Der Schmetterling - Gabriella Ullberg Westin - E-Book
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Der Schmetterling E-Book

Gabriella Ullberg Westin

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Beschreibung

Die neue Erfolgsserie aus Schweden – Die Krimis der schwedischen Bestsellerautorin Gabriella Ullberg Westin endlich auf Deutsch

Heiligabend in Hudiksvall, Nordschweden: Henna öffnet dem Weihnachtsmann die Tür, der ihre beiden Kinder überraschen soll. Doch es ist nicht ihr Ehemann in Verkleidung, sondern ihr Mörder. Er drängt sie ins Haus und streckt sie mit mehreren Schüssen nieder. Sie stirbt vor den Augen ihrer Kinder.
Kriminalinspektor Johan Rokka ist nach zwanzig Jahren in Stockholm gerade erst in seine alte Heimatstadt zurückgekehrt und übernimmt die Mordermittlung. Es ist ein schwerer Start, denn Henna war die Frau seines alten Schulfreunds Måns. Im Kreis der Verdächtigen sind Freunde von früher. Dann geschieht ein zweiter Mord. Kennt Rokka den Mörder bereits? Ist er der nächste auf seiner Liste?

  • »Ein herausragender Krimi!« Svenska Dagbladet
  • »Alles in Allem ein Schweden-Klassiker mit Lametta-Effekt.« WDR5
  • »Sehr glaubhaft und fesselnd geschrieben. Immer wieder kommen neue unerwartete Ereignisse zutage. Hervorragend!« Magazin Köllefornia
  • »Ein spannender Erstling, der auf Folgebände hoffen lässt.«news
  • »Viel versprechender Auftakt einer Serie um den Ermittler Rokka.« Mainhattan Kurier

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Seitenzahl: 475

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HarperCollins®

Copyright © 2018 für die deutsche Ausgabe by HarperCollins in der HarperCollins Germany GmbH, Hamburg

© 2015 by Gabriella Ullberg Westin, by Agreement with Enberg Agency Originaltitel: »Ensamfjäril« Erschienen bei HarperCollins, Nordic

Leseprobe: © 2016 by Gabriella Ullberg Westin by Agreement with Enberg Agency Originaltitel: »Springpojken« erschienen bei HarperCollins, Nordic

Covergestaltung: zero-media.net, München Coverabbildung: Lightcapturing by Björn Abt / Getty Images Lektorat: Sibylle Klöcker E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN E-Book 9783959677684

www.harpercollins.de

Der Schmetterling

Widmung

Für Signe & Arvid

Während ihr schlieft

PROLOG

Alles begann auf diesem verdammten, lehmigen Stück Acker.

Ihre Absätze versanken in dem weichen Untergrund, und sie musste sich sehr konzentrieren, damit ihr Gang noch einigermaßen weiblich wirkte. Es war ihr egal, dass sie ihre Schuhe ruinierte, als sie sich Schritt für Schritt dem Fußballplatz näherte, der eher einem Acker glich.

Wenn sie heute daran dachte, hatte sie alles noch genau vor Augen: die grauweißen Nebelschwaden, die sich über die Landschaft legten, eingebettet zwischen den blauen Bergen im Süden und Norden. Die ganze Nacht hatte es geregnet, so ein nachhaltig plätschernder Sommerregen, der die Felder der Bauern durchtränkt hatte, bis das Wasser darauf stand.

In der zweiten Spielhälfte sollte er eingewechselt werden. Alle waren gekommen, da er sich schon auf dem heimischen Fußballfeld sehen ließ. Sie hatte beschlossen, die anderen Kandidaten einfach auszublenden, sie hatten nicht seine Klasse. Dass sie einen Freund hatte, ignorierte sie, irgendwann würde er es schon verstehen. Es galt jetzt oder nie. Das war ihre Chance.

Ihr Styling war nahezu perfekt, und als sie da stand und auf die Spieler wartete, hatte sie auch das passende Lächeln dazu aufgesetzt. Dann sah sie ihn, zum ersten Mal im wirklichen Leben. Er musste sich ducken, als er aus der Tür der Umkleidekabine trat, und er war muskulöser, als sie es sich vorgestellt hatte.

Sie war schon scharf auf ihn gewesen, als sie bei Länderspielen oder dem Champions-League-Finale wie angenagelt vor dem Fernseher gehockt und sich eine Begegnung mit ihm ausgemalt hatte. Doch das war nichts dagegen, was sie nun tatsächlich empfand, als er endlich vor ihr stand, als lebender Mensch, zum Greifen nah. Ihr Blick ließ keine Sekunde von ihm ab, sie zwang ihn, in ihre grünen Augen zu schauen, als er beim Weg aufs Spielfeld an ihr vorbeilief. Und er sah sie an. Mit diesem ruhigen, klaren Blick.

Noch nie war sie sich einer Sache so sicher gewesen. Sie wusste, dass diese Begegnung auf dem Acker erst der Anfang war. Aber wie der Weg zu ihrem Ziel aussehen würde, das hätte sie sich damals nicht träumen lassen.

24. DEZEMBER

Henna Pedersen zuckte zusammen, als es in ihrer rechten Hand vibrierte. Noch immer hatte sie sich nicht an das Handy gewöhnt, obwohl sie sich wirklich bemüht hatte. Måns hatte es ihr geschenkt, weil er der Ansicht war, dass man ohne Handy nicht leben könne. Doch da sie die vergangenen fünfunddreißig Jahre auch sehr gut ohne so ein Gerät bewältigt hatte, war sie überzeugt, dass er falschlag. Sie strich mit dem Finger über das Display und überflog den Text, der angezeigt wurde.

Hocke in der Stadt auf einem Parkplatz. Manuel hat gerade angerufen. Es geht ihm dreckig, er braucht jemanden zum Reden. Ich kann ihn nicht hängen lassen. Sorry. Der Weihnachtsmann kommt ein bisschen später. Tut mir leid! Kuss!

Heiligabend würde also anders verlaufen, als sie es sich vorgestellt hatte, das war ihr schlagartig klar. In der letzten Zeit hat sich nur weniges so entwickelt, wie sie es gehofft hatte, doch sie hatte sich viel Mühe gegeben, damit wenigstens dieser Tag perfekt wurde.

Es war schon eine Weile her, dass Måns ins Auto gestiegen und nach Hudiksvall gefahren war, und mittlerweile war es draußen stockfinster. Sie schauderte. So sehr sie das norrländische Licht im Sommer liebte, so sehr hasste sie diese Dunkelheit, die sich jetzt wie ein Topfdeckel über sie gelegt hatte.

Sie verspürte einen Stich im Unterleib und krümmte sich. Der Schmerz und die Blutungen ließen sich langsam nicht mehr so einfach verbergen. Sie stützte sich an der Wand ab, als sie ins Badezimmer ging, und dort hielt sie sich mit beiden Händen am Waschbecken fest. Sie sah in den Spiegel und bemerkte die geplatzten Äderchen im Augapfel.

Ich muss durchhalten, dachte sie. Wenigstens heute.

»Mama, Mama! Wir haben keine Lust mehr, Filme zu sehen. Wir wollen jetzt, dass der Weihnachtsmann kommt!«

Die Rufe der Kinder rüttelten sie auf. Sie befeuchtete ihr Gesicht mit Wasser, dann suchte sie ein Haargummi und fasste ihre Haare zu einem strengen Pferdeschwanz zusammen. So schnell sie konnte, ging sie hinüber ins Wohnzimmer. Auf dem Flachbildschirm, der gerade erst an eine der großen kahlen Wände montiert worden war, waren zwei Zeichentrickhunde zu sehen, die an einem Tisch saßen und sich gegenseitig Fleischbällchen mit der Schnauze zurollten. Neben dem Tisch stand ein korpulenter Mann und spielte Geige. Für einen Augenblick ließ sie sich von der Herzlichkeit einnehmen, die von dieser Szene ausging. Sie meinte sich zu erinnern, dass sie den Film schon einmal gesehen hatte, früher, als sie selbst klein gewesen war.

»Ich kann verstehen, dass ihr sehr gespannt seid, aber der Weihnachtsmann braucht noch einen Moment«, erklärte sie und versuchte, ihre Anspannung zu verbergen, während sie sich auf den Rand des Sofas sinken ließ.

»Aber er soll jetzt kommen!«, schrie die Tochter.

Als Henna ihre niedergeschlagenen Gesichter sah, warf sie einen Blick auf die Uhr. Noch eine halbe Stunde. Mindestens. Sie stand vom Sofa auf, und ihr wurde schwarz vor Augen, sie schwankte. Besorgt drehte sie sich zu den Kindern um, doch deren Blicke hingen wieder wie gebannt am Fernseher. Als sie wieder sicher stehen konnte, ging sie vorsichtig hinüber in die Küche.

Durch das große Fenster sah sie, dass es noch immer schneite. Der Himmel würde kein Erbarmen haben, bevor er die ganze Gegend unter den weißen Massen begraben hatte, dessen war sie sich sicher.

