Der Schicksalspreis: Erkenntnis - Ava Cooper - E-Book

Der Schicksalspreis: Erkenntnis E-Book

Ava Cooper

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Beschreibung

Stell dir eine Welt vor, in der eine Künstliche Intelligenz das Glück der Menschen steuert. Aber was wäre, wenn Kriminelle diese KI manipulieren und Menschen ins Verderben schicken? Die 17-jährige Lina vertraut unerschütterlich auf das System, das jedem Menschen das bestmögliche Leben verspricht – bis ein Terrorist ihre beste Freundin vor ihren Augen brutal tötet. Diesen Mord nehmen die Behörden als unvermeidlichen „Schicksalspreis“ hin und weigern sich, weiter zu ermitteln. Doch Lina spürt, dass etwas nicht stimmt. Auf eigene Faust deckt sie eine Verschwörung auf, die das Fundament ihrer Welt erschüttert. Plötzlich wird sie von allen gejagt – von Kriminellen, der Regierung und sogar ihrem eigenen Vater. Ausgerechnet der Mann, den sie für den Tod ihrer Freundin verantwortlich macht, könnte ihre einzige Rettung sein.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Abschnitt 2:
Im Untergrund
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Abschnitt 3:
Selbst ist die justiz
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DIE AUTORIN
Danksagung

 

 

WELTENBAUM VERLAG

Vollständige Taschenbuchausgabe

03/2025 1. Auflage

 

Der Schicksalspreis - Erkenntnis

 

© by Ava Cooper

© by Weltenbaum Verlag

Egerten Straße 42

79400 Kandern

Umschlaggestaltung: © 2023 by Magicalcover

Bildquelle: Depositphoto/FreePik

Lektorat: Julia Schoch-Daub

Korrektorat: Michael Kothe

Buchsatz: Giusy Amé

Autorenfoto: Privat

 

 

ISBN 978-3-949640-99-5

 

www.weltenbaumverlag.com

 

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

 

 

 

 

 

AVA COOPER

 

 

 

 

Der Schicksalspreis

Erkenntnis

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Dystopie Romance

 

 

 

 

 

 

 

 

Abschnitt 1:

Ein erster Verdacht

 

 

 

 

1

 

Unerwarteter Besuch

 

 

 

»Hey Leute, schaut mal! Ich glaube, wir bekommen Besuch von der Schicksalspolizei.« Nur halblaut stößt jemand am Nachbartisch den Ausruf aus, doch ich höre es trotzdem. Schnell reiße ich den Kopf herum. Jasmin, eine Elftklässlerin, die ich flüchtig kenne, deutet gerade mit dem Finger auf die Fensterfronten des Gemeinschaftsraums. Aufgeregt flüstert sie mit ihren Freundinnen.

Ich blicke ebenfalls hinaus, kann aber keins der grauen Fahrzeuge erkennen, die die Schicksalspolizisten immer nutzen. Dabei habe ich durch die verglasten Längsseiten eine perfekte Aussicht auf die Straße, die direkt am Goethe-Kolleg für kreative Berufe vorbeiführt. Wie es im 22. Jahrhundert für die Oberstufe üblich ist, leben wir unter der Woche in der Schule. Kurz vor Unterrichtsbeginn ist der Gemeinschaftsraum bis auf den letzten Platz mit Mädchen zwischen fünfzehn und achtzehn Jahren besetzt.

Bedeutungsvoll schaue ich meine Freundinnen an. »Was meint ihr: Spinnt Jasmin oder hat sich wirklich eine von uns dem Determinator widersetzt?«

Determinator – so nennen wir die zentrale KI des Schicksalsministeriums. Sie kennt alle unsere Lebenswege und schaltet sich immer ein, wenn eine Entscheidung wichtig für unser Leben oder das eines anderen ist. Bei diesen Wendemomenten sagt beziehungsweise befiehlt der Determinator, was wir tun müssen, um unser Schicksal zu erfüllen. Wer sich diesem Befehl widersetzt, wird schwer bestraft.

Anna und Emily sind sichtlich schockiert von der bloßen Vorstellung, dass jemand nicht dem Lebensweg folgt, den die zentrale KI der Bestimmungsbehörde ihm zugedacht hat. Sie starren mich stumm an. Chiara hingegen wirkt noch strenger als sonst. »Wer von uns könnte so dumm sein?«, fragt sie kopfschüttelnd. »Jeder weiß doch, dass man dem Gesetz nicht entkommen kann. Stimmt’s, Lina?«

Ich verdrehe die Augen. Als ob ich alles über die Schicksalspolizei wüsste, bloß weil mein Vater sie leitet. Die Aufklärungsrate kenne ich allerdings; wir haben erst vor kurzem darüber gesprochen. »Das stimmt. Die Männer in Grau schnappen 97 Prozent aller Abweichler. Sicher auch diese arme Irre. Wen sie wohl bei uns suchen? Und warum?«

Wir schauen uns aufmerksam um, als könnten wir die Übeltäterin an einem verräterischen Zeichen erkennen. Doch die anderen Mädchen benehmen sich wie immer: Sie beißen herzhaft in ihre Brötchen, trinken Kaffee oder Tee und quatschen lautstark miteinander, sodass ein Geräuschpegel wie auf einer Baustelle herrscht.

»Vielleicht will die Polizei ja gar nicht zu uns. Dann müsste der Alarm losgehen«, wirft Chiara ein.

Wie aufs Stichwort heult die Sirene los, die jedes Kind kennt. Sie gibt einen gellenden Kanon von sich, der immer höher und drängender wird. Schicksalsalarm, Schicksalsalarm, scheint sie zu rufen. Sofort wird aus dem fröhlichen Quatschen ein hektisches Durcheinanderrufen, bis die erste Schülerin aufsteht. Nun hält es kein Mädchen auf dem Platz. Alle springen auf und rennen zu den Fenstern. Ich bin auch aufgestanden, zögere aber noch, zur Fensterfront zu gehen. Der spannende Teil wird sich innerhalb der Schule abspielen, wenn die Polizisten die Abweichlerin abführen. Und ich will unbedingt herausfinden, welche Mitschülerin so dumm war, sich den Anweisungen des Determinators zu widersetzen. Eine Idee keimt in mir auf.

Nachdenklich knabbere ich auf meiner Unterlippe herum. Ich blicke wieder zu den anderen, dann zu der Tür, die aus dem Raum herausführt. Da dreht Anna sich zu mir herum und sieht, dass ich mich nicht rühre. Sofort hält sie an und nickt mir auffordernd zu, doch ich verharre auf der Stelle.

Kopfschüttelnd macht Anna kehrt und geht zu mir zurück. »Du hast etwas Verbotenes vor, richtig?«

»Na ja, nicht verboten. Nur nicht explizit erlaubt.«

Anna mustert mich skeptisch. »Lina Claasen, was um alles in der Welt planst du?«

Ich blicke noch einmal zum Fenster, um das sich alle drängen sich. Gebannt verfolgen sie, wie die Schicksalspolizei mit Sirenengeheul näherkommt. »Ich will mich im Foyer unter der Treppe verstecken. Dort kriegen wir alles mit.«

Anna stöhnt. »Das riecht nach Ärger. Bitte, nicht! Du weißt doch, wie sauer die Fischerin werden kann.«

Damit hat sie natürlich recht. Unsere Schulleiterin Susanne Fischer duldet keinen Ungehorsam, das weiß ich. Schon so manches Mal habe ich eine Zusatzarbeit erledigen müssen, weil mein Temperament mal wieder mit mir durchgegangen war. Aber die Idee ist zu verführerisch. »Ist mir egal. Ich will wissen, wer die Abweichlerin ist!«

»Und so wie ich dich kenne, kann ich dich ohnehin nicht davon abbringen ...«

»Was glaubst du denn?« Ich grinse.

Anna sieht mich mit gespielter Strenge an. »Lina, du bist echt unmöglich. Aber wenn du schon ins Unheil laufen willst, bin ich lieber dabei. Irgendjemand muss dir ja helfen.«

Dankbar drücke ich Annas Hand. Schließlich weiß ich, wie sehr es ihr widerstrebt, gegen Regeln zu verstoßen. Trotzdem hält sie immer zu mir und bringt später sogar oft alles wieder in Ordnung. Sie ist mein persönlicher Schutzengel. Noch heute danke ich dem Determinator jeden Tag dafür, dass er uns bereits am ersten Schultag zusammengebracht hat.

»Schnell, wir müssen raus, bevor Astrid die Tür absperrt.« Unsere Haus-KI wird sicher bald reagieren. Möglichst unauffällig schleichen wir zur Tür, während die Sirene immer lauter schrillt. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie der Wagen der Gesetzeshüter die Auffahrt ansteuert. Dann erreichen wir die Tür. Mein Herz galoppiert, als ich nach der Klinke fasse; halb erwarte ich, dass sie verriegelt ist. Doch zum Glück ist Astrid offenbar gar nicht auf die Idee gekommen, jemand könnte sich herausschleichen. Trotz ihrer vielzähligen Wissensdatenbanken erfasst sie die menschliche Natur und deren Neugierde nicht in ihrer Gänze.

Anna und ich schlüpfen unbemerkt heraus. So schnell wir können, hasten wir zu dem Verschlag gegenüber der Treppe. Hier bewahren die Reinigungskräfte ihre Utensilien auf. Er hat im Laufe der Jahrzehnte wohl schon einigen Mädchen als Versteck gedient, wie ich an den Kritzeleien an der Wand erkenne. Unterhalb des Türknaufs – ein Relikt aus Zeiten, in denen Türen noch nicht per Fingerscan gesteuert wurden – finde ich einen breiten Schlitz für die Luftzufuhr.

