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1967: Es ist die Zeit des Wirtschaftswunders, der Aufarbeitung des Dritten Reiches und der Studentenbewegung. Jasmin studiert Jura. Sie will Recht sprechen und ihren Teil dazu beitragen, dass Unrecht nie wieder zu Recht wird. Privat stellt sie der allgegenwärtige Slogan "Wer zweimal mit demselben pennt, gehört schon zum Establishment" auf eine harte Probe. Zwar lautet ihr gesellschaftlich-politischer Anspruch: "Raus aus der Spießigkeit des Kleinbürgertums! Niemand gehört irgendwem!" Doch das alles ist meilenwert entfernt von dem, was sie tatsächlich fühlt. Dann tritt Carlos in ihr Leben. Neue Fragen tauchen auf und ihre eigenen Defizite werden ihr urplötzlich schmerzhaft bewusst: Wer bin ich? Und wie um Himmels willen kann sie diese blöde Dunstglocke loswerden, die sie unablässig begleitet? Ist das alles nur Zufall? Ergibt alles überhaupt noch einen Sinn? Und wie hätte sie sich selbst in den Dreißigern und Vierzigern verhalten? Hätte sie weggesehen und später gesagt: "Davon haben wir nichts gewusst."? Jasmin sucht Erklärungen - wird sie diese finden?
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Seitenzahl: 403
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Für meine Kinder Aljoscha und Sarah
Zum Andenken an meine Großmutter Irmgard Taschenberger. Sie war im 2. Weltkrieg aktiv im Widerstand und daran beteiligt, verfolgten Menschen Unterschlupf zu ermöglichen.
Zum Andenken an meine Mutter, welche selbst gerne gedichtet hat und sich nicht so entfalten durfte, wie es ihr zugestanden hätte.
Zum Andenken an meinen Vater, mit dem ich mich noch vor seinem Tod innig versöhnen durfte.
Zum Andenken an meinen Bruder Lutz, er war seelisch zerbrochen. Allerdings wollte er sich keine Hilfe holen und ist deswegen viel zu jung aus dem Leben gegangen.
Ich bedanke mich ganz herzlich für den Beistand, das Korrekturlesen und das Aufmuntern bei meiner Tochter Sarah, meiner Freundin Ingrid und ganz besonders bei meiner Theater-Freundin Anna. Sie war die Erste, die mein Manuskript mit viel Liebe und Akribie korrigiert hat. Ihre konstruktive Kritik und Resonanz haben mir besonders viel Mut gemacht.
Wir müssen auf die Stimme unserer Seele hören, wenn wir gesunden wollen.
Letztlich sind wir hier, weil es kein Entrinnen von uns selbst gibt.
Solange wir uns nicht selbst in den Augen und Herzen unserer
Mitmenschen begegnen, sind wir auf der Flucht.
Solange wir nicht erlauben, dass unsere Mitmenschen an unserem Innersten teilhaben, gibt es keine Geborgenheit.
Solange wir fürchten durchschaut zu werden, können wir weder uns selbst noch andere erkennen - solange bleiben wir allein.
Hildegard von Bingen
Berlin-Schöneberg, 10.10.1967
Vier Monate zuvor, 2. Juni 1967
Die Fahrt nach Braunschweig
Bei Sabine in Braunschweig, 2.6.1967, abends
Rastplatz Michendorf, Intershop, 3.6.1967
Begegnung mit Irina, 4.6.1967
In der Uni, 5.6.1967
Anruf bei Frank, 5.6.1967
Carlos, 10. bis 11.6.1967
Sonntag, 11.6.1967, 11 Uhr
Berlin-Besichtigung am 11.6.1967
Wiedersehen mit Frank, 16.6.1967
Franks Teufelskreis, 17.6.1967
Jasmin im Café, 17.6.1967
Jasmin ist eingeladen / Carlos kocht, 20.6.1967
Sabine und Matthias im Streit, 20.6.1967
Frank und die Natur
Das Wochenende, 8. und 9.7.1967
Jasmins Spionage, 17.7.1967
Das Geheimnis lüftet sich, 22.7.1967
Im Korridor, 30.7.1967
Am Wannsee, 31.7.1967
Telefonat mit Carlos, 8.8.1967
Carlos im Appartement
Irinas Leben wird sich verändern
Carlos
Sabine und Matthias
Carlos und Jasmin, 9.8.1967
Jasmin bei der Drogenberatung, 14.08.1967
Martin
In der Roten Ritze, 18.8.1967
In Franks WG
Treffen mit Carlos, 25.8.1967
23.8.1067
Frank, 28.8.1967
Abschied von Carlos, 31.8.1967
Jasmins dritte Therapiesitzung , 4.9.1967
Jasmin in der Studentenbewegung, 15.9.1967
Vormittags, 20.9.1967
Bei Franks Eltern, nachmittags
WG-Essen mit Bernd, 26.9.1967
Im Grunewald mit Martin, 30.9.1967
Braunschweig, nachtmittags
Wieder in Berlin
In der Roten Ritze, 01.10.1967, 20 Uhr
5.10.1967
Jasmins erster Eintrag
Tagebuch, 6.10.1967
Sabine taucht auf, 7.10.1967
Carlos’ Flug nach Berlin, 8.10.1967
Carlos kommt aus Argentinien
Sitzung bei Frau Ludwig, 12.10.1967
Tagebuch, 13.10.1967
Martin, 15.10.11967
Treffen mit Irina, 16.10.1967
Treffen mit Irina
Anruf von Franks Vater, 17.10.1967
Irina besucht Jasmin, 18.10.1967
Martin, 19.10.1967
Tagebuch, Timmendorfer Strand, 21.10.1967
Sabine taucht wieder auf, 22.10.1967
Tagebuch, 23.10.1967
24.10.1967 bei Martin
Das Schließfach
Die leuchtenden Farben der Sträucher und Bäume im Berliner Volkspark Schöneberg zeigen an diesem Herbsttag ihre besondere Pracht. Mit etwas Fantasie könnte man denken, sie wären mit Goldenem Honig und Rote-Bete-Saft bemalt.
Gleich daneben das Schöneberger Rathaus, in dem der unvergessene US-Präsident John F. Kennedy Präsident der Vereinigten Staaten, damals, im Juni 1963, seine legendäre Rede mit dem Satz »Ich bin ein Berliner«, beendet hatte.
Während die Spaziergängerin das Lied »La Poupée qui fait non« laut vor sich hinsingt, schließt sie genüsslich ihre Augen, reckt ihren Kopf in Richtung Himmel, um die letzten warmen Sonnenstrahlen auf sich wirken zu lassen. Der Hauch ihres Atems ist in der klaren Kälte bereits sichtbar. Der heiße Sommer 1967 hat sich längst verabschiedet.
In dieser besinnlichen Stimmung erblickt sie einen sonnengebräunten Mann mit ledernem Cowboyhut, der an einem Band um seinen Hals hängt. Er sitzt schief auf einer Bank. Beim Sitzen muss er umgekippt sein. Erschrocken betrachtet sie ihn genauer, um zu eruieren, ob er tot ist oder nur seinen Rausch ausschläft. Vorsichtshalber benachrichtigt sie die Polizei. Nachdem sie ihre Personalien angegeben und sich vom ersten Schock erholt hat – der Mann ist wirklich tot! – darf sie weitergehen.
Die Beamten können zunächst die Identität des Mannes nicht ermitteln. Er hat keine Papiere bei sich, dafür aber ein zerknülltes Flugblatt in seiner Hosentasche, das eventuell später einen Hinweis auf seine Herkunft geben könnte. Ist es Mord oder Selbstmord? Die Todesursache muss noch ermittelt werden.
