Der Schatten - Petra Hammesfahr - E-Book
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Petra Hammesfahr

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Beschreibung

Die ehrgeizige Filmproduzentin Stella Helling hat den Halt verloren. Sie trinkt zu viel, verzweifelt an der Behinderung ihres Kindes und an der allgegenwärtigen Schwiegermutter. Stellas einziger Halt ist ihr Mann Heiner, ein Polizeikommissar. Als sie sich ihren größten Erfolg »Der Schatten mit den Mörderaugen« noch einmal anschaut, ist Heiner im Dienst. In der Nacht erwacht sie von einem fürchterlichen Schrei. Am nächsten Morgen ist ihre Schwiegermutter tot und das Baby verschwunden. Und nicht einmal Heiner glaubt seiner Frau, dass in der Nacht ein Filmmonster »Der Schatten« leibhaftig im Haus war …

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Er kommt in der Nacht und nimmt alles, was dir lieb ist

Die ehrgeizige Filmproduzentin Stella Helling hat es aus der Bahn geworfen. Sie trinkt zu viel, verzweifelt an der Behinderung ihres Kindes und an der allgegenwärtigen Schwiegermutter. Stellas einziger Halt ist ihr Mann Heiner, ein Polizeikommissar. Als sie sich ihren größten Erfolg »Der Schatten mit den Mörderaugen« noch einmal ansieht, ist Heiner im Dienst. Sie schläft vor dem Fernseher ein und erwacht von einem fürchterlichen Schrei. Kurz darauf steht »der Schatten« leibhaftig vor ihr. Am nächsten Morgen ist ihre Schwiegermutter tot und das Baby verschwunden. Nicht einmal Heiner glaubt seiner Frau, dass in der Nacht ein Filmmonster im Haus war …

PETRA

HAMMESFAHR

Der Schatten

ROMAN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright © 2019 by Diana Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Cathérine Fischer

Umschlaggestaltung: t.mutzenbach design, München

Umschlagmotive: © Arcangel / Lee Avison; Gettyimages / Donna Husni / EyEm

Satz: Leingärtner, Nabburg

Alle Rechte vorbehalten

e-ISBN 978-3-641-23589-5V002

www.diana-verlag.de

PROLOG

Es war sehr neblig an dem Morgen im November 1983, als die beiden Jungs starben. Zwillingsbrüder, siebzehn Jahre alt. Sie hatten in Köln ein Mofa gestohlen und fuhren auf der Landstraße durch eine regelrechte Milchsuppe. Ihre bettlägerige Großmutter wollten sie besuchen. In deren Küchenschrank lagen immer einige Hundert Mark in einer Zuckerdose, nur dafür fuhren sie hin. Einer der Jungs brauchte dringend einen Schuss, der andere wollte weg – weit weg. Er wusste von einem Mord und hatte schreckliche Angst.

Auf der Rückfahrt hörten beide von hinten ein Auto kommen. Es fuhr ohne Licht und war wegen des dichten Nebels im weit abstehenden Rückspiegel erst zu sehen, als es schon unmittelbar hinter ihnen war. Dann ging alles sehr schnell. Bei einem verzweifelten Ausweichmanöver geriet das Mofa auf feuchtem Laub ins Schlingern und stürzte. Beide Jungs trugen keine Helme. Einer knallte mit dem Kopf aufs Straßenpflaster, erlitt einen Schädelbruch und verlor auf der Stelle das Bewusstsein. Der andere brach sich ein Bein und war stark benommen. Er sah noch etwas wie einen Schatten auf sich zukommen, ehe auch sein Schädel platzte.

Der Tod der Zwillingsbrüder ging als selbst verschuldeter Unfall in die Polizeiakten ein. Unfallursache wahrscheinlich überhöhte Geschwindigkeit. Das Mofa war frisiert gewesen, eine Fremdbeteiligung nicht nachweisbar. Keine Lackspuren von einem anderen Fahrzeug, auch an den beiden Körpern nichts, was darauf hinwies, dass jemand nachgeholfen hätte. Es gab für die Staatsanwaltschaft keine Veranlassung, eine gerichtsmedizinische Untersuchung in Auftrag zu geben.

Die Beamten der Kriminalhauptstelle Köln, die sich im April 2004 im Rhein-Erft-Kreis darum bemühten, vier Morde aufzuklären, wussten nichts vom einundzwanzig Jahre zurückliegenden Tod der Zwillingsbrüder, damals hatten sie noch die Schulbank gedrückt. Ihnen war auch nichts bekannt von einem weiteren, dem Anschein nach selbst verschuldeten Unfall, der im Oktober 1999 eine Frau namens Ursula Mödder das Leben gekostet hatte.

Ein Kriminalhauptkommissar der Kreispolizeibehörde dagegen hatte Kenntnis von diesen beiden Fällen und von dem Mord, der das Zwillingspärchen im November 1983 zu der verhängnisvollen Fahrt im Nebel veranlasst hatte und bisher nicht aufgeklärt war. Er hatte jedoch keine Veranlassung, mit den Kölner Kollegen über die lange zurückliegenden Ereignisse zu reden. An den Ermittlungen im April 2004 war er nicht beteiligt, konnte auf Anhieb auch keine Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart herstellen, weil es bei den jüngsten Todesfällen aus polizeilicher Sicht einen anderen und offensichtlichen Zusammenhang zu geben schien.

Seit Jahresbeginn machte eine Einbrecherbande aus dem osteuropäischen Raum den Rhein-Erft-Kreis unsicher. Die Russen wurden sie genannt, obwohl niemand genau wusste, woher sie tatsächlich kamen. Sie benutzten den Ausdruck dawei, wenn sie zur Eile drängten, das klang russisch.

Zeugenaussagen zufolge sollten es drei oder vier kräftige junge Männer sein. Die Angaben schwankten, manchmal blieb wohl einer beim Fahrzeug, in Startposition sozusagen. Sie klapperten die Dörfer und Wohngebiete der Kleinstädte im Kreis ab. Und wenn irgendwo eine Tür oder ein Fenster nicht richtig geschlossen war und nicht mindestens dem Sicherheitsstandard zwei entsprach, waren sie binnen Sekunden eingedrungen, rafften an Schmuck und Bargeld zusammen, was sie fanden. An anderen Sachen waren sie nicht interessiert, allzu viel Verwüstung richteten sie auch nicht an, wurden jedoch zunehmend dreister und brutaler.

Bei zwei Einbrüchen Mitte und Ende März waren die Bewohner zu Hause und wurden mit vorgehaltener Waffe gezwungen, den Russen die Suche zu ersparen. Das musste man schon als Raubüberfälle bezeichnen. Und die Täter schreckten auch vor schwerer Körperverletzung nicht zurück.

In der Nacht zum 5. April wurde einem Mann mit einer Eisenstange die Kniescheibe zertrümmert, weil er nicht schnell genug reagierte, als einer der Täter seiner Frau eine Pistole ins Genick hielt. Anschließend wurde das Ehepaar gefesselt und geknebelt, wie auch bei den vorangegangenen Raubüberfällen. Stundenlang lagen die Frau und der verletzte Mann hilflos da, ehe sie sich gegen Morgen bemerkbar machen konnten und gefunden wurden.

Und am 19. April geschah der erste Mord.

Gegen drei Uhr nachts wurde ein Nachbar von Horst und Dora Sieger durch anhaltendes Hundegebell geweckt. Das Ehepaar Sieger, er war zweiundsechzig, sie siebenundfünfzig Jahre alt, bewohnte zusammen mit ihrem 32-jährigen Sohn einen Bungalow am Stadtrand von Bedburg. Sieger junior war nach seiner Scheidung wieder bei den Eltern eingezogen, verbrachte die Wochenenden jedoch regelmäßig bei seiner Freundin.

Verärgert über das Gekläff, das kein Ende nehmen wollte, schaute der Nachbar aus dem Fenster seines Schlafzimmers und sah den kleinen Mischlingshund von Dora Sieger im Garten des Bungalows hin und her wetzen. Von der Terrasse zum Jägerzaun und wieder zurück zur Terrasse, wo er jedes Mal haltmachte. Dem Anschein nach verbellte er etwas im Wohnzimmer, traute sich aber nicht hinein.

Ganz geheuer war dem Nachbar das Verhalten des Hundes nicht. Nachdem er ein paarmal lautstark: »Ruhe da draußen!«, gerufen hatte, zog er seinen Bademantel über und ging in den eigenen Garten. Der kleine Kläffer gebärdete sich noch toller, als er ihn bemerkte, wollte ihn zweifellos auf etwas aufmerksam machen. Gezwungenermaßen überstieg der Nachbar den Jägerzaun, um nachzuschauen, was das Tierchen dermaßen aufregte.

Die Terrassentür des Bungalows stand offen. Im dahinter liegenden Wohnzimmer war es dunkel, aber es sah nicht so aus, als wäre etwas durchwühlt worden. Der Nachbar rief mehrfach nach Horst und Dora Sieger, bekam keine Antwort. Da in den letzten Wochen so viel über die Russen in Zeitungen und dem Radio berichtet worden war, ließ er Vorsicht walten. Hätte ja sein können, dass die Verbrecher noch drin waren. Statt den Bungalow zu betreten, ging er zurück in sein Haus und alarmierte die Polizei.

Einer der ersten Beamten, die beim Bungalow eintrafen, war Polizeikommissar Heiner Helling. Er war sechsunddreißig Jahre alt und hatte schon als kleiner Junge davon geträumt, eines Tages Uniform zu tragen und einen Streifenwagen zu fahren. Wer sich Träume erfüllte, gab sie so leicht nicht wieder auf.

Gefolgt von einer jungen Kollegin betrat Helling das Wohnzimmer, rief ebenfalls nach den Hausbewohnern, durchquerte die Diele, ging weiter ins Schlafzimmer. Dort waren Schrank und Kommoden durchwühlt, auf dem Boden lagen herausgerissene Kleidungsstücke.