Perfekt, um zu spionieren! Sofort gehe ich in die Hocke und linse hindurch. Durch den Spalt sehe ich das menschenleere Foyer und die Eingangstür der Schule. Ich stoße Anna an, die meinem Beispiel folgt und sich neben mich hockt. Wir pressen eng uns nebeneinander, damit wir beide etwas sehen können.

»Was glaubst du passiert jetzt?«, wispert Anna.

Ich zucke mit den Schultern. Dann lege ich den Zeigefinger auf die Lippen. Anna nickt und wir starren schweigend durch den Schlitz. Bisher ist nichts im Flur zu sehen. Ich frage mich schon, ob die Schicksalspolizisten vielleicht irgendwie anders in die Schule kommen. Ich will Anna schon sagen, dass wir besser woanders hingehen, als ich ein lautes Klackern von hohen Schuhen höre.

Zufrieden lächele ich. Das muss unsere Schulleiterin sein. Susanne Fischer ist die Einzige, die Eleganz über Bequemlichkeit stellt und immer Kostüme und Schuhe mit Absätzen trägt. Für uns Schülerinnen hat das den Vorteil, dass sie uns nie überraschen kann. Die Schritte werden lauter und nun kommt die Schulleiterin in unser Blickfeld. Gemessenen Schrittes geht sie zur Tür.

Dort verharrt sie. Ganz ruhig steht sie da, die dunkelblonden Haare wie immer zu einem perfekten Dutt frisiert. Sie wirkt in ihrer Reglosigkeit fast wie eine Statue. Als es klingelt, öffnet sie die Tür und nickt zwei Männern in den lichtgrauen Uniformen der Schicksalspolizei zu.

Auf ihrer Brust prangt das silberne Emblem ihrer Behörde: ein verschlungenes Netz, das die verwobenen Wege des Schicksals symbolisiert. Bei einem Polizisten steht das Logo allein, bei dem anderen befinden sich zwei Kreise darum. Ich ziehe lauter als beabsichtigt die Luft ein. Dieser Mann hat also einen hohen Rang. Nicht so sehr wie mein Vater, aber es wird sich hierbei kaum um eine Lappalie handeln.

»Guten Tag, die Herren. Wie kann ich Ihnen helfen?«

Der ranghöhere Polizist ergreift das Wort. »Guten Tag, Frau Fischer. Wir suchen Natalie Köster.«

Überrascht sehe ich zu Anna. Ist die Köster etwa die Abweichlerin? Das erschüttert mich, denn die junge Mathelehrerin ist engagiert und freundlich. Sie gibt sich stets große Mühe, damit alle Mädchen – selbst ich – jede noch so komplizierte Formel verstehen. Automatisch presse ich mich dichter an den Schlitz.

»Was hat sie denn angestellt?« Susanne Fischer wirkt trotz dieser Enthüllung gefasst.

»Das darf ich Ihnen vor der Anklage nicht mitteilen«, erwidert der Polizist. »Sie verstehen ...«

Fischer nickt. »Dann werde ich Sie zu ihrem Zimmer führen. Vermutlich haben Sie den Raum ja verriegeln lassen.«

»So ist es.« Alles andere wäre seltsam gewesen. Immerhin haben die Schicksalspolizisten Zugriff auf den Determinator und können dadurch die Haus-KIs steuern.

Zügig gehen sie in den Westflügel, in dem die Lehrer leben. Anna und ich verhalten uns ganz still, bis weder von den Polizisten noch von Susanne Fischer etwas zu hören oder zu sehen ist. Dann liegt das Foyer wieder völlig verwaist da.

Anna starrt mich entsetzt an. »Frau Köster ist es! Das glaube ja nicht. Sie ist doch so nett. Und so bemüht ...«

Ich beiße mir auf die Lippe. »Unfassbar, dass sie sich als Lehrerin ihrem Lebensweg widersetzt. Sie sollte uns doch ein gutes Vorbild sein.«

»Sei nicht so streng, Lina. Wir wissen schließlich nicht, was sie angestellt hat.« Anna ist nachsichtig wie immer. Sie sieht immer das Gute in anderen. Obwohl ich Frau Köster mag, habe ich kein Mitleid mit ihr. »Darauf kommt es nicht an. Sie weiß doch nicht, welche Auswirkung ihr Handeln auf andere hat. Stell dir bloß vor, jemand stirbt, weil sie etwas nicht tut, was sie soll.«

»Hoffentlich nicht.« Annas Augen sind ganz fest zusammengepresst und ihre Unterlippe zittert. So ist meine Freundin; immer auf der Seite der Schwächeren.

»Das muss ja nicht sein. Vielleicht war es nur eine Lappalie«, schiebe ich daher hastig hinterher.

»Glaubst du?« Hoffnung überzieht Annas Gesicht.

»Sicher.« Ich bemühe mich um eine Zuversicht, die ich nicht empfinde. Immerhin ist die Schicksalspolizei hier, und zwar mit einem ranghohen Beamten. Also muss Frau Köster mindestens einen Lebensweg gehörig durcheinandergebracht haben. Doch ich will Anna nicht noch mehr verstören. Sacht lege ich ihr eine Hand auf die Schulter. »Komm, lass uns abhauen, bevor die Fischerin mit den Polizisten zurückkommt. Sonst kriegen wir noch Ärger.«

 

Vorsichtig treten wir aus der Kammer – und stoßen dabei fast mit unserer Schulleiterin zusammen, die uns strenge Blicke zuwirft. »Habt ihr spioniert?«, herrscht sie uns an.

»Aber nein. Wir wollten nur – äh, unsere Ruhe haben.« Ich versuche, möglichst treuherzig dreinzuschauen.

Doch Fischers Miene verrät, dass sie uns nicht glaubt. Schuldbewusst senke ich daher den Kopf.

»Wir wollten einfach wissen, wie die Polizisten arbeiten – und wen sie bei uns suchen. Tut mir leid. Bitte bestrafen Sie Anna nicht. Das war nur meine Idee!«

Susanne Fischer betrachtet mich mit steinernem Blick und ich fühle mich, als wäre ich vier Jahre alt und hätte die Schüssel mit dem Keksteig leer gegessen.

»Was geschieht denn nun mit der armen Frau Köster? Muss sie ins Gefängnis?« Annas große, braune Augen sind vor Kummer ganz dunkel.

Fischers Gesichtszüge werden sofort weicher und sie seufzt schwer. Diese Wirkung hat meine beste Freundin immer auf andere. »Ich weiß es nicht. Aber wenn sie schuldig ist – und der Determinator irrt sich nie – dann vermutlich ja. Das ist ein harter Schlag für uns.« Sie seufzt. »Frau Köster ist – war ... die beste Mathelehrerin, die ich je hatte. Mein Gott, wieso hat sie nur ...« Ihre Stimme bricht.

Verwirrt blicke ich sie an. So aufgelöst kenne ich die strenge Schulleiterin gar nicht, die uns Schülerinnen perfekt im Griff hat. Funkeln in ihren Augen etwa Tränen? Hastig wechsele ich einen Blick mit Anna.

Nach dem Moment der Schwäche findet Susanne Fischer ihre Fassung allerdings sofort wieder. Sie strafft die Schultern und setzt eine betont gleichgültige Miene auf. Beinahe ist sie die Alte, als sie sagt: »Wir müssen den Vorfall aufarbeiten. Ich werde dazu mit der Bestimmungsbehörde sprechen.« Kurz blickt sie auf die Uhr. »Schon fast acht. Ihr beeilt euch jetzt besser und geht zum Unterricht.«

Überrascht starre ich sie an. Will sie uns einfach so davonkommen lassen? Ganz ohne eine Verwarnung? Dabei müssen wir sonst schon nachsitzen, wenn wir nur zwei Minuten zu spät zum Unterricht kommen. Über ihr Gesicht huscht ein leichtes Lächeln. »Ich werde keine von euch bestrafen. Ich kann verstehen, dass ihr beide schockiert seid.« Sie nickt uns zu. »Na los, ab mit euch, bevor ich es mir anders überlege!«

Das lassen wir uns nicht zweimal sagen. Sofort drehen wir uns um und eilen davon. Im benachbarten Flur, der zu den oben liegenden Klassenräumen führt, warten einige Mädchen auf die Fahrstühle.

 

Atemlos hetzen wir durch die menschenleeren Gänge zum Klassenzimmer. Der vordere Teil des quadratischen Raums besteht aus einer Multifunktionswand. Darüber können die Lehrer das Licht regulieren oder Filme abspielen. Zwanzig weiße Stühle aus regenerativem Kunststoff, deren S-förmigen Rückenteile sich aus mehreren gepolsterten Gliedern zusammensetzen, sind im Halbkreis vor der Wand gruppiert. Jeder Stuhl ist individuell auf unsere Bedürfnisse und Körperform abgestimmt. Die meisten sitzen bereits, als wir ankommen. Hastig lassen wir uns auf unsere Sitze fallen. Gerade noch geschafft, bevor Sievers hier ist, unser Politiklehrer.

»Was war das denn?« Chiara sieht uns aus großen Augen an, in denen leichter Tadel steht. »Wir dachten, ihr kommt mit ans Fenster, aber ihr wart verschwunden!«

»Wir haben uns eine bessere Aussicht gesucht.« Ich gebe mich geheimnisvoll, während ich das Touchpad in der Armlehne in die richtige Position bringe.

»Los, erzähl!«, schaltet sich nun Emily ein.

»Wir haben uns unter der Treppe versteckt, um herauszufinden, wen die Polizisten suchen ...« Ich halte inne und schaue meine Freundinnen bedeutungsvoll an.

