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Henrietta ist eine lebenshungrige junge Frau, die auf einer Farm in den Wäldern New Hampshires aufwächst. Elspeth ist 150 Jahre früher, Mitte des 19. Jahrhunderts, aus Schottland an ebendiesen Ort gekommen. Und doch verbindet die beiden mehr als dieser Zufall. Beide geraten in Konflikt mit den Moralvorstellungen ihrer Zeit. Beide verschwinden aus dem Leben ihrer Familie. Und beide hinterlassen eine schmerzliche Lücke im Leben ihrer jüngeren Schwestern. Diese versuchen zu verstehen, was mit ihrem Geschwister geschehen ist. Denn tief in ihrem Inneren wissen sie, dass sie selbst nicht ganz frei von Schuld sind.
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Seitenzahl: 386
Veröffentlichungsjahr: 2021
Zum Buch
Henrietta ist eine lebenshungrige junge Frau, die auf einer Farm in den Wäldern New Hampshires aufwächst. Elspeth ist 150 Jahre früher, Mitte des 19. Jahrhunderts, aus Schottland an ebendiesen Ort gekommen. Und doch verbindet die beiden mehr als dieser Zufall. Beide geraten in Konflikt mit den Moralvorstellungen ihrer Zeit. Beide verschwinden aus dem Leben ihrer Familie. Und beide hinterlassen eine schmerzliche Lücke im Leben ihrer jüngeren Schwestern. Diese versuchen zu verstehen, was mit ihrem Geschwister geschehen ist. Denn tief in ihrem Inneren wissen sie, dass sie selbst nicht ganz frei von Schuld sind.
»Ein mitreißender, geradezu magischer Roman.« Washington Times
Zur Autorin
Abi Maxwell zählt zu den interessantesten literarischen Talenten Amerikas. »Der Schatten meiner Schwester« ist ihr zweiter Roman. Für ihr literarisches Debüt »Lake People« wurde Abi Maxwell mit großen Stimmen wie Alice Munro und Marilynne Robinson verglichen. Ihre Kurzgeschichten erschienen in der renommierten Literaturzeitschrift »McSweeney’s«. Abi Maxwell lebt mit ihrem Mann und ihrem Sohn in New Hampshire.
ABI MAXWELL
DER SCHATTEN MEINER SCHWESTER
Roman
Aus dem Englischen von Eva Bonné
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »The Den« bei Alfred A. Knopf, New York.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Erstveröffentlichung Oktober 2021
Copyright © 2019 Abi Maxwell
Copyright © der deutschen Ausgabe 2021 btb Verlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Covergestaltung: semper smile, München
nach einem Entwurf von Carol Devine Carson
Covermotiv: Jack Montgomery
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
Alle Rechte vorbehalten.Lektorat: Susanne Wallbaum
Klü ∙ Herstellung: sc
ISBN 978-3-641-24479-8V001www.btb-verlag.de
www.facebook.com/btbverlag
Über das, was uns im Wald passiert, dürfen wir auf dem Marktplatz nicht sprechen.
Der scharlachrote Buchstabe Nathaniel Hawthorne
1 | Ende Juni an einem Nachmittag vor fast zwanzig Jahren. Nie wäre mir damals in den Sinn gekommen, meine Schwester könnte verschwinden. Die Sonne stand hoch, Henrietta und ich waren zum ersten Mal auf dem Weg zu Kaus. Mit ihm hatte das alles überhaupt erst angefangen. Wir hatten etwas Geld – woher, weiß ich nicht mehr, zu der Zeit jobbten wir noch nicht als Babysitter –, und weil Sommer war, hatten wir Zeit. Unser Vater war bei der Arbeit, unsere Mutter hatte sich in ihrem Atelier im zweiten Stock eingeschlossen. Niemand hielt uns davon ab, zu dem kleinen Laden zu gehen und Süßigkeiten zu kaufen. Es gab dort auch ein Regal mit Schmuddelheften, deswegen hatte mein Vater uns eigentlich verboten hinzugehen, aber wir scherten uns nicht darum. Meine Schwester war gerade fünfzehn geworden, sie trug neuerdings einen Bügel-BH, föhnte sich die Haare und quittierte jede Aufforderung unserer Eltern mit einem lässigen »Jaja«.
Die Schmuddelhefte interessierten uns sowieso nicht. Wir kauften jede Menge Süßigkeiten und verließen den Laden wieder. Ich dachte, wir würden den Heimweg antreten, aber an der alten Fabrik ging meine Schwester nicht über die Brücke, sondern einfach weiter geradeaus. Sie lief immer ein paar Schritte vor mir, und im Gehen stopften wir uns die Bonbons in den Mund. Ich kann mich bis heute an das Gefühl erinnern. Der Zucker bildete einen eigenartigen Belag auf der Zunge.
Nach einer Weile hatten wir die Church Street erreicht, in der ich noch nie gewesen war, zumindest nicht zu Fuß. Sie verlief parallel zum Fluss, auf der Waldseite standen Trailer in einer langen Reihe. Ich wusste, dass ich da nicht hinstarren durfte, aber ich konnte nicht anders, als das fremde Leben mit sehnsüchtigen Blicken aufzusaugen. Wir wohnten in einem alten Farmhaus an einer einsamen Straße, deswegen fand ich den lärmenden Trailerpark einfach nur traumhaft. Frauen lagen mit Zigarette, Schnurlostelefon und Zeitschriften draußen im Liegestuhl, Kleinkinder spielten in Plastikplanschbecken, alles schien laut und fröhlich.
Mit der Sonne im Rücken liefen Henrietta und ich zur alten Eisenbahnbrücke, noch so ein Ort, an dem wir eigentlich nichts zu suchen hatten. Die Brücke spannt sich in fünfzehn Metern Höhe über den Fluss und ist bis heute ein beliebter Treffpunkt für Halbstarke, die den ganzen Sommer über da oben hocken, rauchen, spucken und ins Wasser springen. Die Bahnschienen verlaufen auf verschränkten Eisenträgern, und an dem Tag reflektierten die meterhohen Andreaskreuze das Sonnenlicht wie ein riesiges Warnschild. Auf dem Wasser tanzte das Spiegelbild der Bäume, hauptsächlich Kiefern und Ahorn, und am liebsten wäre ich sofort hineineingesprungen. Deswegen war ich enttäuscht, als ich mich umdrehte und sah, dass Henrietta schon weitergegangen war. Ihre leeren Bonbonpapiere hatte sie einfach fallen lassen, der Wind blies sie über die Böschung in den Fluss. Ich war entsetzt.
»Das ist Umweltverschmutzung!«, sagte ich, aber sie beachtete mich gar nicht. Ich rief ihren Namen, allerdings leise, damit die Leute mich nicht hörten. Es war eher ein Zischen, gerade so laut, dass Henrietta mich verstehen konnte, doch sie ignorierte mich weiter. Wenn es mir wirklich so wichtig gewesen wäre, hätte ich den Müll einfach aufsammeln und sie später zur Rede stellen können, aber dafür war ich zu wütend. Wir hatten beide dünnes Haar, meins war mausbraun und stumpf, Henriettas so dunkel und glänzend, dass es irgendwie voller wirkte. Außerdem trug sie es lang, und als ihr hochnäsiges Schweigen mich zu sehr ärgerte, streckte ich die Hand aus und zog daran. Meine Schwester wirbelte herum, ihr Haar flog in die Höhe, umrahmte ihr spitzes Gesicht und schien – kurzer Sieg über die Schwerkraft – einfach in der Luft hängen zu bleiben. Und dann verwandelte Henrietta sich in ein wildes Tier mit gelben Augen.