Die Leiche von Dora Sieger lag mit einer klaffenden Wunde am Hinterkopf in der Verbindungstür zum Bad. Horst Sieger wurde kurz darauf, ebenfalls mit schwersten Kopfverletzungen mehr tot als lebendig, vor einem ungeöffneten Tresor im Keller gefunden. Neben ihm lag die Tatwaffe, eine blutverschmierte Eisenstange.

Nach Dienstschluss berichtete Heiner Helling daheim von dem entsetzlichen Anblick, der sich ihm im Schlafzimmer und im Keller des Bungalows geboten hatte. »Die Leute hatten nicht den Hauch einer Chance«, sagte er.

Seine Mutter hatte drei Nächte später auch keine.

TEIL 1

Von Menschen und Monstern

DIE NACHT, IN DER THERESE STARB

Donnerstag, 22. April 2004 – kurz nach 2:00 Uhr

Es war jemand im Zimmer. Stella Helling bemerkte es nicht. Sie schlief – mit knapp zwei Litern Rotwein im Leib. Eine leere Flasche stand auf dem Marmortisch zwischen der Couch und der Schrankwand, in der Fernseher, Sat-Empfänger und Videorekorder untergebracht waren. Die zweite lag neben einem leeren Trinkglas in einem großen roten Fleck auf dem beigefarbenen Teppichboden.

Wenn Stella sich auf der Couch ausstreckte, fand sie es bequemer, sich vom Boden zu bedienen, statt ständig zum Tisch hinübergreifen zu müssen. Und ab einem gewissen Promillewert schaffte sie es nicht immer, die Flasche wieder aufrecht abzustellen. Ihre Schwiegermutter hatte sich erst am Mittwochmorgen über Rotweinflecken im Teppich aufgeregt. Aber Therese regte sich seit einem Jahr über alles auf, was Stella tat oder nicht tat.

Sie erwachte vom unartikulierten, durchdringenden Schrei, mit dem eine junge Frau ihrem Tod entgegenblickte. Die Frau hieß Ursula, kauerte auf dem gekachelten Boden eines romantisch mit Blumen und brennenden Kerzen geschmückten Badezimmers. Auf dem Wannenrand standen zwei Sektkelche, weil Ursula ihren Liebhaber erwartet hatte. Nun hielt sie eine Champagnerflasche in der Hand, deren Hals abgeschlagen war. Hilflos fuchtelte sie damit herum, wobei sie sich auf ihrem Hintern rückwärts in die äußerste Ecke schob, als gäbe es Schutz in dem Spalt zwischen Wand und Toilette. Doch vor ihr stand ein Wesen, dem niemand entkommen oder irgendeinen Schaden zufügen konnte.

Der Schatten mit den Mörderaugen.

Mehrfach drang der scharfkantige Flaschenstumpf in die konturlose, schwarze Gestalt mit den leuchtend grünen Augen ein, ohne die geringste Wirkung zu zeigen. Ursula ließ die Flasche schließlich fallen und umklammerte mit beiden Händen ihren Kopf, eine sinnlose Geste, mit der sie ihr grausiges Ende nicht verhindern konnte.

Es war nur ein Film, der am späten Mittwochabend wiederholt worden war. Die Ausstrahlung hatte um zweiundzwanzig Uhr fünf begonnen und sollte mit Werbeunterbrechungen um Mitternacht beendet sein. Im Nachspann erschien neben Darstellern, Regie, Drehbuch, Kamera, Ausstattung, Schnitt und so weiter auch der Name Stella Marquart als Herstellungsleiterin.

Als der Film im Sommer 2001 gedreht worden war, war Stella dreiunddreißig, noch nicht verheiratet und rundum zufrieden mit ihrem Leben gewesen. Auf dem Höhepunkt ihrer Karriere und zum ersten Mal auch privat glücklich. Fünf Monate zuvor hatte sie mit Heiner Helling ihre große Liebe gefunden. Seit gut zwei Jahren war sie verheiratet mit dem Polizeikommissar, der in der Nacht zum Montag in dem Bedburger Bungalow Dora und Horst Sieger in ihrem Blut hatte liegen sehen.

Am Mittwochabend hatte Heiner das Haus um einundzwanzig Uhr dreißig verlassen. Seit dem Wochenende hatte er Nachtdienst von zweiundzwanzig Uhr bis um sieben in der Früh. Um Viertel vor zehn war seine Mutter nach oben gegangen. Therese ging immer um zehn ins Bett, weil sie täglich, auch am Wochenende, früh um sechs aufstehen musste. Kurz nach zehn war Therese noch einmal heruntergekommen und hatte einen Auftrag erteilt. Doch daran erinnerte Stella sich erst wieder, als der Schock einigermaßen abgeklungen war.

Unmittelbar nach dem Aufwachen war sie stark benommen und nicht fähig, die auf sie einstürmenden Eindrücke logisch und folgerichtig zu verarbeiten. Da sie auf der Couch lag, sah sie in den ersten Sekunden so gut wie nichts vom Geschehen auf dem Bildschirm, weil der Tisch ihr Blickfeld ausfüllte. Sie hörte nur den markerschütternden, fürchterlich schrillen und sehr lauten Schrei, erfasste sogar, wo er herkam. Als Alarmsignal empfand sie die Lautstärke jedoch nicht, wollte sie bloß dämpfen, ehe Therese aufwachte und sich noch mehr aufregte, als sie es in den letzten beiden Tagen getan hatte.

Eingeschlafen war Stella bei laufendem Fernseher, aber der Ton war nicht laut gewesen. Sie hatte sich auch nicht den Film angeschaut, sondern eine Videokassette mit sechs Folgen einer humorvollen Vorabendserie, die sie ebenfalls produziert hatte. Den Videorekorder hatte sie am Gerät eingeschaltet, die Fernbedienung für den Fernseher griffbereit neben sich auf die Couch gelegt, das tat sie immer.

Nun tasteten ihre Finger ins Leere. Doch auch das war noch kein Grund, das angenehm schwerelos in Rotwein schwimmende Hirn mit bangen Fragen zu belasten. Das schmale Kästchen mochte von der Couch auf den Teppichboden gefallen sein, als sie sich im Schlaf bewegt hatte. Die Mühe, danach zu suchen, lohnte nicht mehr. Ursulas Todesschrei brach unvermittelt ab.

Auf dem Bildschirm spritzte jetzt Blut auf weiße Kacheln, das sah Stella auch, weil sie den Kopf anhob. Der Schatten löste sich auf. Stella kannte die Szene zur Genüge. Doch diesmal war etwas daran anders. Es sah aus, als fließe die schwarze Bestie in Wellen vom unteren Bildschirmrand ins Zimmer. Als Stella den Kopf noch weiter hob, meinte sie auch einen dunklen Streifen zwischen Tisch und Fernseher zu sehen, der sich seitlich aus ihrem Blickfeld schlängelte. Fast so, als krieche dort eine dicke, schwarze Schlange – vierzig Zentimeter über dem Fußboden, was ja gar nicht sein konnte.

Zu beiden Seiten neben dem Tisch standen Sessel, einer dicht bei der Tür zum Hof, der zweite nahe der Tür, die in den Hausflur führte. Dahinter verschwand der dunkle Streifen. Stella schenkte dem Sessel noch einen irritierten Blick, aber weiter keine Beachtung. Sie richtete den Oberkörper auf und konzentrierte sich auf den Fernseher.

Es war ihr unerklärlich, wieso die vertraute Szene aus ihrem Film über den Bildschirm flimmerte. Verwirrt schaute sie zum Videorekorder. Die grünen Leuchtziffern der Uhr an diesem Gerät zeigten siebzehn Minuten nach zwei. Sie blinzelte verwirrt, an der Uhrzeit änderte sich nichts. Und auch sonst war nicht alles so, wie es gewesen war, als sie sich auf der Couch ausgestreckt hatte.

Es war empfindlich kühl und abgesehen vom Licht, das der Fernseher abstrahlte, dunkel im Wohnzimmer. Sie hatte die Deckenlampe nicht ausgeschaltet. Sie hatte auch die Hoftür nicht geöffnet. Aber die Dunkelheit und die sperrangelweit offene Tür ins Freie, durch die ein unangenehm frischer Nachtwind hereinwehte, waren schon Gewohnheit, über die es nicht zu grübeln lohnte. Das kannte sie aus zahlreichen vorangegangenen Nächten. Es war nicht das erste Mal, dass sie betrunken auf der Couch eingeschlafen war, wenn ihr Mann Nachtdienst hatte.

Ihre Schwiegermutter hatte in den letzten beiden Monaten häufiger mitten in der Nacht noch einmal ins Erdgeschoss kommen müssen. Jedes Mal hatte Therese sich maßlos geärgert, sich jedoch nicht die Mühe gemacht, Stella zu wecken. Therese schaltete nur das Licht aus und riss mit schöner Regelmäßigkeit die Hoftür zum Durchlüften auf, damit die Kälte der Nacht den Rest besorgte. Das hatte sie sogar im Februar getan, als es draußen fror, und in der dritten Märzwoche, als der Winter sich nach ein paar milden Tagen noch einmal mit Schneefällen zurückgemeldet und Heiner bereits eindringlich vor den Russen gewarnt hatte.

Stellas gesamte Aufmerksamkeit galt dem Bildschirm, auf dem noch kurz der Ausschnitt des Badezimmers zu sehen war, in dem Ursulas Leiche eingeklemmt zwischen Wand und Toilette saß. Gnädigerweise sah man nur das blutige Negligé und eine leblos auf nackten, blutigen Schenkeln liegende blutbespritzte Hand. Es gab sehr viel Blut in dieser Szene.