»Jetzt spann uns doch nicht so auf die Folter, Lina!« Chiara stöhnt auf, während Emily heftig nickt.

Alle drehen sich nun in ihren Stühlen um und starren mich neugierig an. Ich grinse leise in mich hinein. »Ihr werdet es nicht glauben.« Theatralisch halte ich inne und koste diesen Moment aus, bevor ich mich langsam vorbeuge. »Aber es ist ...«

»Keine von euch.« Unser Politiklehrer, der zwischenzeitlich in den Raum gekommen ist, vollendet den Satz für mich.

Verlegen blicke ich auf. Die Lehrer schätzen es überhaupt nicht, wenn wir tratschen. Da macht Herr Sievers keine Ausnahme, der mit federnden Schritten nach vorn tritt. Wie so oft wundere ich mich über die Geschmeidigkeit, mit der mein Lieblingslehrer sich bewegt. Obwohl er schon fast fünfundsechzig und damit acht Jahre vom Ruhestand entfernt ist, ist er so agil wie ein junger Mann.

Die vollen, hellbraunen Haare sind nur von einigen grauen Strähnen durchzogen. Ganz im Gegensatz zu seinem gleichaltrigen Kollegen Robertson, der aussieht, als habe er vergessen, in Rente zu gehen. Sievers wirft mir einen strengen Blick zu. »Es steht dir nicht zu, das den anderen zu sagen.«

»Tut mir leid.« Und das stimmt, denn ich mag Sievers.

Nachsichtig nickt er. »Ist schon gut. Das war viel Aufregung heute Morgen. Für uns alle.« Dann schweigt er und sieht gedankenverloren in die Ferne.

»Ja, aber wer ist es denn gewesen?«, hakt Chiara nach.

Sievers seufzt. »Frau Köster.«

Ein Raunen geht durch die Klasse. »Was hat sie angestellt? Hat sie etwa vergessen, ihre Socken zu wechseln?«, fragt Diana, die ganz vorn sitzt, genervt.

Ich runzele die Stirn und mustere sie.

Wie immer umgibt sie eine Aura der Unzufriedenheit. Der Spruch ist aber deutlich aggressiver als sonst. Auch Sievers wirkt verwirrt. Seine Augenbrauen schießen in die Höhe. »Das weiß ich nicht, die Anklage wird erst auf dem Revier verlesen. Doch Frau Fischer hat mich gebeten, den Lehrplan vorzuziehen und heute mit euch über die Entstehung unseres Schicksalssystems zu sprechen. Dazu muss ich ein paar Kapitel überspringen. Die fehlenden Inhalte werde ich euch als Files auf die Lernprogramme spielen.« Kurz sammelt er sich, während er nach vorne zu der Multifunktionswand tritt. »Nun denn, vor rund dreißig Jahren fand der Forscher Stefan Bluhm heraus, dass alle Handlungen durch ein Netz des Schicksals verflochten sind, und dass man sie mit dem richtigen Algorithmus steuern kann. Und sicher wisst ihr auch, auf welcher Annahme das basiert, oder?«

Chiaras Hand schießt in die Höhe, ihr Oberkörper reckt sich nach vorn und ihr Blick sucht den von Sievers. Die kleine Streberin kann es mal wieder kaum erwarten dranzukommen. Ich grinse, als ich beobachte, wie unserer Lehrer nach einem anderen sucht, der die Antwort kennt, bevor er ihr zunickt.

»Bluhms Theorie basiert natürlich auf dem Schmetterlingseffekt. Aber ich verstehe nicht, warum das niemand früher bemerkt hat. Er war schließlich schon lange bekannt«, erklärt Chiara selbstgefällig.

»Stimmt. Doch man hielt das für Zufälle. Bluhm war besessen von der Idee, die Wege des Schicksals zu entschlüsseln – und zwar aus persönlichen Gründen.«

Interessiert horche ich auf. Auch die anderen recken neugierig die Köpfe. Dieses Detail über den Erfinder des Determinators war mir bisher unbekannt.

»Dahinter verbirgt sich leider eine traurige Geschichte. Bluhm sah als junger Mann, wie ein Wagen auf einen Nachbarsjungen zuraste, der auf der Straße spielte. Er schrie auf, damit der Junge rechtzeitig wegliefe. Doch das Kind starrte zu ihm und wurde vom Auto erfasst.«

Traurig schüttelt Sievers den Kopf und macht eine kleine Pause. Gedankenverloren sieht er sich unter uns um, bevor er weiterredet. »Dieser Todesfall ließ Bluhm nicht los. Als er Jahre später Daniel Holzmann kennenlernte, entwickelten sie den Neuroscanner, um Erinnerungen auf einen Rechner zu übertragen. Sie luden Bluhms Leben herunter und analysierten es im Detail. Dabei stießen sie auf die Wendemomente; wie den Augenblick, in dem er den Jungen rief.«

»Ahnten die beiden da schon, dass sie damit Lebenswege im Voraus berechnen können?«, hake ich nach, denn diese Geschichte fasziniert mich.

»Nicht sofort. Den echten Durchbruch erzielten sie erst, als sie auch Holzmanns Erinnerungen analysierten.« Er dreht sich zu der Multifunktionswand. »Astrid, zeig bitte den zehnten März 2112.«

Auf der Wand erscheint das Bild eines Mannes Ende dreißig, der in einem Labor auf einem Untersuchungsstuhl liegt. Das ist Daniel Holzmann, der geniale Informatiker. Er sieht aus wie ein Model mit seinen rabenschwarzen halblangen Haaren, den smaragdgrünen Augen und den hohen Wangenknochen. Neben ihm steht ein schlanker, fast schon dürrer Mann Mitte vierzig, der sich die Hände reibt. In Bluhm erkennt man sofort den Forscher. Er hat wirre, grau melierte Haare, trägt eine altmodische Brille, und sein Laborkittel sieht zerschlissen aus. Doch sein Blick ist klar und wach.

Er legt einen daumenbreiten flachen Metallreifen um Holzmanns Kopf und klappt einen darin integrierten schmalen Arm so aus, dass er bis zur Nasenwurzel reicht. Sorgfältig platziert er den Neuroscanner, bis er korrekt anliegt. Dann drückt er auf einen Knopf in der Mitte. Die Dioden leuchten auf, als sie sich mit dem Rechner verbinden.

Binnen Sekunden ist die Übertragung abgeschlossen. Aufgeregt beugen sich die beiden Männer über den Bildschirm und betrachten zwei Linien, die sich an einigen Stellen kreuzen. Diese Punkte sind durch rote Kreise markiert.

»Astrid, halt den Film an und zeig das Standbild«, sagt Sievers. Die Haus-KI friert die Szene ein. Langsam tritt der Lehrer an die Wand. »Holzmann hatte einen Algorithmus entwickelt, der nach Verflechtungen zwischen ihren Leben suchte. Das sind diese Punkte hier.« Er deutet mit einem Laserpointer auf die roten Kreise. »Die Forscher erkannten, sie hätten sich schon früher begegnen können. Aber stets traf einer von ihnen eine Entscheidung, die das verhinderte – dennoch wollte das Schicksal sie offenbar zusammenbringen. Das war eine wichtige Erkenntnis.« Bedeutsam schaut er uns an. Obwohl ich die Geschichte kenne, lausche ich seinen ausführlichen Schilderungen, als hörte ich sie zum ersten Mal. Unwillkürlich beuge ich mich vor.

»Sie fragten sich, was passierte, wenn man die Lebenswege vieler Menschen untersuchte. Konnte man Ereignisse beeinflussen – und die Zukunft gezielt verbessern? Das erforderte einen Rechner mit einer gigantischen Rechenleistung, was ihre finanziellen Mittel überstieg. Daher suchten sie einen Geldgeber. Nun entwickelten sie den Algorithmus weiter, bis der Prototyp des heutigen Determinators entstanden war. Dabei zeigte sich, dass immer eine Balance herrschen musste. Für jede Verbesserung eines Lebensbereichs verschlechtert sich ein anderer – das ist der Schicksalspreis, wie ihr wisst.«

»Aber in den Anfangsjahren konnten doch nur die Reichen ihre Leben optimieren, oder?«, wirft Anna ein.

»Ja, denn der Finanzier wollte sich seine Investitionen vergolden lassen. Und im Gegensatz zu heute wussten die Menschen ihren Lebensweg im Voraus – sie sahen also, welche Opfer sie bringen mussten. Doch die Reichen fanden einen Ausweg: Sie boten den Armen Geld, damit diese ihre Schicksalspreise bezahlten. Dieser Tauschhandel nahm immer verheerendere Ausmaße an. Bis Linas Vater seine Stimme erhob.«

Sievers blickt mich fragend an. »Willst du die Geschichte weiter erzählen? Immerhin ist Georg Claasen ja quasi der Architekt unseres heutigen Systems.«

Genervt rolle ich mit den Augen. Ich hätte mir ja denken können, dass mal wieder mein vermeintliches »Insider-Wissen« gefragt ist. Dabei ist mein Vater immer vage, was seine Rolle bei der Entstehung des Schicksalssystems angeht. »Ich kann es versuchen. Also, Papa sagte, zu jener Zeit wurde mit Schicksalspreisen gehandelt, als seien es x-beliebige Gegenstände. Ein Reicher wollte erfolgreicher sein oder ein längeres Leben haben? Kein Problem, irgendjemand brauchte immer Geld, weil es damals noch keine Grundabsicherung gab. Und die Reichen wurden stetig gieriger.«

Darüber spricht Papa oft zu Hause. Er tobt jedes Mal, wenn er sich über die dreisten Wünsche der Reichen ereifert, die zu immer höheren Schicksalspreisen führten. »Der Determinator wurde zum Sinnbild für Ungerechtigkeit, obwohl er das Leben verbessern sollte. Das machte meinen Vater fuchsteufelswild. So beschrieb er auf einem Blog, wie die Zentral-KI ein neues Zeitalter einläuten könnte, wenn sie richtig genutzt würde. Doch seine Forderungen waren für viele zu radikal. Allerdings weiß ich nicht, warum.«

Hilflos blicke ich zu Sievers hinüber, der zum Glück den Ball aufnimmt. »Georg Claasen wollte, dass der Determinator kostenlos die Schicksale aller Menschen berechnete und sie aufeinander abstimmte, damit sie perfekt austariert sind. Allerdings müsste jeder seinen Schicksalspreis selbst bezahlen – und dem vorbestimmten Lebensweg folgen.«

»Das ist doch völlig klar!«, ruft Annika von ganz hinten. »Nur wenn sich jeder so verhält, wie es vorgesehen ist, geht es allen gut.«

Sievers lacht. »Das war revolutionär. Die Menschen waren es gewohnt, selbst über ihr Schicksal zu entscheiden, und wollten das keinesfalls aufgeben. Der Blog spaltete daher die Gesellschaft. Aber dann geschah das Unfassbare.« Er schaut mich auffordernd an.