Sie packte mich wortlos am nackten Oberarm und zog mich an sich. Sie hielt mich fest, ihre Nägel gruben sich in meine Haut. Am liebsten hätte ich geschrien, aber ich hatte verstanden: Ich nervte und sollte die Klappe halten. Inzwischen standen wir vor einem roten, zweigeschossigen Haus, das nicht so recht in die Straße passte. Zum einen war es kein Trailer, zum anderen fand ich es irgendwie unheimlich. Alle Vorgärten in der Church Street waren klein und vollgestellt, nur dieses Grundstück wirkte seltsam weitläufig und leer. Die Fenster des Hauses waren geschlossen und alle Vorhänge zugezogen. Ich hätte es für unbewohnt gehalten, hätte Henrietta nicht immer wieder erwartungsvoll hinübergeschaut. Wir verharrten in brüllendem Schweigen, bis die Haustür aufging und ein Junge auf die Veranda trat. Er badete im gleißenden Sonnenlicht.
Kaus. Später behauptete Henrietta, sie hätte ihn an dem Tag zum ersten Mal gesehen, aber auch das muss eine Lüge gewesen sein. Kaus. Immer wieder sprach ich den Namen aus und spürte nach, wie er hinten in meiner Kehle aufsprang und der Länge nach über meine Zunge kullerte. Kaus, ein Name so weich wie ein Kissen. Oder spitz und hart?
Er stand einfach nur da und beobachtete den Fluss, und wir standen auf der Straße und beobachteten ihn. Schließlich verlagerte er das Gewicht vom einen Fuß auf den anderen und zog eine Zigarette aus der Schachtel, die in einer Tasche seiner abgeschnittenen Jeans steckte. Die Bewegung war unglaublich elegant. Obwohl vom Fluss eine leichte Brise herüberwehte, schaffte Kaus es, die Zigarette beim ersten Versuch anzuzünden, und dann setzte er sich in Bewegung und kam direkt auf uns zu. Er sprach kein Wort, wir auch nicht, aber es war klar, was er vorhatte. Er überquerte die Straße, ging dicht an Henrietta vorbei, drehte den Kopf und blies ihr eine Qualmwolke ins Gesicht. Meine Schwester legte den Kopf schief, öffnete die schmalen Lippen und atmete tief ein.
An dem Tag gingen wir nicht auf die Eisenbahnbrücke. Meine Schwester packte mich bei den Schultern, drehte mich um und scheuchte mich nach Hause. Abends in der Badewanne entdeckte ich fünf kleine, violette Flecken an meinem Oberarm. Ein Zeichen, sagte ich mir später. Der Anfang vom Ende.
Unser Haus stand im Wald, einen knappen Kilometer oberhalb der Stadt. Meine Eltern erzählten die Geschichte so: Sie waren jung und verliebt gewesen und hatten einen Ausflug aufs Land gemacht, und da hatten sie das Haus entdeckt. Besser gesagt die Scheune, denn anfangs war es ihnen nur darum gegangen. Unsere Scheune war die größte im ganzen County und der Grund, warum wir überhaupt hier wohnten. Damals war mein Vater rechts rangefahren, ausgestiegen und auf das Grundstück gelaufen. Ohne sich zu fragen, ob das Anwesen bewohnt war (war es nicht), ging er zur Scheune und strich mit beiden Händen über die Holzschindeln wie über die Haut einer Geliebten.
Meine Mutter nahm all ihren Mut zusammen, schlich zum Haus und spähte durchs Fenster. Die Tapete war eine Katastrophe!, rief sie, wenn mein Vater die Geschichte erzählte. Damals war Henrietta schon in ihrem Bauch und bereitete sich aufs Leben vor, was meine Mutter aber nicht wusste. Meine Eltern fuhren zurück zu ihrer Wohnung in der weiter südlich gelegenen Kleinstadt, mein Vater streckte sich auf der Matratze am Boden aus und träumte laut. Meine Mutter, die einfach nur schlafen wollte, sagte so etwas wie: »Mein Gott, Charley, dann tu es doch«, ohne zu ahnen, dass er es wirklich tun würde. Eine Woche später hatten sie das Haus gekauft. Als Anzahlung verwendeten sie die kleine Summe, die meine Großeltern ihnen hinterlassen hatten. Die Böden des Hauses bestanden aus gestampftem Lehm und die Treppen aus Brettern, die noch nicht mal fingerdick waren, behauptete meine Mutter, aber das Haus war billig und, wie mein Vater betonte, es gehörte ihnen.
Als Henrietta und ich klein waren, hatten wir Katzen und Hühner, manchmal auch ein paar Schweine oder ein Schlachtrind. Und Shania und Dolly, zwei kräftige Stuten mit schwarz glänzendem Fell und einem Gang so geschmeidig wie Öl. Unser Vater behauptete, die habe er immer schon gehabt.
Mein Vater verdiente nicht viel, er war Koch und zuletzt Chefkoch im örtlichen Krankenhaus, aber mit dem Haus und der Scheune hatte er sich einen Traum erfüllt. Wahrscheinlich tat er deswegen alles, damit auch meine Mutter ihren Traum verwirklichen konnte. Er unterstützte sie in ihrem Entschluss, zu Hause zu bleiben, selbst später, als wir zur Schule gingen, übernahm er nach der Arbeit noch das Kochen, Putzen und fast alle anderen Hausarbeiten.
Denn meine Mutter war Künstlerin. Sie malte, auch wenn sie nur selten mal ein Bild verkaufte. Außerdem hat sie, da bin ich mir sicher, nicht unbedingt Kinder gewollt. Sie blieb gern auf Abstand. Abends nach dem Essen, wenn der Abwasch erledigt war, öffnete sie die Kiste mit dem Silberbesteck – ein Familienerbstück –, hob den Samteinsatz heraus, schob eine Hand unter das Futteral mit den Grapefruitlöffeln und zog einen dünnen Joint heraus. Das Zündholz strich sie an der Ofenplatte an. Sie nahm ein paar Züge und verwandelte sich in eine fremde, vollkommen in sich ruhende Frau. Henrietta und ich hockten oben auf der Treppe und rangen mit verwirrenden, widersprüchlichen Wünschen. Wir wollten von ihr gesehen werden, und wir wollten verschwinden und werden wie sie.
»Sylvia«, sagte mein Vater manchmal. Immer, wenn ich ihren Vornamen hörte, regte sich in mir eine leise Angst. Sylvia. Der Name war so einzigartig, so unberechenbar. Nicht der Name meiner Mutter, sondern der einer Frau, die sich jederzeit aus unserem kleinen Leben verabschieden könnte.