Und darauf sollte eine menschenleere, nächtliche Straße folgen, auf der sich das Auto des erwarteten Liebhabers näherte, der in der nächsten Sequenz die Tote fand und anschließend unter Mordverdacht geriet. Stattdessen kam der Abspann:

Herstellungsleitung: Stella Marquart.

Kleine, weiße Buchstaben auf schwarzem Hintergrund, der die Lichtverhältnisse im Zimmer auf ein Minimum reduzierte.

Stella kam nicht mehr dazu, sich den umnebelten Kopf über das vorzeitige Ende ihres Films zu zerbrechen. Ohne für sie erkennbaren Grund kippte die Weinflasche auf dem Tisch um, rollte über die Marmorplatte zum Rand, fiel vor der Couch zu Boden und zertrümmerte das Glas, aus dem sie getrunken hatte. Zum Glück war es keiner von den teuren Kristallkelchen aus der Vitrine, auf die ihre Schwiegermutter so stolz war. Es war nur ein dünnwandiges Glas, das ursprünglich Senf enthalten und keinen Wert hatte.

Inzwischen war sie wach genug, um an eine Katze zu denken. Damit war zwar nicht erklärt, wie der Filmausschnitt auf den Bildschirm gekommen war, doch beeinträchtigt von übermäßigem Rotweingenuss konnte Stella ihre Gedanken vorerst nur in alltägliche Bahnen lenken und auf Gewohntes zurückgreifen.

Es gab viele Katzen in der Nachbarschaft, die in den Nächten draußen herumstreunten. In der vergangenen Nacht erst war ein fetter Kater im Zimmer gewesen. Stella wollte aufstehen, die Katze verscheuchen, die Hoftür schließen, Licht machen, den Schaden betrachten und nach Möglichkeit beseitigen, um weiteren Ärger mit Therese zu vermeiden. Schuhe oder Pantoffeln trug sie im Haus nie, auch keine Strümpfe. Als sie die Füße auf den Boden brachte, spürte sie Scherben unter den Fußsohlen. Das dünnwandige Senfglas war nicht einfach zerbrochen, die Weinflasche hatte es förmlich zersplittert.

Reflexartig zog sie die Füße wieder hoch und sah aus den Augenwinkeln von rechts noch etwas Großes, Schwarzes auf sich zukommen. In der nächsten Sekunde erhielt sie einen Stoß vor die Brust, der sie rücklings auf die Couch warf.

Dann stand er vor ihr.

Der Schatten.

Die schwarze Bestie, die gerade eben noch auf dem Bildschirm Ursulas Leben ausgelöscht hatte, beugte sich leibhaftig über sie, sagte mit dumpfer Stimme etwas von bezahlen und hauchte ihr dabei seinen widerlichen Atem ins Gesicht. Er stank entsetzlich. Und seine Augen: grellgrün in der konturlosen Schwärze seines Gesichts … Kein Mensch hatte fluoreszierende Augen. Kein Mensch hatte quer gestellte Pupillen, schmale, dunkle Schlitze im leuchtenden Grün.

Es gelang Stella nicht, ihre Augen zu schließen oder seinem Blick auszuweichen. Sie presste nur reflexartig beide Hände gegen den Schädel und erwartete, dass der Knochen in der nächsten Sekunde unter ihren Fingern explodierte, wie es in etlichen Filmszenen nicht direkt gezeigt, aber massiv angedeutet wurde, wenn Blut und Hirnmasse durch die Gegend spritzten, sobald die mörderischen Augen ein Opfer ins Visier nahmen.

Sie wollte schreien, so unartikuliert und durchdringend, wie die Darstellerin der Ursula es in der Todesszene getan hatte. Nur war es eine Sache, auf Anweisung eines Regisseurs loszukreischen, umgeben von der halben Filmcrew und in der sicheren Gewissheit, dass unter der schwarzen Kutte ein gut aussehender und völlig harmloser Mann steckte.

Im wirklichen Leben alleine mit dem Horror war es eine ganz andere Sache. Über Stellas Lippen kamen nur keuchende Atemzüge und nach Wahnsinn klingende, gemurmelte Silben. In ihrer Todesangst fiel ihr nichts anderes ein als eine Beschwörungsformel, die sie als Kind auswendig gelernt hatte. »Ormsg karud grams krud behlscharg dorwes kaltrup paarweitschal.« Und es half! Der Schatten richtete sich wieder auf und wandte sich der Hoftür zu.

Nicht mehr dem grün fluoreszierenden Blick ausgesetzt, gelang es Stella nach einigen Sekunden, den Kopf zu heben und über die Armlehne der Couch ins Freie zu spähen. Er war noch nicht weit, entschwand wie in Zeitlupe. Füße und Beine oder Arme waren nicht zu erkennen, weil er abgesehen von den furchtbaren Augen durchgehend schwarz war und keine Gliedmaßen hatte. Es schien, als schwebe er dem Schuppen entgegen. Dann verschmolz er mit dem schwarzen Viereck der Schuppentür. Und sie meinte, etwas Weißes zu sehen, das langsam zu Boden segelte.

Im Wohnzimmer war es nun völlig dunkel. Über den Bildschirm flimmerten nur noch vereinzelte weiße Sprenkel. Draußen wurde es unvermittelt heller. Auf dem linken Nachbargrundstück mit der Nummer 17 war die Außenlampe eingeschaltet worden. Das Licht fiel über die Mauer und leuchtete den Hof zur Hälfte aus. Offenbar war sogar die Nachbarin von dem Schrei aufgewacht.

»Alles in Ordnung, Frau Helling?«, rief sie.

»Ja«, keuchte Stella und schaffte es, ihrer Panik zum Trotz eine Antwort zu geben, die nicht so klang, als habe sie ihren Verstand verloren. »Es war nur der Fernseher. Ich habe aus Versehen die falsche Taste gedrückt. Entschuldigung.«

Die Nachbarin ging daraufhin in ihr Haus zurück, die Hoflampe ließ sie brennen. Als der Fernseher nach einigen Minuten in den Stand-by-Modus schaltete, richtete Stella sich zögernd in eine sitzende Position auf und fixierte die Schuppentür. Sie konnte nicht feststellen, ob er noch da hinten lauerte. Wie auch, er wäre kaum zu unterscheiden von der ihn umgebenden Dunkelheit. Aber sie meinte, in der Schwärze dunklere Stellen und fließende Bewegungen auszumachen. Vielleicht hatte die Stimme der Nachbarin ihn nur ein Stück weit in den Hintergrund getrieben, dann konnte er jeden Augenblick zurückkommen.

»Ormsg karud grams krud behlscharg dorwes kaltrup paarweitschal«, murmelte sie erneut die blödsinnige Beschwörungsformel vor sich hin, die ihr lächerlich und einer erwachsenen Frau, die ihren Verstand beisammenhatte, unwürdig vorkam. Aber stattdessen aufzuspringen und die Hoftür zu schließen schaffte sie einfach nicht.

Die Stimme ihrer Schwester wisperte ihr von Menschen vor, die aus Geldgier, Machtgeilheit oder anderen Gründen die Mächte der Finsternis für ihre Zwecke einspannten, wofür immer Unschuldige bezahlen mussten. Und »bezahlen«, das Wort hatte sie deutlich verstanden. Tausend kindliche Ängste brodelten in ihrem Hirn, dass vielleicht schon dieser Druck ausgereicht hätte, um ihren Schädel ebenso zerplatzen zu lassen wie etliche im Film.

MADELEINES MONSTER

Von 1978 bis 1992

Der Wahnsinn hatte früh begonnen. Schon als Kind hatte Stella sich mit allerlei Ungeheuern auseinandersetzen müssen. Doch niemand dachte an eine geistige Störung, wenn sie etwas aus dem Keller ihres Elternhauses holen sollte und wie von Furien gehetzt die Treppe wieder heraufgestürmt kam. Es gab eine harmlose Erklärung für ihr Verhalten.

Ihre Schwester Madeleine war vier Jahre älter als sie und trug seit geraumer Zeit ihr Taschengeld zu einem Zeitungskiosk, wo sie Heftchenromane erstand, in denen es von Monstern nur so wimmelte. Werwölfe, Vampire, Untote und Dämonen, die einer düsteren Zwischenwelt entstiegen, um Unheil anzurichten. In Madeleines Zimmer lag das Grauen stapelweise.

Bislang war Stella davon verschont geblieben, das Nesthäkchen gewesen, das abends mit Vati auf der Couch kuschelte und sich anschließend von Mami eine Gutenachtgeschichte vorlesen ließ. Und ihre Mutter hatte schon vor Jahren die Erfahrung gemacht, dass Stella mit Albträumen auf Rotkäppchen, Hänsel und Gretel, sogar auf den Gestiefelten Kater reagierte. Deshalb wählte Astrid Marquart sorgfältig aus. Nur pädagogisch wertvolle Kinderbücher, in denen es lustig oder beschaulich zuging.

Doch dann wurde Stellas Bruder geboren. Tobias, den alle Tobi nannten, kam mit Trisomie 21 auf die Welt, besser bekannt als Downsyndrom. Stella musste ihr Zimmer, von dem eine Verbindungstür ins Schlafzimmer der Eltern führte, an den Säugling abtreten und zu Madeleine ziehen, die davon wenig begeistert war. Vierzehnjährige Mädchen schätzen es nun mal nicht, ihre Privatsphäre teilen zu müssen, und das auch noch mit einer neugierigen jüngeren Schwester, die gerne in Madeleines Sachen wühlte und nach dem Zubettgehen regelmäßig maulte: »Ich kann gar nicht schlafen. Mir ist so langweilig.«

Der Langeweile konnte Madeleine abhelfen. Und sie meinte, zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen zu können. Die Kreaturen der Finsternis waren nicht nur geeignet, um Stella zu unterhalten. Sie taugten auch vorzüglich, ihr das Maulen und Stöbern abzugewöhnen und sie gefügig zu machen.

