Der Sandmann. Die tödliche Spur des Adolf Seefeldt - Susann Anders - E-Book

Der Sandmann. Die tödliche Spur des Adolf Seefeldt E-Book

Susann Anders

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Beschreibung

Schwerin 1934: Kriminalrat Hans Lobbes wird aus Berlin in die norddeutsche Provinz beordert. Schreckliche Dinge haben sich hier in der ländlichen Idylle ereignet: Mehrere Leichen kleiner Jungen liegen tot im Wald. Doch die Körper weisen keinerlei Spuren von Gewalt oder Gift auf. Die toten Kinder erwecken den Eindruck, friedlich zu schlafen. Wer hat Ihnen das angetan und woran sind sie gestorben? Der Verdacht fällt auf Adolf Seefeldt, einen reisenden Uhrmacher ohne festen Wohnsitz, der bei den Kindern als "Onkel Tick Tack" bekannt ist ... Ist der unscheinbare Mann ein Serienmörder?

"Der Sandmann" von Susann Anders ist ein packendes Psychogramm und ein erschreckender True-Crime-Thriller über das Leben des Kindermörders Adolf Seefeldt, der 1936 wegen zwölffachen Mordes hingerichtet wurde.

eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung!

"Susann Anders versteht es gekonnt, die Spannung von Anfang bis zum Ende aufrecht zu halten. Geschickt hat sie einen spannenden Plot erschaffen und lässt tief in menschliche Abgründe blicken." - Helgas Bücherparadies

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Inhalt

Cover

Grußwort des Verlags

Über dieses Buch

Titel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Epilog

Über die Autorin

Weitere Titel der Autorin

Impressum

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Über dieses Buch

Schwerin 1934: Kriminalrat Hans Lobbes wird aus Berlin in die norddeutsche Provinz beordert. Schreckliche Dinge haben sich hier in der ländlichen Idylle ereignet: Mehrere Leichen kleiner Jungen liegen tot im Wald. Doch die Körper weisen keinerlei Spuren von Gewalt oder Gift auf. Die toten Kinder erwecken den Eindruck, friedlich zu schlafen. Wer hat Ihnen das angetan und woran sind sie gestorben? Der Verdacht fällt auf Adolf Seefeldt, einen reisenden Uhrmacher ohne festen Wohnsitz, der bei den Kindern als ”Onkel Tick Tack” bekannt ist ... Ist der unscheinbare Mann ein Serienmörder?

”Der Sandmann” von Susann Anders ist ein packendes Psychogramm und ein erschreckender True-Crime-Thriller über das Leben des Kindermörders Adolf Seefeldt, der 1936 wegen zwölffachen Mordes hingerichtet wurde.

Susann Anders

Der Sandmann.

Die tödliche Spur des Adolf Seefeldt

Kapitel 1

Schwerin im Oktober 1934.

Lobbes starrte an die Wand und zählte die Löcher, in denen irgendwann Nägel gesteckt haben mussten. Nach drei verschiedenen Ergebnissen gab er auf. Er fragte sich, welche Bilder hier gehangen hatten. Waren es Familienfotos seines Vorgängers gewesen? Oder eine Ölmalerei, womöglich eine eingerahmte Urkunde? Er würde es nie erfahren.

Mit einem tiefen Seufzer lehnte er sich in seinem abgewetzten Ledersessel zurück und stellte erneut fest, dass das Mobiliar in Berlin angenehmer gewesen war. Aber gut, er würde sich hier in Schwerin einleben. Er tippte mit den Fingern auf eine braune Mappe. Eine Fallakte, die er gestern zugewiesen bekommen hatte – wortlos und ohne einen Vermerk von Dringlichkeit. Nichts Besonderes also. Irgendwelche Kinder, die sich vermutlich im Wald verlaufen hatten und in der Kälte der Nacht erfroren waren. Warum man ihn und seine Abteilung damit behelligte, konnte er sich nicht erklären.

Das laute Scheppern seines Telefons riss ihn aus seinen trägen Gedanken.

»Lobbes am Apparat, was kann ich ...«

Eine sonore Stimme am anderen Ende der Leitung unterbrach ihn: »Haben Sie die Fallakte erhalten?« Die Frage kam, ohne dass sich der Mann am anderen Ende der Leitung vorstellte oder grüßte.

»Natürlich, Herr Oberstaatsanwalt!« Lobbes war es gewohnt, dass Beusch ohne Umschweife zum Thema kam. »Die Akte liegt direkt vor mir, und natürlich habe ich sie schon eingesehen«, log er.

»Einige Jungen wurden tot aufgefunden«, brummte Beusch. »Und seit gestern Abend gibt es zwei neue Vermisstenfälle.«

»Verstehe!«

»Die beiden Jungen sind vier und fünf Jahre alt. Die Umgebung wurde abgesucht – ohne Erfolg. Ich erwarte mir, dass die Sache rasch geklärt wird und die Kinder den Eltern übergeben werden können! Lebendig!«

Lobbes hätte am liebsten laut geseufzt, beschränkte sich aber auf ein »Natürlich, Herr Oberstaatsanwalt, Sie können sich auf uns verlassen«.

