Der Ruf des Eisvogels - Anne Prettin - E-Book
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Der Ruf des Eisvogels E-Book

Anne Prettin

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Beschreibung

Vom Wagnis eines freien Lebens
21 Gramm, so viel wiegt eine Seele, weiß Olga. Ungefähr so viel wie der Eisvogel, in dem die Seele ihrer Mutter fortlebt, ewig und drei Tage. Das zumindest behauptet ihr Großvater, obwohl er Arzt ist und doch eigentlich an Wissenschaft glaubt. Er ist es auch, der Olga die Wunder der Natur erklärt und in ihr die Liebe zur Medizin weckt. Denn der kühle, distanzierte Vater hat kein Verständnis dafür, dass Olga die Welt mit eigenen Augen sieht.
Dann bricht der zweite Weltkrieg in die Idylle der Uckermark ein. Die Achtzehnjährige muss fliehen, und nichts ist mehr, wie es war. Erst fünfzig Jahre später kehrt sie mit Tochter und Enkelin zurück.
Einfühlsam und berührend erzählt Anne Prettin von Schuld und Verlust, von Freundschaft und von den vielen Formen der Mutterliebe.

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Seitenzahl: 619

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Inhalt

 

CoverÜber das BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmungMotto1. April 1925 – Ginsterburg29. März 1991 – Plön1. April 1938 – Ginsterburg29. März 1991 – Unterwegs1. April 1938 – Ginsterburg1. April 1938 – Gut Hettersdorf29. März 1991 – Ginsterburg1. April 1938 – Ginsterburg30. März 1991 – Ginsterburg1. April 1938 – Ginsterburg1. April 1938 – Ginsterburg30. März 1991 – Ginsterburg25. April 1943 – Ginsterburg30. März 1991 – Ginsterburg25. April 1943 – Ginsterburg25. April 1943 – Ginsterburg26. April 1943 – GinsterburgMai 1943 – Ginsterburg30. März 1991 – Ginsterburg25. Mai 1943 – Ginsterburg16. Juni 1943 – Ginsterburg30. März 1991 – Ginsterburg17. Juni 1943 – Ginsterburg30. März 1991 – Ginsterburg17. Juni 1943 – Ginsterburg17. Juni 1943 – Ginsterburg30. März 1991 – Ginsterburg1. April 1947 – OldenburgApril/Mai 1947 – OldenburgJuni 1947 – OldenburgAugust 1945 – KühlungsbornJuni 1947 – OldenburgSeptember 1947 – OldenburgOktober 1947 – OldenburgOktober 1947 – April 1948 – OldenburgApril 1948 – August 1948 – OldenburgAugust 1948 – OldenburgOktober 1948 – OldenburgOktober 1948 – Oldenburg30. März 1991 – GinsterburgOktober 1948 – TübingenJuni 1949 – TübingenJahreswende 1951/52 – Tübingen30. März 1991 – Ginsterburg2. April 1955 – FreiburgApril 1946 – KühlungsbornMärz 1956 – FreiburgApril 1956 – FreiburgJuli 1956 – UnterwegsJuli 1956 – UnterwegsJuli 1956 – RomJuli 1956 – IschiaAugust 1956 – Freiburg30. März 1991 – GinsterburgJuli 1944 – Rostock/Kühlungborn30. März 1991 – Ginsterburg28. März 1947 – Kühlungsborn31. März 1991 – Ginsterburg1. April 1991 – GinsterburgDanksagung

Über das Buch

 

Vom Wagnis eines freien Lebens 21 Gramm, so viel wiegt eine Seele, weiß Olga. Ungefähr so viel wie der Eisvogel, in dem die Seele ihrer Mutter fortlebt, ewig und drei Tage. Das zumindest behauptet ihr Großvater, obwohl er Arzt ist und doch eigentlich an Wissenschaft glaubt. Er ist es auch, der Olga die Wunder der Natur erklärt und in ihr die Liebe zur Medizin weckt. Denn der kühle, distanzierte Vater hat kein Verständnis dafür, dass Olga die Welt mit eigenen Augen sieht. Dann bricht der zweite Weltkrieg in die Idylle der Uckermark ein. Die Achtzehnjährige muss fliehen, und nichts ist mehr, wie es war. Erst fünfzig Jahre später kehrt sie mit Tochter und Enkelin zurück. Einfühlsam und berührend erzählt Anne Prettin von Schuld und Verlust, von Freundschaft und von den vielen Formen der Mutterliebe.

Über die Autorin

 

Anne Prettin ist eine Hamburger Autorin und schreibt Reden für Auftraggeber aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft. Sie studierte Politikwissenschaften und Soziologie in Freiburg, Hamburg und Bordeaux und arbeitete als freie Journalistin für verschiedene Tageszeitungen. Sie ist verheiratet und lebte mit ihrer Familie in Neuseeland, als dieser Roman entstand.

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Dieser Titel ist auch als Hörbuch erschienen

Bei diesem Buch handelt es sich um ein fiktives Werk. Der Verlag übernimmt keinerlei Haftung für die Wirksamkeit und Wirkweise der im Buch erwähnten Kräuter und Pflanzen. Ebenso übernimmt der Verlag keinerlei Haftung für die beschriebenen Behandlungs- und Therapiemethoden, deren Anwendung ausschließlich Ärzten vorbehalten ist.

Originalausgabe

Das Zitat aus dem Kapitel »Juni 1947 – Oldenburg« stammt aus »Medea« von Euripides in der Übersetzung von J. A. Hartung.

 

Copyright © 2023/2024 by Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6–20, 51063 Köln

Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.

 

Textredaktion: Dr. Ann-Catherine Geuder, Lübeck

Umschlaggestaltung: Sandra Taufer, München

Einband-/Umschlagmotive: © shutterstock: Olga Korneeva | pansuang; Wilde Mae Studio / Creativemarket

eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-7517-2819-5

luebbe.de

lesejury.de

 

 

In Erinnerung an meinen lieben Vater

Jochen Prettin

Ein Arzt, ein bisschen so wie Pa

 

 

Paul Celan: »Stimmen, ins Grün / der Wasserfläche geritzt. / Wenn der Eisvogel taucht, / sirrt die Sekunde: …/«

1. April 1925

Ginsterburg

Das Unglück war genauso plötzlich da wie das Glück.

In dem Moment, in dem Olga ihren ersten Schrei tat, um das Leben zu begrüßen, tat Elli Blume ihren letzten, lautlos, das eingefallene Gesicht wie in stummer Anklage zu ihrem Mann gedreht. Otto hatte dabei zusehen müssen, wie ihr Atem flacher und flacher geworden war. Wie ihre Arme herabfielen, während ihre leeren, bernsteinfarbenen Augen offen standen wie die einer Puppe. Doch er weigerte sich einzugestehen, vor sich und der Welt, dass er es verpfuscht hatte. Dass seine Frau tot war und der Vorwurf in ihrem letzten Blick ihm galt. Wie vielleicht auch das erste Wimmern seiner Tochter, die er wenige Minuten zuvor für tot gehalten und auf der Fensterbank abgelegt hatte, ohne sie ein einziges Mal richtig zu betrachten. Und die nun, von der Aprilsonne beschienen, langsam zum Leben erwachte. Als mutterloses Kind.

Doch Dr. Otto Blume achtete nur auf seine Frau, die still in der Lache ihres eigenen Blutes lag. In ihren Augen sah er nicht ihr Ende. Nicht einmal die Verzweiflung darüber, dass er als Halbgott in Weiß ihre Sorgen weggelächelt hatte, als sie ihn nach sechsunddreißig Stunden Wehen, zehn davon Presswehen, mit inzwischen brüchiger Stimme angefleht hatte, endlich seinen Vater oder die Hebamme zu holen, oder doch wenigstens das Kind, notfalls mit der Zange. Zwischen zwei Schlucken Tee hatte er sie gefragt, was falsch daran war, auf die Kräfte der Natur zu setzen, und, nachdem sie sich noch mehr krümmte, versichert: »Vertrau mir, die Kinder kennen den leichten Weg raus!«

»Nimm doch die Zange«, hatte Elli noch einmal gerufen und den Kopf hin und her geworfen. Auf ihn hatte ihre wiederholte Bitte wie eine Ohrfeige gewirkt. Wie ein Eingriff in seinen Hoheitsbereich. Er war Arzt und sie Patientin, eine Trennung, die er schon aus professionellen Gründen vollziehen musste.

»Zange, Zange«, hatte er verärgert gesagt. »Ich weiß schon, was ich tue.«

Als sie stöhnend geflüstert hatte, dass sie Angst um das Kind habe, dass sie diese beißenden Krämpfe von der Geburt ihres Sohnes her nicht kenne, hatte er ihr zu guter Letzt seinen eigenen Schmerz entgegengehalten. Der leichte Oberschenkeldurchschuss bei Pierrefonds an der Westfront vor sieben Jahren durch einen Briten, sein Schmerzbarometer, das ihm zuverlässig half, »den Peinpegel seiner Patienten« einzuschätzen. »Da haben wir 1918 in Frankreich ganz andere Dinge erlebt«, hatte er sie erinnert, nicht zum ersten Mal, und endlich vertraute sie auf seine Erfahrung, so kam es ihm zumindest vor, und ließ ihn schweigend gewähren.

Und ja, er behielt tatsächlich recht, das Kind fand den Weg heraus, auch ohne Zange. Nur dass Otto den Preis dafür nicht zu kennen schien. Es war, als wäre er plötzlich taub für alle Warnsignale, das viele Blut, die fahle Gesichtsfarbe und den langsam eintretenden Tod.

