden, der aber nicht kam.
„Ich rufe ihn an, Bernd, ganz sicher“, sagte er jetzt.
Seine Schwester nickte, beugte sich zu dem alten Mann hinunter und strich ihm über das Haar.
„Ich muss los. Daniel bleibt hier.“
„Daniel“, sagte der alte Mann wieder. Er schloss die Augen.
Daniel folgte seiner Schwester hinaus. Sie standen sich gegenüber.
„Okay“, sagte sie. „Wie gesagt, du hast meine Nummer.“
Seine Schwester ging schnell die Einfahrt entlang zu ihrem Auto. Daniel stand da und sah ihr hinterher. Er atmete die frische Luft tief ein. Sie war mild. Er fühlte sich besser, jetzt, da seine Schwester fort war.
Der Frühling, dachte er, steht der nicht immer für Aufbruch und Neuanfang? Die ewigen Kräfte der Schöpfung. Wieder ein Frühling, wieder ein Anfang. Und das Ende? Denk nicht dran, sagte er sich. Denk an den Frühling meinetwegen, sagte er sich. Und an die erste Stadt, in der du gastierst. Das war sein Leben geworden, davon war er überzeugt. Er ging langsam ins Haus zurück. Er schaute noch einmal ins Schlafzimmer, aber sein Vater hatte die Augen geschlossen und schien zu schlafen.
Jetzt bin ich da, dachte er, und was wird nun? Was soll aus uns allen werden?