Natürlich weiß ich genau, worauf er hinaus will. Das ist der Teil, über den sogar mein Vater gern spricht. »Eines Tages riefen Bluhm und Holzmann ihn an. Sie wollten sich mit ihm treffen. Und er dachte, sie wären wütend auf ihn.« Ich grinse, als ich mich an den genauen Wortlaut erinnere: Mir ging der Arsch auf Grundeis, so hat er gesagt. Kaum zu glauben, dass dieser selbstbewusste Mann, der heute Abweichler das Fürchten lehrt, vor irgendwem Angst gehabt hat.

»Die beiden warfen ihm allerdings nichts vor, sondern wollten mit ihm zusammenarbeiten. Denn auch sie fanden es furchtbar, wie der Determinator genutzt wurde. Gemeinsam gründeten sie die Schicksalspartei, die rasch zu einer Massenbewegung wurde. Schon bald sammelten sie mit einer Spendenaktion im Netz genug Geld, um den Finanzier auszubezahlen. Bei den nächsten Wahlen kamen sie an die Macht und Holzmann wurde zum ersten Ministerpräsidenten des neuen Schicksalssystems gewählt. Seitdem berechnet der Determinator unsere Lebenswege.«

Sievers nickt mir zu. »Danke dir, Lina.«

Kurze Zeit schweigen alle.

»Lina, warum war dein Vater eigentlich nie in der Parteiführung?«, fragt Emily schließlich.

Ich muss lachen. »Politik ist nichts für Papa! Er hält sich lieber im Hintergrund. Er will nur, dass alles seinen gerechten Gang geht. Berühmtheit ist ihm unwichtig.«

»Genau so habe ich Georg Claasen erlebt.« Sievers schmunzelt. Kennt er Papa etwa persönlich? Aber woher nur? Verwirrt mustere ich ihn.

Sievers redet aber weiter und geht nicht auf meine fragenden Blicke ein. »Daher ist er der perfekte Leiter der Schicksalspolizei. Deren Schaffung er übrigens selbst angeregt hatte. Er hat auch festgelegt, welche Strafen es für Abweichungen vom Lebensweg gibt.«

»Dann ist es seine Schuld, wieso alles so streng bestraft wird?« Diana runzelt die Stirn und stößt einen tiefen Seufzer aus. »Ich hätte mir letzte Woche fast den Arm gebrochen, weil ich die blöde Katze einer älteren Dame von einem Baum holen sollte. Hätte ich es aber nicht gemacht, wäre ich für ein oder zwei Jahre ins Afrikanische Alcatraz gekommen. Das ist echt übertrieben!«

Sievers schüttelt den Kopf. »Wer weiß, was sonst geschehen wäre? Vielleicht hast du ja verhindert, dass sich die alte Frau schwer verletzt oder sogar stirbt.«

»Applaus für mich. Ömchen geht’s gut.« Diana zieht zwar eine Grimasse, muss jedoch grinsen.

»Du bist halt eine echte Heldin«, witzelt Emily.

Sofort brechen alle in lautes Gelächter aus. Ich kann mir bei Diana alles Mögliche vorstellen, aber keinen selbstlosen Einsatz. Dafür ist sie viel zu mürrisch. Auch Sievers grinst, wird jedoch gleich wieder ernst. Er betrachtet uns eindringlich. »So abwegig ist das nicht. Man kann durch Kleinigkeiten vieles bewegen. Also kraxelt alle brav weiter auf Bäume, wenn der Determinator das will.«

Die meisten lachen wieder, nur Chiara nicht. Da klingelt es zum Ende der Stunde. Sofort packen alle ihre Sachen zusammen, um in die Pause zu stürmen. Chiara und Emily sind bereits schneller draußen, als man Schulschluss sagen kann. Anna wartet wie immer an der Tür auf mich.

»Kommst du?«

Diesmal winke ich jedoch ab, weil ich etwas vorhabe. »Geh ruhig vor, ich will noch etwas fragen.«

Anna nickt und huscht hinaus.

Sievers, der das Gespräch mitbekommen hat, blickt mich fragend an.

»Als Sie ... über meinen Vater gesprochen haben, da hatte ich den Eindruck, dass Sie ihn ... persönlich kennen.« Verlegen blicke ich nach unten. Geht mich das überhaupt etwas an? Aber ich will es unbedingt wissen. Also hebe ich den Kopf wieder an und sehe ihm in die Augen. »Kann das sein?«

Sievers schmunzelt. »Das stimmt, auch wenn Herr Claasen mich sicher nicht in bester Erinnerung hat. Ich habe ihn über eine Stunde lang auseinandergenommen.«

Verdutzt starre ich ihn an.

»Bei einem Interview.« Er lächelt mich an.

Schlagartig fällt mir ein, unser Lehrer ist früher Journalist gewesen. Dabei hat er also auch Papa interviewt. Offensichtlich hat er kein Blatt vor den Mund genommen.

»Ja, ich war ein richtig scharfer Hund!« Sievers’ Blick wird schwärmerisch. »Damals war die Presse noch kein Verlautbarungsorgan der Bestimmungsbehörde wie jetzt.« Jäh verstummt er und wirft mir einen halb nervösen, halb entschuldigenden Blick zu. »Entschuldige, das hätte ich nicht sagen sollen! Das war nicht so gemeint ...«

»Schon gut. Ich erzähle es nicht weiter.« Ich gebe mich betont locker, dann schlendere ich aus dem Klassenzimmer. Trauert er wirklich den alten Zeiten nach? Das kann ich nicht begreifen. Ich meine, wie kann sich jemand nur die bohrende Ungewissheit ohne berechnete Lebenswege zurückwünschen? Durch den Determinator führen wir heute doch ein Leben, das so nah wie möglich an der Perfektion ist. Wenn dazu die Pressefreiheit ein wenig eingeschränkt wird, dann ist das ein geringer Preis.

 

2

 

Ein exklusives Geschenk

 

 

 

»Mädels, ihr kommt nie darauf, was ich hier habe!« Anna tänzelt wenige Tage später zu unserem Frühstückstisch in den Gemeinschaftsraum. Dabei schwenkt sie enthusiastisch vier Karten über ihrem Kopf.

Ich recke mich und erhasche einen Blick auf einen Globus mit zwei ineinander verschlungenen Buchstaben – ein C und ein R. Zischend ziehe ich die Luft ein. »Ist es das, wofür ich es halte?«

»Aber so was von!« Anna kann kaum ihre Begeisterung verbergen. »Das sind Freikarten für die Premiere der neuen Show von Christian Ritter.«

Das ist zurzeit der angesagte Künstler. Er verbindet Musik, Licht und 5D-Effekte zu sensationellen Shows. Alle in der Schule lieben ihn, aber Anna betet ihn an.

»Kann nicht sein. Die Karten sind unbezahlbar!« Emily schüttelt entschlossen den Kopf.

Chiara ergänzt mit gerunzelter Stirn: »Nur VIPs haben eine Einladung bekommen, Tickets zu kaufen. Das sind Fälschungen, oder?«

Statt einer Antwort richtet Anna ihre Smartwatch auf die Karten. Nach wenigen Sekunden erscheint eine 3D-Projektion über ihrem Kopf: Sie zeigt Ritters Hologramm, der auf dem Logo sitzt und uns fröhlich zuwinkt.

Aufgeregt tuscheln die Mädchen um uns herum und starren Anna an. »Wow, wie bist du denn da rangekommen?«, will ich von meiner besten Freundin wissen.

Anna zuckt mit den Schultern. »Irgendein David Adams, ein Geschäftspartner, von Papa hat sie uns geschenkt.« Ihr Vater arbeitet als Chefeinkäufer bei einem Chiphersteller. »Ist auch egal. Ich sag nur – Christian Ritter, wir kommen!« Dabei blitzen ihre Augen vor Aufregung.

Sofort springen wir anderem unter lautem Jubel auf, rennen auf Anna zu und hüpfen gemeinsam mit ihr wie Flummis umher. Ich ziehe Anna fest in meine Arme. »Oh, ich weiß schon, warum du meine Lieblingsfreundin bist.«

Sie lächelt zufrieden. Dann hebt sie den Zeigefinger und blickt uns mit gespielter Strenge an. »Aber dass ihr euch ja schick macht, Mädels! Die Show ist das Event des Jahres. Ich will mich nicht für euch schämen.«

»Ich habe mir vor kurzem ein schönes Kleid für Weihnachten gekauft. Das werde ich tragen«, beschließt Chiara und wirkt dabei sehr erfreut.