Aber dass Henrietta verschwinden würde, Henrietta mitsamt ihrer Seele, ihrem Körper und dem ganzen Rest, das kam mir damals nie in den Sinn. In jenem Sommer mit Kaus war ich zwölf Jahre alt und vertraute meiner Schwester einfach alles an. Ich erzählte ihr, was es zu erzählen gab, und glaubte, sie in- und auswendig zu kennen. Ihre Haut war stets leicht gebräunt, ihre Zehen ungewöhnlich kurz. Sie war überbeweglich und konnte die Daumen bis ans Handgelenk zurückbiegen, sie konnte sogar das oberste Fingerglied krümmen und den Rest gerade halten. Abends klebte sie ihren Kaugummi an den Bettpfosten. Sie konnte einen Faden ins linke Nasenloch hochziehen und aus dem rechten wieder heraus, einen Bogengang machen und gleich danach drei perfekte Räder, sie konnte sogar Flickflack. Sie träumte von Jungs. Nicht von »Sauereien«, wie sie es nannte, sondern von harmlosen Rendezvous, bei denen sie mit einem Jungen im Ruderboot saß oder Händchen hielt. Sie träumte von Pferden, und in ihren Albträumen wurde sie von einer gigantischen Welle erdrückt. Aber als ich sie in dem Sommer zum ersten Mal mit Kaus sah, dämmerte mir, was ich immer schon befürchtet hatte. Es gab einen Teil von ihr, unsichtbar und doch so spürbar wie ihre Haut, zu dem ich niemals vordringen würde.
Am Tag nach der ersten Begegnung mit Kaus wollte meine Schwester wieder in die Stadt, und ich sollte mit. Normalerweise hätte ich nicht gezögert, aber ausgerechnet an dem Morgen hatte ich ein neues Buch angefangen, Blumen der Nacht von V. C. Andrews. Ich hatte damals schon gemerkt, dass ich eine talentierte Leserin bin. Lesen war das Einzige, was ich besser konnte als meine große Schwester. Ich las schnell, und auch wenn mein Blick nur so über die Seiten flog, stellte sich ein tiefes, besonderes Verständnis ein. Ich blätterte im Sekundentakt um. So, wie ich fürchtete, meine Mutter könnte verschwinden, fürchtete ich auch um dieses Talent, deswegen schob ich mein Buch abends unters Kopfkissen, um es vor fremdem Zugriff zu schützen. Ich las, was ich in die Finger bekam – Krimis, Romanzen, Horrorgeschichten, einfach alles. Lesen war meine erste Pflicht im Leben. Doch ausgerechnet diesmal sah mein Vater, welches Buch ich mir gerade vorgenommen hatte, und sagte, dafür sei ich zu jung. Glücklicherweise war meine Mutter in der Nähe. »Mein Gott, Charley«, stöhnte sie, und damit war die Sache erledigt. Ich durfte das Buch behalten und las die halbe Nacht, weil ich Angst hatte, meine Eltern könnten es sich anders überlegen und es mir doch noch wegnehmen. Als Henrietta in der Tür stand und sagte, sie müsse in die Stadt, hätte ich eigentlich lieber weitergelesen. Aber Henrietta wollte, dass ich mitging, also ging ich mit.
Kurz bevor wir das Haus verließen, musste sie sich übergeben. Das war natürlich nur der Anfang, und ich verstand nichts, oder möglicherweise wollte ich auch nichts verstehen. »Vielleicht legst du dich lieber hin«, sagte ich, und dann, als sie mich zur Tür schob: »Hoffentlich steckst du mich nicht an.«
»Keine Sorge, Sexy-Sein ist nicht ansteckend«, sagte sie und warf ihr Haar zurück.
Ich folgte ihr. Sie ging mitten auf der Fahrbahn, als gehöre die Straße ihr, als sei sie über Nacht noch reifer und dreister geworden. Als sich von hinten ein Auto näherte, wich sie nicht aus. Am Steuer saß Mr Cutler, unser einziger Nachbar, der weiter oben am Berg wohnte, knapp außer Sichtweite unseres Hauses. Wir kannten ihn schon ewig, wenigstens vom Sehen, doch wir fanden ihn kauzig und aufdringlich und gingen ihm möglichst aus dem Weg. Er war schon über fünfzig, und trotz seines hohen Alters fragte er uns bei jeder Gelegenheit, was gerade in und cool sei. »Sind meine Jeans cool?«, fragte er. »Und überhaupt, welche Musik hört ihr Kids heutzutage?«
Er beugte sich aus seinem gelben Sportwagen und fragte Henrietta: »Hast du schon einen Freund?« Die Frage war schon schlimm genug, aber als Henrietta schlicht bejahte, klappte mir die Kinnlade runter.
Ein Lächeln erschien auf Mr Cutlers glatt rasiertem Gesicht. Der Wagen rollte bergab und war kurz darauf verschwunden. Meine Schwester ging weiter. Ich lief ihr nach und rief: »Dieser Junge ist dein Freund?«, »Der Junge aus dem roten Haus?«, »Woher weißt du, dass er dein Freund ist?«, und noch ein halbes Dutzend andere Versionen derselben Frage. Henrietta ignorierte mich und tänzelte voraus, ich folgte ihr wie ein Hündchen über die Brücke und in die Stadt.
Ich habe nie erfahren, warum Henrietta am Anfang jenes Sommers täglich zu dem kleinen Laden wollte. Am ersten Tag nach Kaus gingen wir nicht wie üblich direkt hinein, sondern meine Schwester lehnte sich mit dem Rücken an die Mauer, stützte nach Erwachsenenart einen Fuß dagegen, legte erschöpft den Kopf in den Nacken und stöhnte: »Gott, ich brauche dringend eine Zigarette.«
Ich glaube nicht, dass ich darauf etwas gesagt habe. Ich glaube, ich war gelähmt vor Schreck.
»Meine Güte, was ist denn?«, sagte sie gereizt, und: »Glotz nicht so«, und dann verschwand sie im Laden und kaufte mir saure Fruchtgummis für sage und schreibe fünf Dollar. Wahrscheinlich wollte sie mich bloß vom Petzen abhalten.
Ein Jahr zuvor war ich auf die Mittelschule gekommen. Wir teilten uns das Gebäude mit der Highschool, und nach einer Weile hatte ich gemerkt, dass meine Schwester nicht sonderlich beliebt war. Henrischmetta, so wurde sie genannt, Haarifetta und, besonders schlimm und zumindest für mich vollkommen abwegig, Affikletta. Meine Schwester, blass und schmal, aus Wind gemacht. Doch wenn jemand sie verhöhnte, sah sie ihm fest in die Augen. Ihr böser Blick war sehr effektiv, er brachte jeden zum Schweigen. Den hatte sie von unserer Mutter, und so grausam er auch war, ich bewunderte sie um so mehr dafür. Es war, als hätte sie mich verhext. Ich liebte meine Schwester so sehr, es war fast schon ungesund.