Seine Frau starb nicht und schon gar nicht unter seinen Händen. Sie war doch alles, was er liebte, die zarte, warmherzige Gutstochter aus der Nähe von Lübeck, die er bei einer Bootsfahrt kennengelernt hatte, damals auf der Trave, als sie mit ihrer Kamera Fotos von ihm und seinem Freund gemacht hatte. Seine Elli, die er erst um die Bilder, dann ein paar Wochen später um ihre Hand gebeten und mit nach Ginsterburg genommen hatte. Seitdem hatten sie sechs wunderbare Jahre miteinander verbracht, und Elli hatte die schönsten Momente auf Bildern festgehalten, so wie am Anfang.

Unruhig schaute er sich um. Da fand sein Blick ihre Leica, dieses kleine moderne Spielzeug, das er ihr für stolze 270 Mark zur Geburt ihres vierjährigen Sohnes Karl geschenkt hatte. Gleich nach der Geburt sollte Otto ein Foto seines zweiten Kindes schießen, das hatte sie sich gewünscht. Doch für solche Sentimentalitäten blieb jetzt keine Zeit. Erst einmal musste er sich um diesen Notfall auf der Liege kümmern, denn hier war schnelles Eingreifen vonnöten … Aber er würde die Situation schon in den Griff bekommen, dessen war er sich sicher.

Womöglich hätte seine Frau, die ihn aufrichtig geliebt hatte, sein Verhalten sogar verstanden, hätte sie geahnt, was hinter seiner Verweigerung steckte – wie verhasst ihm diese Zange war, die ach so sichere Naegele-Zange, die wie eine Mahnung aus dem offenen schwarzledernen Geburtshilfekoffer neben ihm ragte. Es war ja nicht so, dass ihm ihr Gebrauch nicht in den Sinn gekommen wäre. Aber schon beim Gedanken an das Instrument fingen seine Finger an zu brennen.

Elli wusste nichts über sein unrühmliches Ende in der Rostocker Frauenklinik, wo er als junger Assistenzarzt als große Nachwuchshoffnung gegolten hatte. Zumindest bis zu seiner verhängnisvollen praktischen Prüfung ein Jahr vor Karls Geburt im Jahr 1920.

Unter den Augen des Chefarztes und der Kollegen hatte er viermal die Zange angesetzt und vergeblich versucht, das Köpfchen mit den metallenen Zangenblättern zu packen. Die brüllende Gebärende, vielleicht auch die dreifache Verantwortung für Mutter, Kind und Examen hatten ihn so verunsichert, dass er, aus einem unerklärlichen Impuls heraus, den noch nicht verknöcherten Schädel viel zu fest zusammendrückte, als er ihn endlich zu fassen bekam, fast so, als wollte er eine Nuss knacken. Der Anblick des malträtierten Schädels verfolgte ihn bis heute. Dass das Baby überlebt hatte, wenn auch schwerbehindert, rettete ihm die Approbation, nicht aber seinen Ruf in der Klinik. Seine Karriere als Gynäkologe war vorüber gewesen, ehe sie richtig begonnen hatte.

»Herrje, Sie Stümper, Sie haben ein vollkommen gesundes Kind zum Krüppel gemacht«, hatte der Chefarzt ausgerufen. »Lassen Sie sich nie wieder in der Nähe einer Gebärenden blicken! Seien Sie froh, dass es lebt.«

Er war aber nicht froh, nicht über das Überleben dieses Kindes, dessen Leben niemals wirklich eines sein würde, noch über das seiner Tochter, deren Stimme und Gesichtsfarbe jetzt immer mehr an Kraft gewann.

Wie oft hatte Elli den Kopf darüber geschüttelt, dass ihr Mann in seiner eigenen Welt lebte. Darüber, dass sich seine Mundwinkel immer tiefer eingruben. Wieder und wieder hatte sie ihn ermahnt, doch auch einmal zu lächeln, nicht immer alles so furchtbar ernst zu nehmen. Sicher hätte er ihr zugelächelt, vorhin, als sie ihn lang ansah und ihm schwach die Hand drückte, hätte er gewusst, dass es das letzte Mal sein würde. Vielleicht hätte er ihr gesagt, was er vorher nie hatte sagen können: dass er sie bewunderte für ihre Geduld mit ihm. Dass er sie brauchte. Aber die letzten Male sind tückisch, man erkennt sie meist erst, wenn es zu spät ist – sofern man sie nicht wie Otto selbst dann noch mit der Kraft eines Verzweifelten zu ignorieren beschließt. Eigentlich war er als Arzt besser als irgendwer sonst mit den Vorboten des Todes, auch mit dem Tod selbst vertraut. Doch er hatte entschieden, dass seine Frau erst tot war, wenn er, kraft seines Amtes, ihren Tod auch feststellte.

Und solange er dies nicht tat, setzte er alles daran, dass sie ihn wieder anlächelte. Rasch krempelte er die Hemdsärmel hoch und beugte sich über seine Frau. Die Ursache für den Blutschwall war ihm sofort klar: Uterusatonie. Die Gebärmutter zog sich nicht mehr zusammen. Sicher waren ihre Muskeln nach den langen Wehen ebenso erschöpft wie Elli selbst, die keinen Laut mehr von sich gab. Mit der linken Hand massierte er ihr Herz, mit der rechten die Bauchdecke, um die Blutung zu stoppen. Aber bei jeder festen Bewegung schoss das Blut wie eine Fontäne aus ihr.

»Elli«, rief er und legte die Hände fest um ihr Gesicht. »Schau mich an!« Er gab ihr zwei kräftige Ohrfeigen und hörte nicht, dass das Mädchen auf der Fensterbank immer lauter brüllte. Nahm auch nicht wahr, wie die Tür aufging und sein Vater, der gerade von der Geburt bei Ellis Freundin Ira zurückkehrte, entsetzt aufschrie.

Plötzlich aber spürte er eine Hand auf seiner Schulter. »Hör auf, Otto, hör auf! Das bringt nichts mehr!«

Doch er machte weiter, kniete sich jetzt auf seine Frau und massierte mit beiden Händen wie besessen ihr Herz, bis sein Vater seine Hand fortzerrte und ihn Ellis schweigenden Puls fühlen ließ. »Schluss damit, mein Sohn. Siehst du es denn nicht? Sie ist tot, Otto! Tot!«

Da ließ Otto ab von ihr, taumelte kraftlos zurück und ließ sich auf die Knie fallen. Es gab nichts mehr, was er noch tun konnte. Er hatte versagt.

Wie durch einen dichten Nebel hindurch hörte er seinen Vater oder sein Gewissen sprechen, so genau wusste er es nicht. Herrgott, warum hast du nicht die Zange genommen? Du hättest die Zange nehmen müssen. Dann würde Elli noch leben.

Warum? Otto rappelte sich auf. Warum hatte nicht sein Vater die Geburt seiner Enkelin übernommen? Dann hätte Otto an seiner Stelle das Kind von Ellis Freundin Ira auf die Welt bringen können, und alles wäre gut ausgegangen. Nach bald dreißig Jahren als Landarzt und mehr als tausend Geburten, eine davon in der Pferdekutsche, hätte Albert Blume doch am Morgen sehen müssen, in welchem Zustand seine Schwiegertochter gewesen war! Noch dazu war er mit der Zange versierter als sonst irgendwer. Aber Elli hatte Vertrauen in ihren Mann gehabt und darauf bestanden, Otto an ihrer Seite zu haben. Wie hätte er ihr diesen Wunsch abschlagen können? Wie seine eigene Befähigung in Frage stellen sollen, vor seiner Frau?

»Sieh nur«, sagte Albert, der auf einmal mit dem brüllenden Bündel auf dem Arm vor ihm stand. »Du hast ein kleines Mädchen. Sie lebt. Und wie sie lebt! Das ist mal eine uckermärkische Naturgewalt – robust, kräftig und zäh. Eine echte Blume!«

Als Otto das hörte, drehte er sich weg von seinem Vater und diesem fremden kleinen Wesen, er fühlte sich auf einmal so unsagbar müde und schwach, fragil. Er stierte an ihnen vorbei zum offenen Medikamentenschrank – und schlug entsetzt die Hand vor den Mund. Da saß der kleine Karl im Schrank und sah mit aufgerissenen Augen zu seiner Mutter. Tränen rannen lautlos über seine geröteten Wangen.

Schlagartig fuhr Otto herum zu seinem Vater. Sie warfen sich einen Blick zu und schwiegen, auch das schreiende Bündel verstummte plötzlich.

»Pa«, flüsterte der Junge nach einer Weile in die Stille hinein. »Kommt Mutti jetzt unter die Ulme, wie das Vögelchen?«

Gerade erst eine Woche war es her, dass die hochschwangere Elli gemeinsam mit ihrer ebenso hochschwangeren Freundin Ira dieses Vogeljunge, das aus dem Nest gefallen war, am Schwanensee bestattet hatte.

»Ich, ich …«, setzte Otto an, verstummte aber, als er die flatternden Augenlider seines Sohnes sah. Ein letzter Blick auf Elli, dann stürzte er zur Tür hinaus. Erst als er draußen war, auf den umliegenden Feldern, weit weg vom Haus, machte sich sein Schmerz Luft, in einem lauten, gellenden Schrei.

29. März 1991

Plön

»Omama, bist du da?« Saras Stimme durchschnitt die Stille, in die sich Olga seit ein paar Tagen zurückgezogen hatte. »Ich bin’s, Sara!« Olga hörte das Klappen einer Tür.