Immer wenn sie bis spät in die Nacht an Recht und Politik, kurz RUP, arbeiten, übernachtet Jasmin bei Katja. Nach diskussionsträchtigen Auseinandersetzungen, wenn alle müde und dennoch mit dem Abschluss zufrieden sind, wird auf die neue Ausgabe der Zeitschrift mit Rotwein angestoßen. Das gehört zum Ritual. Es bedeutet: Wir haben es wieder einmal geschafft. Katja lässt sich dabei auch diesmal nicht lumpen und bringt ihre Kristallgläser, die sie von ihrer Oma geerbt hat, mit einem süffisanten Lächeln zum runden Küchentisch. »Fehlt nur noch die Häkeldecke«, kommentiert Andreas. Alle lachen. Nach dem kontroversen Meinungsaustausch der letzten Stunden wollen sie die Schaltstellen im Gehirn neu konfigurieren und einfach nur Spaß haben. Einige hauen sich mit voller Wucht auf ihre Schenkel, um ihr Lachen noch zu bekräftigen. »Es lebe die Spießigkeit«, posaunt Heinz in die Runde.
Augenscheinlich besteht bei allen das Bedürfnis, ihre massiven Worte, die sie sich in der Hitze des Gefechts eben an den Kopf geworfen haben, durch Heiterkeit wieder auszulöschen. Sie werfen sich die Witze regelrecht zu, falten Papiertauben und lassen sie in der Küche hin und her fliegen. Es herrscht ausgelassene Stimmung. »Pass bloß auf! Morgen kommt der Schah und holt dich«, ist das Bonmot der Nacht. Der Zigarettenqualm hängt wie Nebel in der Küche und mischt sich mit Haschischaroma. »Was für ein herrlicher Geruch«, scherzt Jasmin und reicht grinsend einen Joint weiter, ohne selbst daran zu ziehen. Vor einem Jahr hat sie vom Kiffen einen heftigen Flash bekommen und alles nur noch durch einen milchigen Tunnel wahrgenommen. Mehrere Tage lang rührte sie keine Zigarette mehr an. Sie hatte panische Angst davor, wieder in diesen Zustand zu kommen, obwohl sie wusste, dass das Blödsinn war. Erst viel später erfuhr sie, dass ins Haschisch Opium gemischt worden war. Da wurden herkömmliche Glimmstängel wieder zu ihrer ersten Wahl. Heute erledigt der Rotwein seine Aufgabe und Jasmin entspannt sich auch ohne zusätzliche Drogen. Stunden später radeln alle nach Hause, außer den drei anderen Mitbewohnern natürlich. Sie diskutieren immer noch miteinander. Jasmin und Katja sind vollkommen erschöpft und gehen schlafen. Sie sind nicht wirklich miteinander befreundet. Allerdings hält Jasmin das Übernachten auf Katjas Couch für eine bessere Lösung, als angetrunken mit ihrer roten Ente nach Kreuzberg zu düsen. Den Wagen hat sie sich aus dem Geld der Erbschaft ihrer Mutter geleistet, um öfter zu ihrer Schwester nach Braunschweig fahren zu können. Ihr liegt viel an dem Miniauto. Jasmin will es daher nicht in Gefahr bringen, sich selbst natürlich ebenfalls nicht. Und mit dem Rotwein im Blut spürt sie die Federn im Sofa kaum, die sie ab und zu in den Rücken kneifen. Dennoch wird die Nacht turbulent. Jasmin fällt beinahe von der Federkerncouch.
Der Nierentisch mit der großen Teekanne darauf hat sie aufgeschreckt, als ihre Arme die Kanne treffen. Obwohl aus dem Schlaf gerissen, kann sie sie dank ihres schnellen Reaktionsvermögens noch auffangen. Zu dieser für sie ungewöhnlich frühen Morgenstunde torkelt sie barfuß und verkatert in ihrer taillenlangen knallroten Bluse, mit der sie nur in Unterhose übernachtet hat, in die Küche. Sie sieht blass aus. Ihre schlanken und außergewöhnlichen langen Beine sind zarthellrosa, sodass man sie mit einer Porzellanpuppe vergleichen könnte. Ihre zierliche Gestalt wirkt entsprechend zerbrechlich. Auch Katja ist schon auf den Beinen und begrüßt sie erstaunlich munter. Sie zeigt in diesem Moment ihre dominante Seite, die für Außenstehende entweder Halt oder Unsicherheit auslöst. »Willst nen Kaffee? Hab gerade einen aufgegossen. Musst nur noch kurz warten. Leider ist nichts weiter im Kühlschrank, was ich dir zum Frühstück anbieten könnte. Ich muss heute unbedingt einkaufen gehen.«
»Gerne, Kaffee wäre echt jetzt meine Rettung. Mein Schädel brummt. Ich frühstücke später zu Hause mit Irina. Wir sehen uns ja gleich wieder auf der Demo. Du kommst doch, oder?« »Ja, klar, ich glaube, heute wird es ziemlich hoch hergehen. Kommt Frank auch?«
»Vielleicht. Er weiß noch nicht, ob er mitkommen will. Wir telefonieren gleich. Gestern ist er mit Irina in unserer WG gewesen. Sie mussten ein Referat über ökologische Politik schreiben. Vielleicht hat sie ihn schon gefragt. Das werde ich nachher erfahren.«
Jasmin nimmt ihre übliche Position ein. Ihre Füße stehen auf dem Stuhl, sie umarmt ihre angewinkelten Beine, schmiegt den Kopf auf ihre Knie und wiegt sich hin und her.
»Wie geht es dir eigentlich, wenn die beiden so oft zusammenhocken? Bist du da gar nicht eifersüchtig?«
Diese Frage kann eigentlich nichts Unangenehmes bewirken. Katja kann doch fragen! Warum auch nicht? Doch, der Ton macht die Musik! Für Jasmin klingt Katjas Frage jedenfalls befremdlich, ja sogar etwas gehässig. Ihre Stimme schwingt eine Oktave höher als sonst. Was soll diese plötzliche Neugier? Jasmin ist fassungslos, ihr Gesicht glüht. Krampfhaft versucht sie, Haltung zu bewahren. Ärger brodelt in ihrem Bauch. Um ihre Gedanken zu ordnen, runzelt sie die Stirn und stellt schlagartig ihre Füße auf den kalten Küchenboden. Die erhoffte Standfestigkeit bekommt sie nicht, eher das Gegenteil: Sie ist wackelig auf den Beinen, ihr Gemüt ist in einem Zustand, den sie überhaupt nicht leiden kann.