Sie hing ihren Gedanken nach, aber zuckte zusammen, als in der Ferne ein Motorengeräusch zu hören war. Sie hielt die Luft an, um besser lauschen zu können. Das Geräusch kam immer näher. Sie ging in den Flur. Die Fahrzeuge, die man hier noch hörte, waren entweder auf dem Weg zu ihnen oder zum Nachbarhaus, ein paar Hundert Meter weiter vorn in der Straße.

»Jetzt kommt er, jetzt kommt er!«, rief ihr Sohn.

Obwohl er direkt im Bereich der Dolby-Surround-Anlage saß, hatte auch er das Geräusch gehört. Er rannte hinaus in den Flur, dicht gefolgt von der kleinen Schwester. Sie hüpften aufgeregt hin und her, die Handflächen an der großen Glasscheibe zum Innenhof. Doch alles blieb dunkel, die Kinder waren enttäuscht.

»Mama, der Weihnachtsmann fährt doch mit dem Auto, oder?«

Sie strich ihrem Sohn über das kurz geschnittene Haar.

»Ja, wenn die Rentiere es durch den vielen Schnee nicht mehr schaffen vorwärtszukommen, dann steigt er bestimmt in so ein Auto mit großen Rädern um, so eins, wie Papa auch hat.«

»Mama, wo ist Papa eigentlich?«, fragte die Tochter. »Wird er zu Hause sein, bevor der Weihnachtsmann kommt?«

»Schatz, ich hoffe es. Er ist noch einmal einkaufen gefahren und wollte danach gleich zurückkommen.«

Sie standen noch eine Weile da und warteten, doch die Geduld der Kinder war bald erschöpft, und wieder lockte der Fernseher. Auf dem Bildschirm rannte gerade ein schwarz-weißer Stier in eine große Arena hinein. Henna folgte den Kindern zum Sofa.

Ein plötzliches Knirschen ließ sie innehalten. Es klang wie Schritte auf der Treppe zur Eingangstür. Als das Geräusch noch einmal ertönte, war sie ganz sicher, dass da draußen jemand war.

Vielleicht hatte Måns es doch geschafft, früher zu kommen, dachte sie, und da hörte sie auch schon ein energisches Klopfen an der Haustür. Die Kinder kamen an ihre Seite gerannt. Ihre kleinen Hände suchten Halt in ihrer Hand. Sie holte tief Luft, dann gingen sie gemeinsam zur Tür.

Durch das Fenster im Flur war eine rot gekleidete Figur zu sehen, und da überkam sie ein wohliges Gefühl. Endlich war er zu Hause, Heiligabend konnte beginnen.

Sie umfasste die Türklinke und drückte sie nach unten. Mit einer energischen Bewegung öffnete sie, und dann standen sie schweigend da und warteten. Nichts. Kein Geräusch. Vor ihren Augen begann es zu flimmern, und der Schwindel packte sie wieder. Dass Måns das Ganze derart in die Länge zog und sich versteckte, anstatt einfach hereinzukommen, fand sie ärger­lich.

»Willkommen, lieber Weihnachtsmann«, sagte sie und zwang die Mundwinkel nach oben.

Da knarzten Schritte im Schnee vor der Tür, und die rot gekleidete Gestalt erschien im Türrahmen.

»Hallo, hallo. Gibt es hier denn brave Kinder?«

Die Stimme ließ ihre Muskeln im ganzen Körper erstarren, vom Kopf bis zu den Zehenspitzen. Sie sah auf das freundliche Lächeln unter dem weißen Kunsthaarschnurrbart und blickte in die Augenhöhlen der Gesichtsmaske, die einen netten Ausdruck hatte.

»Mama, der Weihnachtsmann hat aber eine tiefe Stimme …«

Das schüchterne Lachen ihrer Tochter drang nur wie von Weitem zu ihr durch. Henna stand regungslos da, wie gelähmt. Kein Zweifel, wem diese Stimme gehörte: Es war die Stimme des Bösen. In Hennas Blickfeld vermengte sich alles zu einem unscharfen Durcheinander, und sie stolperte rückwärts, bis sie gegen die Wand stieß.

Mit einem dumpfen Knall fiel die Tür zu. Henna kämpfte darum, etwas sehen zu können, doch dieser verwaschene Vorhang wurde dichter und dichter. Der Weihnachtsmann machte einen Schritt auf sie zu, und sie presste sich gegen die Wand. Sie konnte nichts tun, ihre Beine gaben nach, und sie fiel zu Boden.

»Mama!«, schrie die Tochter. »Was machst du da, hör auf!«

Sie spürte die Angst in der Stimme ihrer Tochter und wollte aufstehen, aber ihre Beine trugen sie nicht, also begann sie zu kriechen. Der Boden vibrierte unter den schweren Schritten, die ihr folgten. Sie versuchte zu schreien, doch das Einzige, was aus ihrem Mund drang, war ein heiserer Krächzlaut.

Mit letzter Kraft schleppte sie sich ins Badezimmer. Das Ende war schneller gekommen, als sie erwartet hatte.

***

Nach dem Eingang des Notrufs dauerte es noch dreißig Minuten, bis sie vor Ort waren.

»Hier spricht die Polizei. Wir kommen jetzt rein!«

Pelle Alméns Stimme hallte in dem großen Flur wider. ­Einen Moment lang blieb er auf der Türschwelle stehen und ließ seinen Blick schweifen. Versuchte zu begreifen, was ihm bevorstand. Dass so etwas in Hudiksvall passierte, an Heiligabend. Dass so etwas überhaupt geschah.

Der Schnee wirbelte zur Tür herein, und er hörte Maria Nilssons kurze schnelle Atemzüge direkt hinter sich. Er ging voran, und Maria folgte ihm.

»Hallo! Hier spricht die Polizei. Ist jemand hier?«

Keine Antwort. Flimmerndes Licht schlug ihnen entgegen, und das Geräusch von einem laufenden Fernseher war irgendwo drinnen zu hören. Pelle Almén warf einen Blick über die Schulter. Maria Nilsson war ununterbrochen in Kontakt mit der Einsatzzentrale.

Seine Gedanken drehten sich im Kreis. Der Täter konnte noch vor Ort sein. Es konnte mehrere Tote geben.

Sein Puls raste, in seinen Schläfen pochte es. Als Erster vor Ort. Der einzig verfügbare Geländewagen im ganzen Kreis. Verdammtes Schneewetter. Verdammte Verkehrsunfälle, die die Kollegen abzogen.

Im Flur liefen sie an einer geschlossenen Tür vorbei, die vermutlich zum Badezimmer führte. Blutspuren auf dem Boden, am Türgriff ebenso.

Sie gingen weiter zum Wohnzimmer, ihr Blick fiel aufs Sofa. Alméns Herzschlag beruhigte sich, als er sah, dass Måns Sandin dort saß, beide Kinder fest an sich gedrückt. Der weltberühmte Fußballspieler war kaum wiederzuerkennen. Seine aufrechte Haltung hatte er verloren, die weit aufgerissenen Augen starrten ins Leere, und das dunkle Haar war zerzaust. Eins der Kinder, dem Pferdeschwanz nach zu urteilen seine Tochter, hatte das Gesicht in seinem Pullover vergraben. Ihr Bruder saß da mit den Armen um die angezogenen Beine und wich mit dem Blick nicht vom Fernsehapparat.

»Pelle Almén und Maria Nilsson von der Polizei Hudiksvall. Können Sie uns sagen, was passiert ist?« Nur dank seiner Professionalität gelang es Almén, seine Stimme zu kontrollieren, sodass sein Tonfall normal klang.

»Sie ist tot.«

Måns Sandins Stimme versagte. Er drehte den Kopf langsam zu Pelle um, und ihre Augen trafen sich. Die Leere in seinem Blick war unangenehm.

»Sie liegt im Badezimmer, oder?«, fragte Maria Nilsson und ging eilig hinüber zu der verschlossenen Tür.

»Ja … sie … sie liegt auf dem Boden«, stammelte Sandin und starrte hinab auf seine blutverschmierten Hände.

Ein paar Sekunden später hörten sie Maria Nilssons Schrei. Dann kam sie aus dem Badezimmer gestolpert, das Gesicht im Jackenärmel vergraben.

»Verdammt … das kann ich nicht!«

»Ich muss Sie bitten, mich in unseren Wagen zu begleiten, jetzt gleich«, sagte Almén und drehte sich zu Måns Sandin um. »Es ist zu Ihrer eigenen Sicherheit.«

Måns nahm beide Kinder auf den Arm.

»Ich … ich habe ihr nichts angetan«, sagte er und sah sich mit verunsichertem Blick noch einmal um. Almén ermahnte ihn erneut; jetzt war Eile geboten. Sie mussten das Gelände absperren. Das Haus durchsuchen. Den Krankenwagen rufen. Dafür sorgen, dass die Kinder irgendwo untergebracht wurden. Sandin auf die Polizeiwache mitnehmen. So viele Spuren wie möglich sichern, bevor die Techniker ihr Weihnachtsessen beendet hatten und übernehmen konnten. Wie sollten Maria und er das alles alleine schaffen?