Olga mochte es nicht, wenn sie überrascht wurde, erst recht nicht, wenn dadurch ihre Pläne durchkreuzt wurden. Für heute hatte sie vor, runter zum See zu gehen und dem Seeadlerpärchen, das sie wochenlang bei ihren Balzflügen und dem Horstbau beobachtet hatte, mal wieder einen Besuch abzustatten. Es waren die ersten Frühlingstage, und sie wollte mit ihrem Kajak rüber zur Insel paddeln und sehen, ob die Vögel mit dem Brüten begonnen hatten. Gerade hatte sie sich in der Küche eine Kanne Espresso aufgesetzt, zum Wachwerden, als sie durch die offene Tür ihre Enkelin vernahm. Sie blickte aus der offenen Balkontür zum See hinunter und seufzte.

»Das höre ich, mein Herz. Was machst du denn hier?« Müde sah sie ihrer Enkelin entgegen, die soeben in die Küche trat.

»Dich zu eurem Geburtstagswochenende abholen«, erwiderte Sara und gab ihr einen Kuss auf die Wange.

»Müsstest du nicht in Hamburg sein, in der Uni?«

»Es sind Osterferien. Hast du etwa euer Muttermahl vergessen, Omama?«

Sara liebte Rituale, die wiederkehrenden Momente zwischen Becki, Olga und ihr, bei denen sie alle drei zusammenkamen und sie sich als Teil einer Familie fühlte. Der gemeinsame Geburtstag ihrer Mutter und ihrer Omama gehörte, schon seit sie denken konnte, zu den heiligen Bräuchen des Jahres. Er wurde immer mit einem opulenten »Muttermahl« gefeiert, wie alle Frauen der Familie Meier/Bley das Ehrenessen nannten. »So alt bist du nun auch wieder nicht!«, fuhr sie fort.

Im Gegensatz zu deinen zwanzig Jahren doch schon im Rentenalter, dachte Olga und umfasste das Gesicht ihrer Enkelin. »Natürlich habe ich das nicht vergessen, mein Herz«, log sie und zog sie an sich. »Aber so früh?«

Wie hatte sie das nur vergessen können? Das Alter, fragte sie sich, oder doch nur die viele Arbeit? Eigentlich wollte sie längst kürzertreten, um endlich mehr Zeit für sich zu haben. Sie hatte sich auch schon um eine junge Gynäkologin gekümmert, die in einem Jahr ihre Nachfolge antreten würde und bereits ein paar Stunden in der Woche aushalf. Doch in der Praxis war der Teufel los, es war, als würden sich die Hälfte ihrer Patientinnen neuerdings nach der Brutzeit der Seeadler richten und im Frühling ihre Kinder zu Welt bringen. Erst gestern Nacht war sie zu einer Geburt in die Klinik gerufen worden, in der sie Belegbetten hatte. Sie hatte keine drei Stunden geschlafen.

»Ich hab dir doch gestern auf den Anrufbeantworter gesprochen, dass wir dich früher abholen«, sagte Sara mit unüberhörbarem Vorwurf in der Stimme. »Hast du den etwa nicht abgehört?«

»Ach, Sara, du weißt doch, dass ich dieses Monstrum nicht bedienen kann.«

Olgas Tochter Becki hatte ihr den Anrufbeantworter zu Weihnachten geschenkt, kurz nachdem die Mauer zwischen Ost- und Westberlin gefallen war. »Falls deine Ostverwandtschaft anruft und du nicht da bist«, hatte sie schmunzelnd gesagt, obwohl sie wusste, dass sie keine Verwandten mehr im Osten besaßen.

Sara lachte. »Du willst nur nicht, so ist das«, sagte sie. »Du weißt, wie man einen Wehenschreiber bedient, da wirst du doch vor so einem kleinen Gerät nicht kapitulieren.«

Olga seufzte. Ihre Enkelin kannte sie einfach zu gut. Vom ersten Moment an hatte sie auf Kriegsfuß mit diesem hässlichen elektrischen Ding gestanden. Schon das fieberhafte rote Blinken, ein Sinnbild der Ungeduld, trieb Olga den Puls nach oben. Sie war doch keine stumme Empfängerin, die auf Knopfdruck einfach nur hinnahm, was irgendeine Stimme ohne Gesicht ihr mitteilte oder auftrug! So wie bei diesem wildfremden Anwalt aus Berlin, der ihr in den letzten Wochen ganze fünf Mal auf diese Teufelsmaschine gesprochen hatte, wegen irgendeiner »fantastischen Grundstücksangelegenheit in der ehemaligen DDR«. Anfangs mit einer hellen, einladenden Stimme, die keinen Zweifel daran ließ, dass er fest mit ihrem Rückruf rechnete. Dann, nachdem sie seine erste Nachricht ignoriert hatte, in einem Tonfall, der zunehmende Ungeduld und Verärgerung verriet. Eine einmalige Gelegenheit, die er nur persönlich mit ihr besprechen könne! Gestern dann hatte er die Katze aus dem Sack gelassen und sie zu einem Treffen in ihre Geburtsstadt Ginsterburg beordert, und sie hatte unwillkürlich an ihren Großvater denken müssen. Die Stimme, hatte er immer gesagt, ist die Visitenkarte eines Menschen. Kurzentschlossen hatte sie alle Anrufe gelöscht.

Sara legte ihr den Arm um die Hüfte. »Das wird ein tolles Ostern, Omama, glaub mir! Eine Riesenüberraschung.«

Olga schüttelte den Kopf. »Danke, mein Herz, aber du weißt doch, dass ich mir aus Überraschungen nichts mache.«

»Aber doch aus uns! Wie sagt Becki immer: Reisen ist das beste Heilmittel gegen Kummer. Auch gegen Geburtstagskummer.« Sara musterte sie prüfend. »Du hast noch nicht gepackt, stimmt’s?«, sagte sie auf halbem Weg zur Schlafzimmertür, während aus der Küche das laute Zischen der Espressokanne zu hören war. »Wir müssen uns beeilen! Becki wartet unten, und Geduld ist nicht ihre Stärke, wie du weißt.«

Ach ja, Becki! Sie war für den Kurzurlaub extra aus der Bretagne angereist, wo sie derzeit die mittelalterliche Bibliothek eines Rathauses restaurierte. Na, dann …

Olga trat ans offene Fenster und blickte auf die Straße, wo ihre Tochter wild gestikulierend mit dem Fahrer eines grünen BMWs diskutierte, der ihr offenbar den Parkplatz vor der Tür weggeschnappt hatte. Hätte Olga in den letzten Nächten nur ein bisschen mehr geschlafen und weniger gegrübelt, hätte sie sich kein schöneres Geburtstagsgeschenk wünschen können, als vier volle Tage mit ihren Mädchen zu verbringen.

»Du trinkst in Ruhe deinen Espresso, und ich packe«, sagte Sara und schickte sie mit einem Blick zurück in die Küche. Folgsam goss Olga die braune Flüssigkeit in die hellblaue Tasse, die Becki ihr aus Italien mitgebracht hatte. Mit der Tasse in der Hand ging sie auf den Balkon und blickte zum See. Wind schraffierte das Wasser, und es sah aus, als würde das Schilf tänzeln. Von Weitem glaubte sie den langen Hals und den gelben Schnabel eines Graureihers zu erkennen, der sich auf seine Beute ins Wasser stürzte. Sie holte tief Luft und nahm einen Schluck. Sie liebte den nussigen, milden, leicht sauren Geschmack, seit sie ihn vor fünfunddreißig Jahren in der Nähe von Mailand das erste Mal auf der Zunge gespürt hatte.

Olga ging zur Schlafzimmertür und beobachtete im großen Spiegel ihre Enkelin, wie sie ein paar Sachen zusammensuchte. Sara war Becki wie aus dem Gesicht geschnitten. Der gleiche olivfarbene Teint, die gleichen großen grünen Augen. Die dicken rotblonden Haare zum lockeren Zopf gebunden. Und der Verstand genauso scharf wie die Worte, dachte Olga.

Auf einmal spürte sie, wie ihr die Knie wegknickten.

»Sara, mir geht’s nicht so gut«, setzte Olga zu einer schwachen Entschuldigung an. »Ich war bis heute Morgen in der Klinik. Wie wäre es, wenn deine Mutter und du allein verreist …«

Ein Hupen übertönte ihre letzten Worte. Sie blickte aus dem Fenster und sah, dass Becki noch immer mit ihrem Wagen mitten auf der engen Straße stand, hinter ihr ein Opel, dessen Fahrer abwechselnd hupte und sie anbrüllte.

»Kommt ihr endlich?«, rief sie von unten und zündete sich eine Zigarette mit einer Ruhe an, die im Gegensatz zu ihren Worten stand. »Der Herr wird ungeduldig.«

»Omama, wer ist Charlotte Gustavson?«, hörte sie auf einmal Sara fragen.

Olga fuhr herum. Ihre Enkelin stand mit dem Kuvert in der Hand vor ihr. »Willst du ihn nicht öffnen?«

»Das ist Geburtstagspost«, sagte Olga schärfer als beabsichtigt und entriss ihn ihr. Ein kurzer Schwindel erfasste sie, und sie lehnte sich an die Tür.

Seit dieser Brief vor zwei Wochen eingetrudelt war, hatte sie keine Ruhe mehr gefunden. Die geschwungene Handschrift auf dem Umschlag war ihr vertraut wie die eigene. Ihr war schier die Luft weggeblieben, als sie sie erkannt hatte. Als wäre auf einmal die Vergangenheit wie eine gewaltige Woge in ihr Leben gerauscht. Eine Woge, die sie zu überrollen drohte.