Als Henrietta an jenem schwülen Nachmittag aus dem Laden trat, folgte ich ihr wie gewohnt. Ich stopfte mir die sauren Fruchtgummis in den Mund und erzählte ohne Punkt und Komma von dem grausigen und spannenden Buch, das ich gerade las, von den Kindern auf dem Dachboden. Ich wusste, dass sie mir nicht zuhörte, was mich aber nicht störte. Die Geschichte war einfach zu gut. Ich hätte bis in alle Ewigkeit erzählt, aber plötzlich drehte meine Schwester sich um und hielt mir den Mund zu. Wir standen schon wieder vor dem roten Haus in der Church Street, zum zweiten Mal in meinem Leben. Ich verstummte. Meine Schwester schaute in die Höhe, stemmte die Hände in die Hüften und sagte: »Ich wusste es.«
Wahrscheinlich habe ich sie gefragt, was sie wusste, aber sie beachtete mich nicht. Sie redete einfach weiter. »Er ist nicht da. Der Wichser.«
»Wer?«, fragte ich, obwohl ich es mir natürlich denken konnte.
»Sonst wäre sein Schlafzimmerfenster offen«, sagte sie.
Sein Schlafzimmerfenster. Ich horchte auf. Sein Schlafzimmer.
»Wahrscheinlich ist nur seine blöde Großmutter da«, sagte sie und kaute auf der Innenseite ihrer linken Wange herum, wozu sie die gespitzten Lippen weit nach rechts schieben musste. Meine Mutter ermahnte sie ständig, das zu lassen, sie sehe aus wie ein Pferd. Manchmal biss Henrietta so fest zu, dass es blutete. Sie hielt inne und sagte: »Die blöde Kuh«, machte auf dem Absatz kehrt und lief zur Eisenbahnbrücke. Ich rannte hinterher. Die Sonne blendete, in dem gleißenden Licht erkannte ich nur ein paar gespenstische Umrisse oben auf der Brücke und hin und wieder einen schemenhaften Sprung. Ich hörte die Jugendlichen johlen und planschen, während sie uns selbst dann nicht zu bemerken schienen, als wir am Fuß der Brücke angekommen waren. Ein Trampelpfad führte von der Straße bis zu den Gleisen hinauf. Meine Schwester krabbelte die zerklüftete Böschung hoch wie ein zielstrebiges Insekt. Ich folgte ihr verwirrt, obwohl mir mit jedem Schritt deutlicher bewusst wurde, dass wir schon wieder etwas Verbotenes taten.
Auf der Brücke war schon mindestens ein Teenager zu Tode gekommen. Ich wusste nicht genau, wie es passiert war, und ich machte mir überhaupt nicht klar, dass da irgendwo eine echte Familie um einen echten Jungen trauerte. Vielmehr spielte sich das Unglück vor meinem geistigen Auge ab wie eine Szene in einem Roman; es war bewegend, faszinierend und erzeugte insgesamt ein Gefühl, das ich nach Belieben an- und ausknipsen konnte. Wahrscheinlich waren sein Leben und sein Tod gleichermaßen dramatisch gewesen. Eine schwangere Freundin? Ein Mord? Ein halbherziger, nicht ganz freiwilliger Sprung? Das Ganze war ein schauerliches, tiefgründiges Rätsel.
Als ich oben ankam, war ich von Lehmstaub bedeckt. Meine Schwester hatte die Kuppe schon erreicht. Ich sah sie über die Gleise eilen, aber gerade, als ich genug Mut beisammen hatte, um ihr zu folgen, wandte sie den Kopf und warf mir einen bösen Blick zu. Ich hatte verstanden. Ich kletterte die Böschung wieder hinunter, brachte mich hinter einer alten Kiefer in Sicherheit und wartete. Was oben geredet wurde, konnte ich nicht verstehen, also konzentrierte ich mich auf die Aussicht. Die Eisenflanken der Brücke waren mit Sprühfarbe beschmiert: Mike liebt Amanda und Tammy liebt Rob und Tammy ist eine Hure undPEACE. Da lag jede Menge Müll herum: zerdrückte Pepsi-Dosen, leere Chipstüten, platt getrampelte Zigarettenschachteln. Ich sah vier Mädchen – keins davon meine Schwester – und drei Jungen. Die Jungen hielten sich an den Händen und sprangen. Ich hörte ein lautes Klatschen, und dann ihre Stimmen aus nächster Nähe. Auf einmal wurde mir klar, dass der Rückweg über die Böschung sie an meiner Kiefer vorbeiführen würde. Also drückte ich mich an die Rückseite des Stamms, während die sehnigen, sonnenverbrannten Jungs den Trampelpfad hochstiegen und auf die Brücke kletterten. Falls sie mich gesehen hatten, ließen sie es sich nicht anmerken.
Und dann kam Kaus. Wo die anderen ausrutschten und krabbelten, nach einem Halt oder einer Wurzel suchten, glitt Kaus scheinbar mühelos bergan. Er entdeckte mich hinter dem Baum, zwinkerte mir zu und legte sich einen Finger an die Lippen. Pssssst.
Der strahlende Kaus. Einmal hörte ich ihn in der Sprache seiner Vorfahren reden, nicht mit mir, sondern mit Henrietta, nachdem sie lange genug gebettelt und gefleht hatte. Die beiden waren nackt, sie lagen auf alten Decken, die Henrietta auf dem Scheunenboden ausgebreitet hatte. Zuerst flüsterte er ihr nur ins Ohr, doch dann verschränkte er die Hände hinter dem Kopf und plauderte drauflos. Mir kam nicht in den Sinn, dass seine Worte eine Bedeutung haben könnten. Ich hatte mich angeschlichen und draußen vor der Scheune versteckt, um die beiden zu beobachten. Etwas Magischeres hatte ich nie gehört.
In unserer Stadt wurden keine fremden Sprachen gesprochen, nur in der Highschool etwas Französisch und Spanisch. Bevor Kaus’ Familie in jenem Sommer zugezogen war, hatten wir nie echte Ausländer gesehen. Was den heraufziehenden Ärger natürlich nur noch größer machte.
Kaus verschwand oben auf der Brücke. Ermutigt durch seine freundliche Begrüßung huschte ich zur Böschung, um besser sehen zu können. Wieder einmal gab es keinen Zweifel, was oder wohin er wollte. Er ging auf meine Schwester zu, legte ihr die Hände an die Hüften und zog sie an sich. Henrietta bog den Rücken, ihre Leiber stießen zusammen, und dann drehten sie sich auswärts wie zwei Tänzer und standen plötzlich Seite an Seite. Kaus schob seine Hand hinten in Henriettas Hosenbund, und so schlenderten sie über die Gleise davon. Die anderen schauten ihnen nach. Ich war entsetzt, musste aber auch zugeben, dass die Szene besser war als jedes Buch.
Etwa auf der Mitte der Brücke blieben meine Schwester und Kaus stehen und schmiegten sich aneinander, nur, dass er diesmal hinter ihr war und sie auf den Fluss hinunterblickte. Er schob seine Hände über ihre Taille und in ihre Shorts. Es sah so aus, als sei Henrietta ganz auf das Wasser konzentriert. Kaus vergrub sein Gesicht in ihrem Nacken. Plötzlich warf sie den Kopf zurück, und die Jugendlichen auf der Brücke lachten und applaudierten. Ohne jede Vorwarnung trat Henrietta einen Schritt vor und fiel in die Tiefe.