Katja stellt die Kaffeekanne gerade mit leichtem Schwung auf den Tisch. Sie soll das auf gar keinen Fall merken. Übertrieben verwundert antwortet sie daher: »Katja, das aus deinen Mund? Du bist doch diejenige, die sagt, niemand gehört jemandem!« Gerne würde sie ganz anders auf Katjas Frage reagieren können, nämlich mit einer anderen Gegenfrage als die sie eben gestellt hat, sondern: Wieso fragst du? Sie könnte ihr preisgeben, dass der Ton sie irritiert hat! Unsicherheit und Angst bringen sie allerdings diesbezüglich zum Schweigen, zum Rechtfertigen und Erklären! Wieso eigentlich? In solch einem Moment, wo sie nicht weiß, warum sie verstummt, fühlt sie sich feige und verleiht ihrer inneren Stimme kein Gehör. Eigentlich besitzt sie diese Fähigkeit, das weiß sie. Doch am liebsten möchte sie sich jetzt sofort in Luft auflösen. Sie bezweifelt an sich, ob sie sich jemals für sich wird einsetzen können. Für andere Menschen klappt das indes wunderbar. Da ist sie klar und besitzt Durchsetzungskraft, so wie in den politischen Diskussionen. Dieses Dilemma erfährt sie immer und immer wieder. Wenn in Gesprächen alles eindeutig zweideutig ist, könnte sie auf die Palme gehen. Stattdessen starrt sie in sich gekehrt auf den Boden. Auf der Palme könnte es schließlich stürmen und sie glaubt, das nicht aushalten zu können. Nur jetzt keine Dunstglocke bekommen, hofft sie inständig! Sie kann es überhaupt nicht leiden, wenn sich dieser neblige Dunst über ihrem Kopf ausbreitet, sie nicht mehr klar denken und reden kann. Jetzt bleibt dieser Zustand glücklicherweise aus, obwohl sie weiterhin davon überzeugt ist, in Katjas Worten unterschwellige Feindseligkeit wahrzunehmen. »Ja, klar, aber ich kann eben auch gute Sprüche machen, trotzdem …« Katja blinzelt mit dem linken Auge, so als ob sie damit betonen will, dass ihre Antwort nur ein ironischer Scherz ist. Nur weswegen? Hinzu kommt: Dieses eigenartige Zwinkern findet Jasmin so komisch, dass sie sich das Lachen krampfhaft verkneifen muss. Stattdessen hustet sie trocken und hält die Hand vor den Mund. Gleichzeitig könnte sie vor Ärger platzen. Krampfhaft versucht sie zu erkennen, weswegen sie mit ihr so umgeht. Sie zu fragen, wäre die einzige richtige Reaktion. All das ist Jasmin schon bewusst. Doch sie steckt fest und fühlt sich wie gelähmt. Und gleich nach der Zwinkershow gibt es schon die nächste Mimik zu durchleuchten. Katja schaut Jasmin mit geschlossenem und grinsendem Mund an, ihre Gehässigkeit springt dabei regelrecht aus ihren Pupillen heraus. Katjas schwarze Locken, noch ungekämmt, die sie für gewöhnlich gekonnt toupiert, um damit ihr rundes hübsches Gesicht hervorzuheben, hängen über ihren dunklen Augenbrauen und geben dem fragenden Blick etwas Gruseliges. In Momenten wie diesen weiß Jasmin das Gefühl mehr denn je zu schätzen, dass sie bei Irina hat, wenn beide zusammensitzen und sich stundenlang über Gott und die Welt unterhalten. Damals wie jetzt ist Irina ihre einzige wirkliche Freundin. Sie ist die Einzige gewesen die damals nicht über sie gelästert und sie wirklich verstanden hat, wie schwer es für sie gewesen ist, sich in die neue Klasse einzuleben – nachdem sie mit ihrer Mutter, Jasmin war gerade fünfzehn Jahre alt, von Ost- nach West-Berlin gegangen war. Es war ein Kulturschock für sie. Allein die Pause auf dem Schulhof stellte eine so vollkommen neue Erfahrung für sie dar: kein diszipliniertes Laufen im Kreis wie in Ostberlin, kein Warten, bis man an der Toilette vorbeikam, um endlich seine Blase entleeren zu dürfen. Das bunte Hin- und Herrennen der Schüler war ihr allererster Eindruck, als ihre Mutter sie in der Röntgen-Oberschule in Neukölln anmeldete. Nachdem im nächsten Jahr, 1961, die Mauer gebaut worden war, konnte sie ihre beiden Freundinnen in Lichtenberg nicht mehr besuchen.
Es war für sie ein einschneidender Verlust. Zunächst versuchten sie noch, den Kontakt mit Briefen zu halten, doch er schlief mit der Zeit ein. Und als Krönung ihres Traumas kam noch hinzu, dass sie unsterblich in Christian aus der Parallelklasse verliebt war, der ihr in den letzten Wochen seine Zuneigung ebenfalls gezeigt hatte. Mit besonders frechem Lächeln begrüßte er sie, wenn sie sich zufällig im Schulgebäude trafen. Jedes Mal bekam sie dabei Herzrasen und weiche Knie, sodass sie schwankte und befürchtete, er könnte es sehen. Eine Erleichterung hat der Umzug für sie jedoch gebracht, denn hier hat sie kein Pioniertuch mehr tragen müssen. Denn so etwas gibt es in West-Berlin nicht! Fast jedes Kind in der DDR ist ein Pionier, das gehört zum Schulalltag einfach dazu. Jasmins Mutter hat nicht gewollt, dass ihre Töchter im Sinne des sozialistischen Staates instrumentalisiert werden, es hat für sie etwas wie die Hitlerjugend. Aus diesem Grund haben beide Töchter nicht ihre Erlaubnis bekommen, Pionierin zu werden. Deshalb hat Jasmin als Einzige in der Klasse kein Pioniertuch getragen, – für sie äußerst unangenehm! Sehr gerne hätte sie auch solch ein blaues und später ein rotes Tuch um den Hals gehabt, ohne ist sie immerzu eine Außenseiterin gewesen. »Seid ihr bereit?«, fragte der Lehrer jeden Morgen. Dann hielten die Schüler ihre Hände schräg über den Kopf und riefen: »Allzeit bereit!« Trotz ihrer zwei Freundinnen fühlte sie sich nie dazugehörig. Denn bei den Pioniertreffen durfte sie ja nicht mitmachen. Und nun musste sie urplötzlich jeden und alles verlassen: die Sehnsucht, endlich dazuzugehören und auch eine Pionierin zu sein, die Sehnsucht nach einem Kuss von Christian. In den kapitalistischen Westen zu ziehen, war ihr ein Gräuel und sie verstand ihre Mutter nicht: Nur wegen einer neuen Wohnung ohne Außentoilette und mit einem Zimmer mehr in den Westen? Für Jasmin war es ein schlimmer Wechsel in ihrem Leben. Nächtelang weinte sie heimlich, denn sie wollte ihre Mutter nicht mit ihrem Kummer belasten. Die stemmte schließlich alles ganz allein ohne Mann. Jasmin nahm sie oft als nervös und überfordert wahr. Sie wollte sie bloß nicht aufregen, denn sie war krank und musste Herztabletten nehmen. Heute kann Jasmin nur mit Irina und neuerdings auch mit Frank über ihre Unsicherheiten sprechen. Jasmin mag Katja nur bis zu einem bestimmten Grad. Das Thema Frank ist ihr Anlass, ihren Kaffee so schnell wie möglich auszutrinken, um gehen zu können.
»Katja, ich bin viel zu müde, um darüber zu sprechen. Irina und Frank kennen sich schon seit Jahren und sind eben wirklich gute Freunde. Da ist nicht mehr!«
»Na, ich wäre da ja ziemlich skeptisch. Aber das musst du wissen.« Wieder klingen für Jasmin Katjas Worte, als ob ihr ein langes Messer in die Brust gerammt würde. In ihrem Magen macht sich ein flaues Gefühl breit, das garantiert nicht mehr vom Rotwein herrührt. Doch Jasmin ärgert sich mehr über sich selbst als über Katja. Stumm starrt sie auf den Fußboden und will nur noch weg.
Bislang hat sie noch nie auch nur einen Moment darüber nachgedacht. Jetzt allerdings blitzt in ihrem Kopf ein Misstrauen auf. In ihrem Inneren leuchten Bilder auf: Ja, sind da nicht schon öfter Blicke von Irina mit einem besonderen Strahlen in ihren Augen in Franks Richtung gewesen? Jasmin weiß, dass Irina gerne Typen abschleppt und deswegen oft nachts nicht nach Hause kommt. Bis jetzt hat sie gedacht, Irina sei gut versorgt. Welch ein absurder Gedanke im Nachhinein! Irina äußerte sich stets amüsiert über ihre Eskapaden. Dass sie sich nach einer wirklichen Liebesbeziehung sehnte, war nie von ihr zu hören. Hatte Jasmin sich getäuscht? Gab es da doch noch etwas, was sie sich gegenseitig nicht anvertrauten? Sie nimmt ihre Tasse und spült sie ab, legt sie umgedreht auf die Spülablage und dreht sich zu Katja um. »Ich werde dann mal gehen. Danke für den Kaffee.«
»Gerne, aber die Tasse kannst du auch gleich abtrocknen, da ist das Handtuch am Haken. Ich habe nämlich die Weingläser vorhin alle schon gespült, die vollen Aschenbecher geleert, die Küche sauber gemacht. Ist dir das nicht aufgefallen?«
»O nein, habe ich nicht gemerkt, ist das sehr schlimm?«, gibt sie zurück.