»Ich müsste etwas Schickes zu Hause haben.« Emily zuckt mit den Schultern. »Am Wochenende schaue ich mal nach.«

Ich seufze. »Also ich habe mit Sicherheit nichts, was für diesen Anlass passen würde ...« Meine Garderobe besteht überwiegend aus Jeans, T-Shirts und einigen wenigen Röcken. Die sind sehr cool für lockere Grillpartys im Sommer, aber garantiert nichts für ein High-Society-Event.

»Dann lass dir etwas zu deinem Achtzehnten schenken. Du hast doch bald Geburtstag«, schlägt Anna vor.

Begeistert nicke ich. »Super-Idee! Am besten frage ich Mama, wenn sie allein ist.« Papa wird den Wunsch nach einem schönen Kleid ohnehin nicht verstehen. Für ihn erfüllt Kleidung lediglich den Zweck, ihren Träger vor Kälte, Hitze oder Regen zu schützen.

»Ich versuche mein Glück bei Papa; der ist spendabler. Sicher lässt der gern ein Kleid springen. Könnten ja Kunden auf dem Event sein, die mich schon einmal gesehen haben«, wirft Anna mit einem Grinsen ein. »Sag Bescheid, wenn du Erfolg hattest. Dann können wir am Wochenende zusammen shoppen, okay?«

»Geht klar.« Ich gebe mich zuversichtlicher, als ich mich fühle. Hoffentlich kann ich meine Eltern überzeugen! Ein Abendkleid kostet immerhin eine ganze Stange Geld.

 

Die nächsten Tage ziehen sich für mich endlos in die Länge. Obwohl die Inhalte für unsere Abschlussprüfung relevant sind, fällt es mir unendlich schwer, dem Unterricht zu folgen.

Die neue Mathelehrerin, die uns gerade durch Integralrechnung führt, trägt nicht dazu bei, dass die Zeit schneller vergeht. Im Gegenteil, die Endfünfzigerin ist so dröge wie nur irgendetwas.

Aber Frau Köster muss wegen Schicksalsverweigerung für fünf Jahre ins Gefängnis. Das tut mir leid für uns alle, aber sie hat sich das selbst eingebrockt. Warum verweigert sie auch einen Wendemoment?

Endlich erklingt der dreifache Ton, den wir Freimacher nennen, weil er das Wochenende einleitet. Sofort springe ich auf und ziehe Anna am Ärmel mit mir. »Los, beeilen wir uns. Du weißt doch, wie voll die Magnetbahnen in die Kernstadt um die Uhrzeit immer sind.«

»Nur kein Stress, Lina.« Meine Freundin bleibt beim Einpacken so gelassen, dass ich sie schütteln könnte. »Die kommen schließlich alle paar Minuten.«

»Bitte! Ich will so schnell wie möglich nach Hause, damit ich noch allein mit Mama reden kann.«

Anna grinst. »Daher weht der Wind also. Klar, das verstehe ich.« Hastig verstaut sie alles und zischt an mir vorbei. »Na komm schon, Schnarchnase, beweg die Beine.«

Ich folge ihr lachend. Kurz winken wir Chiara und Emily zu, dann hetzen wir zu den Fahrstühlen. Zum Glück bekommen wir gleich den ersten Aufzug. Unten angekommen, flitzen wir durch die gewölbte gläserne Eingangshalle in den weitläufigen Schulpark und reihen uns in den Pulk der Mädchen ein.

Wir wollen alle in die Kernstadt, in der die Familien am Wochenende zusammenleben. Jeder der zehn Quadranten Europas besteht aus acht Bezirken für die Fachrichtungen und genau so vielen Ringen für den jeweiligen Alters- und Wissensstand. Dabei gilt: Das Alter der Bewohner steigt mit der Entfernung zur Kernstadt. Unsere Schule, die die Oberklassen der kreativen Berufe beheimatet, liegt in Bezirk vier, Ring D.

Magnetschwebebahnen verbinden alle Bereiche. Mit der Schnellbahn, die nur einmal zwischendurch hält, dauert die Fahrt in die Kernstadt maximal dreißig Minuten. Ich versuche, mich an den Mädchen vorbeizudrängeln, die vor uns laufen. Vergeblich, die Straße ist belegt von schwatzenden Teenagern, die niemanden an sich vorbeilassen. Ungeduldig werfe ich einen Blick auf die Uhr: Schon fünf vor vier! Das könnte verdammt knapp werden.

Da taucht die gläserne Silhouette des Bahnhofs auf, der die Form einer länglichen Ellipse hat. Zu beiden Seiten ragen Türme in die Höhe, in denen die Zugüberwacher sitzen. In der Eingangshalle führen Laufbänder zu den Gleisen. Ich beschleunige meine Schritte, und Anna folgt mir. Fast zeitgleich mit der Magnetschwebebahn kommen wir an. Sofort geht das Gerangel um die Plätze los, denn der Bahnsteig ist hoffnungslos überfüllt. Nur ein Teil der wartenden Mädchen und Jungen, die auf der anderen Seite des Bezirks leben, passen in die Bahn.

Wie durch ein Wunder können wir uns hineinquetschen. Ich fühle mich zwar wie eine Sardine in der Dose, aber Hauptsache, wir haben es geschafft. Als wir den Bahnhof der Kernstadt erreichen, die genau in der Mitte des Quadranten liegt, blinkt das Display meiner Smartwatch blau auf. Ich werfe einen Blick darauf. »Wir müssen ins Parkhaus drei, zehnter Stock. Da steht unser Wagen auf Platz achthundertsiebzig.«

Dank des autonomen Fahrens dürfen wir uns schon seit unserem zwölften Jahr selbstständig mit Autos fortbewegen. Leihautos stehen in den sechs Parkhäusern, die den Bahnhof flankieren, stets genügend zur Verfügung. Private Autos können sich nur Superreiche und ranghohe Mitarbeiter der Bestimmungsbehörde leisten.

Wir steuern Ausgang drei an und flitzen die Reihen des zehnten Stockwerks entlang. Eine Hälfte der eiförmigen Wagen ist weiß, die andere schwarz. Mehr Farben gibt es nicht, denn Autos sind keine Statussymbole mehr.

»Achtundsechzig. Neunundsechzig. Siebzig. Da ist unser Wagen ja«, ruft Anna.

Als ich mich nähere, blinkt das Auto auf. Ich trete heran und lege den Daumen auf den Fingerabdruckscanner im Türgriff. Sofort öffnet sich die Tür. Erleichtert nehmen wir Platz im Fahrgastraum, in dem man sich gegenübersitzt.

Noch sind wir allein. Aber das bleibt sicher nicht lange so, denn die App plant die Fahrten immer so, dass alle Plätze im Wagen belegt sind. Wir haben die Gurte gerade angelegt, als zwei jüngere Mädchen dazukommen und sich anschnallen. Es blinkt kurz, dann setzt sich der Wagen nahezu lautlos in Bewegung.

Wie fast immer werde ich als Erste abgesetzt, weil ich im Stadtbezirk für Angehörige der Bestimmungsbehörde lebe. Hier haben die Häuser maximal sechs Stockwerke, während in anderen Teilen der Stadt Hochhäuser von fünfzehn und mehr Etagen üblich sind. Irgendwo müssen die Menschen ja leben – am Wochenende sind es fast zwanzig Millionen. Das Auto wird langsamer, als es in meine Straße einbiegt. Bei Hausnummer siebenundvierzig kommen wir zum Stehen, leise gleitet die Tür zur Seite und ich husche hindurch. Zum Abschied winke ich Anna noch zu. Die hebt die Hand und kreuzt die Finger.

Ich grinse. Hoffentlich kann ich Mama überzeugen! In Jeans kann ich kaum zu dem Auftritt gehen. Schnell sprinte ich zur Tür und stelle mich vor den Iris-Scan. Nachdem die Haus-KI Nuna die Daten meiner Augen abgeglichen hat, öffnet sie die Tür.

Mama steht im Hausflur. Sie sieht noch immer gut aus. Die gestuften, kastanienbraunen Haare durchzieht kein einziges graues Haar und sie hat nur einige Falten auf der Stirn. Zwar hat sie ein paar Kilos zu viel auf den Rippen, doch das steht ihr. Die zweiundfünfzig Jahre sieht ihr kein Mensch an.

»Hallo, Lina, mein Schatz. Wie geht’s dir?« Sie lächelt mir zu und umarmt mich zur Begrüßung.

»Gut, ich scheine der Grippewelle entkommen zu sein. Im Gegensatz zu vielen anderen.« Obwohl Astrid allen Mädchen zum Frühstück schon penetrant Vitamin C empfiehlt, liegen etliche meiner Klassenkameradinnen flach.

Mama verdreht die Augen. »Oh ja, die grassiert auch bei uns. Und das, wo wir das Weihnachtsgeschäft vorbereiten!« Sie arbeitet im Marketing eines Spielzeugherstellers.

»Das ist natürlich doof.«

»Das kannst du laut sagen! Immerhin müssen die Kampagnen bis Ende nächster Woche fertig sein.«

Abwesend nicke ich. Ich will nicht unhöflich sein, aber ich brenne darauf, Mama nach dem Kleid zu fragen.

»Ist etwas mit dir?« Ihr entgeht also nicht, wie abwesend ich reagiere.