Während Lobbes sich Namen und Adressen der Kinder notierte, brach Oberstaatsanwalt Beusch das Telefonat ab und Lobbes hatte nur noch ein lautes Summen im Ohr. Die Frage, was die erfrorenen Kinder und die beiden Vermisstenfälle gemeinsam haben sollten, übertönte das Geräusch aus dem Hörer bei Weitem.

Lobbes rieb sich angestrengt seine buschigen Augenbrauen, während er die spärlichen Informationen in der Akte überflog. Ein gewisser Kurt Gnirk war im April des Vorjahres erfroren aufgefunden worden. Keine Hinweise auf Gewalt, der Bub hatte wie schlafend auf dem Waldboden gelegen, als man ihn Wochen später gefunden hatte. Lobbes schüttelte den Kopf und blätterte um. Bei Wolfgang Metzdorf verhielt es sich wohl ähnlich. Ernst Tesdorf, Alfred Prätorius, Hans Korn – allesamt Jungen im Alter von sieben bis elf, alle wurden in Wäldern gefunden, in schlafähnlicher Position, zu kalten Jahreszeiten. Lobbes strich sich über sein schlecht rasiertes Kinn und schlug die Akte zu.

Auf dem Weg zu seinem Kollegen Totzokes beschäftigte ihn die Frage, warum ihn der Oberstaatsanwalt persönlich mit der Suche nach den verschwundenen Jungen beauftragt hatte. Die Antwort war allerdings weder wichtig noch würde er sie auf dem kurzen Weg über den Flur herausfinden.

Ohne zu klopfen, öffnete er die Tür zum verqualmten Büro Totzokes’ und gab ihm mit einem Wink zu verstehen, dass er ihm folgen sollte.

Der alte Ford stotterte vor sich hin und erinnerte Lobbes erneut daran, dass in Berlin alles besser war. Er strich sich sein von Pomade glänzendes Haar aus der Stirn und sah konzentriert über das große Lenkrad hinaus auf die Straße. Totzokes und er kannten einander schon seit einer Ewigkeit und waren ein eingespieltes Ermittlerteam. Zwischen den beiden bedurfte es nicht vieler Worte, oft genügte schon ein intensiver Blickkontakt, um sich auszutauschen.

»Zwei vermisste Buben, was?«, meinte Totzokes, ohne seinen Blick von der Landschaft zu wenden.

»Ja, anscheinend keine Einzelfälle. Beusch meinte, dass es mehrere solcher Fälle gegeben habe. Alle tot aufgefunden.«

»Warum wissen wir dann nichts davon?«, hakte Totzokes nach.

»Weil die Fälle nie zum Fall wurden, deshalb. Die gefundenen Leichen wurden meist weder obduziert noch wurden irgendwelche Ermittlungen in die Wege geleitet.«

»Keine Obduktion bei toten Kindern?« Totzokes starrte Lobbes ungläubig an.

»Tja, man war wohl der Meinung, dass sie erfroren wären.«

»Erfroren. Alle. Und wir sollen es jetzt wieder recht machen und die Versäumnisse der Dorfpolizisten ausbügeln?« Totzokes schüttelte entrüstet den Kopf.

»Ich halte es, ebenso wie die Kollegen, für unwahrscheinlich, dass hinter den toten Kindern Morde stecken«, sagte Lobbes und stieg aufs Gaspedal. »Was für eine langweilige Gegend hier. Meine Güte, ich vermisse unser Berlin.«

Totzokes seufzte wehmütig. Die Landschaft zog an ihm vorüber und hatte sich selbst nach zwei Stunden Fahrt kaum geändert. »Wälder, Wiesen, Felder. Kein Wunder, dass Kinder sich hier verlaufen. Ich würde mich auch verlaufen. Freiwillig. Das kannst du mir glauben. Neunzig Prozent der Bewohner hier sterben an Überlangweilung, habe ich gehört.«

Beide lachten herzhaft und für einen Moment fühlte es sich beinahe wieder an wie in Berlin, als sie mit ihrem Streifenwagen durch die Straßen gefahren waren, wo sie jeden Zeitungsverkäufer kannten, mit Imbissbudenbesitzern geplaudert und ihre Bekanntschaften im Rotlichtmilieu gepflegt hatten.

Sie hatten lange mit ihrer Versetzung nach Mecklenburg gehadert und taten es bis zum heutigen Tag. Und nun auch noch dieser Fall mit den verunglückten und vermissten Kindern. Zudem der Druck von Oberstaatsanwalt Beusch, die Sache rasch zu klären.

In Neuruppin angekommen, fuhren sie zuerst zu Frau Dittrich, der Mutter von Edgar – einem der vermissten Jungen. Tränenüberströmt saß sie im Wohnzimmer auf der schmalen Couch und hielt einen schreienden Säugling im Arm. Sie machte keine Anstalten, ihn zu trösten, ließ ihn einfach schreien und sah reglos an die Wand.

»Frau Dittrich?«, fragte Lobbes und fächelte mit einer Hand vor ihrem Gesicht herum.