Die Show war noch längst nicht vorbei. Als Henrietta im Wasser verschwand, wurde ich panisch, aber glücklicherweise tauchte sie schnell wieder auf. Ich verließ mein Versteck und rannte ans Ufer. Henrietta schimpfte nicht, sie blieb nicht mal stehen, sondern warf mir im Vorbeigehen einen Kuss zu und kletterte die Böschung hinauf. Kaus hatte sich eine Zigarette angezündet, und als meine Schwester wieder bei ihm war, schob er sie ihr zwischen die Lippen. Sie nahm einen tiefen Zug, und trotz meines Schreckens war ich mir sicher: Noch nie hatte ich etwas gesehen, das so sexy war.
Ich weiß nicht mehr, ob ich in dem Sommer Blumen der Nacht zu Ende las oder ein anderes Buch anfing. Auf einmal fand ich Henrietta spannender als jede Lektüre. Meine Schwester hatte sich vor meinen Augen in eine junge Frau verwandelt, die ich kaum wiedererkannte. An dem Tag war sie als einziges Mädchen von der Brücke gesprungen, im freien Fall hatte sie die Arme ausgebreitet wie Flügel. Auf dem Nachhauseweg zeigte sie mir die schrecklichen Folgen: Die helle, fast durchscheinende Haut an der Innenseite ihrer Oberarme schimmerte in einem gelblichen Violett.
»Dad bringt dich um«, sagte ich.
»Er wird es nicht erfahren.«
»Was willst du denn machen? Den ganzen Sommer langärmlige Sachen anziehen?«
Sie tat genau das. Die langen Ärmel wurden zu ihrem Markenzeichen. Als sie am nächsten Morgen die Treppe herunterkam, trug sie ein knapp unterhalb der Brust abgeschnittenes Flanellhemd, das ihren langen, flachen Bauch entblößte. Irgendwann in dem Sommer war ein Baby in diesem Bauch. Der Anfang eines Babys. Ein winziger Zellklumpen, aus dem sich ein Baby entwickelt hätte.
An dem Morgen war ich nach einem unruhigen Schlaf viel zu früh aufgewacht. Der Gedanke, dass meine Schwester eine Liebesaffäre hatte, ging mir nicht aus dem Kopf. Ich lief zu ihrem Zimmer und klopfte an. Ich drehte am Türknauf, nichts passierte. Ich rüttelte und zerrte und merkte da erst, dass sie abgeschlossen hatte. Das war neu.
»Henrietta?«, rief ich. Ich klopfte und klopfte, und nach einer Weile malte ich mir die wildesten Szenarien aus. Sie war aus dem Fenster geklettert. Nein, ihr Freund hatte sich in ihr Zimmer geschlichen! Ich hämmerte gegen die Tür und rief ihren Namen.
»Verpiss dich«, rief sie irgendwann zurück. Ich erstarrte und wartete auf das Knarren der Holzdielen, aber da war nichts zu hören als ihre wütende Stimme: Sie schlafe noch und ich solle sie in Ruhe lassen, sonst würde sie mich kaltmachen. Ich ließ den Türknauf los, ging nach unten und schaltete den Fernseher ein, aber eigentlich beobachtete ich nur die Uhr. Als sie endlich herunterkam, war es schon Mittag. Ich hatte uns ein paar Sandwiches gemacht, denn während der Sommerferien betrachtete Henrietta es als Selbstverständlichkeit, dass ich mich ums Mittagessen kümmerte. Ohne mich hätte sie sich von Crackern und Marshmallowcreme ernährt. Ich bot ihr ein Eiersalatsandwich an, aber sie winkte ab.
»Riecht nach Scheiße«, sagte sie, öffnete den Kühlschrank und blieb davor stehen.
»Das macht man nicht«, zischte ich. »Das ist Stromverschwendung!« Genau das hätten meine Eltern auch gesagt.
»Mein Gott«, sagte sie, »in diesem Haus gibt es wirklich nichts zu trinken.«
Bei uns wurde grundsätzlich nur Milch, Wasser oder Orangensaft getrunken. Was wollte sie, einen Softdrink? Alkohol? Sie knallte die Kühlschranktür zu und verließ die Küche, das Haus, das Grundstück. Sie blieb bis zum Abend fort. Als sie zurückkam, sagten meine Eltern nichts.
Wochenlang ging das so. Henrietta stand spät auf, verschwand wortlos und wollte offenbar nichts mehr mit mir zu tun haben. Einmal folgte ich ihr, aber auf der kleinen Brücke drehte sie sich um und entdeckte mich. Das reichte, ich ging nach Hause. Mein Wunsch, es mir nicht mit ihr zu verscherzen, war stärker als meine Neugier. Wenigstens zu Beginn.
Trotzdem machte ich mir schreckliche Sorgen. Sie wurde immer dünner und übergab sich fast jeden Tag. Die Beine ihres neuen, erschlankten Körpers ragten wie Besenstiele aus den Shorts heraus, und ihre Arme waren dünn wie aus Ästen geschnitzt. Ich stand vor der verschlossenen Badezimmertür und fragte: »Was machst du da drin?« Sie antwortete genervt: »Mich erschießen! Mein Gott.« So lief das zwischen uns.
Wenn meine Schwester nicht da war, durchsuchte ich ihr Zimmer nach Hinweisen. Sie führte seit Jahren Tagebuch, und obwohl ich ein maßlos neugieriges Kind war, hatte ich das immer als ihre heilige Privatsache respektiert. Nie hatte ich auch nur einen Blick in dieses Heft geworfen. Nun blätterte ich bei jeder Gelegenheit darin herum und suchte seinen Namen. Was ich las, war ebenso ernüchternd wie enttäuschend. Seitenweise ließ meine Schwester sich über die beiden Pferde und ihr Befinden aus, sie führte minutiös Buch über die Temperaturen im Stall und den Wind, den Regen und den Schnee draußen. Sie fragte sich, ob die Pferde es bequem hätten, notierte ihre Maße und was sie fraßen. So zuverlässig und sorgfältig kannte ich Henrietta gar nicht, es war mir ein absolutes Rätsel. Eine Spur von Kaus oder von ihrem geheimen Leben an seiner Seite konnte ich in ihrem Zimmer nirgends entdecken.
Ich hatte nicht den Mut, loszugehen und sie zu suchen. Noch nicht. Um mich abzulenken, spann ich ihre Liebesgeschichte weiter. Es war mein erster Schreibversuch. Ich übernahm die Namen – Henrietta und Kaus –, und immer spielte die Brücke eine Rolle. Ich beschrieb ihre Treffen und ihr unbändiges Verlangen und, unweigerlich, das Ende ihrer Liebe. Denn die Sache ging nie gut aus. Egal, was ich mir vornahm, zum Schluss brach Kaus Henrietta das Herz.