Entschuldigend lächele ich und schüttele den Kopf. »Alles in Ordnung! Es ist nur ...«

»Was?« In ihren Augen steht Wachsamkeit. Ahnt sie, dass ich sie um Geld bitten möchte? Vielleicht sollte ich diplomatischer anfangen, aber ich kann mich nicht mehr zurückhalten. Die Worte sprudeln aus mir heraus. »Stell dir vor, Anna hat vier Freikarten für Ritters neue Show!«

»Das ist ja toll. Wie ist sie denn daran gekommen?«

»Über einen Geschäftspartner ihres Vaters.«

Mama nickt verstehend. Auch Papa werden immer wieder Aufmerksamkeiten angeboten, die hart an der Grenze zur Bestechung sind – und die er natürlich nie annimmt, dazu ist er viel zu geradlinig. In der Privatwirtschaft sieht man das wohl etwas lockerer. »Wann ist das große Ereignis denn?«

»In zwei Wochen.«

»So bald schon! Du bist sicher aufgeregt.«

Ich nicke und frage mich, wie ich meine Bitte möglichst unauffällig unterbringen kann. Aber mir will partout nichts einfallen, was nicht total peinlich wäre.

Diplomatie ist eben noch nie meine besondere Stärke gewesen.

»Da ist doch noch etwas, oder, Lina?«

Verlegen schaue ich zu Boden. »Na ja, es ist ja ein besonderes Ereignis. Da werden eine Menge Promis herumlaufen, die alle todschicke Klamotten tragen ...«

Natürlich riecht Mama den Braten sofort. »... und deine sind dir für den Anlass nicht gut genug, stimmt’s?«

»Damit würde ich unter all den aufgemotzten Leuten auffallen wie ein Pickel!«

Mama lacht. »Das wollen wir ja nicht. Du wünschst dir also etwas Schickes ... ein Abendkleid, richtig?«

Wie gut sie mich versteht. »Oh ja. Das wäre spitze! Du kannst es ja von meinem Geburtstagsgeld abziehen.«

Sie winkt ab. »Schon gut. Deine Schwester hat erst vor ein paar Wochen ein teures Rechner-Upgrade bekommen, weil sie das für ihre Uni braucht. Sieh es als Ausgleich.«

»Oh, Mama, du bist die Beste.« Ich umarme sie so überschwänglich, dass sie mich lachend ein Stück von sich wegdrückt.

»Sachte, du zerquetschst mich noch. Ich weise Nuna gleich an, das Konto für dich freizuschalten.«

»Danke. Vielen, vielen Dank!«

Lächelnd streicht sie mir über den Kopf. »Schatz, du wirst einfach bezaubernd aussehen. Mach unbedingt Fotos.«

»Versprochen! Ich sag es gleich Anna!«

Sofort rase ich hoch in mein Zimmer und schicke ihr eine Sprachnachricht, bevor ich mich glücklich aufs Bett schmeiße. Ich darf tatsächlich in einem tollen Kleid zur Premiere von Christian Ritter! Kann das Leben schöner sein?

Gerade als ich Mama beim Saubermachen helfe, klingelt es an der Haustür. »Das ist Anna! Ich mache ihr auf, ja?« Ich rase aus der Küche, ohne eine Antwort abzuwarten. Schon den ganzen Tag habe ich auf diesen Moment gewartet. Immerhin werde ich mir heute mein erstes Abendkleid kaufen, und das Erlebnis will ich mit meiner besten Freundin teilen. Schwungvoll reiße ich die Tür auf.

»Shopping, Shopping!« Anna grinst breit.

Ich muss lachen, weil sie dabei hin und her hüpft. »Los, lass uns in mein Zimmer gehen.«

Anna nickt und folgt mir. Im Vorübergehen grüßt sie Mama, die in der Küche putzt. »Hallo, Frau Claasen. Wie geht es Ihnen?«

»Gut, aber ich muss das Chaos noch in den Griff bekommen. Meine Tochter hat mich ja deinetwegen schmählich im Stich gelassen ...«

»Sollen wir Ihnen helfen?«, bietet Anna an.

Ich werfe ihr einen entsetzten Blick zu. Muss Anna immer so höflich sein? Ich will jetzt ein Kleid aussuchen!

Mama lacht, als sie mein Gesicht sieht. »Das ist sehr lieb von dir, aber ich glaube, Lina ist von der Idee nicht gerade begeistert.«

Ich lächle ihr verlegen zu. »Tut mir leid, Mama. Ich bin einfach so aufgeregt ...«

»Ist schon gut. Den Rest schaffe ich auch allein.« Sie deutet auf den Boden, der für mich sauber aussieht.

»Danke!«

Wir rennen in mein Zimmer, bevor Mama es sich anders überlegen kann. Dort machen wir es uns auf dem Sofa bequem.

»Nuna, such bitte Abendkleider heraus.« Nach wenigen Sekunden laufen Bilder unterschiedlichster Kleider über die Multifunktionswand. Aber entweder sind sie zu elegant oder nicht festlich genug, zu eng oder zu weit oder zu teuer. Dann kommt ein schlichtes, schwarzes Kleid aus einem weichen, fließenden Stoff, das fast bis zum Boden reicht. Am Oberteil verleihen ihm dezente Verzierungen aus Strass die nötige Eleganz.

»Nuna, das will ich bitte anprobieren«, ruft Anna.

Die Haus-KI projiziert ihr Hologramm, das sie mit dem Kleid zeigt, in die Mitte des Raumes.

Ich seufze. »Oh, bist du schön.«

Annas Avatar dreht sich so hin und her, dass der zart schmeichelnde Rock mitschwingt.

»Wirklich, nicht schlecht.« Meine beste Freundin nickt zufrieden. »Das kommt auf jeden Fall auf die Merkliste. Trotzdem ... Ich bin nicht ganz sicher. Nuna, zeig uns mehr!«

Noch drei weitere Modelle probiert Anna virtuell an, aber wir sind uns einig: Das erste Kleid ist es. Anna zieht es erneut an. Wieder lässt sie ihr Hologramm hin- und hergehen.

»Das musst du kaufen, Anna. Es steht dir fantastisch. Du siehst aus wie ein Filmstar!« Ich kann kaum glauben, wie gut sie in diesem Hammerteil aussieht.

Anna kichert. »Nicht, dass sich noch jemand in mich verknallt, der gar nicht dafür vorgesehen ist.«

Die Gefahr besteht in dem Outfit tatsächlich. Dabei bestimmt der Determinator den geeigneten Lebenspartner während der Zeremonie der Erneuerung nach dem achtzehnten Geburtstag. Vorher ist jede Liebelei verboten. Eine Romanze bringt die sorgfältig geplanten Lebenswege durcheinander. Wobei ich nicht verstehe, warum. Das liegt sicher daran, dass ich noch nie verliebt gewesen bin. »Und wenn schon? Du musst ihm ja nicht deine ID geben«, beschwichtige ich sie.

»Ich werde dran denken.« Anna nickt, dann wendet sie sich an die Haus-KI. »Nuna, bestell das Kleid. Hier ist die Kartennummer.« Sie hält ihre Smartwatch hoch, auf deren Display die Platinkarte ihres Vaters zu sehen ist. »Jetzt musst du noch etwas finden!«

Ich zucke mit den Schultern. »Ich glaube, ich bin kein Kleidertyp. Mich hat nichts angesprochen.«

»Jedem Mädchen stehen Kleider«, gibt Anna im Brustton der Überzeugung zurück. »Man muss nur das Richtige finden. Vielleicht versuchen wir’s mit mehr Farbe für dich.« Prüfend schaut sie mich an. »Das muss leuchten ... Nuna, such Kleider in Blau, Grün und Rot.«

Auf der Multifunktionswand erscheinen Modelle in kräftigen Farben. Die Vorschläge gefallen mir besser, aber so richtig überzeugt bin ich immer noch nicht. Um Anna einen Gefallen zu tun, probiere ich schließlich ein schlichtes Kleid in Petrol an. Anna lobt es zwar in den höchsten Tönen, doch das bin nicht mehr ich, sondern eine Fremde.

Sie seufzt, als sie meinen Gesichtsausdruck bemerkt. »Oh Mann, dir gefällt es echt nicht, oder?«

Bedauernd schüttele ich den Kopf.

Anna tippt sich mit Zeigefinger gegen ihre Lippe, als sie nachdenkt. Schließlich meint sie: »Probier’s doch mal mit einem Jumpsuit. Bei deiner schlanken Figur steht dir das sicher super. Außerdem bist du groß genug dafür.«

Sofort erscheinen Bilder von festlichen Einteilern über die Multifunktionsfront. Schon der zweite Vorschlag gefällt mir: ein weißer Jumpsuit, dessen Oberteil rote Ornamente aus Glitzerstoff mit Strasssteinen zieren.

Als Nuna das Hologramm hochlädt und ich mich selbst in dem Outfit sehe, verschlägt es mir fast den Atem. Dieser Jumpsuit setzt meine wenigen Kurven gekonnt in Szene. Durch den wasserfallartigen Rückenausschnitt, der zwei Handbreit über dem Po endet, sehe ich sexy aus. Sogar meine Oberweite wirkt größer.

»Wow.« Anna steht auf, um meinen Avatar bewundernd zu mustern. »Den musst du kaufen, der ist quasi für dich gemacht! Fehlt nur der letzte Schliff. Nuna, such einen roten Gürtel und eine Handtasche.«

Ich wundere mich, wie gut Anna sich mit solchen Sachen auskennt. Nun ergänzen die Accessoires mein virtuelles Bild und komplettieren den Look.