Aus ihrer Starre gerissen, blickte sie die beiden Männer an. Wortlos.

»Frau Dittrich, wir haben ein paar Fragen an Sie ... zum Verschwinden Ihres ... Sohnes.« Lobbes war nicht gerade ein zimperlicher Mensch, aber beim Anblick der kraftlosen Frau stieg in ihm eine Angst hoch, etwas in ihr zu zerbrechen, sollte er nicht sorgfältig vorgehen.

»Der Edgar war gestern ...«, begann Frau Dittrich, dann brach ihre Stimme und begann im Wettstreit mit dem Säugling zu schluchzen. Sie drückte ihr Gesicht an den Bauch des kleinen Körpers in ihrem Arm.

»Sollen wir Ihnen den Kleinen abnehmen?«, fragte Totzokes, der bislang hinter Lobbes gestanden hatte. Als Frau Dittrich keine Antwort gab, trat Totzokes vor und nahm den Säugling behutsam an sich. Er selbst war vor einem halben Jahr zum zweiten Mal Vater geworden und wusste, im Gegensatz zu Lobbes, wie man mit Kindern umzugehen hatte. Er legte das Baby an seine Schulter, wippte es leicht und ging im verdunkelten Raum auf und ab.

Lobbes atmete erleichtert auf, als der Säugling sich bereits nach wenigen Augenblicken beruhigte und sich leise in den Schlaf wimmerte.

»Frau Dittrich, wo ist Ihr Mann?«, fragte Lobbes laut und deutlich, so als litt sein Gegenüber an Schwerhörigkeit.

»Mein Mann? Der ist natürlich draußen und sucht nach Edgar.« Ihre Stimme glich einem Flüstern, das sie über ihre spröden Lippen hauchte. Die beiden Ermittler traten näher an die lethargische Frau heran, ganz leise, um sie nicht zu erschrecken.

»Wo sucht er denn?«, fragte Totzokes.

»Im Wald ...«, wisperte sie und zeigte mit einem Finger zum Fenster hinaus.

»Seit wann vermissen Sie den Edgar?«, wollte Lobbes wissen. »Frau Dittrich, wir brauchen dringend Antworten, wenn wir Ihrem Sohn helfen sollen!« Lobbes wurde in seinem Ton barscher. Er verlor sein Verständnis für die verzweifelte Lage der Frau.

Totzokes seufzte genervt. Er wusste, dass sein Vorgesetzter mit seiner unwirschen Art nicht vorankommen würde. Hier war Fingerspitzengefühl angesagt.

Der Säugling war inzwischen eingeschlafen, dennoch wippte Totzokes ihn unaufhörlich auf und ab.

»Frau Dittrich«, versuchte es Lobbes erneut, »können Sie mir sagen, was Ihr Junge am Tag seines Verschwindens anhatte?«

»Vergiss es«, flüsterte Totzokes in Lobbes’ Ohr. »Die wird uns keine Antworten geben können. Die ist total sediert, siehst du das nicht?«

Ja, er hatte recht, dachte Lobbes. Vermutlich hatte der Hausarzt ihr eine Beruhigungsspritze verabreicht. Aber konnte man sie in diesem Zustand überhaupt mit dem Säugling allein lassen? Lobbes beschloss, dass das nicht seine Sorge war, und verabschiedete sich formlos. Totzokes legte das Baby in seine Wiege und folgte seinem Vorgesetzten.

Sie brauchten nur der Straße hinab zur Wiese zu folgen, da hörten sie schon die Rufe einiger Frauen und Männer. Alle riefen sie die Namen Artur und Edgar. Totzokes sah Lobbes an und zog die Augenbrauen hoch.

Immerhin fand sich unter den Suchenden der Vater von Edgar. Leider konnte er zum Verschwinden seines Sohnes nicht viel sagen, nur das, was er von seiner Frau wusste. Edgar war am Nachmittag mit seinem Freund Artur rausgegangen. Die beiden hatten mit Edgars Mutter vereinbart, dass sie nur bis zur Wiese durften und zur Dämmerung daheim sein mussten. Getragen hatte er einen grauen Wintermantel, dünne Handschuhe und eine Haube.

Lobbes verstaute seinen Notizblock in der Brusttasche seines Tweedmantels. Die Informationen waren bislang dürftig. Er nickte Totzokes zu. Gemeinsam wandten sie sich Arturs Eltern zu, die bereits auf ihre Befragung warteten.

Was für ein armseliger Anblick, dachte Lobbes, als er die beiden mit hängenden Schultern wenige Meter hinter Herrn Dittrich stehen sah. Sie blickten beide zu Boden. Schuldbewusst. Natürlich machten sie sich Vorwürfe, schließlich hatten sie ihren gerade einmal vierjährigen Sohn unbeaufsichtigt herumstreunen lassen.