Lotte lebte also noch immer in Schweden, wie ihr der Poststempel verriet.

Aber warum jetzt, nach so vielen Jahren? Sie strich sanft über das Papier des Umschlags und die vertraute Schrift. Das »O« in Olga war zu einer Blume stilisiert, in Anlehnung an ihren Mädchennamen Blume.

Wieder spürte Olga einen Druck in der Magengegend, einen unbestimmten Schmerz, der sich darin ballte. Wie lange hatten sie nichts voneinander gehört? Mehr als dreißig Jahre! Sie atmete tief ein und fand ihr Gleichgewicht wieder.

Als sie die entsetzte Miene ihrer Enkelin bemerkte, bemühte sie sich um einen sanfteren Tonfall. »Entschuldige, mein Herz«, sagte sie und fügte hinzu: »Das Gehupe da draußen macht mich ganz nervös.« Sie legte den Brief auf das Tischchen neben der Tür.

»Und dein sechsundsechzigster Geburtstag, stimmt’s?«, erwiderte Sara und ergriff ihre Hände. »Du wirst sehen, wir drei werden eine tolle Zeit haben!«

Olga nickte matt. Vielleicht tat ihr eine kleine Atempause gut. Immer noch besser, als weiter um diesen Brief herumzuschleichen. Sie schnippte mit den Fingern, als könnte sie die Gedanken an Lotte und ihren Bruch damit aus der Welt schaffen, und sagte: »Worauf warten wir?«

1. April 1938

Ginsterburg

Olga reibt sich die Augen und blinzelt in die Dunkelheit. Durch den Vorhang schimmert der See wie eine silberne Scheibe. Wenn sie sich aufrichtet, kann sie bis zur Mohninsel sehen. Eilig springt sie aus dem Bett, schiebt die Gardine beiseite und öffnet das Fenster, wie jedes Jahr am 1. April. Und wie jedes Jahr an diesem Tag hält sie trotz der Zweifel, die mit jedem Geburtstag wachsen, nach einem Eisvogel Ausschau, nach einem Gruß aus dem Jenseits. Aber am wolkenverhangenen Himmel kann sie heute nicht mal den Mond ausmachen. Und in den Ästen der Weide am See, auf die ein schwacher Lichtstrahl fällt, zwitschert auch kein Vogel.

»Mama, ich bin jetzt dreizehn«, flüstert sie in einem letzten Versuch. Aber niemand antwortet.

Sie seufzt und lässt sich zurück ins Bett fallen. Später dann, denkt sie und schließt die Augen. Sie hat noch jedes Jahr einen Eisvogel entdeckt, so selten man sie auch zu sehen bekommt. Der beste Beweis dafür, dass die Seele ihrer Mutter nicht verschwunden ist, sondern in ihm wohnt, in ihrem Seelenvogel, auf ewig und drei Tage. Das zumindest behauptet ihr Großvater, den sie wie ihr Bruder Karl Pa nennt, seit sie sprechen kann. Pa ist von der Unsterblichkeit der Seele überzeugt. Er hat den Bericht eines amerikanischen Arztes studiert, der seine sterbenden Patienten vor und nach ihrem Tod gewogen hatte. Genau einundzwanzig Gramm weniger wogen die Entseelten, was bedeuten muss, dass sich der unsterbliche Kern im Moment des Todes verstofflicht und davonmacht.

»Stell dir vor, mein Gänseblümchen«, sagte Pa zu ihr, als er ihr das erste Mal davon erzählte, »einundzwanzig Gramm, ungefähr so viel wie eine lütte Eisvogeldame!«

Er erzählte ihr auch, wie er am Tag ihrer Geburt einen kleinen Eisvogel mit einem ungewöhnlichen braunen Fleck im Nacken neben ihr auf der Fensterbank hocken gesehen hatte, der kaum, dass Pa ihn erblickte, auch schon aus dem offenen Fenster hinaus in den Himmel flatterte. Zufall? Eher göttliche Fügung, oder warum sonst hatte ihnen just an Olgas fünftem Geburtstag genau dasselbe Vögelchen einen Besuch abgestattet? Zutraulich wie ein dressierter Wellensittich hatte sich der sonst so scheue Vogel auf das Sims gesetzt, keinen halben Meter von ihr entfernt, bevor er zum Sturzflug ansetzte, um mit seinem dolchigen Schnabel Beute aus dem Wasser zu ziehen.

Der zarte, mutige Vogel, so nah, war bis heute ihr Bild vom Glück. Von diesem Tag an hatte Pa sie an jedem ihrer Geburtstage zum »Muttermahl« ins Gasthaus Meier nebenan geführt, eine Feier zum Andenken an ihre Mutter. Und ihren Tod. Höhepunkt ist eine Torte, die geziert wird von einem blauen Vogel mit schokoladener Markierung am Genick.

Olga ist sich nicht sicher, wie viel von dem, was Pa erzählt, stimmt und was seiner Fantasie entspringt. Ob es die unsichtbaren Fabelwesen überhaupt gibt, mit denen er ihr Leben bevölkert. Die Seejungfrau, die im Schwanensee wohnt und ihre Familie beim Schwimmen, Paddeln und Segeln beschützt, solange sie ihr abends ein paar Scheiben Brot hinstellen. Oder die Elfen, die die vierhundertjährige Zauberulme zwischen ihrem Haus und dem der Meiers nebenan bewachen, um mit ihrer Kraft Olgas Welt in einen sicheren Ort zu verwandeln.

»Das ist so wahr, wie ich dein Pa bin«, sagt er immer, sobald sie Zweifel anmeldet. Sie versteht, dass er ihr auch auf diese Weise zeigen will, dass zum Leben mehr gehört, als man mit bloßem Auge sieht. Dass es Magie gibt.

Und was ist schon Wahrheit? »Das, was nützt«, sagt Mamme. Mamme heißt eigentlich Ira und ist die beste Freundin von Olgas Mutter gewesen. So wie ihre Tochter Charlotte die von Olga ist.

Beim Gedanken an Lotte, wie Charlotte von allen gerufen wird, fällt Olga plötzlich ein, dass sie vergessen hat, ihr zu ihrem dreizehnten Geburtstag eine kleine Widmung in das Tagebuch zu schreiben, das sie selbst für sie gebastelt und gebunden hat. Aus ihrer Nachttischschublade zieht sie das Büchlein heraus, streicht über den moosgrünen Samteinband und überlegt kurz, ehe sie den Füller ansetzt. Für Lotte, meine Allerbeste, beginnt sie, hält aber mit einem Mal inne. Lotte ist viel mehr für sie als eine Freundin, wo sie doch aus derselben Brust getrunken, in derselben Wiege geschlafen und sogar in derselben Stunde ihren ersten Schrei getan haben. Ein vom Schicksal geknüpftes Band fürs Leben und die Ewigkeit, unvergänglich, überirdisch und heilig, wie Lotte es gerne ausdrückt. Olga grübelt lange und denkt dann: Schweundin! Ja, genau, das trifft es viel besser. Vielleicht fühlt sich ihre andere beste Freundin Annemie, die darunter leidet, nie die erste Geige zu spielen, dann auch nicht länger auf den zweiten Platz verwiesen. Perfekt! Freundin und Schweundin, zwei unterschiedliche Gattungen, die sich nicht ins Gehege kommen und darum auch nicht länger eifersüchtig aufeinander sein müssen. Olga lächelt zufrieden, als sie die ersten Buchstaben schreibt.

Auf dass nichts und niemand unser Band jemals trennt, endet sie ihren Eintrag und malt ein Herz darunter. Sie weiß, Lotte wird sich darüber besonders freuen, weil aus Olga poetische Sätze normalerweise nicht hinausfließen wie der Tee aus einer leckgeschlagenen Kanne.

Pfeifengeruch steigt ihr plötzlich in die Nase. Sie riecht den Tabak, noch bevor Pa die Türklinke herunterdrückt. Die vielen gemeinsamen Lehrstunden im Wald, in denen sie von ihrem Großvater im Riechen, Schmecken und Hinsehen geschult wird, zahlen sich aus, ihre Sinne schärfen sich.

»Ist hier denn schon wer wach?«, ruft Pa und steckt den Kopf durch die Tür.

Olga muss grinsen.

»Ich will der Erste sein, der meinem Gänseblümchen zum Geburtstag gratuliert.«

Sie schaut an ihm vorbei durch die Tür. Wann war er jemals nicht der Erste? Normalerweise folgt ihm ihr Bruder Karl, aber der ist gerade in einem Zeltlager mit der HJ. Vermutlich ist er ganz froh, nicht mit ihr feiern zu müssen. Schließlich ist es auch der dreizehnte Todestag seiner Mutter.

»Sehe ich da etwa zwei Mundwinkel hängen?«, sagt Pa, als könnte er sich ihre getrübte Feierlaune nicht erklären.

»Ach, Pa«, beginnt sie leicht beklommen, doch er unterbricht sie.

»Papperlapapp!« Er lässt ihre Nöte nicht gelten. »Freu dich, dass du Geburtstag hast. Wenn du dich nicht freust, hast du schließlich trotzdem Geburtstag.«

Das ist so typisch für ihn. Wenn er das Leben schon nicht ändern kann, dann nimmt er es wenigstens mit Humor.

»Deine Mutter hat dir ihr Leben geschenkt. Kein Opfer«, fügt er hinzu, »sondern ein Liebesdienst. Verstehst du? Also hör auf, Trübsal zu blasen!«

Mit diesen Worten setzt er sich auf die Bettkante, umfasst ihr Gesicht. Dann küsst er die Sommersprossen auf Olgas Wangen und lässt etwas in ihrem Ohr verschwinden.