Ihre spöttische Antwort gibt Jasmin wieder Selbstbewusstsein. Allerdings wird sie damit ihrem Anspruch, offene Gespräche zu führen, nicht gerecht. Ganz im Gegenteil: Jasmin teilt nun ebenfalls aus.
»Ist schon gut, wollte es nur gesagt haben. Habe ich auch wirklich gerne gemacht.«
Jasmin nimmt ihr das sogar ab und schaut sie mit einem zustimmendem Nicken an, ohne zu verraten, ob sie ihr Beifall zollen will oder nicht. Sie nimmt die Tasse mit den blauen Streifen an der Seite wieder zur Hand, ergreift das Handtuch und poliert sie innen und außen, als ob sie einen Preis für die sauberste Tasse bekommen möchte. Jasmin ist eine Kämpfernatur. Schließlich studiert sie Jura. Sie ist eine attraktive zierliche junge Frau von zweiundzwanzig Jahren. Ihre ausgesprochene Wortgewandtheit setzt sie in politischen Diskussionen selbstsicher und ungewöhnlich gewinnbringend ein. Diese Kombination ist besonders anziehend. Und wenn sie dann in der Uni den Flur entlang stolziert, wirkt sie durch das Schwingen ihrer Hüften majestätisch und vornehm. Das macht sie so dezent, dass man glauben könnte, sie trage eine beneidenswerte Leichtigkeit in sich. Ihre langen blonden Haaren lässt sie meist offen im Wind flattern. Ohne ihren geliebten bunten Beutel geht sie nicht aus dem Haus, obwohl er auch schon arg verschlissen ist.
Ihre Schwester Sabine hat ihn ihr zum achtzehnten Geburtstag selbst genäht. Scherzhaft hat sie einmal angekündigt, den nehme sie noch mit ins Grab. Denn er ist ein besonderes Geschenk für Jasmin. Ihre Uni-Unterlagen verstaut sie stets in einem Schulranzen aus den Fünfzigern. Sie liebt es, Maxikleider und Röcke zu tragen, darüber enge Oberteile, wodurch ihre kleine Brust dezent und erotisch zur Geltung gebracht wird. Ihr Auftritt scheint perfekt. Kaum jemand ahnt, dass sie sich unentwegt anstrengt, ihr Gesicht zu wahren. In ihr tobt oft ein Vulkan der Zerrissenheit. In bestimmten Situationen zu verstummen, hat sie sich nie vorgenommen, vielmehr ist da etwas in ihr, das sie nicht greifen kann. Dann bekommt sie plötzlich unberechenbar und unerwartet einen Gefühlsausbruch, der mit Heulen oder Schimpfen einhergeht. Dabei kann es auch schon mal passieren, dass sie Türen zuschlägt und Tassen wirft. Anschließend kommt der Katzenjammer, sie schämt sich und möchte im Erdboden verschwinden.
Geh in die Ecke und schäm dich, schießt es ihr dann durch den Kopf – die oft verhängte Strafe in ihrer Grundschulklasse. Sie war damals nie davon betroffen, denn das wäre ihre größte Pein gewesen. Auch damals strengte sie sich schon sehr an.
Doch auch jetzt scheint sie sich im Griff zu haben; die Tasse bleibt ganz und sie will auch nachher keine Türen zuschmeißen.
Sie holt ihren langen schwarzen Batikrock aus dem Zimmer, zieht ihn in der Küche an, schlüpft in die Jesuslatschen, kämmt sich und bindet sie sich zum Zopf. Dann dreht sie den quietschenden Wasserhahn auf, lässt das kühle Nass über ihre Finger gleiten, um sich etwas frisch unter den Augenrändern zu machen. Die Wimperntusche von gestern ist weg, ihre grünen Augen leuchten auch ungeschminkt. Erschrocken bemerkt sie ihre Gesichtsblässe, klatscht mit den Händen auf ihre Wangen. damit sie frischer und gesünder aussehen. »Vornehme Blässe«, hat ihre Schwester sie oft geneckt. Ihre Anämie möchte sie unbedingt loswerden. Doch bei dem Gedanken wird ihr speiübel, da ihr Arzt ihr empfohlen hat, rohe Leber zu essen. Da nimmt sie doch lieber weiterhin Eisentabletten.
Blutleer und jetzt auch noch emotional verkatert – da fängt der Tag ja gut an, urteilt sie.
Am liebsten würde sie heute baden gehen, es wird heiß. Doch die Demo geht vor. Vielleicht danach mit Frank zur Krummen Lanke? Diese Vorstellung zaubert ihr kurz ein Lächeln aufs Gesicht.
Beim Abschied umarmen sich Katja und Jasmin. Es ist nicht ganz falsch anzunehmen, dass beide die Stimmung der jeweils anderen tief in sich einsaugen.
Wie immer wird beim nächsten Treffen alles wieder freundlich zugehen und kein Wort wird noch über das Gespräch von heute fallen. Das Studium ist der Bezugspunkt. So will Jasmin das für sich sehen.
Auf dem Weg zu ihrer Ente ruft Katja noch aus dem Fenster: »Lass uns nachher telefonieren wegen des Treffens auf der Demo!«
»Ja, ist in Ordnung.«
Mehr Verbindlichkeit will Jasmin jetzt nicht äußern. Sie parkt ihr Auto direkt vor der Haustür.
Beim Aussteigen kriecht Ärger in ihr hoch und sie spürt, dass Katjas Spitzen Spuren hinterlassen haben. In diesem zermürbenden Zustand schließt sie die Tür zu ihrer WG auf. Als sie die Küche betritt, schlägt ihr ein aufdringlicher Geruch entgegen. Obwohl das Küchenfenster weit offensteht, stinkt es unangenehm nach Roth-Händle-Rauch und nach Alkohol. Im Ausguss entdeckt sie zwei Whisky-Gläser. Sie ist aufgewühlt, ihr schwant nichts Gutes. Ist Katja etwa hellsichtig?
»Was ist denn hier geschehen?«
Sie hastet zum Fenster und schiebt den Vorhang zur Seite. Er ist, um leere Flaschen verstauen zu können, unter dem Fensterbrett mit Reißzwecken festgemacht.
Dort verbirgt sich das Corpus Delicti: eine leere Whisky-Flasche »Four Roses«, Franks Lieblingsmarke.
Ein Häufchen Elend Irina, eigentlich eine schöne große Frau, sitzt im flauschigen knallroten Morgenmantel, der ihren üppigen Busen nicht ganz verdeckt, am Küchentisch. Mit ihren großen rehbraunen Augen starrt sie zu Jasmin und hofft, dass irgendeine Fee kommen möge und sie erlöst. Soll Jasmin diese Fee sein? Nein, das wird sie ganz bestimmt nicht! Doch sie erkennt schlagartig, dass Schuld auf Irinas Schultern lastet. Sie hofft allerdings inständig, dass sie sich täuscht und alles nur ein böser Traum ist, aus dem sie gleich erwachen wird.
Irina ist stumm und bringt nicht mal eine Begrüßung aus sich heraus. Sie wartet ab, bis es knallt; sie weiß, es wird knallen, und zwar heftig. Sie hat keine Angst davor, denn es wäre ihre Rettung, um das aufgestaute Gefühl loszuwerden, doch gleichzeitig das Ende einer wunderbaren Freundschaft.
Jasmin schießen wieder Katjas Fragen durch den Kopf. Irinas Unwille, sich ihr gegenüber zu äußern, erlaubt ihr augenblicklich keine andere Möglichkeit, als selbst vorzupreschen.