Lobbes winkte die beiden zu sich und versuchte, seine dienstliche Miene zu wahren. »Keine Bange, wir haben nicht viele Fragen. Gleich können Sie sich wieder auf die Suche machen«, versicherte Lobbes, der die Nervosität in den Gesichtern der Eltern ablesen konnte. »Kam es denn öfter vor, dass Artur allein unterwegs war?«

»Warum wollen Sie das wissen? Wollen Sie uns die Schuld geben? Wir betreiben ein Gasthaus im Nachbardorf und sind jeden Tag bis tief in die Nacht hinein an der Arbeit. Natürlich kommt es da vor, dass der Bub allein draußen ist. Warum auch nicht? Er kennt sich hier aus!«

Lobbes nickte. Er wusste, dass er so nicht weiterkommen würde. Der Vater stand unter Schock und war sich im Klaren darüber, seinen Sohn vernachlässigt zu haben. Von ihm würde er keine Antworten bekommen, wenn er nicht die richtigen Fragen stellte. »Hat Artur denn einmal erzählt, dass er sich mit jemandem getroffen hat, wenn er unterwegs war?«

»Wen soll er schon groß getroffen haben? Sehr viele Kinder gibt es in dieser Gegend nicht. Ab und an hat er den Edgar besucht und manchmal war er drüben bei den Melzers. Die haben auch zwei Kinder in seinem Alter.«

»Gut«, meinte Lobbes und notierte sich den Namen Melzer.

»Auf den Artur konnten wir uns immer verlassen«, meldete sich die Mutter mit zerbrechlicher Stimme. »Er kam immer zur vereinbarten Zeit heim!«

»Erzählen Sie mir mehr über Artur, Frau Dill.« Lobbes war erfreut, dass diese Mutter gesprächsbereiter war als Frau Dittrich. Auch wenn der Artur viel allein gewesen war, eine Mutter wusste dennoch Dinge, die hilfreich bei der Aufklärung sein konnten. »Wann kam er für gewöhnlich heim und was hat er dann erzählt?« Lobbes setzte seinen Stift auf eine leere Seite seines Blockes und war bereit, sich Notizen zu machen.

»Wenn mein Mann und ich am späten Vormittag das Gasthaus aufsperrten, war der Artur noch bei uns. Meist half er beim Gemüseschneiden oder deckte die Tische für unsere Stammgäste. Nach dem Essen machte er sich auf den Weg nach draußen. Bei jedem Wetter, jeden Tag. Wissen Sie, es machte ihm nichts aus, wenn es regnete oder der Wind ging. Er wollte einfach raus. Manchmal ging er rüber zu Edgar oder allein auf die Wiese, um Blumen zu pflücken. Die stellte er dann stolz in Vasen und dekorierte damit die Tische.« Frau Dill vergrub ihr Gesicht in beiden Händen und schluchzte.

»Ging er auch in den Wald?« Lobbes zeigte auf den großräumigen Wald, der nur wenige Hundert Meter hinter ihnen lag.

»Das durfte er nicht«, antwortete Frau Dill und wischte sich ihre geröteten Augen trocken. »Aber ab und zu brachte er mir Pilze. Er war dann so stolz, dass ich ihn nicht schimpfen konnte, verstehen Sie? Artur war ein braver Bub. Nie hat er gejammert, weil wir keine Zeit hatten. Er hat es akzeptiert, dass er auf sich gestellt war.« Frau Dill wurde geschüttelt von ihrer Verzweiflung. »Meist war er schon vor der Dämmerung wieder hier in der Gaststube und half beim Ausschank oder dem Abwasch. Das Abendbrot nahm er in der Küche ein und dann ging er selbstständig hoch in die Wohnung und machte sich bettfertig.«

»Der Artur ist vier Jahre alt, nicht wahr?«, fragte Totzokes ungläubig nach.

»Ja, im November wird er fünf.«

»Artur ist also vier und verbringt mehr als den halben Tag allein?« Das war mehr eine fassungslos getroffene Feststellung von Totzokes denn eine Frage.

»Sollen wir unser Gasthaus zusperren, damit wir uns um unser Kind kümmern können?«, fragte Herr Dill erbost und drückte seine Frau fürsorglich an sich.

»Das wäre gar nicht nötig. Die Großmutter oder eine Nachbarin, die ein paar Stunden mit dem Kleinen verbringt, würden völlig ausreichen.« Totzokes war angesichts der fehlenden Fürsorge für das eigene Kind erschüttert. Was waren das nur für Eltern?

»Sie brauchen mir nichts über Kindererziehung zu sagen. Der Artur hat es gut bei uns, hören Sie?« Herrn Dills Gesicht lief blutrot an.

Lobbes lenkte ein und versuchte, die Situation zu beruhigen. »Vorwürfe bringen uns jetzt nicht weiter.« Lobbes warf einen strengen Blick zu Totzokes. »Wir wollen doch erst einmal sehen, wo die beiden Kinder abgeblieben sind.«

Totzokes stand der Zorn ins Gesicht geschrieben. Lobbes verstand ihn zum Teil. Sein junger, schlaksiger Kollege behielt sonst immer die Nerven, aber wenn es um Kinder ging, legte er seit der Geburt seiner Tochter eine kompromisslose Haltung an den Tag. Bei Ermittlungen hieß es, sachlich zu bleiben, Ruhe zu bewahren, klar zu denken.