»Simsalabim, mein Gänseblümchen!«

Sie muss lachen und zieht ein Markstück hervor.

»Von deinem Vater soll ich dir alles Gute ausrichten. Er schafft es wohl nicht«, sagt Pa und erhebt sich mit einiger Anstrengung.

Er will nicht, denkt Olga und schwört sich, niemals so zu werden wie er, so abweisend und gefühllos.

»Deine Mutter hat 1918 die Spanische Grippe überlebt, aber dich, Olga, dich hat sie nicht überlebt«, hat er ihr neulich zugezischt, nachdem sie versehentlich Kralle auf die Pfote getreten war, seinem ungestümen Zwergschnauzerwelpen. Und dich?, ging ihr durch den Kopf. Hat sie denn dich überlebt? Du bist doch Arzt!

Olga erinnert ihn noch immer an das, was er vor dreizehn Jahren verloren hat, das weiß sie. Allein durch ihren Anblick weckt sie die Wut in ihm jedes Mal aufs Neue.

Also verschanzt er sich lieber fünfzig Kilometer entfernt von ihr in seiner Zweitwohnung in Schwedt, wo er als Amtsarzt im Gesundheitsamt in der Abteilung für Seuchenbekämpfung arbeitet. Was er dort genau tut, weiß Olga nicht, so wie sie überhaupt nur wenig weiß über ihn. Denn selbst wenn er zu Hause ist, verkriecht er sich meist im Arbeitszimmer hinter seinen Akten oder auf dem Friedhof und schert sich nicht um sie. Vermutlich sind die Stunden in Schwedt, weit weg von ihr, seine einzig sorglosen. Aber was soll’s, denkt sie und verscheucht das dumpfe Gefühl, allein gelassen worden zu sein. Eigentlich mangelt es ihr an nichts, weder an Mutterliebe noch an Vaterliebe. Sie hat Mamme, die ihr fast wie eine eigene Mutter ist, sie hat die Mamsell, die ihr heißen Kakao macht und ihr vorsingt, wenn sie sich das Bein aufgeschlagen hat, und sie hat Pa, der mit seiner Wärme und seinem unverwüstlichen Humor hundert abwesende Väter aufwiegt. Von all den Menschen, die sie umgeben, ist er derjenige, dessen Meinung ihr am meisten bedeutet. Olgas Herz glüht vor Liebe zu ihm. Ihr Bruder Karl sagt immer, sie klebe an ihm wie eine Briefmarke.

»Soll ich dir erzählen, was deine Mutter an ihrem Geburtstag am liebsten gemacht hat?«, fragt ihr Großvater.

Olga schüttelt den Kopf. Der Gedanke an das, was sie hätte haben können, macht sie nur traurig. Und zum ersten Mal dämmert ihr, dass auch ihr Vater nicht nur wütend ist, sondern vor allem eins: traurig.

»Weißt du, mein Kind«, sagt Pa, als hätte er ihre Gedanken gelesen, »es gibt zwei Sorten Mensch. Die, die darüber reden, und die, die es nicht tun. Beides ist in Ordnung.«

»Danke«, erwidert sie und senkt den Blick. »Hast du mir etwas mitgebracht?«

»Tut mir leid, aber der Ofen ist aus. Bäcker Zapfen liegt mit der Grippe flach«, erwidert er mit ernster Miene und geht zur Tür. Doch seine Mundwinkel haben gezuckt, das hat sie deutlich gesehen. Sie weiß, er will sie nur ärgern – um nichts in der Welt würde er sie um den Apfelkrapfen bringen, in dessen butterweicher Mitte er den Bäcker jeweils eine Kleinigkeit verstecken lässt, ein Briefchen, ein Bonbon, eine Goldmünze.

»Oder meinst du etwa diesen allerbesten der weltbesten Zapfenkrapfen hier?«, fragt er und holt von draußen einen dampfenden Teller herein. Der süße Geruch zieht ihr tief in die Nase, und ihr läuft das Wasser im Mund zusammen.

»Mmh! Wie der duftet!«, jubelt sie.

Pas Gesicht, eine zerklüftete Landschaft mit tiefen Gräben um den Mund, mit Narben und Falten, die von der Nase aus wie weit verzweigte Wege auseinanderlaufen, wird ganz weich. Als Olga noch kleiner war und auf seinem Schoß saß, ließ er sie die Wanderpfade seines Lebens auf seinem Gesicht mit ihrem Finger nachfahren. »Gezeichnet von der Natur, im wahrsten Sinne!«, sagte er mit einem donnernden Lachen.

Wie ihr seine Züge doch Vertrauen einflößen, denkt sie, als sie in den Krapfen beißt und darüber vergisst, dass sie sich doch mit der Zunge vorsichtig vom Rand zur Mitte vortasten muss, hin zum versteckten Schatz. Ohne nachzudenken, schluckt sie den Bissen hinunter.

»Mach langsam …«, erinnert Pa sie noch, aber da beginnt sie schon zu würgen. Etwas steckt in ihrer Luftröhre fest. Olga versucht zu schlucken und Luft einzusaugen, doch sie röchelt nur und bekommt keine Luft. Ein Schauer von Panik und Schmerz läuft ihr über den Rücken. Sie ist sich sicher, sie erstickt.

So ist es also zu sterben, denkt sie seltsam ruhig. An meinem Geburtstag.

Dann wird alles schwarz.

29. März 1991

Unterwegs

Hügelige Wiesen, Laubwälder, Seen, die in der Sonne schimmerten. Vom Beifahrersitz aus ließ Olga die vertraute Landschaft an sich vorbeiziehen wie das Geplauder von Sara und Becki. Die Natur erwachte aus ihrem Winterschlaf. Die Veilchen und die Schneeglöckchen blühten auf einmal, die Bäume trieben kräftig aus, Gänse zogen nach Norden. Auf einer lichtgrünen Wiese grasten Pferde, und Olga erhaschte einen Blick auf ein riesiges verblasstes Plakat, von dem ihr Helmut Kohl wie ein Heilsbringer entgegenlachte, um zur ersten gesamtdeutschen Wahl im Dezember 1990 aufzurufen. Das war jetzt schon ein Vierteljahr her, und er hatte noch immer gut lachen. Zumindest auf der Wiese zwischen Bösdorf und Eutin. Vielleicht ließ man ihn mit Absicht hängen, um daran zu erinnern, dass er bleiben würde, ob man wollte oder nicht. Statt der vollmundig versprochenen blühenden Landschaften in den neuen Ländern blühten Arbeitslosigkeit und Verbitterung, und die Montagsmarschierer, die lange pausiert hatten, gingen wieder auf die Straßen, diesmal gegen Kohl und Konsorten. Erst gestern Nacht hatten sie in Berlin ein Gebäude der Treuhand in Brand gesetzt, um dagegen zu protestieren, dass das Volkseigentum verhökert und die Interessen des kleinen Mannes verkauft wurden. Das Klima wurde rauer.

Aber heute wollte Olga nicht an den Kanzler denken, den sie nicht gewählt hatte, und auch nicht an die DDR, in der sie nie gewesen war. Lieber schaute sie aus dem Fenster in den tiefblauen Himmel. Die Sonne, die ihr durch das geschlossene Fenster über die rechte Wange wanderte, wärmte bereits. Seit sie vor dreißig Jahren nach Plön gezogen war, hatte es kaum einen Geburtstag gegeben, an dem sie nicht mit eingezogenem Kopf und beißenden Ohren am See entlangspaziert war. In diesem Jahr war es anders.

Es war Karfreitag, und nach dem langen Winter sehnte sich anscheinend jeder nach Wärme und salziger Meeresluft. Auf der Straße Richtung Ostsee herrschte reger Verkehr, darunter viele Autos aus Nordrhein-Westfalen.

Der Stau störte sie nicht, er gab ihr Zeit zum Nachdenken. Zeit, um sich ein wenig Ruhe zu gönnen. Ihr war es egal, wohin die Reise ging, solange das monotone und gleichmäßige Dröhnen des Motors nur seine sedative Wirkung auf sie entfaltete.

Olga schloss die Augen und hoffte auf ein wenig Schlaf. Die vielen wachen Nächte und wirren Träume der letzten Wochen zerrten an ihren Nerven. Vielleicht würde sie ja hier im Auto Ruhe finden. An kaum einem anderen Ort fühlte sie sich so entspannt und sicher. Als wäre der metallene Kasten ihr persönlicher faradayscher Käfig, der ihr erlaubte, die Welt samt ihren Unwettern aus sicherer Entfernung zu betrachten, ohne sie hereinlassen zu müssen. Eine ihrer frühesten Erinnerungen war, wie ihr Großvater sie in seinem schwarzen Wagen mit den braunen Ledersitzen auf den Schoß genommen und ihr mit Engelsgeduld erklärt hatte, wozu die verschiedenen Instrumente dienten. Auf freier Strecke hatte er sie dann irgendwann mit einem Mal aufgefordert, das Steuer zu übernehmen, hatte das Lenkrad losgelassen und gerufen: »Keine Angst, Gänseblümchen, hier bist du sicher!«

Er ließ sie immer häufiger fahren, las Zeitung oder tat zumindest so, während sie den Wagen ganz allein einen einsamen Waldweg entlangsteuerte. In diesen Momenten fühlte sie sich so verbunden mit ihm, der Welt und der schönen Natur um sie herum, dass sie sich schwor, später einmal selbst einen Wagen zu besitzen. Als hätte das Gefühl mit dem Gefährt zu tun.