»Hast du was mit Frank? Hat er hier übernachtet? Ich habe spät bei ihm angerufen und er war noch nicht zu Hause. Als ich dich angerufen habe, um dir Bescheid zu geben, dass ich wieder bei Katja übernachte – war er da noch da?«
Kreidebleich ringt Irina um Worte. Sie will schnell etwas Kluges sagen, doch kann augenscheinliches Lügen Jasmin auf der Stelle misstrauisch werden lassen.
Dabei erwischt zu werden, ist für sie urplötzlich eine Alternative, um sich an das Geschehene der letzten Nacht heranzutasten. Also könnte sie ihr eigentlich reinen Wein einschenken. Allerdings hat sie Frank versprochen zu schweigen: Es sei doch nur Sex und weiter nichts – obwohl somit die Freundschaft zwischen ihnen drei … ja, was hat Frank noch gemeint?, überlegt Irina und hört sein lautes Lachen in sich widerhallen: Wer zweimal mit demselben pennt …
Nein, Irina will sich nicht dahinter verstecken. Doch was kann sie jetzt noch kitten? Unaufgeräumt und unerwartet schießt es aus ihrem Mund: »Ach, das ist von Bernd, der hatte Besuch.« Sehr wohl weiß sie, dass diese Erklärung völlig absurd ist. In dieser schmerzhaften Situation findet sie sich äußerst lächerlich, dass sie so eine blöde Ausrede präsentiert.
»Du lügst! Soll ich ihn fragen?«
»Nein! Der schläft doch noch.«
Jetzt könnte sie doch reden, überlegt sie, Angst große Angst überfällt sie.
Sie schweigt wieder und lässt den Kopf hängen. Jasmin spürt, wie sich die Lüge wie eine Schlange gemeinsam mit Katjas bohrenden Sprüchen in sie hineinfrisst und sie mit dem Gift des Betrugs tötet. All das, was sie vor ein paar Stunden nicht einmal mit nur einen Funken erahnt hat, scheint in dieser Küche nun regelrecht in ein Feuerwerk zu explodieren. Der Esstisch mitten im Raum riecht eigenartig. Haben sie es auf dem Tisch getrieben?, schießt es ihr durch den Kopf. Der Kaffeegeruch kann es nicht übertünchen und ihrer Freundin Irina muss es die Stimme verschlagen haben. Mit zusammengekniffenen Augen und spitzem Schmollmund versucht Jasmin, sich zu konzentrieren. Sie sieht aus, als ob sie sich auf eine Attacke vorbereiten würde. Augenblicklich möchte sie jegliche Ohnmacht in sich verbannen. Sie will schnell aus dieser Nummer heraus und eine Erklärung finden, damit es nicht so wehtut. Noch ist sie in unbarmherziger Klarheit, von der auch Irina weiß, dass ihr niemand das Wasser reichen kann. Bis Jasmin das Wasser des Lebens zulässt und ihre Tränen fließen dürfen, muss schon einiges passieren. Sie kann sich gerade dann erstaunlicherweise gut über Wasser halten. »Ich glaube dir nicht«, erwidert sie in hartem, klarem Ton. »Sag mir die Wahrheit! Warum lügst du mich an? Die Flasche ist niemals von Bernd und Sepp trinkt auch keinen Whisky. Ich kann kaum meinen Augen trauen! Es riecht hier ziemlich stark nach Sex!«
Sie sagt es ihr ohne Umschweife auf den Kopf zu. Das muss die Folge von Katjas Hetze sein, geistert es in ihrem Kopf herum. Hat sie ihr die Augen öffnen oder sie nur, wie so oft unsicher machen wollen? Anscheinend liebt Katja das. Es ist ihr jedenfalls gelungen.
Ahnt sie das? Es ist diesmal also nicht ihr sechster Sinn, der bohrt und Irina mit unbequemen Fragen bombardiert. Es ist das Misstrauen, das in ihr an diesem Morgen aufquillt wie eine Qualle. Mit bissigem, scharfem Blick tritt sie dicht an Irinas Gesicht, wobei ihr von ihrer Whisky-Fahne übel wird.
»Bitte, sag, dass es nicht wahr ist!«
Irina steht auf, um ihr Schweigen aus einem gewissen Abstand zu brechen.
Dabei löst sich der Gürtel ihres Morgenmantels und sie steht zu allem Unglück auch noch halb nackt vor Jasmin.
»Mach den Mantel zu! … Und? Hast du es ihm gut besorgt?«
Jasmin erkennt sich gar nicht wieder, spürt gar sexuelle Lust durch ihre Worte. Irinas Oberweite hat sie schon immer erotisch gefunden. Doch jetzt auch? Hat Frank deswegen …? Das darf doch alles nicht wahr sein.
Sie will gerade weiterbrüllen, als Irina sie, nun wieder mit geschlossenem Mantel, tränenüberströmt anfleht:
»Bitte verzeih mir, ich erkläre dir alles, es tut mir wirklich sehr leid!«
Jasmins Herz pocht ihr bis zum Hals. Sie fürchtet, auf der Stelle umzukippen, zu erstarren – oder zur Mörderin zu werden. Zu dieser qualvollen Verletzung gesellt sich augenblicklich Katjas Frage von heute Morgen als Demütigung dazu.
Irina weint heftig und zittert am ganzen Körper. Sie will ihr alles erklären. Dafür faltet sie ihre Hände wie zum Gebet zusammen, um auf diese Weise wohl auszudrücken, dass sie ob des Geschehens selbst verzweifelt ist. »Da war doch Alkohol im Spiel, sonst wäre es nicht geschehen. Ich …«
Weiter kommt sie nicht. Sie hält ihre Hände flach vors Gesicht, um ihren Kummer und ihre Mutlosigkeit zu verbergen. Sie weiß nicht, was sie noch sagen soll. Es gibt schließlich keine wirklich plausible Erklärung. Oder doch? Wie kann sie ihr nach all den Jahren, in denen sie mit Frank befreundet ist, die Wahrheit in dieser prekären Situation beichten.
Jasmin steht wie versteinert am Fenster der Küche. Auch sie bekommt jetzt keinen Laut mehr aus sich heraus. Sogar Mitleid für Irina kommt in ihr auf. Das Gefühl ist ihr fremd und macht sie traurig. Mitleid für wen bloß? Für Irina? Für sich selbst? In dieser Sprachlosigkeit tritt der allzu gewohnte Dunstglockenzustand ein. Beide starren sich an, sie sind bis zu diesem Augenblick noch Freundinnen und nun wissen sie nicht, was sie jetzt füreinander noch sein werden.
Jasmin sieht keine andere Wahl für sich, als sich so schnell wie möglich, dieser Situation zu entziehen. Sie will sich mit Irina jetzt nicht auseinandersetzen. Vorher geht sie in ihr Zimmer, um ihre Kleidung zu wechseln. Sie wirft sich ein sauberes Kleid mit Blumenmuster über. Anschließend sucht sie im Schrank nervös nach ihrer alten Jeansjacke. Als sie sie endlich gefunden hat, beißt sie in den Apfel, der seit Tagen in ihrem Zimmer darauf wartet, verspeist zu werden. Sie tritt die knarrende Schranktür mit dem Fuß zu und verliert die Balance. Schwankend kann sie sich gerade noch auffangen. Was soll sie jetzt nur machen?, überlegt sie. Allein das findet sie so anstrengend, da sie keinen klaren Plan in ihrem Kopf findet. Ihre heile Welt ist in diesem Moment zusammengebrochen.
Wie betrunken taumelt sie in den Korridor, greift nach ihrem Beutel und knallt mit voller Wucht die Wohnungstür hinter sich zu, sodass Bernd wach wird. Noch im Hausflur kann sie ihn wütend schreien hören: »Ruhe!«
Wie gerne würde sie sich anders verhalten: Fragen stellen, wissen, ob Irina für Frank mehr als nur Freundschaft empfindet. Wie gerne würde sie in diesem Moment eine andere Entscheidung treffen können, als abzuhauen. Doch es geht einfach nicht, nicht jetzt. Später, wenn es nicht mehr so wehtut und sie nicht mehr ständig den schlechten Film in ihrem Kopfkino sieht, in dem Irina mit Frank schläft.