Zu Anfang erkundigte Stella sich noch ängstlich: »Aber die gibt es nicht in echt, oder? Ich habe noch nie einen Vampir gesehen, auch keinen Werwolf und keinen Dämon.«

Madeleine beeilte sich jedes Mal zu versichern, dass es die Geschöpfe der Nacht sehr wohl gab, dass aber jeder normale Mensch sie nur einmal zu sehen bekam, wofür der Mensch dann prompt mit seinem Leben bezahlen musste. Madeleine war selbstverständlich kein normaler Mensch. Sie gehörte zu den wenigen Auserwählten, war eingeweiht in geheime Riten, mit denen sich die Mächte der Finsternis beherrschen oder vertreiben ließen.

Dass ihre Schwester zu den Auserwählten gehörte, wusste Stella, seit sie zur Schule ging. Mit Madeleines Zeugnissen konnte sie nicht konkurrieren. Sie war doch bis zu Tobis Geburt immer nur die Kleine gewesen, der man nichts abverlangt und jede Schludrigkeit nachgesehen hatte.

Madeleine behauptete, es verhielte sich mit geheimen Riten genauso wie mit Mathe, Bio und Physik. Völlig zwecklos, die diversen Formeln einem Mädchen zu erklären, das nicht den Schimmer einer Ahnung von Chromosomen hatte und eine halbe Stunde brauchte, um einen simplen Dreisatz zu lösen.

Als sie zum fünfzehnten Geburtstag ein kleines Fernsehgerät geschenkt bekam, ließ Madeleine Stella sogar späte Filme sehen, um sie restlos von der Realität ihrer Lieblingslektüre zu überzeugen. Von ihrer Mutter hatte Stella nämlich mehrfach gehört, nach zehn Uhr abends liefe im Fernseher nichts mehr, was zur Unterhaltung gedacht sei. Um die Zeit würden nur noch Nachrichten, wissenschaftliche Dokumentarsendungen sowie Tatsachenberichte ausgestrahlt.

Die Wiege des Bösen.

Als es beinahe zur Katastrophe kam, glaubte Astrid Marquart, es sei dieser Film gewesen, der ihre jüngere Tochter aus dem seelischen Gleichgewicht und zu der Überzeugung gebracht habe, der kleine Bruder sei ein Geschöpf Satans, das man zurück ins Feuer der Hölle schicken müsse. Stellas Vater dagegen wollte Eifersucht nicht völlig ausschließen, nachdem sie versucht hatte, Tobis Bettzeug anzuzünden, glücklicherweise im Frühsommer, als das Baby unter einer leichten Decke schlief. Vom ersten Zündholz schmorte die Decke nur an. Als Stella das zweite anriss, wachte ihre Mutter auf. Astrid Marquart hatte einen leichten Schlaf und ließ die Verbindungstür immer offen.

Niemand kam damals auf den Gedanken, Stella einem Arzt vorzustellen oder überhaupt mit einem Außenstehenden über den besorgniserregenden Vorfall zu sprechen. Nur Madeleine musste sich einiges anhören, bekam den Fernseher wieder abgenommen, sämtliche Romanheftchen ebenso. Vorübergehend wurde ihr sogar das Taschengeld gestrichen, damit sie keinen Nachschub kaufen konnte. Doch der Schaden war angerichtet. Und Madeleine gab sich in der Folgezeit redlich Mühe, ihn mit geheimen Riten zu beheben.

Den Fenstersims rieb sie mit einer Knoblauchzehe ein, damit keine Vampire eindringen konnten. Zur Abwehr von Werwölfen erstand sie auf einem Flohmarkt eine silberne Münze, mit der Stella im Fall einer Bedrohung nur hätte werfen müssen, natürlich auch treffen, das übte Madeleine mit ihr. Um Dämonen fernzuhalten, kaufte Madeleine in einem Esoterikladen einen Teppich mit einem eingewebten Pentagramm, der vor Stellas Bett gelegt wurde. Zusätzlich füllte sie einen leeren Parfümflakon mit angeblich geweihtem Wasser, von dem Stella sich morgens und abends je einen Tropfen auf den Puls an Handgelenken und Hals tupfen sollte. Dann würde sich jeder böse Geist die Finger an ihr verbrennen, behauptete Madeleine. Gegen Untote brauchte man keine speziellen Maßnahmen, denen konnte man leicht aus dem Weg gehen, musste nur nachts einen Bogen um jeden Friedhof machen, was Stella auch tagsüber grundsätzlich tat, nachts kam sie gar nicht aus dem Haus.

Um völlig sicherzugehen, brachte Madeleine ihr nun doch noch einige Beschwörungsformeln bei. Komplizierte Silbenkombinationen, die einer uralten Sprache entstammten, so alt, dass noch nicht mal ein Steinzeitmensch sie gehört hatte, weil zu der Zeit, als diese Sprache Verwendung fand, noch keine Menschen gelebt hatten. Nur die Mächte der Finsternis hatten sich auf der noch sehr wüsten Welt getummelt, lange vor den Dinosauriern.

Madeleines Kenntnisse von den Geschehnissen dieser Frühzeit und einer so alten Sprache erklärten sich mit der Science-Fiction-Lektüre, die sie als Ersatz für die Gruselhefte kaufte, nachdem sie wieder Taschengeld bekam. Da kombinierte sie einfach das eine mit dem anderen. Außerirdische hatten in grauer Vorzeit die Erde besucht, um sie für Menschen bewohnbar zu machen. Die Aliens hatten sämtliche Dämonen in eine düstere Zwischenwelt verbannt, sich aber denken können, dass die Höllenbrut dort nicht ewig bleiben würde, weil über kurz oder lang ein Mensch der Versuchung erlag, die Mächte der Finsternis für seine Zwecke einzuspannen, um reich, berühmt und mächtig zu werden.

Deshalb kamen die Außerirdischen in unregelmäßigen Zeitabständen zurück auf die Erde und schauten nach dem Rechten. Weil die Reise durchs All immer viele Lichtjahre dauerte, suchten sie jedes Mal ein paar besondere Menschen aus, Menschen wie Madeleine eben, denen sie die Beschwörungsformeln beibrachten, damit bis zum nächsten Besuch für Notfälle jemand Bescheid wusste.

Natürlich hatten die Aliens einen ganz anderen Zungenschlag als ein Mensch, auch den übte Madeleine mit Stella. Die richtige Betonung war sehr wichtig, versprechen durfte man sich nicht, wenn man einen Dämon in die Flucht schlagen wollte. Mit der falschen Formel erreichte man das Gegenteil, wurde so ein Ungeheuer nie wieder los. Und wenn man, vielleicht nur aus Versehen, durch einen bösen Wunsch oder so, selbst einen Dämon erschaffen hatte, half nur: »Ormsg karud grams krud behlscharg dorwes kaltrup paarweitschal.«

Mit elf, zwölf, auch noch mit dreizehn Jahren glaubte Stella ihrer Schwester aufs Wort, lernte gehorsam und bereitwillig jeden Unsinn auswendig, den Madeleine ihr vorsprach. Das mentale Training führte dazu, dass ihre Zeugnisse vorzeigbar wurden, weil sie mit Madeleines Methode auch lernte, sich in der Schule besser zu konzentrieren. An die Leistungen ihrer Schwester reichten die ihren allerdings nie heran.

Madeleine war die personifizierte Tüchtigkeit. Man hätte wirklich glauben können, sie bediene sich übernatürlicher Kräfte, trete vor wichtigen Schularbeiten mit den Geistern verstorbener Genies in Kontakt oder zapfe mithilfe von Außerirdischen das Wissen des Universums an. Ihr Abitur machte sie mit einer Glanznote, zog zu Hause aus, begann in Hamburg zu studieren und kam ohne finanzielle Unterstützung der Eltern aus. BAföG nahm sie auch nicht in Anspruch. Neben ihrem Studium arbeitete sie für den Lebensunterhalt und brachte es trotzdem fertig, ihr Staatsexamen noch vor der Regelstudienzeit mit Bestleistung zu bestehen.

Sofort danach nahm Madeleine ihre Dissertation in Angriff und ihre Arbeit am Tropeninstitut in Hamburg auf, wo sie sich mit anderen Monstern beschäftigte, die nur wenige Auserwählte mit eigenen Augen zu sehen bekamen. Parasiten, Bakterien und Viren, auf die Madeleine sich bald spezialisierte.

Über ihre pubertäre Vorliebe für Gruselromane lachte Madeleine längst. Dass Stella den Unfug früher für real gehalten hatte, war für Madeleine ebenfalls ein Anlass, sich zu amüsieren. Und manchmal lachte Stella mit, wenn auch ein wenig verhalten, was den Anschein erweckte, ihr kindlicher Glaube und die Furcht seien ihr nun peinlich. Doch ganz so war es nicht.

Beim Auszug ihrer Schwester war Stella fünfzehn und rundum fit in Dämonenabwehr. Es tauchten jedenfalls nie welche auf, was sie ihren Fähigkeiten zuschrieb. Das Zimmer hatte sie nun für sich allein, konnte ungestört und unbeobachtet ihre Rituale durchführen. In dem alten Parfümflakon befand sich zu der Zeit eine ausgewogene Mischung aus »My Melody« und tatsächlich geweihtem Wasser, das sie sich in einer Kirche beschaffte. Sie legte sich nie ins Bett, ohne zuvor ihre Handgelenke und den Puls am Hals mit dieser Mischung zu betupfen. Den Flakon trug sie immer bei sich, ebenso die silberne Münze vom Flohmarkt. In den Nächten lag beides griffbereit unter ihrem Kopfkissen. Und der Fenstersims war kräftig mit Knoblauch eingerieben.