Es hatte noch einmal fast zwanzig Jahre gedauert, ehe sie den Schlüssel für einen blauen Käfer in der Hand hielt. Ihre erste Reise damals führte sie nach Ischia. Noch heute überlief es sie heiß und kalt, wenn sie nur daran dachte. Sie war niemals so glücklich gewesen wie auf der Insel, aber auch niemals so einsam und verlassen, als sie bitterallein die Rückreise angetreten hatte.

Wohin die Reise wohl heute ging? Sosehr Olga ihre Mädchen auch drängte, die beiden hatten es ihr nicht sagen wollen. Vier Tage würden sie von zu Hause fort sein, so viel zumindest hatten sie verraten. Vielleicht ging es nach Amsterdam? Olga hatte neulich in einem Telefonat erwähnt, dass sie das Van-Gogh-Museum gerne einmal sehen würde …

Sie lächelte. Ja, es war die richtige Entscheidung gewesen, mit ihnen wegzufahren. So würden sie endlich wieder etwas Zeit füreinander haben. Becki sah sie nur noch zwei-, dreimal im Jahr, und seit Oktober, seit Sara in Hamburg Medizin studierte, bekam sie auch ihre Enkelin nur noch ab und an zu Gesicht, wenn sie an den Wochenenden Hendrik besuchte, ihren Freund.

Ein Hupen riss Olga aus den Gedanken. Verschwommen sah sie, wie ein silberner Audi sie überholte.

»Wie bitte?«, hörte sie Becki sagen. »Aber dafür bin ich doch nicht auf die Straße gegangen!«

»Wofür bist du nicht auf die Straße gegangen?«, fragte Olga. »Dass dich andere Autos überholen?«

»Ach Quatsch, Mami«, sagte Becki und klopfte aufs Lenkrad, als sie erneut ein Wagen überholte und knapp vor ihr einscherte. »Dafür, dass Sara ihre Freiheit gegen Sklaverei eintauscht.«

»Was soll das denn jetzt heißen?« Durch den Rückspiegel sah Olga, dass Sara genervt dreinschaute.

»Dass sie freiwillig hinab in den Chauvi-Muff der Fünfzigerjahre klettert und mit ihrem Freund zusammenziehen will, Mami, mit gerade mal zwanzig!«, schimpfte Becki entnervt.

Wieso denn auch nicht, dachte Olga, aber sie hütete sich, das laut auszusprechen. Wenn es nach Becki ging, sollte Sara sich erst mal selbst entdecken, allein, ohne einen Mann an ihrer Seite. Hendrik begann zum Sommersemester sein Jurastudium, und da Hamburgs Zimmermarkt leergefegt war, suchte er Unterschlupf in Saras WG in Ottensen, bis er etwas Eigenes gefunden hatte.

»Chauvi-Muff? Im Ernst? Soll er etwa vor der Mensa campieren? Außerdem hast du doch noch nie mit einem Mann zusammengelebt!« Sara wirkte gekränkt. »Und wer sagt, dass ich ihm die Hemden bügle? Was für ein Quatsch!«

»Hab ich wohl«, sagte Becki und drehte sich kurz nach hinten, wo Sara auf der Rückbank einen Pullover für Hendrik strickte. »Mit Bernd zum Beispiel, mit dem hab ich in Freiburg zusammengewohnt. Aber da war ich schon fünfundzwanzig und hatte einen Beruf.«

»Ha! Sechs Monate, dann hast du meinen Vater rausgeschmissen«, parierte Sara und zwinkerte Olga über den Rückspiegel zu. Als Becki und Bernd sich getrennt hatten, kurz nach Saras Geburt, war sie zurück nach Plön und Bernd nach Boston gezogen, um eine Professur für Gender Studies in Harvard anzunehmen. Becki hatte da bereits als Steinmetz gearbeitet, als einzige und erste Frau in ihrem Betrieb, und sich noch dazu als Restauratorin ausbilden lassen. Sie träumte davon, mit Sara im Gepäck durch die Welt zu ziehen und da zu arbeiten, wo ihre geschickten Hände gebraucht wurden. Doch dann musste Sara zur Schule, und Becki wurde es schnell zu eng in Plön, wo sie nach der Trennung von Bernd in einem Steinmetzbetrieb eine Anstellung bekommen hatte. Eine Weile lebten sie zu dritt in Olgas Wohnung, bis Becki den Auftrag bekam, in Verona eine Kirche zu restaurieren. Es folgten Tempel, Bibliotheken und Schlösser in Avignon, Toulouse, Palermo und Kairo, und irgendwann war sie mehr unterwegs als zu Hause. Wie selbstverständlich war es Olga, die von da an Saras Erziehung übernahm. Nach Jahren in der Frauenklinik in Lübeck hatte sie kurz nach Saras Geburt eine Praxis für Gynäkologie und Geburtshilfe an der Nikolaikirche übernommen, mit Seeblick, und ihr Vorgänger war glücklich, sie an vier Nachmittagen zu unterstützen. In den ersten Jahren arbeitete sie deshalb nur halbtags, und wenn Sara aus der Schule kam, war sie für sie da. Vielleicht um wiedergutzumachen, dass sie so wenig Zeit für Becki gehabt hatte, als diese klein war.

Vor ihnen leuchteten Bremslichter auf, während Becki in ihrer Tasche nach etwas kramte.

»Becki, sieh nach vorne!«, rief Olga aus.

Ihre Tochter sah hoch und trat gerade noch rechtzeitig auf die Bremse. Der Gurt schnitt in Olgas Schulter, als sie ruckartig nach vorne schnellte.

»Ganz genau, Schatz«, sagte Becki ungerührt, ohne sich um Olgas Stöhnen zu kümmern. »Mehr Zeit brauchte ich auch nicht, um festzustellen, dass Männer fürs Zusammenleben völlig ungeeignet sind.« Ein Lächeln huschte über Beckis Gesicht, und sie drückte den Zigarettenanzünder im Armaturenbrett.

»Immerhin hast du ihn geheiratet«, setzte Sara nach und ließ das Strickzeug sinken.

»Da hast du es.« Becki seufzte schwer. »Liebe macht unselbstständig und unemanzipiert, zumindest die bürgerlich kapitalistische Liebe. Ein Blick in Bernds Augen hat gereicht, um das wilde Mädchen in mir zu zähmen und Jahre der Emanzipation zunichtezumachen. Ich hatte halt gehofft, liebe Sara, dich zu mehr Eigenständigkeit erzogen zu haben.«

»Omama hat mich erzogen, nicht du«, sagte Sara.

»Autsch.« Becki blickte erstaunt auf. »Das tat weh.«

»Die Wahrheit?« Sara beugte sich vor und kniff ihrer Mutter leicht in die Wange, wie sie es schon als Kind getan hatte. »Oder meine Hände?«

»Beides!«, sagte Becki theatralisch und tastete in der Ablage vor dem Schaltknüppel nach ihrem Etui.

»Warte«, kam Olga ihr zuvor und reichte ihr eine Zigarette. »Ein Beinaheunfall reicht.« Dann drehte sie sich leicht nach hinten um.

»Mach deine eigenen Erfahrungen«, sagte sie zu Sara. »Und wenn es nicht klappt, dann klappt es nicht. Wichtig ist nur, dass du weißt, wer du bist und was du willst. Damit du frei wählen kannst, mein Herz.«

»Konntest du das denn, Omama?«, fragte Sara, mit einem Mal ernst. »Frei wählen?«

Olga überlegte. »Manchmal ja, häufiger jedoch hat das Leben für mich entschieden. Oder die Männer. In meiner Generation hatte der eigene Wille einer Frau durchaus seinen Preis. Ich habe es versucht, Sara, immer wieder, aber ich bin oft an Grenzen gestoßen.«

»Scheiß auf die Grenzen«, rief Becki empört aus und zog an ihrer Zigarette. »Die wollen mir heute noch alle verpassen! Nur weil ich nicht dem Rollenklischee entspreche und Dinge tue, die angeblich nicht ›in meiner Natur liegen‹. Deshalb bin ich doch noch lange keine Rabenmutter, Sara! Und wenn Bernd, nur weil er ein Mann ist, einfach so nach Amerika abhaut, um der Welt das weibliche Geschlecht zu erklären, dann … ja, dann ist das eine tolle Leistung! Dabei weiß er noch nicht mal, wo genau das sitzt.«

»Becki!«, rief Sara empört, und Olga dachte nicht zum ersten Mal, dass sie sich nie daran gewöhnen würde, dass Sara ihre Mutter beim Vornamen rief. »Wer bitte will das wissen?«

Durch den Spiegel sah Olga, wie Sara sich den Rauch von ihrem Gesicht wegwedelte. »Kannst du das Fenster öffnen? Es stinkt.«

Becki stöhnte und öffnete das Fenster.

»Genau das meine ich«, sagte sie. »Vergiss die Grenzen. Verweigere mir den Respekt. Auch wenn ich mich schon fragen darf, in welchen Zeiten wir leben, wenn die Mutter ihrer Tochter sagen muss, dass sie spießig ist.«

Als kleines Kind hatte Sara gedacht, dass jede normale Familie so aussah wie ihre: Omama, Sara, manchmal Becki. Doch je älter sie wurde, desto mehr stellte sie ihr gemeinsames Konstrukt in Frage. Olga erinnerte sich noch gut daran, wie Sara sie manchmal traurig gefragt hatte, warum es in ihrer Familie keine Männer gab, die blieben, warum es nicht ihre Mutter war, die ihr die Schulbrote schmierte, und warum sie ihren Vater nur einmal im Jahr sah, wenn er sie in seinen Semesterferien besuchte. Sie kannte diese Art von Fragen bereits von Becki und auch von sich selbst. Bei ihrer Tochter war es dieser flehentliche Blick gewesen, mit dem sie sie damals angesehen hatte, noch Monate nachdem Olga ihren zweiten Mann verlassen hatte. Becki fand es ungerecht, ihr auch den zweiten Vater zu nehmen, selbst wenn sie zu ihm und seiner neuen Familie bis heute ein inniges Verhältnis pflegt.