In diesem Augenblick jedoch hat sie keine Lust, an der Demo teilzunehmen.
Überrollt von der seelischen Verletzung, rutscht ihr Interesse am aktuellen politischen Geschehen innerhalb von Sekunden auf eine Priorität ganz weit unten auf ihrer Liste.
Ohnehin ist sie bisher eher zurückhaltend und skeptisch gegenüber den Aktionen der Linken gewesen, die in den letzten Tagen überall an Wänden und Litfaßsäulen Steckbriefe des Schahs geklebt haben.
Jasmin sucht nach Gründen, um sich verkriechen zu können. Es gibt keinen Ort, an den sie gehen kann. Vielleicht nach Braunschweig, schießt es ihr unvermittelt durch den Kopf oder in Franks Arme!
Eine Sehnsucht nach ihn keimt auf und ist größer als jedwede Wut auf ihn.
Warum bin ich jetzt nicht mehr wütend? Eben hätte ich morden können und nun? Die Wut ist wie weggeblasen!
Trotzig läuft sie die Straße mehrmals auf und ab, raucht dabei eine Zigarette nach der anderen, um ihre Gedanken zu sortieren. Eigentlich muss sie gleich wieder nach oben gehen, um mit Frank zu telefonieren. Später, nicht jetzt! Ihre zwei Seelen in ihrer Brust tanzen gerade im Kreis, spielen sich die Bälle zu. Jede von ihnen hofft, dass sie besser im Fangen ist und den Ball behalten kann. Die redegewandte, rationale Seele, die mit akribischer Lust, sehr differenziert und einem durchaus intelligenten Humor diskutiert, lacht über die Seele, die in ihrem Schneckenhaus lebt und nur herauskommt, wenn dort keine Gefahr lauert. Denn emotionale Unsicherheit stellt eine Bedrohung für sie dar. Doch sie tanzen immerhin noch miteinander. In letzter Zeit allerdings beobachtet Jasmin, dass sie sich immer häufiger heftig streiten, anstatt zu tanzen. Sie begreift nicht, was genau da in ihr passiert. Wenn es richtig brenzlig wird, erstarrt sie jedenfalls zur Salzsäule. Nur Ablenkung kann ihr dann behilflich sein: durch Lesen, beim Lernen, Studieren, durch stundelanges Sitzen in der Bibliothek. Abrupt weicht dadurch die Starre. Und auch jetzt hofft sie, sich durch die Ablenkung namens Demo etwas sammeln zu können. Sie weiß, dass gerade Geschichte geschrieben wird und sie sich trotz ihrer Verzweiflung dem Geschehen nicht entziehen will.
Deshalb beschließt sie, nicht mit ihrer Ente, sondern mit dem 4er Bus zum Schöneberger Rathaus zu fahren.
Denn dort wird sich der Schah ins Goldene Buch der Stadt eintragen.
Im Bus befinden sich viele weitere Demonstranten und rufen lautstarke Parolen gegen den Schah. Jasmin ist jedoch nicht wirklich bei der Sache und will lieber doch zurückgehen. Nur wohin? Die nächste Haltestelle ist das Rathaus. Dort steigt sie gezwungenermaßen aus, marschiert im Gedränge der Massen mit nach vorne, wird permanent angerempelt und trotzt mit enormen Kraftaufwand ihrem Tränenausbruch. Sie versucht, abseits der Menschenmenge einen Schattenplatz zum Stehen und Schauen für sich zu ergattern. Dabei kommen ihr viele Demonstranten mit Transparenten entgegen, auf denen »Schluss mit den Folterungen persischer Gefangener« steht. Einige haben Schah-Masken auf dem Kopf, es stinkt nach abgebrannten Feuerwerkskörpern.
Ihren Gemütszustand kann sie kaum noch ertragen. Die Atmosphäre erschwert es ihr durchzuhalten, sie wird müde und schlapp. Nahe des Rathauses sieht sie, wie dort alles abgesperrt ist und von iranischen Sicherheitskräfte die breit wie Schränke in ihren schwarzen Anzügen aussehen, bewacht wird.
Jasmin weiß nicht, wohin mit sich. Überall Sprechchöre, alles ist durcheinander. Ein Gedanke steigt blitzartig in ihr auf: Sie hofft inständig, nicht Irina zu begegnen. Wahrscheinlich ist sie noch in der Nähe der Kulmer Straße, beruhigt sie sich. Plötzlich sieht sie, wie die Männer an der Absperrung unvermittelt mit Holzlatten auf die Demonstranten einschlagen, weil die laute »Mörder, Mörder!«-Parolen gegen den Schah rufen und gegen die Menschenrechtsverletzungen im Iran protestieren. Bei diesem Szenario rückt ihre Sympathie wieder mehr auf die Seite der linken Demonstranten. Sie kann nicht glauben, dass hier direkt vor ihren Augen eine solch gewaltige Brutalität stattfindet und keiner der Polizisten dazwischengeht. Doch sie bekommt es mit der Angst zu tun und will nur noch eins: weg von hier. Wie eine Irre rennt sie los, stolpert über einen Stein und fällt hin. Ihr Knie schmerzt, doch sie hat Glück im Unglück, denn sie hat sich noch gut abgefangen. Als sie aufsteht, stehen Katja und drei andere Kommilitonen plötzlich vor ihr.
»Meine Güte, Jasmin, ist dir was passiert? Du bist ja ganz schön hektisch. Hast du dir wehgetan?«
»Nein, geht schon«, kommt es mit ungewöhnlich piepsiger Stimme zurück.
»Na, dann hast du ja Glück gehabt und doppeltes sogar, uns hier zu treffen. Welch ein Zufall!«
»Ja, du wolltest doch anrufen wegen des Treffens?«, sprudelt es aus Katja heraus, wobei diesmal der Vorwurf klar erkennbar wird. Sie hat sogar recht und das wurmt Jasmin.
Und sie hat heute Morgen auch recht gehabt – was für ein Zufall, auch diesbezüglich. Katja ist allerdings die Letzte, die jetzt davon erfahren soll. Ihr wird es bestimmt später zu Ohren kommen, nur nicht von ihr, nur nicht jetzt.
»Ist alles in Ordnung? Wir haben gedacht, du bist mit Irina unterwegs. Wo ist sie?«, fragt Katja neugierig.
Jasmin befürchtet, losheulen zu müssen, und stammelt: »Ja, welch ein Zufall, euch in dieser Menschenmenge zu treffen. Katja, ich hatte keine Zeit mehr. Tut mir leid. Irina kommt gleich. Ich geh zum Hauseingang, um mein Knie anzuschauen.«
Ihr Ton klingt in Katjas Ohren ungewöhnlich kleinlaut.
»Soll ich dir helfen?«
»Äh, ach nett von dir, Katja, aber es geht schon. Geh mal schon mit den anderen vor.«
»Wirklich? Du wirkst sehr durcheinander und deine Augen leuchten nicht wie sonst. Ist was mit dir?«
»Alles bestens!«
Katja will sich das Knie ansehen.
»Ist schon gut. Habe ich doch gesagt!« Sofort registriert sie, dass Katja über diesen Ton erschrocken ist und abdüst. »Katja, ich hab’s nicht so gemeint«, ruft sie ihr deshalb noch hinterher.
Wieso gebe ich jetzt klein bei? Katja war mir doch den ganzen Tag schon ein Dorn im Auge!
Aber sie ist schon so weit weg, dass sie sie nicht mehr hören kann. Tränen drängen sich in ihre Augäpfel. Ihr Kopf fühlt sich an, als ob er gleich platzen würde. Langsam schleicht sie zum Rand der Demo und letztendlich von dannen. Jetzt flieht sie also nicht mehr nur vor den Männern mit den schwarzen Anzügen.