An Werwölfe, Vampire und Untote glaubte sie mit fünfzehn eigentlich nicht mehr. Es konnte trotzdem nicht schaden, Abwehrmaßnahmen gegen die Geschöpfe der Nacht zu ergreifen. Und wer wollte mit unumstößlicher Sicherheit behaupten, es gäbe keine Dämonen? Oder keine Geister von Verstorbenen, die im Jenseits keine Ruhe fanden, weil sie meinten, auf Erden noch etwas erledigen zu müssen?

Noch mit zwanzig verspannten sich ihre Nackenmuskeln, wenn sie etwas aus dem Keller holen sollte. Hinunterzugehen war das kleinere Problem, zurück dagegen: Die Dunkelheit der Räume im Rücken, in denen sie das Licht schon wieder ausgeschaltet hatte. Manchmal spürte sie einen kühlen Hauch, der vielleicht von einem offenen Kellerfenster herrührte. Und wenn nicht davon?

Sie studierte Germanistik an der Uni Köln und lebte noch im Elternhaus, das ihr Vater kurz nach Madeleines Geburt den Erben einer alten Dame abgekauft hatte, die hier völlig vereinsamt gestorben sein sollte – hatte Madeleine erzählt. Ob es zutraf, wusste Stella nicht, mochte ihren Vater auch nicht danach fragen. Was nun, wenn es stimmte und die alte Frau noch eine Rechnung offen hatte?

Stella wollte sich nicht immerzu den verständnislos tadelnden Blicken ihrer Mutter oder dem spöttischen Schmunzeln ihres Vaters aussetzen. Also lernte sie nun, ihre irrationalen Ängste vor anderen zu verschleiern. Offene Türen oder Fenster, hinter denen es dunkel war, ertrug sie nie lange. Doch da reichte es zu sagen: »Mach zu, es zieht.« Vor dem Gang in den Keller drückte sie sich meist mit Hinweis auf ihren Bruder. Tobi musste doch lernen, ein Glas mit eingelegten Essiggurken von Schattenmorellen zu unterscheiden.

Die silberne Münze vom Flohmarkt hatte sie bei einem Juwelier durchbohren lassen und trug sie an einem Kettchen um den Hals. Es war schließlich ein Geschenk von Madeleine wie auch der Teppich mit dem eingewebten Pentagramm vor ihrem Bett. Dass sie ständig von einer Wolke Chloé umgeben war, für My Melody war sie mit zwanzig zu alt, erklärte sich mit weiblicher Eitelkeit. Und Knoblauch war gesund, hielt allerdings nicht nur Vampire, sondern auch junge Männer fern.

Aber binden wollte Stella sich in dem Alter ohnehin nicht, um nicht an einen Mann zu geraten, der vom Bösen besessen war. Solche musste es geben. Wie sonst sollte man die Grausamkeiten erklären, die von äußerlich unscheinbaren, sogar liebenswürdig wirkenden Männern begangen wurden?

Madeleine heiratete mit achtundzwanzig einen Kollegen, der ebenso tüchtig und ehrgeizig war wie sie. Die Hochzeitsreise ging in irgendein Dschungelkaff, wo kurz zuvor eine Epidemie gewütet hatte. Es gab einige Überlebende, denen Madeleine unbedingt Blut abzapfen musste, was vor ihr schon drei Dutzend Ärzte und Wissenschaftler getan hatten, sodass es absolut überflüssig war.

Johannes Marquart war maßlos stolz auf seine Älteste. Astrid Marquart war damit beschäftigt, den inzwischen vierzehnjährigen Tobi in die Gesellschaft zu integrieren und ihn auf ein so weit als möglich selbstständiges Leben vorzubereiten. Stella war vierundzwanzig und kämpfte mehr um Anerkennung als gegen Dämonen. Eine Chance, ihren Kampf zu gewinnen, hatte sie nicht.

DIE NACHT, IN DER THERESE STARB UND DIE HÄSSLICHEN TAGE VORHER

Donnerstag, 22. April 2004

Beinahe zehn Minuten lang saß Stella Helling wie paralysiert auf der Couch im Wohnzimmer ihrer Schwiegermutter, hielt mit beiden Händen ihren Kopf zusammen und spähte angestrengt durch die offene Hoftür ins Freie. Das Fenster links neben der Tür war mit einer Gardine verhängt. Das Stück vom Hof, das sie einsehen konnte, lag verlassen im Schein der Lampe vom Nachbargrundstück. Der Schatten tauchte nicht mehr auf. Es glimmte auch nichts grün im schwarzen Viereck der Schuppentür.

Noch lähmten Schock und Panik ihr Hirn derart, dass sie keinen klaren Gedanken fassen und keine rationale Erklärung für das irrationale Erlebnis suchen konnte. Sie wagte es auch nicht, sich lautstark bemerkbar zu machen, in der wahnsinnigen Furcht, er käme zurück.

Nach ihrer Schwiegermutter zu brüllen hätte ohnehin keinen Sinn, meinte sie. Therese wäre vermutlich heruntergekommen, aber nur um festzustellen, was los war. Sie glaubte nicht an die Mächte der Finsternis, nur an das Unheil, das der Weingeist mit sich brachte. Wie sie die Erscheinung kommentieren würde, stand außer Frage. »Was predige ich dir denn immer? Andere sehen in dem Zustand weiße Mäuse, du siehst dein Filmmonster. Das musste ja mal so kommen.«

Therese bezeichnete Stella als krank. Weil sie Krankenschwester war, bildete sie sich ein, es richtig beurteilen zu können. Dabei hatte sie seit dreißig Jahren nicht mehr in einem Krankenhaus gearbeitet. Als Heiner eingeschult worden war, hatte Therese ihre feste Anstellung aufgegeben. Seitdem verdiente sie ihr Geld als Gemeindeschwester in Niederembt und den umliegenden Orten. Sie kümmerte sich um alle möglichen Leute, die irgendeine Art von Hilfe brauchten. Kinderreiche Familien, sozial Schwache, alleinerziehende Mütter und gebrechliche alte Menschen, die sie in den letzten Jahren in Konkurrenz zu professionellen Pflegediensten betreute.

Zurzeit hatte Therese sieben Patienten, wie sie die alten Leute nannte. Sie half ihnen morgens aus dem Bett oder nur beim Waschen und Ankleiden, wenn sie das Bett nicht mehr verlassen konnten. Sie verabreichte Medikamente, legte die Dosis für den Tag bereit, sorgte auch dafür, dass notfalls jemand da war, der die Einnahme tagsüber kontrollierte. Damit war sie meist bis weit in den Vormittag hinein beschäftigt. Nachmittags besuchte sie ihre restliche Klientel, schaute nach dem Rechten, gab gute Ratschläge und Hilfestellungen. Am Spätnachmittag brach sie zur zweiten Pflegetour auf, überzeugte sich, dass die Medikamente geschluckt worden waren, und bereitete die alten Leute für die Nacht vor.

Persönliche Erfahrungen mit Suchtkranken hatte Therese gar nicht. Und Stella fühlte sich nicht krank. Sie soff auch nicht, wie ihre Schwiegermutter das ausdrückte, besser gesagt soff sie nicht mehr. Im vergangenen Jahr hatte es häufig Entgleisungen gegeben, das wusste sie nur zu gut. Aber seit Januar hatte sie es im Griff, rührte keine harten Sachen mehr an, nur noch den Rotwein. Und nicht einmal den brauchte sie täglich, hatte es zuletzt volle drei Wochen ohne einen Tropfen ausgehalten.

Sie war völlig sicher, nicht halluziniert, weder geträumt noch sich eingebildet zu haben, etwas zu sehen, was real gar nicht existieren konnte. Wahnvorstellungen stießen keine Weinflaschen vom Tisch und warfen einen nicht rücklings auf die Couch. Sie hatte den Schatten doch nicht nur gesehen, auch den Stoß gegen die Brust gespürt, den widerlichen Gestank gerochen und diese dumpfe, kratzige Stimme gehört. Bezahlen!

Erst kurz nach halb drei riskierte sie es, die Hände vom Kopf zu lösen. Dann sprang sie regelrecht von der Couch –mit nackten Füßen in die Scherben des zertrümmerten Senfglases. Ungeachtet der stechenden Schmerzen, mit denen sich unzählige Splitter in ihre schmutzigen Fußsohlen und Fersen bohrten, hetzte sie zur Hoftür, drückte sie ins Schloss, drehte den Schlüssel um und zerrte die Gardine vor dem Fenster daneben zur Seite, um das gesamte Karree im Blick zu haben. Nichts zu sehen außer dem schwarzen Viereck der Schuppentür.

Danach sprintete sie quer durchs Zimmer zur Flurtür und drückte auf den Lichtschalter daneben. Mit hundertzwanzig Watt flammte die Deckenlampe auf und verwandelte den Hausflur im hinteren Bereich in einen finsteren Schlauch. Sie knallte auch diese Tür zu, lehnte sich mit dem Rücken dagegen und bemühte sich, das Zittern unter Kontrolle zu bringen, das diesmal nicht vom Entzug herrührte.

Fast zwei Liter Rotwein auf nüchternen Magen! Gegessen hatte sie in den letzten beiden Tagen kaum etwas und wohl auch noch eine gehörige Portion Restalkohol im Blut gehabt, weil sie in der vergangenen Nacht drei Flaschen geleert hatte.

Sechs waren in dem Karton gewesen, den Stella sich am Dienstagvormittag besorgt hatte, während ihre Schwiegermutter sich nach der morgendlichen Pflegetour einen Friseurbesuch gönnte. Eine neue Dauerwelle und frisches Blond für Therese. Und eine einmalige Gelegenheit für Stella, die sie einfach nutzen musste, weil ihre Gedanken sich wieder einmal nur noch im Kreis drehten, seit sie am Sonntagnachmittag auf dem Sportplatz von der Wiederholung des Films erfahren hatte.