»Meinst du nicht, dass das zu gewagt ist?« Ich zupfe an dem Wasserfallausschnitt herum. Wenn ich mich falsch bewege, habe ich vermutlich keine Geheimnisse mehr vor anderen.«

»Quatsch. Das ist genau richtig für diese Show. Was denkst du, wie die anderen an dem Abend rumrennen?« Als Anna meinen zweifelnden Blick auffängt, legt sie mir eine Hand auf den Arm. »Süße, wir werden beide bald achtzehn. Wir sind keine Kinder mehr. Steh dazu!«

Das stimmt. Was ist schon dabei, den eigenen Körper zur Geltung zu bringen? Und der Einteiler sieht wirklich super aus. Entschlossen nicke ich. »Nuna, bestell das Outfit. Nimm Mamas Karte.« Bereits in zwei Tagen wird meine Errungenschaft maßgeschneidert ankommen. Ich kann es jetzt schon kaum erwarten, meine neue Kleidung auszuführen. Noch nie habe ich etwas so Elegantes besessen.

3

 

Blutige Premiere

 

 

 

Ich kann mein Glück immer noch nicht fassen, als ich mit Anna, Emily und Chiara auf das Theater der Kernstadt zugehe. Heute soll Ritters Show zum ersten Mal der Weltöffentlichkeit gezeigt werden. Und wir sind live mit dabei. Aufgeregt blicke ich mich um und bewundere die prächtige Fassade des Schauspielhauses. Es wird nur für die Top-Künstler genutzt und verkauft daher entsprechend teure Eintrittskarten, weswegen ich noch nie hier gewesen bin. Von außen sieht es mit seinen Rundbögen und Verzierungen aus, als sei die Zeit stehengeblieben.

Schließlich gehört es zu den wenigen Gebäuden, die der Zerstörung am Tag Null widerstanden haben, an dem gigantische Tsunamis große Teile von Nord- und Südamerika, Asien, Afrika und Europa verwüstet haben. Zwei Milliarden Menschen sind während der Katastrophe gestorben. Mein Magen zieht sich zusammen wie immer, wenn ich an dieses furchtbare Ereignis denke. Es tut mir leid um jeden, der sein Leben verloren hat. Dennoch kann ein Teil von mir verstehen, dass Mutter Natur zum Schlag gegen unsere Vorfahren ausgeholt hat; immerhin haben die sie viel zu lange rücksichtslos ausgebeutet. Heute ist ein sorgsamer Umgang mit den Ressourcen für uns so selbstverständlich wie das Atmen.

Alles in mir kribbelt, als wir die Treppen hochsteigen. Wir gehen durch die weit offen stehenden Flügeltüren und kommen in den Innenraum. Voller Begeisterung betrachte ich die kunstvolle Vermischung von moderner Gestaltung mit prunkvollen Renaissance-Elementen. Im Foyer bilden antike Säulen und Deckengemälde spannende Gegensätze zu lichten Glaselementen und 3D-Projektionen.

Wie Anna gesagt hatte, geben sich Promis, Superreiche und Geschäftsleute die Ehre. Ich erblicke einige Gesichter, die ich aus den Nachrichten oder Filmen kenne, und sie tragen alle ihre feinsten Roben. Die Frauen konkurrieren offenbar um den tiefsten Ausschnitt, ich habe noch nie so viel blanke Haut gesehen. Jetzt bin ich sehr froh, dass ich den neuen Einteiler trage. So seltsam es erscheint: In dem sexy Outfit verschmelze ich mit der Menge.

Dennoch gelingt es mir nicht, mich mit derselben Selbstverständlichkeit zu bewegen wie Anna. Sie wirkt, als wäre sie selbst ein Promi, der an herumschwirrende Journalisten gewöhnt ist. Hier und da grüßt sie jemanden; vermutlich Bekannte ihres Vaters. Allmählich realisiere ich, dass Anna diese fremde Welt kennt und sich wohl darin fühlt. Damit verleiht sie mir ebenfalls Sicherheit.

»Ach, es ist einfach herrlich hier.« Anna sieht sich schwärmerisch um. Dann hält sie einen Kellner an, der mit einem Tablett voller Champagner herumläuft. »Eine Runde für uns vier.« Der Mann nickt und reicht uns die Gläser.

»Auf Ritter und unseren Gönner«, sagt Anna.

»Auf einen unvergesslichen Abend!« Lachend stoßen wir miteinander an. Die langstieligen Gläser singen so klar, wie nur hochwertiges Glas es vermag. Zumindest habe ich das mal in irgendeiner Promi-Sendung aufgeschnappt; so vornehm geht es bei uns zuhause nicht zu. Es ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich so ein edles Getränk koste. Zwar bekomme ich seit meinem sechzehnten Geburtstag hin und wieder ein Gläschen Sekt zu feierlichen Anlässen, auch wenn Papa es nicht gern sieht. Aber echten Champagner hat es bei uns noch nie gegeben.

Vorsichtig nippe ich am Champagner und reiße erstaunt die Augen auf. Wow, das Zeug schmeckt echt gut. So viel feiner, eleganter im Aroma und dazu diese herrliche Perlung. Wie kristallene Blubberblasen steigt es im Glas auf. Selbst das wirkt irgendwie eleganter als bei profanem Sekt.

Sofort nehme ich noch einen Schluck und lasse das edle Getränk meine Kehle hinabrinnen. Und dann noch einen. Schon bald merke ich die Wirkung. Ich fühle mich leicht und beschwingt. Den anderen scheint es genauso zu gehen, selbst Chiara wirkt viel gelöster als sonst. Als ein Fotograf, ein attraktiver Mann Mitte zwanzig, uns um ein Bild bittet, posieren wir gern für ihn.

»Und, wie sehen wir aus?«, fragt Anna.

Der junge Mann lächelt vielsagend. »Wie aus einem Gemälde. Ihr vier stehlt allen hier die Show.«

»Na, Sie sind mir ja einer! Das sagen Sie doch nur so.« Anna stößt ein kokettes Lachen aus und ich blicke sie erstaunt an.

»Auf keinen Fall. Ihr seid bezaubernd. Seht selbst.« Er zeigt uns das Bild auf dem Display.

Tatsächlich strahlen wir alle vier darauf um die Wette und sehen besser aus als je zuvor. Es ist eine wunderbare Erinnerung an einen Abend, der bestimmt einzigartig wird.

»Das müssen Sie uns unbedingt schicken!« Anna kramt in ihrer Clutch und holt eine elegante Karte heraus. »Hier, meine Visitenkarte. Ich verteile es weiter.«

»Das mache ich gern. Einer schönen Frau kann ich nichts abschlagen.« Er zwinkert ihr zu und schlendert davon.

Anna sieht ihm schwärmerisch hinterher. »So einen Mann möchte ich später haben. Nicht nur gutaussehend, sondern auch charmant!«

Wir kichern alle. Wieder einmal frage ich mich, welchen Lebenspartner mir der Determinator wohl zuteilen wird. Werden wir uns so sehr lieben wie meine Eltern, die ihr Glück auch noch ohne eine KI gefunden haben? Dann dränge ich den Gedanken zurück. Es geht im Moment nicht um unsere Zukunft, sondern ich will das Hier und Jetzt genießen.

Während wir unsere Gläser leeren, wird das Foyer zusehends voller. Da ertönt der Gong, der die Zuschauer in den Saal ruft.

Anna holt ihre Karte heraus, danach schaut sie sich um. »Wir müssen zum Eingang West. Dorthin.« Sie deutet nach hinten und geht zielstrebig voran.

Der Einweiser scannt unsere Karten. »Die sind für die Loge sieben, hier vorne, im ersten Rang. Bitte nehmen Sie die dritte Tür rechts.« Mit einer Hand, die in einem weißen Handschuh steckt, zeigt er in die Richtung.

Aufgeregt gehe ich die Türen entlang, die noch den Charme der alten Zeit besitzen. Sie bestehen aus restauriertem echtem Holz und sind mit Schnitzereien verziert. Dann erkennen wir die Nummer sieben. Anna öffnet die Tür und wir gehen ihr nach. Ich muss einen kleinen Schrei des Glücks unterdrücken, denn wir finden uns in einem Raum wieder, der genauso ist, wie ich es mir erhofft habe. Elegante rote Samtsessel stehen darin. Geschnitzte Applikationen zieren die Lehnen und die gewölbten Beine. Sie sind wunderschön. Ich will auf einen davon zugehen, aber dann flimmert es kurz. Erstaunt erkenne ich, dass mit einem Mal zwei Paare in den eben noch leeren Sesseln sitzen. Die Männer mittleren Alters tragen Smoking, während die deutlich jüngeren Frauen atemberaubende Kleider anhaben. Verwirrt bleibe ich stehen.

»Was ist los?« Anna wäre fast in mich hineingelaufen.

»Unsere Loge. Sie ist besetzt.«

Anna sieht mich stirnrunzelnd an. »Willst du einen Witz machen? Hier ist niemand außer uns.«

Ich will protestieren; ihr sagen, dass dort vorne zwei Paare auf den Stühlen sitzen. Doch als ich erneut hinsehe, ist der Raum wieder leer. Ungläubig schüttele ich den Kopf. »War wohl eine optische Täuschung.«

»Spaßvogel.« Chiara schnaubt und drängt sich an mir vorbei. Emily boxt mich spielerisch in die Seite. Wohlig seufzend lassen sich beide in die Sessel fallen, während ich mich keinen Schritt bewegen kann.

»Ist alles gut bei dir?«, flüstert Anna.