Obwohl das Verhältnis zu ihrer Schwester Sabine in den letzten Jahren eher unterkühlt und angespannt ist, beschließt sie, spontan zu ihr nach Braunschweig zu fahren. Sie will Irina im Moment nicht mehr begegnen und hofft, dass Irina schon auf der Demo und nicht mehr zu Hause ist. Auf der Fahrt mit dem Bus zu ihrer WG – sie muss noch ihre Ente holen – macht sich unendliche Einsamkeit in ihr breit. Sollte sie Frank zur Rede stellen? Allein bei dem Gedanken rumort es in ihrem Bauch. Zu Hause, Irina und Bernd sind Gott sei Dank nicht da, greift sie wirklich nach dem Telefon – aber nicht um ihn, sondern um Sabine anzurufen. Ihn nicht jetzt, später!
Endlich sitzt sie in ihrer roten Ente. Das Dach hat sie geöffnet. Sie spürt Erleichterung nach den letzten Stunden! Trotz der Ablenkung durch die eskalierende Demo ist für sie ihr persönliches Leid stärker als die Empörung über die Gewalt, die sie mit ihren eigenen Augen gesehen hat. So ist der Stau in der Hitze eine wahre Herausforderung für sie. Ihre Tränen vermischen sich mit Schweißtropfen auf ihren Wangen. Permanent schlägt sie weinend aufs Lenkrad, zündet sich eine Zigarette nach der anderen an und lässt den Aschenbecher überquellen. Taschentuchberge werden bald zu ihren Beifahrern. Ein anderes Gefühl als Verzweiflung breitet sich in ihr aus: Sie ist in der ihr allzu vertrauten Erstarrung angekommen. Alles Geschehene erscheint ihr unwirklich. Wie unter einer Dunstglocke abgeschirmt, erlebt sie jetzt die Außenwelt. Jede Sinnesempfindung ist wie weggeblasen, sogar ihre Hände fühlen sich taub an. Obwohl es an diesem Abend noch bullig warm ist, fröstelt sie innerlich.
In monotonem Schritttempo gleitet sie in die Apathie, die ihr eine kurze Erholungspause von der Verzweiflung verschafft. Während sie die Zuschauerbänke an der Avus-Autobahn bestaunt, spürt sie den wiederkehrenden, unerträglichen Kampf in sich toben und muss aufpassen, dass sie am Stauende nicht das Bremsen vergisst. Bitternis verwandelt sich in Selbstzweifel, der wie Blitz und Donner unaufhörlich in ihrem Kopf tobt. Sie ballt immer wieder eine Hand zur Faust, um damit aufs Lenkrad zu schlagen, die andere hält die obligatorische Zigarette. Gelegentlich schnaubt sie mit einer fast wollüstigen Aggression ins mindestens zehnte Taschentuch, als ob sie ihre Traurigkeit aus sich herausspülen wollte. Sie kann es nicht glauben, gleich von zwei Menschen so enttäuscht worden zu sein. Vom Tod des Studenten Benno Ohnesorg wird sie erst später erfahren. Wen hasst sie gerade mehr? Irina, Frank oder sich selbst? In ihrem Körper spürt sie einen Stachel, der sich tief hineingebohrt hat. Am liebsten würde sie ihn herausziehen, um sich dieser Situation nicht mehr so ausgeliefert zu fühlen. Sie kann zwar ausgezeichnet juristische Aufgaben lösen, doch diesen Gefühlen ist sie einfach nicht gewachsen.
Wer zweimal mit demselben pennt, gehört schon zum Establishment.
Der Slogan geht ihr immer wieder durch den Kopf und steckt in ihrem Hals wie ein Kloß, der ihr das Atmen erschwert. Doch im nächsten Augenblick starrt sie wieder wie ein Karnickel vor der Schlange auf den schwarzen Mercedes vor ihr.
Dieses Hinstarren passiert ihr immer, wenn sie sich in einem absoluten emotionalen Ausnahmezustand befindet. Es geschieht nicht oft, doch wenn, dann bemerkt sie es meist erst anschließend. In solchen Situation kann es schon mal vorkommen, dass sie etwas herunterschmeißt oder stolpert. Sie ist dann einfach nicht bei der Sache, welcher auch immer!
Manchmal ist mir alles so egal und es tangiert mich nur peripher! Bin ich in diesen Momenten nicht eher auf dem Weg zur Erleuchtung? Neulich habe ich von einem Kommilitonen gehört, dass er regelmäßig meditiert und dabei versucht, jegliche Gedanken und Gefühle loszulassen.
Auf unergründliche Weise hofft sie, dass genau dieser Zustand eine Offenbarung für sie sein könnte. Während sie weiter teilnahmslos um sich blickt, bemerkt sie verwundert, wie ein älterer Mann im Auto neben ihr herüberschaut und ihr mit einem Taschentuch zuwinkt. Aufgeschreckt durch das Gehupe des Käfers hinter sich, keift sie wutentbrannt: »Jaaa!«, obwohl sie der Fahrer natürlich nicht hören kann. Dreilinden, Grenzübergang. Es geht im Schneckentempo voran, was sie auf eine weitere Geduldsprobe stellt.
Zur Versöhnung mit dem Lenkrad nach ihrer letzten Gewaltattacke spielt sie mit ihren Fingern Klavier. Es ist nicht Chopin, sondern eine Symphonie des Augenblicks, eine Symphonie ihrer Ungeduld. Mit dem Lenkrad bestimmt sie die Richtung, in die es gehen soll. Genauso zielstrebig will sie ihre Pläne in ihrem Leben erfüllen. Seit den letzten Stunden zweifelt sie wieder mal an all ihren Fähigkeiten. Sie hat das Gefühl, dass ihr der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Wohin soll das nur führen?
Endlich kommt sie an die Reihe, um ihre Papiere vorzuzeigen. Dabei ist ihr mulmig zumute. Immer, wenn sie nach Braunschweig fährt, sind die Vopos am DDR-Grenzübergang herablassend und unfreundlich zu ihr als Transitreisende. Diesmal scheint ihnen der bunte VW-Bus mit dem Peace-Zeichen vor ihr ein Dorn im Auge zu sein. Alle Insassen müssen aussteigen, ihre Rucksäcke auspacken, die Decken ausschütteln, das Innere des Busses zur Besichtigung freigeben. Akribisch durchsuchen die Grenzschützer jeden Winkel im Bus. Mit argwöhnischen Blicken und einem großen Spiegel inspizieren sie sogar den Unterboden des Wagens.
Wonach suchen die eigentlich?
Da kommt der nächste Vopo zu Jasmin und spricht sie mit bohrendem Blick an.
»Ihren Ausweis, bitte!«
Das »Bitte« hätte er sich sparen können, denkt sie. Für Jasmin klingt es einfach nur zynisch und abwertend. Wider Erwarten leitet er sie mit einem Lächeln und gestikulierend an dem VW-Bus vorbei. Während sie ihre Ente, an den gerade durchsucht werdenden Autos vorbei kutschiert, erblickt sie den Wagen von dem Mann mit dem Taschentuch. Auch er entdeckt sie. Er nickt, kneift dabei die Augen kurz zu, als ob sie alte Bekannte wären. Ein hektischer Gruß ihrerseits und mit der Anordnung des Vopos im Nacken, den Ablauf nicht zu behindern, fährt sie endlich weiter.
Gedankenverloren fährt sie weiter in Richtung ihrer Schwester in der Hoffnung, Trost zu erhalten. Doch sie ist unsicher, ob das überhaupt alles eine gute Idee ist. Ihre beste Freundin allerdings kann sie nicht trösten, denn sie ist schließlich diejenige, die ihr den Schmerz zugefügt hat.