Heiner schlief nach dem aufwühlenden Nachtdienst mit der toten Frau und dem lebensgefährlich verletzten Mann in Bedburg spät ein. Als Stella gegen elf Uhr ins Schlafzimmer schlich, verrieten ihr seine gleichmäßigen Atemzüge, dass er zur Ruhe gekommen war.

Sie stahl ihm einen Geldschein aus der Börse und rannte durch den Garten, den dahinter verlaufenden Weg entlang zu dem Haus in der Querstraße, in dem eine Familie sich mit dem Verkauf von delikaten Tafelweinen ein Zubrot verdiente. Das Geld reichte nur für die billigste Sorte mit den Drehverschlüssen aus Weißblech. Aber das war ihr ganz lieb, dann musste sie sich nicht mit Korken herumplagen. Den Karton nahm sie nicht mit, steckte die Flaschen in eine Plastiktüte und kam ungesehen von den Nachbarn wieder zurück.

Fünf Flaschen deponierte sie an verschiedenen Stellen im Schuppen. Es war ratsam, jedes Mal neue Verstecke zu suchen und auf keinen Fall den gesamten Vorrat an einen Platz zu legen, weil Therese alles in den Ausguss kippte, was ihr in die Finger geriet. Aus der sechsten trank Stella schnell zwei Gläser und versteckte die angebrochene Flasche anschließend ebenfalls.

Als Therese vom Friseur zurückkam, hatte Stella bereits gekocht: Spaghetti mit einer exquisiten Knoblauchsoße, von der sie reichlich gekostet hatte, um die Nase ihrer Schwiegermutter zu täuschen. Aber ihr Verhalten verriet sie. Seit dem Sonntagnachmittag hatte sie kaum ein Wort über die Lippen gebracht, nur dumpf vor sich hin gebrütet. Und nun war sie guter Dinge, machte sogar ein Kompliment zur jugendlichen Frisur.

Statt sich darüber zu freuen, wurde Therese sofort ungehalten und stellte fest: »Du hast doch wieder gesoffen! Wo ist das Zeug?«

Als ob Stella ihr das freiwillig gesagt hätte. Eine Suche ersparte Therese sich, da wäre sie auch lange beschäftigt gewesen. Als Heiner nach nur drei Stunden Schlaf zu Mittag aufstand, nahm Therese ihn ins Gebet. »Wenn du ihr noch mal Geld gibst, schmeiß ich sie raus! Und du kannst von mir aus mitgehen. Dann könnt ihr sehen, wo ihr bleibt. Ich mache das nicht länger mit.«

»Ich habe ihr nichts gegeben«, verteidigte Heiner sich.

Daraufhin vermutete Therese folgerichtig, Stella habe sich wieder an seiner Börse bedient. Das war im letzten Jahr oft vorgekommen. Deshalb stopfte Heiner sein Portemonnaie seit geraumer Zeit unters Kopfkissen, wenn er sich hinlegte. Dass er nach dem stressigen Nachtdienst nicht daran gedacht hatte, war wohl entschuldbar. Das passierte ihm hin und wieder auch, wenn er nicht an einen so blutigen Tatort wie in Bedburg gerufen worden war. Wenn er anschließend Geld vermisste, verlor er kein Wort darüber. Auch diesmal machte er Stella keine Vorwürfe.

Therese dagegen … Sie hatte schon versucht, in Stellas Elternhaus anzurufen, jedoch niemanden erreicht. »Jetzt ist Schluss!«, tobte sie und nagelte Stella mit Blicken an die Wand. »Morgen rede ich noch mal mit deinem Vater!«

Morgen war gestern gewesen, ein scheußlicher Tag.

Nach insgesamt drei Litern Wein in der Nacht fand Stella erst aus dem Bett, als ihr Mann um eins aufstand. Und hätte Heiner nicht darauf gedrängt, dass sie mit nach unten kam, hätte sie vermutlich noch am Nachmittag in den Federn gelegen. Sie wusste, dass sie es übertrieben hatte. Eigentlich hatte sie sich ihren Vorrat gut einteilen, mit einer Flasche pro Tag auskommen wollen. Und das hätte sie geschafft, wenn Therese ihr Maul gehalten hätte. Aber wie sollte sie diese Drohung aus dem Kopf bekommen? »Morgen rede ich noch mal mit deinem Vater!«

Therese durfte alles tun, nur das nicht. Nachdem sie zum letzten Mal mit Johannes Marquart geredet hatte, hatte Stella ihrem Vater in die Hand versprechen müssen, keinen Tropfen mehr anzurühren. Täte sie es doch, wäre sie für ihn gestorben, hatte er gesagt. Wie ihr Vater auf den erneuten Rückfall reagieren würde, mochte sie sich gar nicht vorstellen.

Als sie ihrem Mann in die Küche folgte, stand Therese am Herd, füllte einen Teller für sich und schimpfte: »Zwei Flaschen lagen in der Nacht auf dem Teppich. Die Flecken habe ich schon weggemacht. Eine hab ich im Anbau gefunden. Das sind zusammen drei! Wie sie damit überhaupt noch die Treppe rauf und ins Bett gekommen ist, weiß der Teufel.«

Stella wusste es nicht, weil ihr Erinnerungsvermögen sich bei der dritten Flasche verabschiedet hatte. Wahrscheinlich war sie nach oben gekrochen.

Heiner saß bereits am Tisch und aß, was seine Mutter ihm vorgesetzt hatte. Kartoffeln mit fettiger Bratensoße und ein Stück zerfasertes Schweinefleisch, ein sogenannter Schulterbraten, von Montag übrig geblieben. Wahrscheinlich hätte Therese den Rest tags zuvor auf den Tisch gebracht, hätte Stella sie nicht dienstags mit Spaghetti in Knoblauchsoße und dem Kompliment zur jugendlichen Frisur empfangen. Nun gab es das Fleisch und den Soßenrest eben am Mittwoch.

Dazu servierte Therese eine undefinierbare grüne Masse, die Heiner sich kommentarlos einverleibte. Er hätte es nie gewagt, die Kochkünste seiner Mutter oder sonst etwas lauthals zu kritisieren. Für ihn war Mama vollkommen. Warum sollte er sich aufregen, dass sie nie auf die Uhr schaute, wenn sie Töpfe auf dem Herd hatte? Mama hatte ihm das Leben geschenkt, ihn unter schwierigsten Bedingungen alleine aufgezogen. Das wog in seinen Augen vieles auf, obwohl es gar nicht stimmte.

Therese war zwar nie verheiratet gewesen, hatte jedoch Eltern gehabt, die sich früher um Heiner gekümmert hatten, auch um Haushalt und Garten, damit die Tochter ihren Beruf ausüben und Geld verdienen konnte. Damals hatte Therese sich stets an einen gedeckten Tisch setzen können und nie richtig kochen gelernt. Egal was sie servierte, es war immer alles total zerkocht. Und wenn Stella Spaghetti machte, natürlich al dente, meckerte sie: »Die sind ja nicht gar.«

»Nimm dir auch einen Teller«, kommandierte Therese. »Damit du was Vernünftiges in den Leib kriegst.«

Als ob die grüne Pampe vernünftig gewesen wäre. »Was ist das denn?«, fragte Stella angewidert. Nach Spinat sah es nicht aus.

»Brokkoli«, behauptete Therese und trug ihren Teller zum Tisch.

Stella nahm ein Glas aus dem Schrank, füllte es unter dem Wasserhahn, warf zwei lösliche Magnesiumtabletten ein und trank in langen Schlucken. Durstig war sie, entsetzlich durstig nach drei Litern Rotwein, aber nicht hungrig. Schon der Anblick der Masse auf dem Teller ihres Mannes würgte sie – nicht weniger als die Schlinge, die Therese ihr gestern um den Hals gelegt hatte. Morgen rede ich noch mal mit deinem Vater!

Therese setzte sich zu Heiner an den Tisch und wollte von ihr wissen: »Hast du eine Ahnung, wo deine Eltern sind?«

Stella zuckte mit den Achseln. Ihren Vater vermutete sie entweder im Garten oder in der Firma, in der er mehr als dreißig Jahre lang gearbeitet hatte. Inzwischen war er Rentner, aber wenn er sich auf dem eigenen Grundstück nicht beschäftigen konnte, zog es ihn immer noch regelmäßig an seinen früheren Arbeitsplatz, wo sich auch stets etwas für ihn zu tun fand. Er schaute auf alle hinunter, die sich nicht produktiv oder wenigstens sinnvoll beschäftigen konnten.

Therese wusste davon nichts. Gesteigerten Wert auf engen Kontakt zu Stellas Familie hatte sie bisher nicht gelegt. Sie hatte ja nie Zeit, rief nur an, um zu hetzen. Das tat sie mit Vorliebe bei Johannes Marquart. Deshalb war ihr auch nicht bekannt, dass Astrid Marquart den Sohn jeden Morgen persönlich zu der Behindertenwerkstätte fuhr, in der Stellas Bruder aus bunten Glasplättchen Bilder zusammenklebte. Eulen und Marienkäfer, das hatte Tobi schon als Kind getan. Neuerdings klebte er zur Abwechslung auch Blumen. Und wenn Astrid Marquart nichts Besseres zu tun hatte, blieb sie den ganzen Tag bei Tobi und sonnte sich in der Tatsache, dass ihr Sohn im Gegensatz zu anderen Behinderten recht selbstständig war. Aber das musste Stella ihrer Schwiegermutter nicht auf die Nase binden, sonst bezog die noch Posten vor der Werkstätte, um ihren Vorsatz zumindest ansatzweise in die Tat umzusetzen.

Therese erzählte, sie habe bereits zweimal angerufen, aber niemanden an den Apparat bekommen. Gleich wolle sie es noch einmal probieren.