Ich jagte mir selbst Angst ein mit dem, was ich schrieb. Die Geschichten erschienen mir zu real. Wenn ich mir vorgestellt hatte, wie Henrietta von ihrem Freund in den Fluss geschubst wurde, fürchtete ich den ganzen Tag, es könnte wirklich passiert sein, schlimmer noch, ich fürchtete, es verschuldet zu haben. So zogen sich die schweren, schier endlosen Sommertage dahin, und ich war mittendrin und ganz allein. Meine Mutter bekam ich kaum zu Gesicht, eigentlich nur, wenn sie sich etwas zu essen holte. Nie nahm sie sich die Zeit, etwas zuzubereiten; sie griff sich einfach den Käse oder die Erdnussbutter und verschwand wieder nach oben. An manchen Tagen kam sie anscheinend nicht voran, dann hörte ich sie in ihrem Atelier hin und her laufen. Manchmal schlug sie gegen die Wand oder warf etwas durchs Zimmer, wahrscheinlich ihre Pinsel. Trotzdem hielt sie immer bis zum Abendessen durch. Zum ersten Mal im Leben war ich vollkommen mir selbst und meiner Vorstellungskraft überlassen, und eines Tages verlor ich die Kontrolle. Ich glaubte felsenfest, dass meiner Schwester etwas Schlimmes zugestoßen war, und ging einfach los.
Es war ungefähr Mitte Juli. Die Tigerlilien standen in voller Blüte. Die feurigen Köpfe säumten die Straßen und wiesen mir den Weg zu meiner Schwester. Zunächst einmal führte er in die Stadt. Ich lief die Hauptstraße auf und ab, von Henrietta keine Spur. Ich betrat den kleinen Laden, wusste aber, dass das nur ein Hinauszögern war, denn auch dort würde sie nicht sein, nicht jetzt, wo sie Kaus hatte. Schließlich nahm ich all meinen Mut zusammen und ging zur Church Street. Tapfer erklomm ich die Böschung und die Eisenbahnbrücke. Ich ging in der Mitte der Gleise und streckte die Arme aus, wie um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Ich wusste, ich war hier nicht willkommen, aber das war mir egal. An dem Nachmittag hatte ich nur ein Ziel, ich wollte meine Schwester finden und retten.
»Henrietta?«, rief ich weinerlich zu den Jugendlichen hinüber. Sie sahen mich an, schüttelten lachend den Kopf, spuckten und setzten zum nächsten Sprung an. Henrietta, das sollten ihre gleichgültigen Gesten mir sagen, war mit anderen Dingen beschäftigt. So eine war sie jetzt.
Natürlich. Ich kletterte die Böschung hinunter, rannte zu dem roten Haus und hämmerte gegen die Tür. Ich hatte mir nicht überlegt, was ich sagen würde, aber wie sich herausstellte, brauchte ich gar nichts zu sagen. Die Frau, die mir öffnete, musste Kaus’ Großmutter sein. Ihre Wangen sahen aus wie weiche, volle Ballons.
»Nein«, sagte sie, als sie mich sah, »nein, nein, nein.« Nur ein Wölkchen von einem Wort. Krank vor Sehnsucht nach meiner Schwester schlich ich nach Hause.
Zum Schluss hielt ich es nicht mehr aus und verpetzte sie. Meine Eltern wussten natürlich längst, dass sie ständig weg war, aber nun, da ich es ausgesprochen hatte, musste mein Vater reagieren. Er sagte, sie dürfe sich nicht den ganzen Tag draußen herumtreiben. Meine Mutter seufzte und sagte: »Lass ihr doch ihre Freiheit, Charley.« Es war nach dem Abendessen, Henrietta war schon nach oben gegangen und noch einmal heruntergerufen worden. Meine Mutter hatte bereits die ersten Züge von ihrem Joint genommen.
»Dann soll sie wenigstens Jane mitnehmen. Henrietta, wenn du rausgehst, musst du Jane mitnehmen.«
»Jaja«, sagte Henrietta.
Meine Mutter sagte: »Mein Gott, Charley.«
Während jener Zeit gab es nur zwei glorreiche Momente, in denen meine Schwester Kaus erwähnte. Einmal saßen wir im Wohnzimmer, sie hatte den riesigen Atlas aufgeschlagen. »Luang Prabang«, flüsterte sie und fuhr mit dem Finger über die dunkelroten Grenzen des Landes, aus dem er gekommen war. »Muang Beng«, sagte sie. Aber als ich mich neben sie setzte und fragte, was sie darüber wisse, fing sie an zu kichern, klappte den Atlas zu und sagte: »Der Umriss sieht aus wie ein schlapper Schwanz, das weiß ich darüber.«
Beim zweiten Mal saßen meine Mutter, meine Schwester und ich in der Küche, und plötzlich sagte meine Schwester verträumt: »Für Kaus würde ich alles tun.«
Wir aßen die roten Pistazien, die mein Vater nicht mochte, und hatten uns ausnahmsweise Limonade gemacht, mit so viel Zucker, dass man die Kristalle auf der Zunge spürte. »Lass das bloß nicht deinen Vater hören«, sagte meine Mutter in scharfem Ton, und dann zog sie sich in ihr Atelier zurück, ohne sich die roten Verfärbungen von den Fingern zu waschen. Wir Mädchen waren wieder mal auf uns gestellt.
2 | Mein Vater war ein Geschichtenerzähler, und als wir klein waren, hieß seine Lieblingsgeschichte »Die Hütte«. Sie spielte in dem Wald hinter unserem Haus, jenseits der Wiese und der niedrigen Steinmauer; bis heute ist dort ein altes Fundament zu finden. Es war einmal, sagte mein Vater, auf den Grundmauern eine Hütte, und in der Hütte wohnte eine Familie: Vater, Mutter und drei Söhne. Die Eltern waren aus Schottland eingewandert, um unten in der Stadt in der Fabrik zu arbeiten, aber die drei Söhne waren hier zur Welt gekommen, auf dem gestampften Lehmboden der Hütte. Es waren arme, aber anständige Leute. Die Geschichte variierte je nach Laune meines Vaters. Einmal gingen alle fünf in die Stadt, ein andermal wollten sie Schneeschuhe kaufen, einmal blieben sie den ganzen Tag zu Hause und bereiteten ein Festmahl zu, weil der Vater Geburtstag hatte und sich einen Rindfleischeintopf und zum Nachtisch Schokoladenkuchen mit Glasur wünschte, und so weiter und so fort. Doch egal, was mein Vater erzählte, immer steuerte die Geschichte auf ein bestimmtes Datum zu, den 19. Januar 1852. Kalter Freitag. Es war der Tag, an dem die Temperatur binnen Stunden auf unglaubliche minus fünfunddreißig Grad fiel und das Quecksilber im Thermometer gefror. Ein schneidender Wind fegte über die Wiese und durch den Wald und ließ alle Fensterscheiben der Hütte zerspringen. Die Mutter und die drei Söhne drängten sich auf dem Bett in der Mitte des Raumes zusammen, während der Vater zu dem Haus eilte, das über hundert Jahre später uns gehören sollte.