Als sie an der Badezimmertür vorbeikamen, blieb Måns stehen. Das kleine Mädchen hob den Kopf und sah Almén traurig an. »Der Weihnachtsmann war gar nicht lieb«, sagte sie. »Er hat gemacht, dass Mama eingeschlafen ist.«

Almén schluckte und beobachtete Måns. Wartete auf eine Reaktion. Doch alles, was er sah, war ein völlig versteinertes Gesicht, abgesehen von einem minimalen Zucken im Mundwinkel.

Der Schnee reichte ihnen bis zu den Knien, als sie zum Streifenwagen stapften. Bevor Almén die Tür öffnete, sprach er Måns noch einmal an.

»Ich muss Ihnen noch ein paar Fragen stellen, aber das machen wir auf der Wache. Erst muss ich mich darum kümmern, dass Ihre Kinder an einen sicheren Ort gebracht werden. Ihre Eltern wohnen in Forsa?«

»Ja … sie wohnen im Skarmyraväg. Sie haben keine Ahnung, was geschehen ist«, antwortete er und warf noch einen Blick aufs Haus, bevor er die Kinder ins Auto schob.

»Wir nehmen Kontakt zu ihnen auf. Bis auf Weiteres wird sich jemand vom Jugendamt um die Kinder kümmern. Das klingt vielleicht etwas drastisch, aber so ist einfach die übliche Vorgehensweise.«

Das Mädchen hielt sich beide Hände vors Gesicht. Allein der Gedanke daran, was die Augen der Kleinen hatten sehen müssen, bereitete Almén eine Gänsehaut.

»Du musst das Gelände sofort absperren, so schnell es geht.« Er sah Maria eindringlich an. »Die Journalisten werden ganz schnell Wind davon bekommen.«

Maria nickte nur.

»Ich bleibe hier so lange stehen«, sagte Almén. »Dann kannst du dich zu ihnen setzen, bis jemand vom Jugendamt da ist. Ich muss das Haus sichern.«

Das Adrenalin ließ seinen Körper zittern, als er durch den Schnee zurückstapfte. Der Weg zu dem großen Hauseingang kam ihm wie ein enger Tunnel vor, und mit tiefen Atemzügen versuchte er, sich selbst zu beruhigen. Ein Gedanke saß ihm quälend im Nacken: Er musste seine Familie benachrichtigen, die zu Hause saß und auf ihn wartete. Einen gemütlichen Heiligabend würde es dieses Jahr nicht geben.

***

»Wie spät war es, als Sie nach Skålbo kamen?«

Pelle Almén hatte jede kleine Veränderung, jedes diskrete Mienenspiel, das sich auf Måns Sandins Gesicht abzeichnete, im Blick. Sie saßen sich an dem rechteckigen Tisch im Büro gegenüber.

»Es muss … so um halb fünf gewesen sein«, antwortete Måns. »Ich war spät dran.«

Måns musste sich räuspern, um deutlich zu sprechen, mit der angenehmen und vertrauten Stimme, die Almén schon hundert Mal in verschiedenen Fernsehinterviews gehört hatte.

»Wann wollten Sie denn eigentlich zu Hause sein?«

»Wir hatten verabredet, dass ich gegen 16 Uhr zurück bin, als Weihnachtsmann verkleidet. Ich bin losgefahren, als im Fernsehen gerade die alljährliche Disney-Weihnachtssendung anfing. Den Kindern hab ich gesagt, ich fahre zum Einkaufen. Diese Idee, den Weihnachtsmann zu spielen, war mir nicht ganz geheuer, aber wir wollten für die Kinder das perfekte Weihnachtsfest im neuen Haus organisieren. Seit wir das Haus im Sommer gekauft haben, haben sie sich darauf gefreut. Haben ohne Ende Fragen gestellt, immer wieder wollten sie irgendwas über den Weihnachtsmann wissen. Und welche Weihnachtsgeschenke sie bekämen. Und jetzt ist alles anders …« Måns’ Wangen zuckten, und Almén senkte den Kopf und starrte auf seine Notizen. Die Situation war unangenehm, und er musste sich konzentrieren, damit sein Mitleid ihn nicht davon abhielt, seine Arbeit ordentlich zu erledigen.

»Gibt es jemanden, der bezeugen kann, dass Sie das Haus verlassen haben?«

Måns starrte durchs Fenster in die Finsternis und runzelte die Stirn.

»Peter Krantz, ein Freund von mir«, sagte er und seufzte. »Wir haben uns bei ihm auf einen Kaffee getroffen, bevor ich weitergefahren bin.«

»Wohin sind Sie gefahren?«

»Ich habe die letzten Besorgungen für das Weihnachtsessen gemacht. Dann bin ich herumgefahren und habe mir die Zeit vertrieben.«

»Und warum sind Sie dann spät dran gewesen, als Sie nach Hause kamen?«

Måns rutschte mit seinem Stuhl zurück, sodass das Stuhlbein über den Boden kratzte.

»Ein Freund aus Italien rief an. Er hat jede Menge Pro­bleme, bei ihm ist gerade richtig Land unter. Er musste mit jemandem reden und ich – ich konnte einfach nicht Nein ­sagen … Ich habe über eine Stunde auf einem Parkplatz gestanden und mit ihm gesprochen.«

Immer wieder ließ ihn seine Stimme im Stich, und Almén schob seinen Notizblock beiseite.

»Mir ist klar, dass das hier für Sie sehr belastend ist. Sehen Sie sich imstande weiterzumachen?«

»Ja … schon, ich kann nur einfach nicht begreifen, dass sie tot ist.« Måns schlug sich die Hände vors Gesicht.

»Wie heißt der Freund, mit dem Sie telefoniert haben?«

»Battista. Manuel Battista. Wir haben zusammen beim AC Florenz gespielt.«

»Und welche Art von Problemen hat er?«

Plötzlich reckte sich Måns, und Almén war von seiner charismatischen Ausstrahlung stark beeindruckt.

»Das hat doch nun wirklich nichts mit Henna zu tun?«

Sein Blick nagelte Almén nahezu fest. Es war offensichtlich, dass er sich dessen bewusst war, dass seine Prominenz ihm eine gewisse Macht verlieh, und einen Augenblick lang war Almén verunsichert, wie er fortfahren sollte.

»Ich kann Ihre Sichtweise verstehen, dennoch muss ich Sie bitten, meine Frage zu beantworten«, sagte er so entschieden wie möglich.

»Ach, der hat viele Probleme«, fing Måns an. »Letzten Sommer hat er sich einen Kreuzbandriss zugezogen. Die Verletzung heilt schlecht, und deshalb hat Manuel seitdem nicht mehr auf dem Platz gestanden. Er ist in eine Art Depression geschlittert. Es ist eine riesige Umstellung, wenn man plötzlich nicht mehr im Rampenlicht steht …« Måns hob langsam den Kopf und sah Almén an.

»Ist Ihnen irgendetwas Besonderes vor dem Haus aufgefallen, als sie zurückkamen?«

»Nichts, nur der verfluchte Schnee. Keine Spuren, gar nichts.«

Almén machte sich Notizen.

»Was haben Sie gesehen, als Sie die Haustür öffneten?«

»Erst habe ich geklopft. Hab gewartet. Das Weihnachtsmann-Kostüm hatte ich gar nicht mehr anziehen können, aber das war mir dann egal. Ich fand es merkwürdig, dass keiner die Tür aufmachte, ich wusste doch, wie sehr die Kinder darauf gewartet hatten. Wie auch immer, ich bin dann reingegangen, dachte, vielleicht hätten sie mein Klopfen überhört. Oder auch die Hoffnung schon aufgegeben, dass der Weihnachtsmann überhaupt noch kommt. Es war total still. Als ich am Badezimmer vorbeilief, sah ich sie. Das ganze Blut. Mir war sofort klar, dass es vorbei war … dass sie … dass sie tot war.«

»Und was haben Sie dann gemacht?«

Måns schlug die Handflächen auf den Tisch, und einen Augenblick lang dachte Almén, er würde sich jetzt über den Tisch auf ihn stürzen.

»Na, was glauben Sie? Ich konnte gar nichts machen … nichts … sie badete in ihrem eigenen Blut. Kapieren Sie das? Meine Kinder haben keine Mutter mehr. Ich habe keine Henna mehr! Und jetzt will ich einen Anwalt, wenn Sie die Befragung fortsetzen wollen!« Måns schrie seine Wut heraus, bevor ihn die Tränen übermannten und sein massiger Körper wie ein Häufchen Elend zusammensackte.

Almén stützte die Ellenbogen auf die Tischplatte und vergrub sein Gesicht in den Händen. Er war durcheinander. Als er den Kopf wieder hob und Maria ansah, entdeckte er Tränen in ihren Augen. Er nahm seinen Block in die Hand und ging seine Notizen durch. Måns Sandin. Der nächste Angehörige des Opfers. Der Statistik nach der Mörder, allerdings sprach Alméns Bauchgefühl dagegen. Oder? Er ließ ein paar Sekunden verstreichen, dann sah er Måns ins Gesicht.