»Jetzt mach doch nicht so einen Wirbel, Mama«, bat Heiner. »Das war ein Ausrutscher, es kommt bestimmt nicht wieder vor. In den letzten drei Wochen hat Stella doch keinen Tropfen angerührt. Wir kriegen das wieder in den Griff.«

Er nahm Stellas Hand, drückte sie und schaute sie beschwörend an. »Nicht wahr, Liebes, wir schaffen das.«

Stella nickte nur. Es war ja zu schaffen, das hatte sie sich, ihm und auch Therese bereits zweimal bewiesen, beim ersten Mal sogar mehrere Monate lang.

»Das glaubst du doch selbst nicht«, sagte Therese. »Es geht immer nur eine Zeit lang gut, dann kriegt sie den nächsten Rappel. Wie oft hat sie schon versprochen, nichts mehr anzurühren? Ich hab nicht mitgezählt. Statt sich mal wieder sinnvoll im Anbau zu beschäftigen, da sieht es aus wie Kraut und Rüben. Man kriegt Zustände, wenn man da …«

»Das ist aber keine Arbeit für eine Frau«, schnitt Heiner seiner Mutter mit einer gewissen Schärfe das Wort ab.

»Bin ich ein Mann?«, hielt Therese dagegen und ließ den Vortrag folgen, den sie schon hundertmal gehalten hatte.

Therese hatte immer alles alleine machen müssen, behauptete sie jedenfalls. Und mit Vorliebe hatte sie etwas gebaut. Zuletzt vor zwei Jahren eine Garage unmittelbar hinter dem aus roten Ziegelsteinen gemauerten Schuppen, der über die gesamte Grundstücksbreite Haus und Hof zum Garten hin abschottete. Den Schuppen hatte Therese nicht gebaut, der war kurz nach dem Krieg entstanden. Und die Garage – für die es dann natürlich auch eine zwanzig Meter lange Zufahrt durch den Garten brauchte, man konnte ja nicht durch die Beete fahren – hatte sie tatsächlich alleine bauen müssen. Aber früher hatten sich meist ein paar Männer aus dem Dorf gefunden, die ihr zur Hand gegangen waren, weil eine Frau alleine gar nicht schaffen konnte, was Therese sich in den Kopf setzte.

Angefangen hatte sie vor dreißig Jahren. Nachdem sie ihre feste Anstellung im Bedburger Krankenhaus aufgegeben hatte und sich ihre Arbeitszeit mehr oder weniger nach eigenem Gutdünken einteilen konnte, hatte Therese sich darangemacht, ihr Elternhaus um- und auch noch anzubauen, um mehr Platz zu schaffen. Dabei wäre Platz genug gewesen für vier Personen.

Unten gab es eine Küche, ein Klo und zwei Wohnzimmer, von denen eins als Esszimmer eingerichtet war. Die Küche lag zum Hof, das Wohnzimmer zur Straße. Als das Haus gebaut worden war, hatte noch niemand einen Fernseher besessen. Da setzte man sich abends ans Wohnzimmerfenster, schaute auf die Straße und wusste immer, was im Dorf vorging.

Aber vor dreißig Jahren blickte man abends schon lieber ins Weltgeschehen und tagsüber ins Dorf. Therese legte die Küche nach vorne und das Wohnzimmer nach hinten, weil diese Aufteilung inzwischen bei Neubauten üblich war. Zusätzlich riss sie die hintere Zwischenwand ein, sodass zum Hof hin ein großes Zimmer entstand, das sie seitdem durch eine mittendrin stehende Couch in zwei Bereiche teilte.

Im Obergeschoss hatte es auch früher schon ein Bad und drei Schlafzimmer gegeben, eins für Therese, eins für ihre Eltern und das Kinderzimmer für Heiner. Wirklich Platz genug für vier Personen. Trotzdem hatte Therese sich entschlossen, im Hof den Anbau hochzuziehen und ihre Eltern umzuquartieren. Zu der Zeit hatte sie nämlich gehofft, Heiners Vater doch noch aufs Standesamt schleppen zu können.

Die Umbauten erledigte sie alle neben ihrer Arbeit als Gemeindeschwester, mit der sie den Lebensunterhalt für sich und Heiner beschaffte. Unterhalt für ihren Sohn hatte Therese nie bekommen. Heiners Vater war ein Kapitel für sich. In den amtlichen Dokumenten stand: Vater unbekannt – was aber nicht stimmte. Therese wusste genau, wer sie geschwängert hatte. Heiner wusste es ebenso gut und hatte seinen Erzeuger Stella gegenüber mal als einen verantwortungslosen Schweinehund bezeichnet.

Der Mann war heiß begehrt und schon verheiratet gewesen, allerdings nicht glücklich, als Therese sich bei einer Kirmes mit unzähligen Likörchen Mut angetrunken und den in ihren Augen bedauernswerten Menschen für eine halbe Stunde von seinem häuslichen Elend abgelenkt hatte.

Eine Jugendsünde, fand Therese heute. Stella gegenüber hatte sie einmal behauptet, der Rausch habe verhindert, dass sie an Verhütung dachte. Ganze neunzehn Jahre alt war sie damals gewesen. Seitdem rührte sie keine Spirituosen mehr an, gestattete sich nur bei Unwohlsein einen Teelöffel voll Klosterfrau Melissengeist.

Ihren Vortrag beim Essen am Mittwoch schloss Therese mit den Worten: »Sie ist größer und kräftiger, als ich es je war. Dass sie arbeiten kann, hat sie schon bewiesen. Wenn sie die Sauferei lassen würde, könnte sie auch wieder geradeaus gucken. Sie braucht eine Entziehungskur. Wie oft hab ich das schon gesagt? Aber was ich sage, zählt ja nicht. Ihr Vater kann sie vielleicht eher überzeugen.«

»Mama, bitte«, sagte Heiner noch einmal. »Es war meine Schuld. Ich hätte am Sonntag nicht mit ihr zum Sportplatz gehen dürfen. Wir haben …«

Therese winkte ab, unterbrach ihn damit und machte sich über den matschigen Fraß auf ihrem Teller her. Nach dem Essen räumte sie die Küche auf und verschwand danach für drei Stunden. Vielleicht besuchte sie Hilfsbedürftige oder solche, die das einmal gewesen waren und sich ihr seitdem freundschaftlich verbunden fühlten. Vielleicht fuhr sie aber nach Köln-Dellbrück und berichtete Stellas Vater brühwarm vom erneuten Rückfall.

Als sie zurückkam, wollte Heiner wissen, wo sie gewesen sei.

»Geht dich das was an?«, fragte Therese barsch.

Aber ihre Drohung hatte sie offenbar noch nicht wahr gemacht. Sie griff erneut zum Telefon, wieder vergebens. In Stellas Elternhaus ging immer noch keiner an den Apparat, obwohl in der Behindertenwerkstätte inzwischen Feierabend sein musste. Soweit Stella wusste, wurden um vier Uhr alle nach Hause geschickt.

Theoretisch hätten zumindest ihre Mutter und Tobi daheim sein müssen. Aber vielleicht machten die beiden noch einen Einkaufsbummel. Oder sie besuchten den kleinen Kunstgewerbeladen, in dem die Glasmosaiken, die Tobi fertigte, zum Verkauf auslagen. Da musste man ja gelegentlich nachfragen, ob seine Werke reißenden Absatz gefunden hatten.

Vielleicht waren ihre Eltern aber auch mit dem Bruder nach Hamburg gefahren. Das taten sie hin und wieder, ohne es Stella mitzuteilen, zeigten ihrem Sorgenkind den Hafen und die großen Schiffe, damit Tobi genug sah von der Welt und vielleicht mal aus bunten Glasplättchen etwas anderes zusammenklebte als immer nur Eulen, Marienkäfer und neuerdings Blumen.

Natürlich besuchten sie bei solchen Gelegenheiten auch die tüchtige Madeleine und deren nicht weniger tüchtigen Mann, sonnten sich im Erfolg der beiden und erzählten garantiert vom Ärger mit Stella, die ihr Leben nicht in den Griff bekam.

Ihr Vater vertrat die Überzeugung, sie ließe sich grundsätzlich mit den falschen Leuten ein und glaube immer noch jeden Unsinn, der ihr eingeflüstert wurde. Auf die Weise habe sie es geschafft, eine vielversprechende Karriere zu beenden.

MOVIE-PRODUCTION

Von 1992 bis Mai 1999

Kurz nach der Hochzeit ihrer Schwester war Stella daheim ausgezogen in ein kleines Appartement in Köln-Weiden. Leicht fiel es ihr nicht, das Elternhaus zu verlassen, nur wusste sie inzwischen, dass sie dort nie mehr sein konnte als das Mittelkind. Sie war eben nicht hochintelligent und von Ehrgeiz zerfressen wie Madeleine, auch nicht hilfsbedürftig und anschmiegsam wie Tobi. Sie war nur die große Dumme, die mit vierundzwanzig noch vor dem eigenen Schatten zurückzuckte und vor Schreck aufschrie, wenn ihr Bruder nachts in ihrem Zimmer herumgeisterte. Dabei wollte Tobi ihr bestimmt nichts Böses.

Er liebte sie heiß und innig. Dass sie als Elfjährige versucht hatte, ihn in seinem Bettchen zu verbrennen, wusste er nicht. In den Nächten kam er häufig zu ihr, um zu schmusen. Manchmal setzte er sich auch nur auf den Teppich, der immer noch vor ihrem Bett lag. Das Pentagramm faszinierte ihn. »Ich find das gut«, pflegte er zu sagen, wenn ihre Mutter die Stirn runzelte. »Das scheucht böse Geister weg.« Den Zweck des fünfzackigen Sterns hatte Madeleine ihm bei einem Besuch daheim erklärt.

In Stellas Appartement lästerte niemand über den Teppich, weil niemand sie besuchte. Es war kein Platz, um Gäste zu bewirten. Und ihre Eltern erwarteten, dass sie sonntags nach Hause kam, um wenigstens einmal die Woche gesund zu essen, ihre Schmutzwäsche abzuliefern und sich anzuhören, welches Virus Madeleine und ihr tüchtiger Mann derzeit erforschten. Ebenso wurde erwartet, dass sie Tobis Glasbilder bewunderte. Was sie die Woche über tat, interessierte keinen.