Sabine steht mit Clara auf dem Arm bereits am Gartentor. Ihr strahlendes Lächeln verrät, dass sie sich freut, ihre Schwester nach so langer Zeit wiederzusehen. Malerisch umschmeichelt die rote Abendsonne die Konturen ihres hübschen und ungeschminkten Gesichts. Mit den Röhrenjeans, der blauen Flatterbluse und den hochgesteckten dunklen Haaren nimmt Jasmin die Schönheit ihrer großen Schwester zum ersten Mal bewusst wahr. Und doch schimmert in ihrer Mimik ein Blick durch, der vermuten lässt, dass sie Unzufriedenheit in sich trägt.
»Du siehst schön aus, Sabine!«
»Ja? Findest du? Hab mich etwas frisch gemacht und umgezogen, wollte nicht als Landpomeranze neben dir schickem Berliner Mädel aussehen, obwohl ich mich manchmal selbst so sehe. Nun aber lass dich begrüßen!«
»Tante Smin«, begrüßt die Kleine sie und streckt ihre Ärmchen aus.
»Guten Abend, meine Kleine. Du bist ja schon so groß geworden.«
So ein Mist, denkt Jasmin, jetzt hat sie tatsächlich auch diesen blöden Spruch von sich gegeben. Er ist ihr einfach so herausgerutscht.
»Du siehst rot im Gesicht aus. Du bist krank, nicht wahr?«, legt sie schnell nach. Und tatsächlich ist sie krank. Jasmin nimmt Clara auf den Arm und knuddelt sie zur Begrüßung, wobei der Kleinen die Rotze aus der Nase läuft. Jasmin bekommt sie geradewegs an ihre Wange. Beide lachen. Sie kann tatsächlich nach all den geweinten Tränen lachen.
»Ja, Mama wollte nicht, dass ich aus dem Bett gehe, aber ich wollte unbedingt mit ans Gartentor, um dir Tag zu sagen.«
Jasmin streichelt ihr liebevoll über den Kopf und gibt sie wieder Sabine auf den Arm.
»Na, dann schnell wieder ins Bettchen, sonst wirst du noch mehr krank.«
»Lass dich umarmen, Jasmin, und komm rein. Du siehst aus, als ob du geweint hast. Wenn du unerwartet zu mir kommst, muss was geschehen sein.«
»Ach, ich möchte jetzt noch nicht darüber sprechen. Aber ich komme gleich rein.«
Sabine bleibt mit der Kleinen in der Eingangstür stehen. Beide beobachten Jasmin und schauen belustigt zu, wie sie sich bückt, um die prachtvollen Rosen im Vorgarten zu beschnuppern. Sie verbreiten einen süßlichen Duft. Dabei nimmt sie erstaunt wahr, dass besonders die gelben Rosen sie aromatisierend betören, sodass sie in diesem Moment weit weg von jeglichen Problemen eingestimmt wird. Als sie das Aroma tief einsaugt, bringt sie das regelrecht in einen Gemütszustand, den sie sich selbst nicht erklären kann und auch nicht verstehen will. Jedes Wort, jeder Gedanke, das erahnt sie, würde sie sofort zurückholen zum Schmerz der letzten Stunden. Der Vorgarten ist ansonsten sehr ursprünglich wild, die Bodenpflanzen sind ungepflegt gepflegt, wie Sabine es scherzhaft bezeichnet. Die Rosen sind indes Sabines ganzer Stolz. Sie haben sie vor vier Jahren, als sie mit Matthias das kleine Haus besichtigt hat, sofort in den Bann gezogen. Es war Sommer, die Sonne schien und alles blühte herrlich. Beide beabsichtigten, nach Braunschweig in der Nähe seiner Eltern zu ziehen. Auch das Kind, das sie freudig erwarteten, sollte seine Großeltern um sich haben. Gleichzeitig hofften sie auf gegenseitige Unterstützung. So mieteten sie das kleine Haus am Rande der Stadt zu einem erschwinglichen Preis.
Anfangs rußte der Ofen stark und Matthias machte sich tüchtig daran, alles noch rechtzeitig bis zur Geburt von Clara auszubessern. Er besaß und besitzt handwerkliches Geschick und konnte deshalb sogar das Dach reparieren. Es musste noch viel renoviert werden. Doch beide waren sich sofort darin einig: Das ist es! Hier wollen wir leben.
Die alten Chippendale-Möbel erbten sie von Matthias’ Oma. Mit ihnen wurde es ein gemütliches kleines Haus. Besonders reizvoll war das klitzekleine Erkerzimmer mit seinen gerade mal fünfzehn Quadratmetern: gut geeignet für Gäste.
Als Jasmin nach Braunschweig zog, war abgesprochen, dass sie öfter auf Clara aufpassen sollte, damit Matthias und Sabine ab und zu gemeinsam was unternehmen konnten. Doch es kam alles ganz anders. Nun war Jasmin eben wieder zu Gast aus Berlin. Wenn Clara abends schläft, zieht sich Sabine gerne zurück. Sie schmökert in Sachbüchern, wobei in letzter Zeit immer wieder ein Impuls der Traurigkeit auftaucht, weil sie ihr Studium der Sozialwissenschaft aufgegeben hat. Ihre Sehnsucht nach Geborgenheit innerhalb einer Familie war groß gewesen und so wollte sie erst einmal eine Pause einlegen, um sich als Mutter voll auf ihr Kind konzentrieren zu können. Diese Entscheidung führte zur baldigen Hochzeit mit Matthias.
Vor allem hätten sie das Haus nicht mieten können, da der Vermieter nicht gegen das sogenannte Verkupplungs-Gesetz verstoßen will. Er hätte sich schlicht wegen »Kuppelei« strafbar gemacht.
Es war nur eine kleine Hochzeitsfeier im engsten Kreis der Familie, mit Jasmin und ihren WG-Mitbewohnern sowie ihrer Mutter, die damals noch lebte.
Das Erkerzimmer ist der geeignetste Ort für diesen Rückzug. Es ist mit einem nostalgischen weißen Metallbett, einem kleinen Nachttisch mit einer orangen Lampe darauf und dem geblümten abgesessenen Ohrensessel von der Mutter ausgestattet. Für die Kleidung gibt es Haken an den Wänden, die eine Tapete mit dem Muster großer Efeublätter schmückt. Die ovale Fensterfront gibt diesem Raum ein erlesenes Flair. Mittags verzaubert die Sonne ihn in ein kleines Märchenzimmer. Vom Bett aus ist der Blick in den hinteren Garten wundervoll romantisch, gepaart mit einer besinnlichen Stille. Kein anderer Raum in diesem Haus hat einen solch reizvollen Ausdruck. Sabine liebt es zu gestalten, zu dekorieren. Auch alle anderen Räume haben einen ganz besonderen Charakter aufgrund Sabines Händchen für Gestaltung.
Das kommt ganz automatisch aus ihrem Bauch heraus. Sie muss nicht viel darüber nachdenken. Am Anfang waren sie und Matthias ein gutes Team in ihrem Haus, jeder hatte seine Aufgabe, die seinem jeweiligen Naturell entsprach.
Während Jasmin noch ganz betört vom Duft der Rosen ist, wird sie von Clara aufgeschreckt. Sie hat gar nicht wahrgenommen, dass beide noch am Hauseingang stehen und sie dabei beobachten, wie sie die Rosen bewundert. »Bist du traurig, Tante Smin?«
Sie will nicht wieder in die andere Realität gezogen werden. Trotzdem entweicht Jasmin nach diesem entsetzlichen Tag nun doch ein zweites Lächeln.
Claras kleines Gesicht strahlt voller Freude, obwohl sie krank ist. So sind Kinder! Jasmins innere Stimme spricht zu ihr und bemerkt, dass sie sich viel öfter hier blicken lassen sollte und nicht nur, wenn es eine Katastrophe gibt.
»Na ja, manchmal sind wir großen Menschen auch traurig. Aber mach dir keine Gedanken. Alles ist gut. Du musst erst mal wieder gesund werden.«