»Ich werde jetzt vorlesen, was ich notiert habe«, erklärte er. »Dann können Sie mir mitteilen, ob ich Ihre Antworten korrekt wiedergebe. Danach müssen wir Sie leider vorerst hierbehalten. Morgen findet eine ordnungsgemäße Vernehmung statt, und selbstverständlich steht Ihnen ein Rechtsbeistand zu.«

»Warum müssen Sie mich hierbehalten?«, rief Måns aufgebracht. »Ich habe doch nichts getan!«

Almén holte einmal tief Luft und spürte, wie sich sein ­Magen zusammenschnürte.

»Es tut mir leid«, antwortete er. »Wir müssen Ihr Alibi überprüfen. Wir werden unsere besten Kriminaltechniker dafür einsetzen. Vertrauen Sie uns.«

Måns schüttelte langsam den Kopf und warf Almén einen enttäuschten Blick zu.

***

Die Uhr auf seinem Handy zeigte 19.04 Uhr an Heiligabend, als Johan Rokka sich auf dem Dielenboden im Wohnzimmer niederließ. Er fuhr sich mit den Händen über den kahl rasierten Kopf und starrte auf die Umzugskartons, die sich neben ihm stapelten. Hier würde er jetzt also wohnen, in einem kleinen Holzhäuschen in Hudiksvall. Gutes altes Hudik. Dreihundert Kilometer von Stockholm entfernt. Nah dran oder weit weg?

Im Moment hätte er genauso gut am Ende der Welt sein können. Aber da es gerade erst zwei Stunden her war, dass er seinen Fuß zum ersten Mal in dieses Haus gesetzt hatte, war es vielleicht nicht der richtige Zeitpunkt, die Entscheidung, in seinen Heimatort zurückzukehren, infrage zu stellen. Trotzdem konnte er es nicht lassen.

Wenn sich jemand einbildete, dass er wegen des Gehalts umgezogen sei, konnte er nur laut lachen. Geld war für keinen einzigen Studenten der Polizeihochschule der Grund für die Berufswahl. Und er konnte nicht einmal vorgeben, wieder in der Nähe seiner Eltern sein zu wollen. Die waren vor zwei Jahren nach Spanien ausgewandert, ohne dass er es wusste. Auf einer Weihnachtskarte hatten sie ihm kurz und knapp mitgeteilt, dass sie nicht die Absicht hätten, jemals zurückzukommen. Nein, die einzig glaubwürdige Erklärung für diesen Schritt war, dass die Stelle als leitender Kriminalinspektor im Dezernat für schwere Kriminalität seine Karriere voranbrachte. Und dass er mit einem sehr kompetenten Kriminalkommissar, Antonsson, zusammenarbeiten konnte. Zwar war er hier auf einer kleinen Polizeiwache, aber lernen würde er trotzdem einiges.

Er stand auf und öffnete einen seiner Umzugskartons. Die dicken Fotoalben lagen mit dem Buchrücken nach oben, und er fuhr mit dem Finger darüber, während er die ordentlichen Beschriftungen las. An dem Album, in dem die alten Oberstufenbilder eingeklebt waren, blieb er hängen. Eine Erinnerung, die nur für einen Moment auftauchte, genügte, um den wohlbekannten Kloß im Hals hervorzurufen, und er machte den Karton schnell wieder zu. Er schluckte und schüttelte über sich selbst den Kopf, weil er tatsächlich nicht in der Lage war zuzugeben, dass er mit diesem Umzug eine ganz eindeutige Absicht verfolgte.

Er schob die unangenehmen Gedanken beiseite und griff zu seinem Handy. Das Headset hing wie ein verheddertes Knäuel daran, und ihm war klar, dass seine Geduld niemals reichen würde, um diese Knoten aufzufummeln. Mit einem Ruck riss er es vom Gerät ab, ging hinüber ins Badezimmer und warf es in die Toilette. Er ließ die Hose herunter und versuchte, das Headset mit seinem Urinstrahl zu versenken. Dass es ihm nicht gelang, ärgerte ihn enorm. Dann drückte er die Spülung und sah zu, wie die Wasserkaskade das weiße Kabel mit sich riss und es im Ablaufsystem verschwand.

Während er in die Küche ging, klickte er auf die oberste seiner Favoritennummern. Kaum war der Klingelton hörbar, nahm Victor Bergman auch schon ab.

»Spreche ich etwa mit Kriminalkommissar Johan Rokka?«

Rokka musste lächeln, als er die vertraute Melodie des Dialekts aus Helsingland hörte.

»Du hast wirklich überhaupt keine Ahnung. Kriminalin­spektor Rokka, wenn ich bitten darf«, antwortete er und lachte.

»Polizist ist Polizist. Wo ist da der Unterschied?«

»Na ja, du weißt doch, erst wenn man dem Staat ein paar Jahre mehr gedient hat als ich und seine Lorbeeren gesammelt hat, dann darf man sich auch Kommissar nennen.«

Ein langes und tiefes Seufzen erklang am anderen Ende der Leitung.

»Ja, ja. Du wirst jedenfalls die Ganoven in Hudik jagen. Darauf können wir uns doch vielleicht einigen?«

»Ja sicher. Pelle Almén und ich halten die Stellung.«

Rokka versuchte, enthusiastisch zu klingen, aber bezweifelte, dass es ihm gelang.

»Ein Wahnsinnsteam«, sagte Victor und lachte. »Und wo wirst du wohnen? Bei Mama und Papa?«

»Wohl kaum. Die sitzen jetzt als gebackene Rosinen an der Costa del Sol. Nein, ich bin hier in Åvik untergekommen, ein alter Klassenkamerad hatte noch ein kleines Häuschen zur Verfügung. Glücklicherweise konnte ich die Miete drücken, sodass sie selbst mit dem Lohn eines Bullen zu stemmen ist.«

»Hast du gut gemacht. Ein Haus ist schön.«

»Ja, und wer hat schon etwas gegen einen gut gebauten Poli­zisten in seinen besten Jahren als Mieter?«

Victors Lachsalve hallte noch in seinen Ohren, als zwei Tonsignale erklangen und Rokka auf sein Telefon sah. Pelle Almén rief an, und Rokka überlegte kurz, ob er abnehmen sollte oder nicht.

»Wenn man vom Teufel spricht«, verabschiedete er sich von Victor. »Ich muss auflegen, bis bald!«

»Eins noch … morgen ziehen wir doch wohl um die Häuser, was?«, rief Victor noch. »Am ersten Weihnachtstag sind alle in Hudik.«

»Ja, klar«, sagte Rokka und drückte das Gespräch weg.

»Hi, Almén, lieber Freund und Kollege«, sagte Rokka, als er das nächste Gespräch angenommen hatte. Am anderen Ende der Leitung hörte er schnelle Schritte und hastige Atemzüge.

»Jemand hat Sandins Frau erschossen«, keuchte Pelle Almén.

»Verdammt, was sagst du da?«

»Die reinste Hinrichtung. In ihrem Haus in Skålbo.«

Das katapultierte Rokka fünfundzwanzig Jahre zurück. Als Victor und er mit ein paar anderen Freunden in derselben Fußballmannschaft wie Sandin gespielt hatten. Bevor die größeren schwedischen Vereine ein Auge auf ihn geworfen und seine Karriere so richtig in Gang gebracht hatten.

»Ich wollte dich nur vorwarnen«, sagte Pelle Almén. »Bengtsson wird dich bitten, deinen Dienst vorzeitig anzutreten und mit den Ermittlungen zu beginnen. Alle anderen Kollegen haben offenbar frei oder sind mit anderen Fällen beschäftigt. Herzlich willkommen bei uns.«

»Bengtsson?«

Einen Moment lang dachte Rokka, er hätte sich verhört. Der Chef der Kriminalabteilung hieß doch Antonsson?

»Ingrid Bengtsson ist unser ›großer Chef‹«, erklärte ­Almén. »Na ja, was heißt groß, sie geht dir höchstens bis zum Bauchnabel, würde ich sagen. Sie ist die Nachfolgerin von Antonsson, der dich eingestellt hat. Er weilt ja nicht mehr unter uns.«

»Was?«, rief Rokka aus und ließ sich auf einen der weißen Sprossenstühle fallen, die am Küchentisch standen. »Davon weiß ich nichts. Was ist passiert?«

»Herzinfarkt«, antwortete Almén. »Ein paar Tage vor Weihnachten.«

Rokka starrte auf die Tischplatte. Aus welchem Grund hatte man ihm diese Information vorenthalten?

»Der arme Kerl. Und wie ist die Stimmung auf der Wache?«

»Wenn ich ehrlich bin, es geht so«, sagte Almén. »Die Leute sind etwas nervös. Ingrid Bengtsson ist … na ja, am besten machst du dir selbst ein Bild.«

Sie beendeten das Gespräch, und Rokka lehnte sich zurück. Jetzt hatte er also einen neuen Chef. Aber das war im Moment Nebensache: Jemand hatte Måns Sandins Frau umgebracht. Und das in Hudiksvall, seiner Heimatstadt. Rokka wurde klar, dass die neue Stelle ihm mehr abverlangen würde, als er sich je hätte träumen lassen.