Ich nicke, obwohl ich mich frage, was mich da geritten hat. Wieso sehe ich Menschen, die es nicht gibt? Hastig überspiele ich meine Verwirrung. »Komm, setzen wir uns, bevor Chiara und Emily sich zu breit machen.«

Lachend gehen wir zu den anderen, um ebenfalls Platz zu nehmen. Dabei versinke ich fast in dem weichen Sessel. Neugierig sehe ich mich im Theater um, das man nach der Klimakatastrophe noch prunkvoller restauriert hat, als es zuvor war. Alle Sitze sind dick gepolstert und mit dunkelrotem Samt überzogen, Pseudo-Blattgold ziert die verschnörkelten Balustraden. Das stammt natürlich wie die meisten Dinge im zweiundzwanzigsten Jahrhundert aus dem 3D-Drucker. Aber die Wirkung ist dieselbe, als wenn das Gold echt wäre: Es sieht herrlich pompös aus. Tausende von Lichtdioden sorgen für spektakuläre Effekte. Die gewölbte Decke zeigt kunstvolle Szenen berühmter Stücke.

Während wir es uns in der Loge gemütlich machen, schaue ich hinunter in den Hauptraum, in den die Leute weiter hineinströmen. Eine beschwingte Stimmung liegt in der Luft, denn Ritters neue Show soll sein absolutes Meisterwerk sein. Mittlerweile sind die meisten Plätze besetzt. Ich blicke auf die Uhr. Fast acht; jeden Moment muss es beginnen. Aufregung erfasst mich und ich blicke hinüber zu Anna, die mir sanft zulächelt. Ich bin so froh, dass sie dieses herrliche Erlebnis mit uns teilt. Am Wochenende muss ich unbedingt etwas Schönes für sie besorgen, um mich zu bedanken.

Das Licht wird gedimmt und ich beuge mich automatisch weiter vor, um ja nichts zu verpassen. Dann reißt plötzlich jemand die Tür zu unserer Loge auf. Verwundert drehe ich mich um und sehe einen schwarz gekleideten Mann im Eingang. Das hagere Gesicht ist zu einer Maske blanken Hasses verzerrt. In der Hand hält er ein geriffeltes Messer, das halb so lang ist wie sein Arm.

Schreiend springe ich auf, stolpere so weit weg von ihm wie möglich, in die äußerste linke Seite der Loge. Mein Herz rast vor Panik. Was sollen wir nur machen? Ich sehe, wie Chiara und Emily ebenfalls in die Höhe schießen. Ängstlich drängen sie sich in der anderen Ecke aneinander.

Nur Anna, die am dichtesten an der Tür sitzt, rührt sich nicht vom Fleck. Wie das Kaninchen vor der Schlange starrt sie hoch zu dem Hageren. Auffordernd schaue ich zu ihr. Warum rührt sie sich nicht? Sie muss weg da, und zwar schnell! Da verriegelt der Mann die Loge mit einem tragbaren Locker. Wir sind gefangen. Ich keuche auf vor Entsetzen. Nein, das kann nicht sein! Panisch blicke ich mich um, aber es gibt kein Entkommen.

Der Messermann grinst bösartig, weidet sich an unserer Furcht. Dann geht er langsam auf Anna zu. Sie sitzt immer noch regungslos da und weint. Der Mann macht einen Schritt auf sie zu und noch einen, während Annas Schluchzen immer lauter wird.

Warum um alles in der Welt steht sie denn nicht endlich auf? Es ist doch klar, dass dieser Typ etwas Schreckliches vorhat. Ich will schreien, um sie wachzurütteln. Aber ich habe entsetzliche Angst, den Kerl dadurch auf mich aufmerksam zu machen. Wie sollen wir uns nur gegen einen bewaffneten Irren wehren? Hilfesuchend blicke ich zu Chiara und Emily, die ebenfalls wie versteinert sind.

Dann stürzt der Mann sich auf Anna. »Sterbt, ihr reichen Schweine! Ihr habt es nicht anders verdient!«

Erst jetzt kommt Regung in meine Freundin. Verzweifelt reißt sie die Arme hoch, um sich zu schützen. Doch der Angreifer ist zu schnell für sie. Brutal rammt er ihr das Messer in die Brust. Sofort schießt Blut aus der Wunde und sammelt sich in einer dichten Lache auf dem Boden. Anna brüllt vor Schmerz und ihre Schreie hallen in meiner Seele wider. Ich fühle mich, als ob der Mann auch mein Herz trifft.

Er zerrt das Messer aus ihr heraus, holt aus und treibt es erneut in sie hinein. Anna kreischt ihre Qual hinaus und ich falle mit ein. Tränen rinnen über meine Wangen, als der Verrückte erbarmungslos auf sie einsticht – wieder und immer wieder, während das Leben aus ihr herausfließt. Ich will meiner Freundin helfen, doch ich kann mich nicht bewegen. Die Furcht lähmt mich genauso wie Emily und Chiara, die sich schluchzend aneinander drücken.

Die anderen Zuschauer haben mittlerweile ebenfalls bemerkt, welches Grauen sich in der Loge über ihnen abspielt. Panisch rufen sie durcheinander, die ersten rennen bereits aus dem Saal. Keiner kommt uns zu Hilfe. Die wenigen Morde, die noch geschehen, sind vom Determinator vorherbestimmt. Ein trauriger, aber unabwendbarer Teil des Lebenswegs.

Endlich hört der Killer mit seiner Raserei auf und lässt Anna los. Ihr lebloser Körper sinkt zu Boden, fällt in die eigene Blutlache. Die Augen sind weit aufgerissen vor Furcht und Schmerz. Dieser Anblick ist für mich fast noch schwerer zu ertragen als die Brutalität. Erstickt wimmere ich.

Ein Fehler. Denn nun dreht sich der grausame Killer zu uns, das blutige Messer immer noch in der Hand. »Wer von euch widerlichen Parasiten ist jetzt dran?« Der sanfte Klang seiner Stimme ist reiner Hohn. Wie ein Jäger, der sich überlegt, welches Tier der Herde wohl das Schwächste ist, mustert er uns durchdringend.

Emily rückt mit einem Quieken dichter an Chiara.

»Ihr könnt mir nicht entkommen. Keine von euch.« Knurrend macht er einen Schritt nach vorne.

Chiara und Emily wollen noch weiter zurückweichen, doch die Brüstung schneidet ihnen den Weg ab. Der Mörder, der glaubt, sie in die Enge getrieben zu haben, grinst und hebt das Messer. Aber er hat nicht mit Chiaras Einfallsreichtum gerechnet. Sie lässt sich rückwärts herunterfallen und zieht Emily mit sich. Erleichtert atmete ich auf.

Dann wird mir klar, dass ich allein mit dem Wahnsinnigen bin. Angsterfüllt sehe ich zur rettenden Brüstung. Aber der Mann mit dem Messer steht genau davor. Es gibt für mich keine Möglichkeit, zu fliehen. Er wird mich kaltblütig umbringen. Diese Erkenntnis schnürt mir die Kehle zu. Heiße Tränen brennen in meinen Augen, als ich ihn anstarre.

»Also du.« Der Killer grinst und dreht sich zu mir. Eile scheint er nicht zu haben; vielmehr nähert er sich mir bedächtig. Er weiß ja, dass niemand eingreifen wird, da jeder glaubt, der Mord sei Teil meines Lebenswegs.

Er hebt das Messer, von dem das Blut tropft. Annas Blut! Wieder wimmere ich. Da erhasche ich einen Blick auf zwei Polizisten, die auf der Brüstung der gegenüberliegenden Loge stehen. Sie tragen die dunkelblauen Uniformen der normalen Polizei, ein blauer Schimmer umgibt sie. Also haben sie ihre elektronischen Schutzschirme aktiviert.

»Waffe fallen lassen!« Die Männer richten zeitgleich ihre Pistolen auf den Mörder. Der macht einen weiteren Schritt auf mich zu. Sehnsüchtig warte ich darauf, dass ein Schuss erklingt, aber alles bleibt still. Mein Magen krampft sich vor Furcht zusammen. Ist auch mein Tod vorgesehen? Werden die Polizisten erst danach eingreifen?

Mein Blick wandert wieder zu dem Mörder. Ein gehässiges Lächeln huscht über sein Gesicht. Entschlossen reißt er das Messer hoch, um sich auf mich zu stürzen.

Verzweifelt schließe ich die Augen und warte darauf, dass sich der kalte Stahl in meinen Körper bohrt. Dann kommt endlich der rettende Schuss. Laut knallt es, als einer der Polizisten seine Waffe abfeuert. Der Mörder sinkt zuckend zusammen, als ihn die Stromstöße erfassen und ihn außer Gefecht setzen.

Während der Mann sich neben Annas Leiche auf dem Boden windet, verschwinden die beiden Polizisten von der Brüstung und ich stöhne auf. Helfen sie uns nicht? Dann höre ich Getrappel auf dem Flur, die Tür wird aufgebrochen und meine Retter betreten die Loge. Der Jüngere stürmt auf den Mörder zu und zerrt ihn hoch. »Das sind doch nur Kinder, Mann! Hast du denn gar kein Gewissen?«

»Von wegen. Das sind alles gierige Drecksäcke. Die haben nichts anderes verdient als den Tod. Die opfern alles, nur um noch mehr Kohle zu bekommen, diese verdorbenen Subjekte.« Der Attentäter geifert, beinahe rechne ich damit, dass Schaum aus seinem Mund kommt. Dann taxiert er mich aus unfassbar kalten, grauen Augen und lächelt. »Dich kriegen wir auch noch, hörst du?«

»Ruhe jetzt«, befiehlt der Polizist. »Ich bringe dich dorthin, wo du hingehörst. Lebenslang ins Afrikanische Alcatraz, das verdienst du.« Mit festem Griff führt er ihn ab, die Tür ist längst entriegelt. Verwirrt sehe ich ihm hinterher. Was meint er mit seinem Gefasel? Unsere Eltern verdienen zwar alle gut, aber zur Liga der Superreichen gehört keiner. Selbst Anna nicht.