Nach Abschluss ihres Germanistikstudiums hatte sie eine Anstellung bei einem Privatsender in Köln gefunden, arbeitete im Lektorat und machte ihren Job gut. Sie wusste, was die breite Masse der Zuschauer sehen wollte: Heitere Geschichten, die witzig und spritzig geschrieben sein mussten, um Gnade zu finden in ihren Augen.

Mit sechsundzwanzig wurde sie Produktionsassistentin für die Vorabendserie Auf eigenen Füßen, in der sich ein halbes Dutzend junger Leute mit den Widrigkeiten des modernen Alltags auseinandersetzten. Es gab viel zu lachen, ein paar Beziehungskrisen und andere Problemchen, die der Realität entnommen waren. Ein Jahr später kam eine Talkshow dazu, die nachmittags ausgestrahlt wurde. Stella war erfolgreich, ohne Zweifel. Aber daheim fand es nur ihr Bruder spannend, wenn sich im Fernseher Leute zankten. Und sogar Tobi verlor meist schon nach zehn Minuten das Interesse.

Sowohl Auf eigenen Füßen als auch die Talkshow wurde von Movie-Production hergestellt. Mit dem Geschäftsführer Ulf von Dornei kam Stella gut zurecht. Der Redakteur Heuser, ihr Kollege im Sender, den alle nur mit dem Nachnamen ansprachen, auch die, die ihn duzten, wie sie es tat, nannte Ulf von Dornei hinter dessen Rücken König Ulf und lästerte, von Dorneis Vater, ein Konzernboss in München, habe dem Sprössling mit der kleinen Produktionsfirma in Köln ein eigenes Reich geschaffen, in dem König Ulf herrschen könne, wie es ihm beliebe, ohne großen Schaden anzurichten. Das entsprach wohl den Tatsachen.

Aber wenn man wusste, wie man Ulf von Dornei zu nehmen hatte, konnte man mit ihm auskommen. Mit achtundzwanzig ließ Stella sich von ihm zu einem beruflichen Wechsel überreden. Eigenverantwortliche Produzentin in seiner Firma. Ihr Ansehen zu Hause steigerte sie damit nicht, obwohl sie sehr erfolgreich war.

Zuerst produzierte sie nur die Talkshow, wählte die Themen und die Gäste aus. Doch schon nach kurzer Zeit entwickelte sie zusammen mit zwei jungen Autoren das Konzept für eine weitere humorvolle Vorabendserie: Urlaub und andere Katastrophen. Sie brauchte nur drei Wochen, um Heuser als Redakteur dafür zu begeistern.

Ein paar Monate später übertrug Ulf von Dornei ihr auch die Verantwortung für Auf eigenen Füßen, worum er sich bis dahin selbst gekümmert hatte. Stella konnte das besser, war im Umgang mit Autoren, Regisseuren und Schauspielern diplomatischer als der Geschäftsführer, schaffte es gelegentlich sogar, ein bekanntes Gesicht für ein kurzes Gastspiel zu engagieren.

Ihre Hoffnung, damit wenigstens bei ihrem Vater Eindruck zu schinden, erfüllte sich nicht. Die Anerkennung ihrer Mutter hatte sie bereits abgeschrieben. Und ihr Vater telefonierte am frühen Abend lieber mit Madeleine, ließ sich in die Scheußlichkeiten von Ebola oder die Wandlungsfähigkeit von HIV einweihen, statt sich anzuschauen, wie junge Leute ihre Beziehungskrisen vor immer gleicher Kulisse ausdiskutierten oder wie zwei Paaren auf einem Campingplatz der Grill explodierte und unter Orkanböen die Zelte davonflogen.

Wenn ihre Mutter nicht gut aufpasste, zog Tobi sich hin und wieder eine Folge rein, fand alles sehr lustig und lobte beim sonntäglichen Besuch: »Das war gut, Stella.« Oder nervte: »Kann ich mal mitspielen? Ich kann das. Lass mich doch mal mitspielen, Stella, dann werde ich berühmt und reich.« Reich und berühmt wollte Tobi unbedingt werden, obwohl er keine Ahnung hatte, was das bedeutete.

Zur sogenannten Primetime um zwanzig Uhr fünfzehn wurde die Actionserie Am Limit ausgestrahlt, die Fabian Becker, Stellas Kollege bei Movie-Production, produzierte. Die war schon eher nach dem Geschmack ihres Vaters, obwohl er auch daran ständig herummäkelte. Es sei alles so absehbar, sagte er regelmäßig. Keine Überraschungseffekte, keine unvorhersehbaren Wendungen, keine Rätsel, überhaupt nichts Geheimnisvolles. Statt einem Dutzend zerdepperter Autos und aufwendiger Stunts wären ihm ein paar Mysterien entschieden lieber gewesen. Vermutlich hätte sogar mal ein Untoter auftauchen dürfen.

American Werewolf, Fright Night, Das Omen oder Rache aus dem Reich der Toten, wenn so etwas ausgestrahlt wurde, klebte Johannes Marquart förmlich an der Glotze. Er ließ sich auch keine Folge von Akte X entgehen, nicht einmal dann, wenn es sich um die x-te Wiederholung handelte.

Stella wusste, dass ihr Vater sich vor Jahren, als er Madeleines Gruselkabinett requirierte, in die Groschenhefte vertieft hatte. Dass er sich damals ebenso wie seine älteste Tochter für Werwölfe, Vampire und Dämonen hatte begeistern können, hätte er allerdings nie offen zugegeben. Er hatte geschmökert unter dem Vorwand, wissen zu wollen, was sich die Töchter zu Gemüte geführt hatten. Wenn das zutraf, war er beim Lesen wohl auf den Geschmack gekommen.

Seine Lieblingslektüre war ein dünnes Taschenbuch mit dem Titel Romys Schatten, in dem der Geist eines Ermordeten blindwütig Rache nahm und verhinderte, dass seine Geliebte Selbstmord beging. Johannes Marquart besaß das Büchlein seit Jahren, hatte es schon mehrfach gelesen und konnte sich immer noch dafür begeistern. Manchmal fragte er sonntags: »Warum macht ihr nicht mal so etwas?«

Weil Movie-Production eine kleine Firma war, nur ein winziger Ableger vom Mutterkonzern in München. Außer Ulf von Dornei und Fabian Becker, der von der Konzernleitung als Wachhund für den Geschäftsführer von München abkommandiert worden war, gab es in Köln nur noch Stella, eine Sekretärin für alle, zwei Aushilfskräfte und eine Putzfrau. Mit den laufenden Produktionen waren sie völlig ausgelastet.

So formuliert klang es einigermaßen überzeugend, doch es war nur die halbe Wahrheit. Das größte Hindernis war Ulf von Dornei. Er besaß nicht die Spur von Kreativität, konnte die schöpferischen Leistungen anderer nicht beurteilen, bildete sich jedoch das Gegenteil ein. Egal was ihm vorgelegt wurde, König Ulf wusste, womit man es aufwerten konnte: Mit der Russenmafia, chinesischen Triaden, Drogenkartellen und der internationalen Terroristenszene. Das sei Spannung pur, fand er. Und diese Spannung versuchte er überall unterzubringen, deshalb hatte sein Vater ihn ja aus München verbannt.

Nun bestückte Ulf von Dornei Fabians Actionserie damit. Bei jeder Besprechung schwadronierte er los und ließ sich nicht bremsen. Wenn er lange genug geschwafelt hatte, schaute er Beifall heischend in die Runde und fragte mit erwartungsvollem Grinsen: »Das ist doch eine gute Idee, nicht wahr? Ist das nicht eine sehr gute Idee?« Falls jemand es wagte, den Kopf zu schütteln oder auch nur skeptisch dreinzuschauen, herrschte tagelang dicke Luft in der Firma.

Von Stella ließ er sich zur Not noch erklären, warum seine guten Ideen in ihren Serien nicht funktionierten. Fabian Becker brauchte sich darum nicht zu bemühen. Wer hörte schon auf seinen Wachhund? Ulf von Dornei nicht, der kommandierte den Hund.

Weil die Bosse in München das wussten, hatte Fabian die Anweisung, jeden ihm spielfilmtauglichen Stoff an den Mutterkonzern weiterzureichen. Manchmal blutete ihm das Herz, doch das störte keinen. In München genoss auch Fabian nicht den allerbesten Ruf. Er hatte bereits Spielfilme produziert, darunter zwei Literaturverfilmungen. Anspruchsvolle Stoffe, die Kritiken waren hervorragend gewesen, die Quoten niederschmetternd. So etwas konnte man sich einmal leisten, nach dem zweiten Mal wurde man in die Wüste geschickt.

Aber Fabian war ein Idealist. Wie ein Hamster im Laufrad strampelte er sich ab, um wenigstens gute Filmstoffe zu entdecken. Ständig schleppte er irgendein Buch mit sich herum, ließ sich von Verlagen die Vorschauen schicken und forderte alles an, was ihm tauglich erschien. Viermal die Woche mindestens kam er mit Kopfschmerzen in die Firma, weil er wieder mal die ganze Nacht durchgelesen hatte.

Und dann kam er an einem Montag im Mai 1999 mit einem Roman in Stellas Büro, der seiner Meinung nach unbedingt filmisch umgesetzt werden musste. Romys Schatten, das Lieblingsbuch ihres Vaters. Ausgerechnet. Es war seit Jahren nicht mehr im Buchhandel erhältlich. Fabian hatte das zerfledderte Exemplar sonntags auf einem Flohmarkt entdeckt – wie Madeleine vor endlosen Jahren die silberne Münze.