Damals wohnte dort ein gewisser Mr Josiah Bartlett, der den schlotternden Vater hereinbat, die Pferde vor den Schlitten spannte und sogleich aufbrach, um die Nachbarn aus dem Wald zu retten. Der Weg war nicht weit, und weil der Schlitten stabil und die Pferde kräftig waren, kam Mr Bartlett trotz des Windes und des heftigen Schneefalls zügig voran; doch schon bevor er am Ziel war, wusste er, dass es keine Familie mehr zu retten gab. Mitten im tosenden Sturm hatte sich eine unheimliche Stille auf die Hütte gesenkt. Mr Bartlett kletterte vom Schlitten herunter und meinte, das Hallen seiner Schritte zu hören. Um ihn herum wirbelte der Schnee, doch ausgerechnet auf die Hütte hatte Mr Bartlett freie Sicht, und sein Blick ging durch ein zerbrochenes Fenster zur Feuerstelle. Vor der sterbenden Glut saßen fünf Kojoten, von deren krummen Rücken Dampf aufstieg. Alle drehten im selben Moment den Kopf, ihre gierigen Blicke trafen Mr Bartlett, und da stürzten der Wind und der Schnee von allen Seiten auf ihn ein. Blindlings tastete er sich zum Schlitten zurück, kletterte hinauf und trieb die Pferde an, als wäre der Teufel hinter ihm her. Die schottische Familie ward nie wieder gesehen, nicht einmal der Vater, der doch eigentlich in Mr Bartletts warmer Stube hätte sitzen sollen.
Wenn meine Mutter hörte, dass mein Vater wieder mal diese Geschichte erzählte, wies sie ihn darauf hin, dass es in unserer Gegend seinerzeit keine Kojoten gegeben habe. Meistens ignorierte mein Vater ihre Kommentare, nur manchmal fragte er: »Aber Sylvia, woher willst du das wissen?«
Ich schlug mich immer auf seine Seite. Die Kojoten störten mich kein bisschen, im Gegenteil; die Vorstellung, dass ihre Anwesenheit wissenschaftlich unmöglich war, machte sie noch besser, noch geheimnisvoller. Was der Familie zugestoßen war, überließ mein Vater unserer Fantasie. Ich erklärte es mir so, dass die Leute sich in Wildhunde verwandelt hatten. Aber egal, was wir uns vorstellten, die Geschichte gehörte zu unserer Kindheit und war unser Privatmärchen. Zog ein Schneesturm auf, behaupteten wir, wir hätten ein Heulen gehört. Zu jeder Jahreszeit liefen wir zu dem Fundament im Wald, das mein Vater »die Hütte« nannte, und spielten stundenlang zwischen den bröckeligen Mauerresten. Wir machten sogar Feuer in dem alten Kamin. Oft spielten wir Vater, Mutter, Kind; Henrietta war die Mutter und ich das Kind. Am besten gefiel es uns im Herbst, wenn der Wind durch den Wald strich wie ein Geist, der Laub auf dem Rücken trägt. Hörten wir tatsächlich ein Heulen, dachte mein Vater nicht an seine Hühner und die anderen Tiere, sondern sah uns verschwörerisch an und fragte: »War das etwa ein Kojote? Oder hat die Familie uns gerufen?« Beides, davon war ich überzeugt. Und obwohl ich es nie aussprach, war ich mir sicher, dass der Familie etwas Schönes zugestoßen war, denn von einem Unglück hätten wir erfahren; außerdem hörten wir sie selbst jetzt noch in manchen Nächten heulen, über hundert Jahre später, und das nahm ich als gutes Zeichen.
In dem Sommer mit Kaus waren wir für die Geschichten meines Vaters natürlich schon zu alt, aber unsere Familie kam immer noch jeden Abend zum Essen zusammen. Eines Abends, mein Vater griff gerade mit der Zange nach einem zweiten Maiskolben, hörten wir ein ungewöhnliches Geräusch. Zunächst hielten wir es für Hundegebell, aber dann dehnte es sich zu einem unverkennbaren Heulen. Sobald es an einem Ort verstummte, hob es woanders von Neuem an, und nach einer Weile klang es, als sei unser Haus umzingelt. Wir hatten die Tiere so lange nicht gehört, dass wir sie fast vergessen hatten. Während das Geheul anhielt, sagte mein Vater, die Kojoten wären wohl in die Hütte zurückgekehrt, und dann erzählte er uns die Geschichte wie früher. Er sparte kein Detail aus und nannte zum ersten Mal überhaupt die Namen der Familienmitglieder: Thomas und Elspeth Ross, Colin, Evan, Jeremiah. Es war wie eine Offenbarung, als wären sie plötzlich zum Leben erweckt worden. Ich sah meine Schwester an. Sie war blass geworden, was ich auf das ständige Erbrechen schob; dann wiederum schien sie gar nicht so sehr darunter zu leiden, noch nicht. Zu der Zeit war Henrietta zwar sehr dünn, doch sie strahlte wie das blühende Leben. Mein Vater schloss mit dem Satz, nun seien die Kojoten also zurückgekehrt, und da wurde mir schlagartig klar, wo meine leichenblasse Schwester und Kaus sich die ganze Zeit versteckt hatten.
Ehrlich gesagt habe ich nie verstanden, warum sie an dem Abend so bleich wurde, denn vor Kojoten hatte meine Schwester so wenig Angst wie vor der Wildnis im Allgemeinen. Fürchtete sie, erwischt zu werden? Oder dass mein Vater ihr mit der Geschichte etwas sagen wollte? Und warum ging sie, falls es so war, trotzdem wieder hin? Denn ich hatte natürlich richtig geraten. Am nächsten Tag schlich ich durch den Wald, und sobald ich ihre Stimmen hörte, duckte ich mich in die Senke in der Nähe der Hütte. Mein Vater hatte uns einmal erzählt, früher hätten die Dorfbewohner ihren Müll dort abgeladen. In der Senke lagen rostige Metallfässer und Sprungfedern, sogar ein verbeultes Autowrack stand herum. Als Kind hatte ich stundenlang daneben gesessen und mir vorgestellt, wie es an diesen Ort gekommen war. Jetzt robbte ich an die Kante und spähte zu Henrietta und Kaus hinüber. Ich sah sie genau. Obwohl ich nicht glaubte, dass meine Schwester so weit gehen würde, sich auf Sex einzulassen, hatte ich insgeheim damit gerechnet. Doch was ich zu hören bekam, war eine schwärmerische, ziemlich pubertäre Unterhaltung, wie nur zwei Verliebte sie führen konnten: Glaubst du an das Schicksal? An Liebe auf den ersten Blick? Hängt deine Laune vom Wetter ab? Ist der Charakter eines Menschen von Geburt an festgelegt? Ich lauschte, und nachdem sie gegangen waren, blieb ich noch lange in der Senke liegen und bildete mir ein, wir wären zu dritt in eine zarte und bezaubernde Liebesgeschichte verstrickt.