Er öffnete den Browser im Handy und rief die letzten Nachrichten im schwedischen Fernsehen auf. Der Mord in Skålbo war der Aufmacher. Zugeknöpft sprach der diensthabende Polizeibeamte in Gävle ins Mikrofon des Journalisten. Er sagte genau das, was zu erwarten war: Noch kein Verdächtiger. Keine Informationen zur Mordwaffe. Und der Name des Opfers wurde auch noch zurückgehalten. Alles mit Verweis auf die laufenden Ermittlungen.

Rokka nahm an, dass die Gerüchteküche bereits brodelte. Bald würden sie bestätigen müssen, was dem im ganzen Land beliebten Prominenten geschehen war.

19. SEPTEMBER

Lieber Bruder,

ich sitze hier vor diesem leeren Blatt Papier mit dem Stift in der Hand und frage mich, wie ich es dir erklären kann. Ich möchte, dass du verstehst, wie alles kam, und ich habe nur diese einzige Chance.

Du fragst dich wahrscheinlich, warum ich mich gerade an dich wende. Aber die Sache ist ganz klar: Obwohl wir uns schon seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen haben, bist du der einzige Mensch, dem ich voll vertraue.

Hier in Florenz hat der Herbst Einzug gehalten, und mein Leben steht vor einer großen Veränderung. Obwohl ich so oftentwurzelt worden bin, tue ich mich mit Veränderungen schwer.

Eigentlich paradox.

Oder doch eine ganz logische Erklärung?

Wie auch immer. Zurückzuschauen auf die Zeit, in der alles begann, oder vielmehr endete, tut weh. Aber wie soll man die Dinge als Kind beeinflussen? Kinder tragen nie die Schuld.

Dennoch macht uns das Leben zu den Menschen, die wir sind, und führt uns dorthin, wo wir jetzt stehen, in genau diese Situation.

Aber ich will nicht, dass du dir Sorgen machst, und ich würde mir auch wünschen, dass du keine Zeit damit verschwendest, traurig zu sein. Ich glaube daran, dass in allem, was geschieht, ein tieferer Sinn liegt.

Ein tröstender Gedanke?

Eine Wahrheit?

Diesen Brief schreibe ich dir nur zur Sicherheit. Falls etwas passiert, oder besser: Sobald etwas passiert, möchte ich, dass du weißt, was zu tun ist. Denn wenn du diese Zeilen liest, dann gibt es von uns beiden nur noch dich.

25. DEZEMBER

Janna Weissmann schloss die Eingangstür des grünen Holzhauses hinter sich und trat in den Innenhof hinaus. Der Neuschnee reichte ihr bis zu den Fesseln und durchnässte ihre Laufschuhe unmittelbar. Sie lief die ersten schnellen Schritte über den Hof und erreichte die Lotsgata, von wo aus sie auf die frisch vom Schnee geräumte Storgata abbog. Es war Viertel vor sechs, so wie jeden Tag. Endlich hatte es aufgehört zu schneien, und am noch dunklen Himmel waren die Sterne klar und deutlich zu sehen.

Ein paar Minuten später befand sie sich auf Höhe des Stads­hotel. Sie konnte kaum noch reagieren, als eine Tür aufging und ein Mann auf den Gehweg torkelte, direkt vor ihre Füße. Mit voller Geschwindigkeit rammte sie seine Seite.

»Können Sie nicht aufpassen!«, schimpfte Janna und machte einen Schritt weg von ihm.

»Wenn du zu dieser Tageszeit und zu dieser Jahreszeit joggst, dann bist du selber schuld. Reg dich ab, Mädel«, lallte er.

Janna sah ihn scharf an, dann lief sie weiter. Gleichzeitig wurde sie das Gefühl nicht los, dass ihr der Mann bekannt vorkam. Doch sie verdrängte den Gedanken und versuchte, sich wieder auf Depeche Modes Enjoy the Silence zu konzentrieren, das aus ihren Ohrhörern dröhnte. Das Laufen brauchte sie als Ventil. Wenn ihre Schritte und ihr Herzschlag die richtige Frequenz gefunden hatten, waren alle überflüssigen Gedanken wie weggeblasen, und dieses Gefühl half ihr, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Doch an diesem Morgen funktionierte es nicht. Erinnerungen an den gestrigen Abend kamen immer wieder hoch.

Es hatte damit angefangen, dass die Kollegen von der Schutzpolizei gerufen hatten. An Heiligabend, doch das war ihr egal. Im Gegenteil, es war für sie fast ein Segen gewesen. Alles, was sich in dieser Jahreszeit ereignete, war etwas für die anderen, nichts für sie. In der Stadt, im Fernsehen, in den Zeitungen. Überall fröhliche Familien. Kinder. Weihnachten, wohin man auch sah. Ihre Arbeit vertrieb die Mischung aus Schwermut und Unruhe, die sich in ihr breitmachte.

Ihr und dem anderen Kriminaltechniker war sofort klar, dass es sich nicht um einen Routinefall handelte. Sie hatten es mit einem Mord zu tun, der ein ganzes Land und die Welt des Fußballs schockieren würde. Doch so etwas nahm Janna als Herausforderung an, und als sie im Auto auf dem Weg nach Skålbo saßen, bündelte sie ihre Konzentration ganz auf das, was sie gelernt hatte. Sie stellte sich den Tatort vor. Ging im Geiste jedes Muster durch, um Details und Abweichungen von dem, was normal oder zu erwarten war, sofort zu erfassen.

Doch nichts hätte sie auf das vorbereiten können, was sie zu sehen bekam, als sie das Haus betrat und die Tür zum Bade­zimmer öffnete. Diese helle, reine Haut neben diesem unwiederbringlich riesigen Dunkelroten. Eingeweide und zerfleischte Haut vermischt zu einem blutigen Brei.

All I ever wanted, all I ever needed …, diese weiche und ein bisschen wehmütige Stimme bohrte sich in Jannas Gehörgänge. Sie lief langsamer. Wechselte ins Gehen. Blieb ganz stehen. Sie beugte sich vor, ihre Hände umschlossen die Knie. Ihre Lungen rangen verzweifelt nach Sauerstoff.

Janna hatte Henna wieder vor Augen, und so sehr sie sich auch wünschte, dieses Bild loszuwerden, es gelang ihr nicht. Sie war aus diesem Leben herausgemetzelt worden, doch das war nicht einmal das Unheimlichste an diesem Fall. Solche Tatorte hatte Janna schon gesehen. Das Schlimmste war, dass Henna gelächelt hatte. Dass sie aussah, als sei sie zufrieden damit, dass es nun niemandem mehr gelingen würde, sie ins Leben zurückzuholen.

Janna zwang ihre Beine, sich vorwärtszubewegen. Sie brachte ihre Füße dazu, einen immer schnelleren Takt auf den freigeräumten Fußweg zu schlagen, der um den See Lillfjärden führte. Die Wut in ihr wuchs und wuchs, und jeder Schritt peitschte sie vorwärts, trieb sie an, noch fokussierter, noch analytischer vorzugehen. Auf den letzten Kilometern ihrer Joggingrunde lief sie schneller als je zuvor.

Sie stolperte in ihr Haus hinein und brach im Flur zusammen. Etwas entfernt hörte sie ein Schnurren, und kurz da­rauf war Argento, ihr silberfarbener Cornish Rex, bei ihr. Er strich ihr um die Beine und sah sie mit seinen grünen Augen an. Die Nähe ihres Katers ließ Janna für einen Moment alles um sich herum vergessen. Sie streckte den Arm aus, um ihm über den Rücken zu streicheln. Der schöne Argento. Der frühere Glanz seines gekräuselten Fells war schon lange stumpf geworden, und unter ihrer Handfläche spürte sie seine Rippen. Jetzt waren sie noch spitzer geworden. Widerwillig musste sie sich eingestehen, dass es wirklich an der Zeit war, den Tierarzt wieder aufzusuchen. Nach den Feiertagen. Verfluchte Feiertage.

Sie zog die Sportklamotten aus und stellte sich unter die Dusche. Ihre Atmung hatte sich noch immer nicht beruhigt. Das war nicht normal. Janna drehte das Wasser auf und ließ ihr schwarzes Haar wie einen klitschnassen Vorhang übers Gesicht fallen, dann schloss sie die Augen. Wieder tauchten die Bilder von Henna auf. Das Lächeln erschien ihr jetzt noch viel deutlicher. Janna stieß den Hinterkopf an die Fliesen und ließ das Wasser auf ihre Brüste sprudeln. Ihre Verachtung für das Böse im Menschen fing an, die Kontrolle zu übernehmen. Zu ihrem Glück wusste Janna, dass das Böse immer eine Schwäche besaß, wie klein und versteckt sie auch sein mochte. Und die würde sie finden.