Sie selbst hatte sich als Kind oft gefragt, warum sie nie eine Mutter gehabt hatte. Ihr Großvater hatte die mütterliche Rolle übernommen, und es waren die Mamsell und Mamme, die ihn dabei so gut es ging unterstützten. Ganz gleich, wie sehr diese drei Menschen sich um sie bemüht hatten, sie litt darunter, anders zu sein. Wie oft hatte sie sich insgeheim gewünscht, in einer Familie wie der von Lotte aufzuwachsen. Wenn sie diese Gedanken aussprach, hatte Pa natürlich sofort den blumschen Hauspoeten parat. »Gänseblümchen, selbst wenn Tolstoi behauptet, dass alle glücklichen Familien einander gleichen und jede unglückliche Familie auf ihre eigene Art unglücklich ist, darf ich doch anmerken, dass auch das Glücklichsein durchaus verschiedene Ausprägungen hat.« Am Ende hatte sie mit ähnlichen Worten versucht, Becki und Sara zu erklären, dass jede Familie anders war und ihre ganz eigene Art der Zufriedenheit besaß.

Sara zog es dennoch zu Hendrik, und Olga war überzeugt, dass es an seiner tolstoischen glücklichen Familie lag: eine jüngere Schwester, einen Vater, der sich abends nach der Arbeit an den gedeckten Tisch setzte, und eine Mutter, die halbtags arbeitete und den Rest ihrer Zeit darauf verwendete, es ihrer Familie heimelig und schön zu machen. Wenngleich sie dafür auf vieles verzichtete …

Sara atmete tief aus. »Vielleicht geht heute auch alles: Kinder, Familie und Karriere.« Sie strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr. »Oder, Omama?«

Olga sah Becki an. »Nicht einfach, aber möglich, würde ich sagen.«

»Unsinn, Mami«, widersprach Becki. »Wir können zwar alles haben, aber leider nicht gleichzeitig. Wenn man das erst mal verstanden hast, ist man frei, glaub mir.«

»Frei wovon?«, fragte Sara betont beiläufig. In ihren Worten schwang Enttäuschung mit, wie so oft, wenn sie auf das Thema zu sprechen kamen. Darüber, dass Becki nicht wusste, wie man das machte, Mutter sein, oder es gar nicht wollte, weil ihr Bedürfnis nach Freiheit immer größer gewesen war.

»Nur Schnecken bleiben immer in ihrem Zuhause«, hatte Becki einmal zu Sara gesagt, als diese – damals erst acht – ihre Mutter zum Bleiben hatte bewegen wollen. »Aber du und ich, wir sind kleine Stieglitze, und du weißt ja, wie elend sich Wildvögel in Käfigen fühlen.«

Olga war bei diesem Ausspruch zusammengezuckt. Wie konnte Becki ihrer Tochter nur sagen, dass sie es zu Hause nicht aushielt! Aber es war zwecklos gewesen, sie darauf anzusprechen, genauso zwecklos, wie ihr die Flügel stutzen zu wollen.

Becki warf Sara durch den Rückspiegel einen ernsten Blick zu.

»Frei von Zwängen und Erwartungen, wie die Männer auch«, antwortete sie.

Olga stutzte. Wie kam ihre Tochter nur darauf, dass Männer frei waren? Auch sie wurden von Zwängen und sozialem Druck in Rollen gepresst, mussten sich Vorstellungen und Erwartungen unterwerfen, auch wenn es andere waren. Doch es hatte keinen Zweck, mit Becki zu diskutieren, wenn sie in kampfeslustiger Stimmung war wie jetzt gerade – fast immer also. Und erst recht nicht, wenn sie hinterm Steuer saß.

Doch darum scherte Sara sich nicht, sie bohrte immer weiter, auch das kannte Olga zur Genüge.

Seufzend ließ Olga sich wieder in den Sitz sinken und lauschte dem Klang der Stimmen, die ihr so vertraut waren. Kurz die Augen schließen, dachte sie. Nur für ein paar Minuten.

Eine Hand berührte sanft ihre Schulter. »Aufwachen, Mami! Wir sind gleich da«, vernahm sie Beckis Stimme.

Sie hatte geträumt, irgendeinen schönen Traum, das wusste sie noch, irgendwas von einem See … Ja, sie war über einen See gepaddelt … Doch jetzt war sie wach, und der Nacken tat ihr weh.

Wo waren sie?

Sie blickte hoch und sah an den vorbeiziehenden Bäumen, dass sie immer noch fuhren.

»Schau mal auf das Ortsschild«, sagten Sara und Becki dann plötzlich wie aus einem Mund.

Mit einer vorsichtigen Bewegung drehte Olga den Kopf nach rechts und erblickte zunächst nur eine Reihe von Ginsterbüschen, die den Straßenrand bewucherten. Dann rückte ein gelbes Ortsschild in ihr Gesichtsfeld. Olga fuhr erschrocken hoch. Ginsterburg? Sie fasste sich an den Hals, das Atmen wurde ihr schwer.

»Wo sind wir?«, presste sie hervor, als könnte ihre Frage die Antwort verändern. Doch es dröhnte so laut in ihren Ohren, dass sie eh nichts verstand. Das Einzige, was sie wahrnahm, waren Beckis sich bewegende Lippen, das immer greller werdende Gelb des Schildes und der scheinbar hinter ihm emporwachsende Kirchturm der Dreifaltigkeitskirche, in der sie getauft und konfirmiert worden war.

Sie rang nach Luft, versuchte, ruhiger und tiefer zu atmen, so wie Pa es immer zu ihr gesagt hatte, wenn der Sturm in ihrem Kopf wütete und sie ohnmächtig zu werden drohte.

Ganz ruhig, Gänseblümchen, atme, atme …

1. April 1938

Ginsterburg

Olga öffnet die Augen, und durch das geöffnete Fenster fallen die ersten Sonnenstrahlen des Tages weich auf ihr Gesicht. Sie liegt auf dem Boden, die Beine mit einem dicken Kissen hochgelagert. Pa beugt sich über sie und hält ihr Essigäther unter die Nase.

»April, April? Seit wann mundet dir Goldschmuck mit Edelstein, noch dazu ungesüßt, mein Gänseblümchen?« Er drückt ihr etwas in die linke Hand. »Deine Aprilscherze waren auch schon besser. Der ist nicht zum Runterschlucken, sondern zum Herzeigen und Angeben.«

»Ich habe ihn verschluckt?«, fragt sie und betrachtet ihr Geschenk. Es ist ein Ring, mit einem roten Rubin in der Mitte.

»Nicht ganz, zum Glück! Mit ein paar kräftigen Schlägen zwischen deine Schulterblätter habe ich ihm Beine gemacht, das kannst du mir glauben. Der Ring ist aus deinem Mund geschossen wie die Luft aus Goebbels Hintern.«

Olga richtet sich auf und spürt nun am ganzen Rücken einen dumpfen Schmerz.

»Aua«, sagt sie und streicht über den Ring. Sie kennt ihn. »Der gehörte Babuschka, oder?«, fragt sie leise und streift ihn sich über den Ringfinger der linken Hand. Ihre russische Großmutter Irina hatte ihn bis zu ihrem Tod nie abgelegt, er war so etwas wie ihre Krone gewesen, die sie und vor allem ihren Mann jeden Tag an ihre aristokratische Herkunft erinnern sollte. Ihre Familie hatte geglaubt, die Revolution würde nach wenigen Monaten scheitern, deshalb waren Schmuck und Erinnerungen das Einzige, was ihre Eltern auf die Flucht vor den Bolschewiken von Sankt Petersburg nach Ginsterburg zu Albert und ihr mitgenommen hatten.

Doch ihre Eltern und Erinnerungen waren geblieben, und so ließ Babuschka ihre Enkelkinder jeden Sonntag an ihren alten Geschichten teilhaben. Meist saßen sie und Pa sich dabei in den großen Ohrensesseln gegenüber, während Olga und Karl zu ihren Füßen Platz nahmen, ganz dicht beim knisternden Feuer. Mit einer lustigen Mischung aus Deutsch und Russisch erzählte Babuschka dann von der herrlichen Aussicht aus ihrem Palastzimmer bis ans finnische Ufer und von Leo Tolstoi, der gelegentlich bei ihnen zum Tee gewesen war, um mit ihrem Vater, einem Offizier der Kaiserlich Russischen Armee, Schach zu spielen.

Während Pa tat, als würde er Zeitung lesen, hörte er seiner Frau Irina mit stillem Lächeln zu. Nie vergaß sie, von den Bällen bei ihnen zu Hause zu berichten, auf denen sie mit stattlichen Offizieren getanzt hatte. Kaum erwähnte sie jedoch den tanzfreudigsten aller Offiziere, stand Pa auf, verbeugte sich vor ihr und wirbelte sie durchs Zimmer.

»Wie tanzt der stattliche Gatte mit seiner wunderschönen Gattin?«, fragte er seine Frau nach einer Weile immer.

»Besser als der stattlichste Offizier«, gab sie ihm zur Antwort. Und sie lachten sich an wie zwei Jungverliebte.