»Er war also entweder allein oder mit Freunden unterwegs. Gut.« Lobbes senkte seinen Blick auf die Notizen und grübelte vor sich hin.

»Ein paarmal hat er von einem Mann erzählt, der ihm über den Weg gelaufen ist.«

»Was für ein Mann?« Plötzlich war Lobbes hellwach und starrte Frau Dill mit aufgerissenen Augen an.

»Ich weiß nichts über ihn. Nur, dass Artur ihn manchmal gesehen hat.«

»Hat er mit ihm geredet?«

»Ja, manchmal hat er für den Mann kleine Arbeiten erledigt. Im Gegenzug steckte dieser ihm etwas Kleingeld zu.«

»Von welchen Arbeiten reden wir da?«, forschte Lobbes nach, doch Frau Dill zog nur die Schultern hoch.

»Ich könnte kotzen!«, fluchte Totzokes, als er und Lobbes wenig später über die Wiese zum Suchtrupp stapften. »Da ist ein kleiner Junge von vier Jahren. Ich wiederhole: von vier Jahren! Niemand kümmert sich um ihn, niemand nimmt es ernst, wenn er Geschichten von einem Fremden erzählt. Und wenn er dann plötzlich verschwunden ist, kullern dicke Tränen.«

»Ach was, so ist das eben hier auf dem Land«, sagte Lobbes, um ihn zu beruhigen. »Die Kinder dürfen hier noch Kinder sein und herumtollen, wo es ihnen gefällt. Die Mutter sagt selbst, dass der kleine Dill stets pünktlich heimkam.« Nach einer kurzen Denkpause fuhr er fort: »Außerdem gehe ich immer noch davon aus, dass die zwei Kleinen sich einfach verirrt haben und wir sie nach intensiver Suche wohlbehalten heimbringen können. Der Mann, von dem der kleine Dill daheim erzählt hat, kann ein harmloser Landstreicher sein.« Wieder schwieg er und blickte bei jedem Schritt auf sein abgenutztes Schuhwerk, das von der sumpfigen Wiese verschluckt wurde.

Totzokes wusste, dass er ihn jetzt nicht in seinem Denkprozess unterbrechen durfte, und wartete geduldig.

»Malen wir nicht den Teufel an die Wand«, brummte Lobbes. »Wollen wir erst einmal sehen, was der Tag noch bringt.«

Totzokes musste nichts sagen, Lobbes wusste auch so, dass sein Kollege nicht zufrieden war mit seiner derzeitigen Motivation. Seit der Versetzung fehlte es Lobbes an Biss. Es war an der Zeit, dass er diese Flaute überwand.

Lobbes erhöhte sein Tempo. Die beiden Buben hatten bereits eine kalte Nacht hier draußen zubringen müssen. Die nächste sollten sie wieder in ihren weichen Betten schlafen. Er sah das Gesicht von Edgars Mutter vor sich. Die Verzweiflung, die aufgequollenen Augen, die Leere, die sie für den Rest ihres Lebens empfinden würde, wenn er ihr den Sohn nicht wiederbrächte.

Er hörte die Rufe im Wald. »Artur! Edgar! Wo seid ihr?«

Lobbes sah auf seine Taschenuhr. Den Vormittag hatten sie bereits vertrödelt, nun hieß es Tempo machen. Die Bewohner von Neuruppin, die sich zur Suche eingefunden hatten, liefen unkoordiniert zwischen den Bäumen umher und schrien sich die Seele aus dem Leib. Er würde sie zu sich rufen, in Gruppen einteilen und in verschiedene Richtungen entsenden. Nur so konnte gewährleistet werden, dass sie nichts übersahen. Bestimmt gab es hier einen Förster, der ihm anhand einer Karte das umliegende Gebiet erklären könnte.

Die Sonne wanderte bereits in Richtung Horizont, und sie hatten noch keine Spur der vermissten Kinder aufgestöbert. Der Suchtrupp war im Laufe des Nachmittags gewachsen, nach ein paar Stunden aber wieder merklich geschrumpft. Totzokes beteiligte sich an der Suche. Lobbes hingegen besprach die Lage vor Ort mit der hiesigen Polizei – vertreten durch zwei Polizisten, die mit dem Fall völlig überfordert schienen.

»Er ist viel allein, der Bub!«, erzählte eine ältere Dame, die sich als Frau Strick vorstellte und eine Nachbarin der Dills war. »Immer rennt er allein herum und verkommt, wenn Sie wissen, was ich mein.«

Lobbes nickte, obwohl er keine Ahnung hatte, was sie anzudeuten versuchte. Er wollte das Gespräch mit der Grauhaarigen hinter sich bringen und sich wichtigeren Angelegenheiten widmen.

»Solche Leut’ sollten doch gar keine Kinder bekommen, meinen’s nicht auch?«

Lobbes nickte erneut.