Sie ließ die Arme an den Seiten herunterhängen. Ihre Augen brannten hinter den geschlossenen Lidern, und ihr Kummer wuchs. Als sie den Wasserstrahl auf ihr Gesicht lenkte, ließ sie den Tränen freien Lauf.

***

In Hudiksvall befand sich das Polizeirevier in einem länglichen Bauwerk aus gelbem Ziegelstein. Ein heruntergekommenes und hässliches Gebäude, wenn man die Leute fragte, und Johan Rokka war geneigt, diese Ansicht zu teilen. Wenn man das Haus von der Südseite her betrachtete, befand sich der Haupteingang ganz hinten, und dort war er mit Ingrid Bengtsson, der neuen Leiterin der Kriminalpolizei, verabredet. Schon als er die blauen Glastüren passierte, sah er sie.

»Johan Rokka«, stellte er sich vor und begrüßte sie mit ­einem festen Handschlag. »Etwas früher zur Stelle als geplant.«

»Ingrid Bengtsson, herzlich willkommen«, sagte sie, erwiderte seinen Händedruck und sah zu ihm auf. Ihr Gesicht schien erst angespannt, doch dann machte sich ein Lächeln breit. Sie hatte blondes Haar und einen fransigen Pony. Rokka kamen gleich die Trendfrisuren aus den Achtzigerjahren in den Sinn, und er konnte sich einen Kommentar, der ihm schon auf der Zunge lag, gerade noch verkneifen. Besser einen Gang runterschalten. Langsam vorfühlen. Nicht jeder teilte seinen Humor. Eigentlich eher wenige, und das war vielleicht gut so. Er lächelte sie so breit an, wie er konnte, während er die Daunenjacke auszog und über seinen Arm legte.

»Ich bin sehr froh, dass Sie den Dienst schon früher antreten konnten«, sagte sie. »Der Staatsanwalt ist anwesend, und wir gehen den Fall gerade im Konferenzraum durch.«

Ihre Stimme klang, als hätte sie jahrelang geraucht, und sie redete schnell, aber deutlich. Sie nahm ihn von oben bis unten ins Visier, dann blieb ihr Blick auf Brusthöhe hängen. Es dauerte eine Sekunde, bis er begriff, was sie sah. Sein T-Shirt. Er hatte völlig vergessen, es zu wechseln. Er sah hinab auf die Buchstaben.

I’m an asshole. So if you don’t want your feelings hurt, don’t talk to me.

»Na, Sie werden wir brauchen können … hoffe ich«, sagte Ingrid Bengtsson und räusperte sich.

Rokka blieb ein paar Meter hinter ihr, als sie zum Besprechungszimmer gingen. Ihre Beine bewegten sich unglaublich flink, und er musste große Schritte machen, um mitzuhalten. Auf dem Weg trafen sie ein paar Kollegen in Uniform, die rasch zur Seite traten und grüßten.

Als sie zum Sitzungsraum kamen, blieben sie an der Tür stehen. Rokka ließ den Blick über die vier Personen wandern, die an dem abgewetzten Tisch saßen. Seine Kollegen. Zwei von ihnen kannte er bereits. Pelle Almén selbstverständlich. Er saß da, die sehnigen Arme verschränkt, mit gewohnt ruhigem, vertrauenerweckendem Blick. Neben ihm hatte der Staatsanwalt, Per Vidar Sammeli, Platz genommen. Er trug ein weinrotes Hemd und eine schwarze Lederweste. Seine grauen Haare standen in alle Richtungen ab. Weil es sich bei dem Verbrechen um einen Mord handelte und ein großes Interesse der Medien zu erwarten war, hatten sie ihn zum Leiter des Ermittlungsverfahrens bestimmt. Rokka war zu Ohren gekommen, dass Per Vidar Sammeli kein Freund von hier­archisch angelegten Arbeitsgruppen war, sondern den Polizisten viel Verantwortung überließ.

»Ich freue mich, Ihnen Johan Rokka vorstellen zu können«, sagte Ingrid Bengtsson. »Er hätte seine Stelle eigentlich erst nach den Feiertagen angetreten, aber so, wie es jetzt aussieht, können wir jeden Mann gebrauchen, der zur Verfügung steht. Er wird diese Besprechung übernehmen und für die polizeilichen Ermittlungen verantwortlich sein. Bestimmte Maßnahmen wird er selbstständig durchführen.«

Sie lächelte und nickte Rokka aufmunternd zu.

»Hier oben im Norden ereignen sich Dinge, die wirklich weit über das Normale hinausgehen«, begann Rokka. »Wie Sie gehört haben, laufen bei mir die Fäden zusammen, aber ich bin genauso wie Sie Teil des Teams, das heißt, diesen Job machen wir alle gemeinsam. Meine Laufbahn ist ziemlich holprig, ich bin früher Streife gefahren, war dann in der Bezirkseinsatzzentrale und zuletzt bei der Polizeibehörde. Ich werde Ihnen später mehr von mir erzählen, jetzt möchte ich, dass wir erst einmal die Ermittlungen auf den Weg bringen.«

Rokka machte eine Pause und betrachtete die neuen Kollegen noch einmal eingehend. Alle Blicke waren auf ihn gerichtet. Sie erwarteten offenbar, dass er noch etwas sagte. Vier Personen, von zweien hatte er nicht die geringste Ahnung, wie sie tickten, und einen Fall, der Schwedens größten Sportler betraf.

»Bevor wir loslegen, möchte ich gern eine Sache klarstellen«, fuhr er fort. »Ich spreche Klartext. Wer irgendwas versaut, kommt zu mir und legt die Karten auf den Tisch, wir finden dann schon eine Lösung. Wenn ich etwas im Nach­hinein erfahre, werde ich stinksauer.«

Sie starrten ihn an. Rokka bemerkte, dass Pelle Almén mit aller Not ein Lachen unterdrücken musste. Auch wenn er von Rokka als Polizist noch nicht viel mitbekommen haben konnte, so erinnerte er sich bestimmt daran, wie es war, als sie jung waren. Die neuen Kollegen konnten gerne denken, was sie wollten. Indem er die Marschrichtung von Anfang an vorgab, wollte er Zeit sparen. Ingrid Bengtsson räusperte sich diskret, als er sich am Tisch niederließ.

»Jetzt würde ich gerne wissen, mit wem ich es zu tun habe«, sagte Rokka und rieb sich die Hände. Sein Blick fiel auf die zwei Personen, die neben Pelle Almén saßen. Eine Frau, schätzungsweise Anfang dreißig, stellte sich als Janna Weissmann, Kriminaltechnikerin und IT-Forensikerin vor. Ihr unförmiges Oberteil tat alles, um die Form ihres Körpers zu verhüllen, doch Rokka war sich ziemlich sicher, dass ihm die Physis darunter den Atem verschlagen würde. Neben Janna saß Hjalmar Albinsson, Kriminaltechniker und medizinischer Biologe. Seine Brille befand sich auf seiner Nasenspitze, die Augen hatte er halb geschlossen.

»Herr Albinsson, könnten Sie mit ein paar Worten umreißen, was die technischen Untersuchungen bislang ergeben haben«, sagte Ingrid Bengtsson und nickte ihm auffordernd zu.

Hjalmar Albinsson zuckte zusammen und schob die Brille zurück auf die Nasenwurzel. Er war in Rokkas Alter. Dunkles Haar, schon ein bisschen licht oben am Kopf. Er zog einen Laptop zu sich heran, der auf dem Tisch lag, und als es ihm unter großer Anstrengung gelungen war, das Kabel am Projektor anzuschließen, wurde ein Bild auf die heruntergelassene Leinwand projiziert.

Es zeigte Henna Pedersen. Sie lag auf der Seite, ihr Kopf ruhte auf dem rechten Arm. Der lange, gewellte Pferdeschwanz war von Blut getränkt, das in ungleichmäßigen Mustern um sie herumgeflossen war. Wenn man nur das Gesicht betrachtete, konnte man nicht eindeutig feststellen, ob sie tot war, eher sah es so aus, als läge sie da und habe kurz die Augenlider geschlossen, und dabei lächelte sie schüchtern.

Johan Rokka erkannte sie wieder. Die helle Haut, der hübsche Mund mit diesem charakteristischen Muttermal direkt im Mundwinkel. Er hatte Fotos von ihr gesehen, auf denen sie mit Måns Sandin für irgendeine Premiere posiert hatte. Ihre schlanke Silhouette und ihr nordisch schlichter Stil hatten sie zu einer Art Modeikone gemacht.

»Ich nehme an, Ihnen ist bekannt, dass es sich bei der Toten um die fünfunddreißigjährige Henna Pedersen handelt. Sie wurde am Nachmittag des 24. Dezember in ihrem Haus erschossen«, setzte Hjalmar Albinsson an. »Die Tochter hat Andeutungen gemacht, dass der Täter als Weihnachtsmann verkleidet war. Mit allergrößter Wahrscheinlichkeit stand er in der Tür zum Badezimmer, als er die Schüsse abfeuerte. Den Abstand zwischen der Pistolenmündung und dem Opfer schätzen wir auf ungefähr zwei Meter. Die erste Kugel schlug erst im rechten Unterarm ein und dann in der rechten Seite des Torsos. Offensichtlich erkannte Henna Pedersen, was geschehen würde, und hielt die Arme schützend vor sich. Da­raufhin scheint der Täter sein komplettes Magazin auf den Bauch des Opfers abgefeuert zu haben.«

Hjalmar Albinsson starrte geradeaus ins Leere, als er sprach, und klang, als hätte er den Bericht zuvor auswendig gelernt. Rokka versuchte, seinen Blick einzufangen, doch es gelang ihm nicht.