Eine so friedliche, traumhafte Zukunft war uns leider nicht beschieden. Am späten Samstagabend wurde ich von der knarzenden Treppe geweckt; ich war in dem Sommer so besessen von Henrietta, dass meine Sinne geschärft und mein Schlaf leicht waren. Aber diesmal hatte ich mir das Geräusch nicht bloß eingebildet. Ich setzte mich auf und hörte meine Schwester auf Zehenspitzen die Treppe hinuntergehen. Soweit ich wusste, war sie noch nie im Dunkeln aus dem Haus geschlichen. Ich konnte nicht anders, ich stand auf und folgte ihr, kaum dass sie die Haustür hinter sich geschlossen hatte. Sie ging zur Scheune. (Weil es da gemütlicher war? Weil sie glaubte, zur Hütte würden nachts die Kojoten kommen?) Sie schob das Tor auf und schlüpfte hinein, und dann schob sie das Tor nicht ganz wieder zu. Die Scheune hatte zwei Heuböden, aber es gab nur eine Treppe, die zu dem an der Westseite hinaufführte. Um auf den an der Ostseite zu gelangen, musste man in mehreren Metern Höhe über eine quergelegte Leiter kriechen. Das kam aber praktisch nie vor, denn auf jenem anderen Boden lagerte nur Sperrmüll – ausgehängte Türen, kaputte Fensterrahmen und anderes Zeug, das die früheren Bewohner unseres Hauses hinterlassen hatten. Der Mond war voll, und weil Henrietta das Tor nicht ganz zugeschoben hatte, konnte ich alles deutlich erkennen. Sie stieg die Treppe hoch, kroch über die Leiter und warf ein paar alte Decken herunter. Dann kam sie wieder nach unten und schüttelte Kerzen, Streichhölzer und eine Zigarettenschachtel aus dem Deckenhaufen.
Nach einer Weile hörte ich Schritte im Gras, und ich wusste, das war Kaus. Ich huschte an der Scheunenwand entlang, aber vergebens, er musste mich entdeckt haben. Komischerweise ging er seelenruhig weiter.
Ich kann nicht wissen, ob es für meine Schwester wirklich das erste Mal war, aber ich bin mir ziemlich sicher. Kaus ging hinein, sie bückte sich, griff nach einer Wolldecke und riss sie in die Höhe. Die Decke entfaltete sich wie ein Fallschirm und sank dann zu Boden. Henrietta legte eine zweite Decke auf die erste. Kaus stellte sich an das Ende des provisorischen Betts, sie trat auf ihn zu. Sie wirkten überhaupt nicht verunsichert, ihre Bewegungen waren fließend und geschmeidig wie bei einem Tanz. Sie fing mit seinem T-Shirt an und stellte sich auf die Zehenspitzen, um es ihm über den Kopf zu ziehen, dann machte sie mit seiner Jeans weiter. Das Knistern des Reißverschlusses zerteilte die nächtliche Stille. Kaus stand die ganze Zeit über reglos da. Seltsamerweise waren sämtliche Tiere in der Scheune leise. Nur einmal, als er endlich nackt war, stieß eins der Pferde einen langen Seufzer aus. Henrietta zeigte auf die Decken, Kaus legte sich hin. Henrietta zog sich aus und baute sich, schmal und blass, über ihm auf. Ihre kleinen Brüste schimmerten im Mondlicht, das durch den Spalt zwischen Mauer und Scheunentor einfiel. Das Licht schien sie zu wiegen und ganz langsam auf Kaus abzusetzen.
Ich hätte entsetzt sein sollen, vielleicht sogar angewidert, denn das war richtiger Sex und ich war erst zwölf. Aber die beiden – insbesondere meine Schwester – wirkten so gelassen und angstfrei, dass ich einfach nur staunte und auf nichts anderes mehr achten konnte als den Akt selbst.
Am nächsten Morgen stand Henrietta ungewöhnlich früh auf. Es war Sonntag, und mein Vater hatte frei, und als sie in die Küche kam, verkündigte er, er wolle einen Familienausflug machen. Meine Mutter weigerte sich.
»Charley«, sagte sie. »Charley, du weißt doch, dass ich gerade mit diesem Bild beschäftigt bin.«
Mein Vater antwortete, dann werde er eben etwas mit uns Mädchen unternehmen. Aber Henrietta hatte auch keine Lust und verschwand in ihrem Zimmer. Stumm saß ich da, hin- und hergerissen zwischen der Gelegenheit, meine Schwester nach der Nacht in der Scheune aus nächster Nähe zu beobachten, und dem seltenen Glück, meinen Vater ganz für mich zu haben. Doch zu meiner Überraschung ließ er mich sitzen. Er erklärte, er werde angeln gehen, und wenig später verließ er das Haus.
Ich ging nach oben. Henrietta hatte abgeschlossen, auf mein Klopfen und Rufen reagierte sie nicht. Ich vermutete, dass sie wieder eingeschlafen war, doch keine Stunde später kam sie zu meiner großen Verwunderung zur Haustür herein. Ich hatte aber keine Gelegenheit, ihr Fragen zu stellen, denn plötzlich, endlich, kam sie mit ihren Sorgen zu mir. Es war der Durchbruch, auf den ich den ganzen Sommer gewartet hatte. Offenbar hatte sie Kaus besuchen wollen, aber er war nicht zu Hause. Auf der Eisenbahnbrücke war er nicht gewesen und auch nicht im Wald. An keinem ihrer Treffpunkte. Sie erzählte mir das, nahm mich beim Arm, zog mich ins Wohnzimmer und sagte: »Sei still, wir gucken jetzt einen Film.« Es war derselbe Film wie immer, denn wir besaßen nur dieses eine Video. Die Geschichte handelte von einem Jungen und einem Mädchen, die einen Schiffbruch überleben und auf einer einsamen Insel zusammen erwachsen werden. Da gab es eine Stelle, zu der Henrietta in der Vergangenheit immer und immer wieder zurückgespult hatte, die Szene, in der der Junge und das Mädchen zum ersten Mal miteinander schlafen. Es geschieht unter Wasser, in einem klaren Naturbecken unter einem tropischen Wasserfall. Während des Akts färbt das Wasser sich langsam blutrot. Das hatten wir immer schmutzig gefunden, aufregend und köstlich, aber an dem Tag schaltete Henrietta den Fernseher aus, kaum dass die Szene begonnen hatte. Sie ließ die Fernbedienung fallen, griff zum Telefon, wählte eine Nummer, knallte wortlos den Hörer auf die Gabel, wiederholte das Ganze noch zwei Mal und sagte: »Ich bringe ihn um. Diese Schlampe. Scheiße, ich bringe ihn um.« Tagelang ging das so, es war, als würde sie den Verstand verlieren; aber ich muss zugeben, dass ich glücklicher war denn je. Sie litt, aber ich hatte sie für mich allein. Endlich hatte ich sie wieder oder wenigstens eine Version von ihr. Sie fing an, Pläne zu schmieden, und in ihren Augen glomm eine perverse Freude. »Ich könnte ihn fesseln«, sagte sie nachdenklich, »und von der Brücke stoßen, damit er ertrinkt. Ich könnte ihn reinlegen. Er ist ja so notgeil, ich könnte ihn fesseln und so tun, als wollte ich es ihm so richtig besorgen, und dann könnte ich ihn einfach schubsen. Er würde davontreiben«, sagte sie verträumt, »und wäre für immer weg.«
»Ich könnte ihn erschießen«, sagte sie. »Dad hat hier irgendwo ein altes Jagdgewehr. Ich könnte ihn einfach erschießen. Aber danach gäbe es viel zu viel aufzuwischen.«