»Manchmal kommt er zu mir, dann ist er ganz ausgefroren und freut sich über einen warmen Kakao.«

»Er ist öfter bei Ihnen?« Jetzt wurde es auch für Lobbes interessant. »Was erzählt er dann?«

»Na ja, wo er sich rumgetrieben hat, wie er den Tag verbracht hat, solche Sachen. Meist ist er draußen in den Wäldern, sammelt Äste, Moos oder Pilze. Seine Mutter dürfte davon nichts wissen, sonst gäbe es eine Tracht Prügel. So eine ist das nämlich.« Die grauen Augen von Frau Strick verengten sich zu boshaften Schlitzen, und Lobbes fühlte sich für einen kurzen Moment an seine eigene Nachbarin erinnert, die ihm ständig nachspionierte und über jede seiner Frauenbekanntschaften Bescheid wusste.

»Er ist also oft in den Wäldern?«

»Ja, die kennt der Bub wie seine Westentasche«, versicherte Frau Strick.

»Dann halten Sie es für unwahrscheinlich, dass er sich da draußen verirrt hat?«

»Absolut unwahrscheinlich. Wenn einer die Wälder hier kennt, dann dieser arme Junge!«

Lobbes bedankte sich und drehte sich nachdenklich um. »Hat er Ihnen einmal etwas von einem Fremden erzählt, dem er kleine Dienste erweist?«, wandte er sich im Gehen noch einmal an Frau Strick.

»Ja, hat er.«

»Und?« Meine Güte, wie sehr hasste er es, wenn er wegen jedem Hinweis in den Tiefen seines Gegenübers graben musste.

Frau Strick rückte ihr Kopftuch zurecht und schien über die genauen Worte des Jungen zu grübeln.

»Frau Strick, das ist wirklich sehr wichtig! Was hat Artur über den Mann erzählt? Jede Einzelheit kann uns helfen.« Er griff nach dem Notizblock in seiner Brusttasche und zückte seinen Stift.

»Viel gibt es da nicht zu sagen. Der Junge war doch froh über jeden Anschluss, den er finden konnte. Der Fremde dürfte in regelmäßigen Abständen hier durchkommen, da haben sie sich in den Wäldern getroffen, sich unterhalten und solche Sachen.«

»Frau Strick, bitte, was sind solche Sachen?«

Die ältere Dame ließ sich von der gereizten Art des Kommissars nicht aus der Ruhe bringen. »Er hat für ihn wohl kleine Besorgungen erledigt. Frisches Brot aus dem Nachbarort hat er ihm gebracht oder vom Metzger ein Stück Hartwurst. Dafür hat er dann ein wenig Kleingeld oder Süßigkeiten bekommen.«

»Wann hat er diesen Mann zum letzten Mal getroffen? Und hat er je einen Namen erwähnt?«, hakte Lobbes nach.

»Nein.« Frau Strick senkte den Kopf und kratzte sich über das borstige Kinn. »Dazu kann ich nichts sagen.«

Ohne sich zu bedanken, wandte er sich von Frau Strick ab. Seine Schritte waren dieses Mal schneller, er fiel nach wenigen Metern in einen leichten Laufschritt.

Ein Junge, der sich hier nie und nimmer verirren würde, und ein Mann, mit dem er sich des Öfteren getroffen hat. Ein Fremder, der sich in den Wäldern versteckt hielt und sich vom Buben Verpflegung holen ließ.

Das Herz in Lobbes’ Brust begann zu rasen, auf der Stirn bildeten sich Schweißperlen, und in seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Meine Güte, er hatte viel zu viel Zeit verschwendet. Die beiden Kinder hatten sich nicht verirrt. Die zwei waren vielleicht Opfer eines Überfalls geworden und brauchten dringend Hilfe. Lobbes schickte ein Stoßgebet gen Himmel, dass die beiden noch Hilfe nötig hätten.

Er hatte bereits den Wald erreicht und hörte aus allen Richtungen die Rufe nach den Kindern.

»Artur! Edgar!«

»Artur, wo bist du?«

Die Schreie waren laut. Gut so, dachte Lobbes, schreit euch die Seele aus dem Leib. Wir müssen die Kinder so schnell wie möglich finden.

Plötzlich hatte Lobbes das Gefühl, alles falsch gemacht zu haben. Ihm schien die Zeit wie Sand zwischen den Fingern zu verrinnen. Er eilte ziellos zwischen den Bäumen herum, erkundigte sich bei einer Gruppe nach Auffälligkeiten und rannte sofort zur nächsten.

Viel zu schnell legte sich die Dämmerung über den Wald und hüllte ihn ein mit ihrer unbezwingbaren Dunkelheit.

Wir müssen sie noch heute finden, ging es Lobbes durch den Kopf. Sie dürfen nicht noch eine Nacht hier draußen sein. Warum nur hatte er den Fall auf die leichte Schulter genommen? Er hatte geglaubt, dass es sich um ein harmloses Verirren handelte, womöglich sogar um einen Jungenstreich, um die Eltern in Angst zu versetzen – was kein Wunder wäre, bei dem kleinen Dill.