Albinsson fuhr fort: »Bemerkenswert ist auch, dass sie diesen Gegenstand um den Hals trug.«

Er klickte ein Bild weiter, und da erschien eine Plastiktüte, die ein schmales Lederband enthielt.

»Warum ist das merkwürdig?«, fragte Rokka.

»Måns Sandin hat ausgesagt, dass sie das nie zuvor getragen hat.«

Rokka nickte.

»Okay. Und was gibt es zu Sandin?«, fragte er.

Pelle Almén richtete sich auf, aber ließ die Unterarme auf den Stuhllehnen liegen.

»Måns Sandin hat den Notruf getätigt. Gegen 14 Uhr war er von seinem Haus in Skålbo aufgebrochen. Er hatte in der Stadt etwas zu erledigen, bevor zu zurück nach Hause fahren und seine Kinder als Weihnachtsmann verkleidet überraschen wollte. Als er in der Stadt war, bekam er einen Anruf von einem alten Mannschaftskameraden aus Italien. Offenbar ein so wichtiges Gespräch, dass Måns im Wagen sitzen blieb und später als vereinbart nach Hause kam. Zu Hause angekommen erwartete ihn dann dieses Szenario.«

»Können wir sicher sein, dass er das Haus verließ?«

»Ein Freund von ihm hat bestätigt, dass sie sich getroffen haben, und eine Kassiererin im Supermarkt kann bezeugen, dass Sandin dort eingekauft hat. Seine eigenen Angaben, wann er wieder nach Hause kam, konnten wir allerdings bislang nicht bestätigen.«

»Und was ist mit dem Weihnachtsmann-Kostüm?«, fragte Rokka.

»Das lag in der Küche auf dem Boden. Måns hat ausgesagt, er habe es nicht getragen.«

»Das werden wir noch feststellen. Habt ihr mit den Kindern sprechen können?«

»Nein, das Jugendamt hat das in der akuten Situation strikt abgelehnt. Wir haben keine Ahnung, wie viel sie von dem Verbrechen gesehen haben. Ich werde bei der zuständigen Kontaktperson beim Jugendamt gleich nachfragen, wenn wir hier fertig sind«, erklärte Pelle Almén. Er holte eine Dose Snus heraus, formte sorgfältig eine kleine Portion Tabak und stopfte sie sich unter die Oberlippe. Dann griff er ein Fläschchen Desinfektionsmittel und rieb sich die Hände, bevor er die Arme wieder vor dem Körper verschränkte und sich nach hinten lehnte.

»Und was ist mit den Telefonaten?«, fragte Rokka.

»Ich habe die Daten schon analysiert«, antwortete Janna Weissmann. »Sandins Handy war am Weihnachtstag zwischen 14 und 16 Uhr mit vier verschiedenen Nummern verbunden. Eine war tatsächlich die von Manuel Battista in Italien. Aber wir warten noch immer auf die GPS-Daten von Telia, seinem Telefonanbieter, um das Alibi zu überprüfen. Außerdem werden wir als Nächstes die anderen Nummern verfolgen, von denen er angerufen wurde.«

»Und Hennas Handy?«

Janna Weissmanns und Johan Rokkas Blicke trafen sich für einen kurzen Moment, dann wich sie ihm aus.

»Das Auffälligste, was ich finden konnte, war eine unbekannte Nummer, die auf der Anrufliste schon einmal etwa einen Monat vor Weihnachten auftauchte«, sagte sie. »Telia wird uns alle Informationen zur Verfügung stellen.«

»Hat die Spurensicherung draußen etwas sichern können?«

»Bei den Schneemengen war das unmöglich«, erklärte Janna und sah ihn kurz an. »Wir haben eine Schicht Neuschnee vom Hof entfernt, und so ist es uns immerhin ge­lungen, ein paar Fußabdrücke und Reifenspuren von zwei Fahrzeugen sicherzustellen. Ein Muster passt zu Sandins ­Lexus RX 450h. Das andere hat eine ganz andere Spurbreite, mit großer Wahrscheinlichkeit handelt es sich dabei um einen Schneepflug.«

Rokka nickte.

»Ich habe ein Interview mit dem diensthabenden Polizeibeamten in Gävle gesehen«, sagte er. »Wann geben wir die Identität des Opfers bekannt?« Er sah Ingrid Bengtsson fragend an.

»Die Journalisten hängen uns natürlich wie Bluthunde an den Fersen«, erwiderte sie. »Im Moment ist der Polizeibeamte in Gävle für diesen Teil zuständig. In Kürze werden sie die Identität des Opfers preisgeben. Es hat eine Weile gedauert, bis man den einzigen noch lebenden Verwandten von Henna Pedersen benachrichtigen konnte, einen Bruder, der auf einem Hausboot in der Nähe von Bodø in Nordnorwegen wohnt. Er gibt an, solche neumodischen Dinge wie Telefone nicht zu benötigen. Die Polizei in Bodø hat ihm die Nachricht vor einer Viertelstunde überbracht. Per Hubschrauber«, berichtete sie.

»Und hat der Bruder ein Alibi?«, fragte Rokka.

»Die Kollegen vor Ort haben ein paar Informationen von Birk Pedersen durchgegeben. Er hat seine Schwester angeblich seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen. Es bestand nur ein sehr sporadischer Briefkontakt. Heiligabend habe er allein auf seinem Schiff verbracht, gibt er an«, sagte Bengtsson.

»Das ist wohl als Alibi nicht gerade belastbar?«

Bengtsson sah auf. Eine Braue bewegte sich nach oben.

»In diesem Fall dauert es etwa zwei volle Tage, von Haustür zu Haustür zu gelangen«, entgegnete sie. »Das heißt, wenn man Glück mit den Verbindungen hat. Ihr Bruder besitzt keinen Führerschein. Selbst wenn er sich direkt nach dem Mord von Skålbo nach Bodø auf den Weg gemacht hätte, dann wäre er jetzt noch nicht zu Hause gewesen. Es sei denn, er hätte einen Privatchauffeur gehabt.«

Mein Gott, dachte Rokka und schüttelte den Kopf. Normalerweise erstaunte ihn so schnell gar nichts.

»Und was sagt die Rechtsmedizin? Gibt es da was?«, fragte er.

»Die Leiche ist zur Obduktion nach Uppsala gebracht worden«, sagte Hjalmar Albinsson. »Es wird schätzungsweise eine Woche dauern, bis uns ein vollständiger Bericht vorliegt. Vielleicht bekommen wir vorab schon ein paar Informationen. Die Kugeln, von denen das Opfer getroffen wurde, sind ins Staatliche Kriminaltechnische Institut versendet worden. Wir wissen bereits, dass wir es mit einem kleineren Kaliber zu tun haben. Auch die Kleidung mitsamt dem Weihnachtsmann-Kostüm ist jetzt im SKI, mit dem Zweck der Feststellung von Schmauchspuren, meine ich.«

Rokka hatte selten jemanden gehört, der sich so umständlich ausgedrückt hatte. Er betrachtete Hjalmar Albinsson eingehend und stellte fest, dass sich nur dessen Mund bewegte, sein Gesichtsausdruck blieb immer gleich, während er sprach.

»Und was ist mit den Nachbarn, haben die was bemerkt?«, wollte Rokka wissen.

»Die direkten Nachbarn sind über die Feiertage verreist«, teilte Pelle Almén mit und schob seine Pulloverärmel wieder nach unten. »Wir sind noch dabei, die anderen Nachbarn am Skålboväg zu befragen, sind aber bislang nicht weit gekommen. Die, mit denen wir sprechen konnten, haben nichts Auffälliges gehört oder gesehen.«

»Und was wissen wir über Henna Pedersens letzte Tage?«

»Nicht viel. Måns’ Anwalt wird gleich da sein, und wir könnten dann mit der Vernehmung beginnen«, antwortete Almén.

»Ich muss zunächst selbst raus nach Skålbo.« Rokka übernahm. »Und mir schnellstmöglich ein Bild vom Tatort machen. In Ordnung?«

Hjalmar Albinsson bewegte den Kopf fast unmerklich ­nickend nach unten. Janna rutschte auf ihrem Stuhl hin und her und sah Rokka eindringlich an.

»Wir sind immer noch dabei, Spuren im Schnee zu sichern, deshalb bitte ich Sie, vorsichtig zu sein.«

»Selbstverständlich. Wenn ich zurück bin, unterhalte ich mich ein bisschen mit Måns Sandin«, sagte Rokka.