Zum Ritus am Ende der Erzählstunde gehörte es, dass Olga auf Babuschkas Wunsch hin aus einem der vielen Bücherregale im Kaminzimmer einen Band von Tolstoi heraussuchte, aus dem ihr Bruder vorlesen sollte. Am liebsten hatte sie Anna Karenina, weil ihre Heldin, wie Babuschka schwärmte, den Mut besaß, sich ihrer Zeit zu widersetzen, selbst wenn sie dafür ins Verderben rannte. Nach der Lesestunde ließ die Großmutter sich und ihrem Mann von der Mamsell einen Sherry einschenken und sprach abschließend einen Toast zum Sonntag: »Auf dass unsere Kultur nicht genauso schnell untergehen möge wie das Zarenreich. Sa Sdarówje!«

Das alles wiederholte sich jeden Sonntag bis zum plötzlichen Tod ihrer Großmutter vor vier Jahren, als sie vom Mittagessen aufstand, schwankte und tot umfiel. Doch sosehr Pa auch unter dem Tod seiner Frau leiden mochte, hatte er dennoch in den Jahren seines Witwerdaseins weder seine Liebenswürdigkeit noch seinen Humor verloren. Warum ist ihr Vater so anders, denkt Olga. Warum ist er so kühl, so schroff?

Pa steht auf und stopft seine Pfeife. »Rubin steht für die reine Liebe«, sagt er und gibt ihr einen Kuss. »Darum ist er das perfekte Geschenk für meine allerliebste Enkeltochter.«

Für seine einzige. Sie spürt, wie ihr Tränen über die Wangen laufen. Weil ihr der Schreck noch in den Knochen sitzt, weil sein Geschenk und seine Worte sie so rühren.

Da formt Pa seine Hände und Finger zu einem Reh und lässt den Schatten über die weiße Zimmerwand springen. »Seit wann können Gänseblümchen weinen?« Er schlägt einen hohen kratzigen Ton an, wie immer, wenn er das Schattentier spielt. »Sie können doch nur den Kopf hängen lassen.«

Also lässt er Dr. Kitz mit hängendem Kopf über die Wand schlurfen, was so komisch aussieht, dass sie lächeln muss.

Pa ist oft zu Späßen aufgelegt und überzeugt, dass Lachen das Einzige ist, was wirklich gegen Angst und Schmerz wirkt.

»Bin ich nicht zu groß für Dr. Kitz?«, fragt Olga und ist froh, dass sie es nicht ist. Sie wischt sich die Tränen weg und lehnt den Kopf zufrieden an Pas Brust. Dr. Kitz taucht immer dann auf, wenn sie sich wehtut.

Als Olga noch nicht in die Schule ging, hatten sie und Pa auf einem Waldausflug ein wenige Wochen altes, von seiner Mutter verlassenes Rehkitz gefunden. Sie nahmen den Findel mit nach Hause, zogen ihn mit Hand und Flasche auf und tauften ihn Dr. Kitz, weil die Kinder in der Praxis, wenn sie das Reh im Garten herumspringen sahen, augenblicklich ihre Schmerzen vergaßen. Nach seiner Auswilderung blieb der gute Geist von Dr. Kitz als Schatten zurück und muntert seitdem die jungen Patienten auf, wenn kein gutes Zureden, keine Salbe oder Arznei mehr zu helfen scheint.

Doch so gern Olga sich von Dr. Kitz auch trösten lässt, will sie ihrem Pa doch zeigen, dass sie kein Kind mehr ist. Mit betont sachlicher Stimme fragt sie: »Stridor durch Fremdkörperaspiration?« Sie spielen dieses Spiel oft, nur handelt es sich dann um Diagnosen von Pas Patienten, nicht um ihre eigene.

»Da lobe ich mir die professionelle Neugier meiner kleinen Wissenschaftlerin«, sagt er amüsiert. »Wer klug fragt, soll auch kluge Antworten bekommen. Also« – er räuspert sich – »der Fremdkörper drückt auf die Nervengeflechte in der Schleimhaut von Rachen und Kehlkopf und löst einen Reflex auf den Vagusnerv aus. Du kannst nur froh sein, dass ich keinen Luftröhrenschnitt gemacht habe. Fachbegriff dafür?«, spielt Pa weiter.

»Tracheotomie«, kommt es wie aus der Pistole geschossen. Ihr Hunger nach Wissen ist unstillbar, und seit sie angefangen hat zu fragen, füttert er sie mit sämtlichen medizinischen Häppchen, nach denen sie verlangt.

Luftröhrenschnitte sind Pas täglich Brot, besonders wenn die Grippe wütet oder die Wespen ihr Unwesen treiben. Sie muss ihm oft die Petroleumlampe halten, wenn er die Klinge ansetzt. Da geht es um Sekunden, sonst ersticken die Patienten oder erleiden einen Hirnschaden. Einmal waren sie auf dem Wochenmarkt, als sich jemand an einer Nuss verschluckt hat. Weil ihr Großvater sein Operationsbesteck nicht zur Hand hatte, griff er auf sein Taschenmesser zurück, mitten auf dem belebten Marktplatz, und setzte schräg neben dem Kehlkopf einen kleinen Schnitt, damit die Wunde nicht so blutete. Pa sah aus wie ein Irrer, der jemandem vor aller Augen die Kehle durchschnitt. Bei dem Anblick wäre sie trotz starker Nerven fast umgekippt. »Merk dir«, hatte er ihr danach gepredigt, »dass du die Wunde offen halten musst, zur Not mit einer Erbse. Entscheidend ist, der Patient kriegt Luft.«

Nun nickt er anerkennend. »Sa-gen-haft! Jetzt musst du die Tracheotomie nur noch am lebenden Objekt hinbekommen.« Er sieht sie mit einer Mischung aus Stolz und Bewunderung an.

»Kein Problem«, erwidert sie mit dem Selbstbewusstsein einer erfahrenen Operateurin. An ihrer Käthe-Kruse-Puppe Maja hat sie den Luftröhrenschnitt als kleines Mädchen oft geübt. Ihre Freundinnen schlossen Olga irgendwann vom gemeinsamen Puppenspiel aus, weil sie fanden, Maja sähe aus wie eine Vogelscheuche, so übersäht von Fäden, Knoten und Nähten, wie sie war. Olga akzeptierte das ungerührt. Denn als Patientin vollbrachte Maja sowieso wertvollere Dienste, selbst wenn es zu Lasten ihrer Schönheit ging. Inzwischen spielen Lotte und Annemie genauso wenig mit Puppen wie sie. Dafür kümmern sie sich um ihre eigene Schönheit, denkt Olga seufzend.

»Im Wort Geburtstag steckt Geburt«, sagt Pa nun. »Da wäre es doch nur recht, wenn wir zusammen das Baby derer Hochwohlgeboren von Hettersdorf auf die Welt bringen.«

Olga hört ihr Herz schlagen. Eine Geburt!

Pa hat sie schon in die Praxis oder auf Hausbesuche mitgenommen, kaum dass sie laufen konnte. Als sie groß genug war, um über den Behandlungstisch zu schauen, durfte sie ihm Schere, Tupfer und seine Pfeife reichen, Gips anrühren für die vielen Brüche und Arzneien vom Apotheker holen. Inzwischen legt sie selbstständig Verbände an, öffnet Eiterbeulen und zieht unter seinen wachsamen Augen Fäden, neulich sogar einen Zahn. Das war, als der große, kräftige Bäcker Zapfen eines Nachts geklingelt und sich jammernd die Wange gehalten hatte. »Zu viel Krapfen, Herr Zapfen?«, hatte Pa gescherzt, um ihn abzulenken, während er den Zahn mit Hebelinstrumenten lockerte. Um dann stillschweigend an Olga zu übergeben, die den nurmehr an Fleischfäden hängenden Zahn mit der Zange aus dem Kiefer zog. Seitdem drückt der Bäcker ihr jedes Mal etwas Süßes in die Hand, wenn sie an seiner Backstube vorbeiläuft. Olga hat schon viel erlebt, aber eine Geburt … Das übertrifft all ihre Erwartungen.

»Jetzt gleich?«, fragt sie, weil ihr einfällt, dass sie dann die Schule verpassen würde. Sie zieht die Mundwinkel nach unten. »Du weißt doch, dass Fräulein Witte mich auf dem Kieker hat.«

Ilse Witte, die neue Lehrerin, ist nach den Weihnachtsferien als Ersatz für Dr. Pfitzer gekommen, der von einem Tag auf den anderen verschwunden war. Wie die Familie Liebermann aus Lottes Nachbarhaus. Auf der Straße hat Olga Leute munkeln hören, dass der Pfitzer, der Kommunist, endlich im Lager sei bei den Liebermanns, wo die Spaltpilze, das bolschewistische Judengesocks, auch hingehörten. Sie hofft, dass sie sich irren, denn das, was ihre Freundin Annemie über die Lager erzählt hat, klang schaurig. Ihr Onkel war in so einem gewesen und ist klapperdürr und stumm wieder herausgekommen. Olga hofft, dass die Liebermanns mit ihren niedlichen dreijährigen Zwillingen tatsächlich noch rechtzeitig zu Verwandten nach England gezogen sind, wo die Menschen sie wie Menschen behandeln und der Vater wieder als Richter arbeiten darf. Aber warum sollte Mamme, die mit Elsa Liebermann befreundet ist, sie anlügen? Nachdem Olga ihr verängstigt berichtet hatte, was auf der Straße so getuschelt wurde, hatte Mamme ihr einen Brief von Elsa aus England gezeigt.