Lobbes eilte durch den Wald, stolperte über Wurzeln und blieb an Brombeerbüschen hängen. Er verabscheute diese Wildnis und hasste sie mit jedem Schritt mehr. Die Straßen Berlins waren schon eine unsichere Sache, aber dieses Gestrüpp hier war die Hölle. Eine Hölle, die kein Ende zu nehmen schien.

Die gellende Stimme eines Mannes riss ihn aus den Gedanken: »Hier! Hier ist was!«

»Wo?«, schrie Lobbes zurück.

»Hier drüben!«

Lobbes drehte sich um die eigene Achse und tastete in der Dämmerung mit seinem Blick die Umgebung ab. Ja, da hinten standen ein paar Helfer beisammen. Einer von ihnen winkte kräftig mit beiden Armen.

So schnell er konnte, hastete er zum Ziel. Er konnte es kaum erwarten. Lebten die Jungen? Waren sie verletzt? Oder kam alle Hilfe zu spät? Bei jedem Schritt haftete sein Blick an der Gruppe, die im Halbkreis versammelt stand. Vielleicht hatten sie nur ein Kleidungsstück gefunden. Eine Haube. Einen Mantel. Dann würde die Suche noch weitergehen, dachte Lobbes verzweifelt.

Endlich war er da. Schwer atmend blickte er auf den Boden und glaubte für einen Moment, sein Herz müsse stehen bleiben.

»Holt doch mal jemand ein paar Laternen«, ordnete Lobbes an. Es überraschte ihn selbst, wie ruhig sein Tonfall war. Er musste sich Raum verschaffen, den kleinen Suchtrupp loswerden, um sich ungestört ein Bild von der Situation machen zu können. »Und Sie machen sich auf die Suche nach meinem Kollegen Totzokes«, wies er einen jungen Mann an.

Der gehorchte sofort, war vielleicht sogar froh, dem Anblick entkommen zu können.

»Und wir brauchen zwei Tragen für den Abtransport«, forderte er den verbliebenen Herrn auf.

Endlich kehrte Ruhe ein. Andächtig kniete sich Lobbes zu Boden und schaute sich die zwei Buben an. Wie sie da lagen, kreidebleich und doch so, als würden sie schlafen und könnten jeden Moment hochschrecken. Lobbes stand auf und ging um die Kinder herum, besah sich das Szenario von allen Seiten.

Es wurde dunkel. Viel zu schnell. Er musste sich beeilen. Und wo verdammt blieben Totzokes und die Laternen?

Es gab keinen Zweifel, dass es sich um Artur und Edgar handelte. Eng umschlungen lagen sie auf dem harten Waldboden, schienen sich mit ihrer Umarmung Trost zu spenden. Oder Wärme. In ihren Gesichtern konnte er weder Angst noch Schmerz erkennen. Die Lippen waren blass, auch die Wangen hatten jede Farbe verloren.

Moment! Lobbes rückte näher an den kleineren der beiden heran. Da steckte etwas in seinem Mund. Vorsichtig, als wolle er das Kind nicht in seinem ewigen Schlaf stören, tastete Lobbes den Gegenstand ab, ohne ihn aus dem Mund des Kindes zu entfernen.

Was war das? Ein Stück von einem Pilz? Lobbes stand auf und ging noch einmal um die Kinder herum, suchte den Boden ab und fand tatsächlich mehrere abgebrochene Pilze. Verstreut lagen sie um die Kinder herum, fast, als hätte jemand sie absichtlich verteilt. Die Dämmerung war schon fortgeschritten, dennoch konnte er erkennen, dass es sich um Fliegenpilze handelte. Eine Pilzvergiftung also!

In gewisser Weise machte sich Erleichterung in Lobbes breit. Ihn traf also keine Schuld, weil er zu langsam gehandelt hatte. Die Kinder lagen vermutlich schon die ganze Nacht in ihrer Umklammerung hier. Allein. Einsam. Tot. Nicht wissend, dass man daheim auf sie wartete und sich sorgte.

Eine Welle an Mitleid durchströmte Lobbes. Er war kein großer Freund von Kindern und weit von dem Wunsch entfernt, selbst eine Familie zu gründen. Aber diese Tragödie ließ ihn nicht kalt, ganz im Gegenteil, sie berührte ihn zutiefst. Er dachte an Frau Dittrich, wie sie lethargisch mit dem weinenden Säugling im Arm in ihrem Wohnzimmer gesessen hatte. Wie würde ihr Leben verlaufen, wenn sie vom Tod des geliebten Sohnes erfahren würde? Und Artur? Dieser arme Junge, der sich über die Aufmerksamkeit eines Vagabunden gefreut hatte, weil seine Eltern nie Zeit für ihn hatten.

Er hörte näher kommende Stimmen. Hoffentlich Totzokes. Ihm würde der Anblick der beiden toten Kinder unter die Haut gehen. Aber dergleichen gehörte zu ihrem Alltag.

Lobbes hob den Kopf und drehte sich um. Waren das Schreie, die durch den Wald hallten? Hoffentlich ließen sie nicht die Mütter oder Väter hierher. Er und Totzokes mussten sich die Leichen noch einmal in aller Ruhe ansehen, bevor man sie abtransportierte. Oberstaatsanwalt Beusch wollte bestimmt einen lückenlosen Bericht, sonst säße er ihm wieder im Nacken.

Beim Gedanken an den glatzköpfigen Beusch musste Lobbes automatisch den Kopf schütteln. Ihre Zusammenarbeit mit dem Oberstaatsanwalt hatte sich schon mehrmals als kompliziert erwiesen. Er und Totzokes waren ein gutes Team, da brauchte es keinen Dritten, der ihnen sein besserwisserisches Verhalten aufdrängte – zumal er nicht einmal vom Fach war.

Endlich näherten sich ein paar Personen mit Laternen. Das Licht würde ihnen nicht sehr behilflich sein, aber viel gab es nicht zu besichtigen. Für Lobbes war der Fall bereits erledigt. Tod durch Vergiftung. Obwohl ... wieder ließ er seinen Blick über die verteilten Pilze wandern.

»Gib mir eine der Laternen!«, forderte Lobbes seinen Kollegen Totzokes auf, als dieser sich gemeinsam mit den zwei Polizisten bei den Leichen einfand.

»Stimmt es also wirklich! Die zwei sind tot.« Lobbes konnte die Fassungslosigkeit in Totzokes Stimme erkennen.

»Ja. Was meinst du dazu?« Lobbes ging ein paar Schritte zurück, verschränkte die Arme vor seinem Brustkorb und beobachtete Totzokes dabei, wie er sich einen Überblick verschaffte.

Der strich mit einer Hand über Arturs Wange. »Erfroren?«, fragte er, ohne eine Antwort zu erwarten. »Seltsam, diese Umarmung ... warum haben sie das getan? Hatten sie Angst vor etwas oder jemandem?« Er beugte sich über Edgar, den größeren der beiden Jungen. »Er hat etwas im Mund. Hast du das gesehen? Natürlich hast du das. Was ist das, ein Stück Pilz?«

»Ja, da liegen Pilze herum. Angeknabbert, abgebrochen. Und durch die Bank handelt es sich um Fliegenpilze.«

»Sie liegen hier, als hätte sie jemand positioniert, findest du nicht?«, fragte Totzokes.

»Die Pilze ebenso wie die Leichen«, stimmte Lobbes zu.

Verzweifelte Schreie schrillten durch den Wald.

»Die Eltern der beiden stehen da hinten und lassen sich kaum noch zurückhalten.«

Lobbes nickte. »Trotzdem möchte ich ihnen diesen Anblick ersparen. Wir lassen die Leichen abtransportieren und den Fundort großräumig absperren. Wir müssen morgen bei Tageslicht noch einmal ausrücken.«

»Ja«, meinte Totzokes und blickte auf das traurige Bild, das sich ihnen bot. Die beiden Jungen wirkten so klein, so verletzlich. In ihrer letzten Stunde hatten sie nur einander gehabt. Da war keine Mama gewesen, die sie tröstend in den Arm nahm, da waren nur die Baumriesen gewesen, die gefühlskalt in den Himmel ragten und die nur den Rhythmus des Windes kannten, nicht aber den eines verängstigen Kindes.

Auch Lobbes versuchte noch einmal, sich jede Einzelheit des Fundortes einzuprägen, dann wandte er sich von den toten Kindern ab. Es war Zeit zu gehen. Mit ein paar gut gefüllten Gläsern Whisky würde sich das Bild in seinem Kopf leichter verdrängen lassen. Das tat es immer.

Kapitel 2

Neuruppin im Oktober 1934.

Edgar und Artur hatten die Zeit vergessen. Eigentlich sollten sie schon längst daheim sein.

»Wenn es zu dämmern beginnt, dann macht ihr euch auf den Weg nach Hause. Und geht ja nicht in den Wald, verstanden?«, hatte Edgars Mutter ihrem Fünfjährigen und seinem Freund nachgerufen.

»Jaja!«, hatte die Antwort der beiden gelautet, dann waren sie losgelaufen.

»Nicht so schnell!«, rief Edgar seinem Freund nach, der ein besonderes Ziel zu verfolgen schien. Der Wind trug die Schreie in eine völlig andere Richtung.

Artur stapfte über die Wiese in Richtung der Tannenschonung.

»Nicht so weit weg, hat Mama gesagt!« Bei einem Blick über die Schulter erschrak Edgar. Das letzte Haus der Siedlung war inzwischen ganz klein. Zu klein. Ihm war nicht aufgefallen, dass sie so schnell unterwegs gewesen waren. Jetzt, da er sich der Entfernung bewusst wurde, bekam er Angst. So weit hatte er sich noch nie von zu Hause entfernt. Sollte er umdrehen? Zaghaft blieb er stehen, blickte zurück zur Siedlung, dann nach vorn zu Artur, der munter weiterlief. »Artur?«, rief er gegen die heulende Bö.

»Was ist?«, kam es zurück. »Komm, wir müssen weiter! Ich bin mir sicher, dass er heute da ist und ...« Die letzten Worte verschluckte der Wind. Artur verfolgte seinen Weg weiter. Er schien genau zu wissen, wohin er wollte.