»Okay. Und was machen wir mit den Journalisten?«, fragte Pelle Almén und strich sich mit der Hand über den Bauch. »Die rufen sogar schon bei mir an.«

»Bei diesem Fall werden die Journalisten nicht wie die Bluthunde auf uns losgehen«, erklärte Rokka. »Sondern vielmehr wie geile Zwergschimpansen. Die werden sich mit nichts abspeisen lassen und alles probieren, jede Lücke bei uns Dorfpolizisten aufzuspüren. Das heißt, keiner von uns darf sich zu dem Fall äußern. Alle, die fragen, werden an den diensthabenden Polizeibeamten in Gävle verwiesen! Habe ich das so richtig verstanden, Frau Bengtsson?«

Rokka drehte sich zu seiner Chefin um.

»Äh … ja … das ist korrekt«, bestätigte sie.

»Almén kommt mit zum Tatort. Alle anderen möchte ich sprechen, wenn wir zurück sind. Noch Fragen?«

Rokka stand auf und schob den Stuhl an den Tisch, während er in verdutzte Gesichter starrte.

»Ja«, sagte Ingrid Bengtsson. »Ich hätte ein paar Fragen. Aber das können wir später in meinem Büro klären, wenn Sie zurück sind.«

Rokka bemerkte, dass ihre heisere Stimme eine Spur schärfer geworden war.

***

Måns Sandin bewegte sich noch immer zwischen Schlaf und Erwachen, als er den Arm ausstreckte, um sich zu vergewissern, dass sie neben ihm lag. Als seine Hand jedoch ins Leere griff, ohne Henna sanft zu berühren, öffnete er die Augen. Um ihn herum war alles dunkel, und er schloss die Augen wieder, zwang sich zurück in den Zustand, in dem er nicht das, was am Tage Realität war, ertragen musste.

Vor seinem inneren Auge stieg er noch einmal die Treppe zu seinem Haus in Skålbo hinauf. Er kam viel zu spät, doch er wusste, dass das vergessen sein würde, sobald er vor ihnen stünde. Er klopfte an die schwere Holztür und wartete einen Moment. Die Stimmen, die voller Erwartung nach ihm riefen, kamen immer näher, und die kleinen Füße trampelten über den Boden, bevor sie die Tür einen Spalt öffneten. Da standen die Kinder vor ihm, da stand Henna. Mit ihrem langen, gewellten Haar, den braunen Augen, den weichen Lippen. Genau so wie damals, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Sie lächelte und begrüßte ihn. Doch als er den Fuß in die Tür setzen wollte, fiel er kopfüber in die Tiefe.

Måns schnellte hoch. Er wankte hin und her und musste sich abstützen, um nicht von der Pritsche zu fallen. Die Wirklichkeit holte ihn ein, durchdrang seine Gedanken und brachte sein Herz zum Rasen. Er musste der Wahrheit ins Auge blicken, so brutal, wie sie war: Henna gab es nicht mehr. Sie war fort. Tot. Er fasste sich an die Stirn. Verzweifelt versuchte er, sich in Erinnerung zu rufen, was er gesehen hatte, als er ins Haus gekommen war. Was war geschehen? Und was geschah jetzt, um ihn herum und besonders in ihm? Er war hier, in der Polizeiwache von Hudiksvall, war vorläufig festgenommen und hatte keine Ahnung, wann er die Zelle wieder verlassen durfte. Er stand unter Verdacht. Das Wort nagte an ihm. Unter Verdacht, seine eigene Frau ermordet zu haben. Morgen sollte er vernommen werden, danach lag es in den Händen des Staatsanwalts, ob man ihn verhaftete. Die Polizisten hatten ihm mitgeteilt, dass man ihn schlimmstenfalls drei Tage hier festhalten könne. Völliger Wahnsinn. Dass sie ihn hier einfach einbuchten konnten, obwohl er unschuldig war! Der Polizist hatte zwar den Eindruck gemacht, als habe er seiner Aussage geglaubt, und gesagt, sie würden alles tun, um Beweise zu finden, die ihn entlasteten. Doch dieses Versprechen gab Måns nicht wirklich viel Hoffnung.

Er strich über das hellblaue Hemd. Der Baumwollstoff fühlte sich steif an. Seine eigene Kleidung war beschlagnahmt worden, das Handy ebenso. Er würde Ewigkeiten brauchen, bis er verstehen würde, wie er in diese Situation hatte geraten können. Die Vorstellung, hier für immer eingesperrt zu bleiben, rief eine derartige Panik in ihm hervor, dass er den Impuls, sich zu übergeben, mit aller Kraft unterdrücken musste.

Er musste an all die Journalisten denken, die jetzt die Stifte spitzten, um die Geschichte in den Medien zu zerpflücken. In aller Ausführlichkeit. In Schweden, in der ganzen Welt. Sie würden ihn jagen. Erbarmungslos. Und dieses Mal ging es um einen Verlust, mit dem er nicht umgehen konnte. Auf diesen Gegner hatte er sich nicht vorbereiten können, hatte ihn nicht analysieren können.

Verzweifelt fuhr er sich durchs Haar. Er hatte noch keine Möglichkeit gehabt, seinen Mitarbeiter, der die Pressekontakte managte, zu erreichen. Nur Stefan Fantenberg, seinen Anwalt, hatte er kurz sprechen können. Måns griff fest in die kunststoffbeschichtete Matratze und schwankte mit dem Oberkörper vor und zurück. Der Druck, der sich vom Magen her durch den Brustkorb nach oben ausbreitete und ihm fast die Luft abschnitt, machte ihn panisch. Er fragte sich, wie jemand, der Klaustrophobie hatte, es hier aushielt. Dann hielt er inne. Ihm kam der Gedanke, dass er sich möglicherweise an dem einzig sicheren Ort befand. Hier würde ihn kein Journalist der Welt erwischen. Und auch niemand anderes.

Seine Gedanken kamen wieder in Fahrt. War es die richtige Entscheidung gewesen, Florenz zu verlassen, um nach Hudiksvall zurückzukehren? Er hatte es zumindest geglaubt. Aber was war der Grund dafür gewesen, dass Henna in der letzten Zeit so bedrückt und unruhig gewesen war? Er war nicht zu ihr durchgedrungen. Sie hatte ihn ferngehalten. Oder hatte es an ihm gelegen, hatte er zu wenig Interesse gezeigt? Vielleicht würde er nicht hier sitzen, wenn er sich nur die Zeit genommen hätte, ihr in Ruhe zuzuhören.

Er stand auf und stellte sich mit dem Rücken an die Betonwand. Wenn er diesen Ort verlassen würde, dann war er allein mit zwei Kindern. Mit zwei kleinen Menschen, die noch lange Zeit auf ihn angewiesen waren. An Geld würde es selbstverständlich nicht fehlen, er würde ihnen alles kaufen können, was sie sich nur wünschten. Und es war ihm ein Leichtes, sie zum Turnen und zum Fußballtraining mitzunehmen, daran hätte auch er Spaß. Aber was wäre mit allem anderen, mit allem, worum sich Henna allein gekümmert hatte, wenn er verreist war? Was man für kein Geld der Welt kaufen konnte? Die Geborgenheit, das Gefühl von zu Hause. Wenn sie so einen kleinen, traurigen Menschen instinktiv und ganz natürlich in die Arme geschlossen hatte? Ganz selbstverständlich, wenn ein Kind es brauchte. Wie sollte er das den Kindern geben können? Natürlich, er liebte seine Kinder, aber bis gestern war er ein Vater auf Abstand gewesen. Das waren die Fakten. Seine eigene Entscheidung. Natürlich war seine Karriere der Grund dafür gewesen. Aber, wenn er ehrlich war, hatte er damit auch eine ganz bequeme Ausrede. Es war einfacher so. Das konnte er sich sogar selbst eingestehen. Wie sollte er ein alleinerziehender Vater für zwei kleine Menschen sein, die er in Wirklichkeit gar nicht richtig kannte? Alleinerziehend. Allein.

Er drehte sich um und schlug mit den Fäusten gegen die Betonwand. Der Schmerz in den Händen war lähmend. Trotzdem schlug er immer und immer wieder zu, bis die Oberfläche der Wand die Haut aufriss und sich rote Linien über die Arme verteilten, die an den Ellenbogen Tropfen bildeten. Das hier war keine Option. Das war nicht er. Nicht Måns Sandin.

***

Als das Getriebe erst ein schneidendes, dann ein dröhnendes Geräusch von sich gab, konnte Pelle Almén sich das Lachen nicht verkneifen. Beim zweiten Versuch gelang es Johan Rokka schließlich, den ersten Gang einzulegen, und sie fuhren los in Richtung Skålbo.

»Und du bist bekannt dafür, einer der wenigen Polizisten hier zu sein, die einen Führerschein für alle Fahrzeugklassen haben.« Pelle Almén schüttelte den Kopf.

Die Straße war einsam und verlassen, als sie an den pastellfarbenen Holzhäusern im Stadtteil Fiskarstan vorbeifuhren. Der Schnee lag dick auf den Dächern, sogar die Fensterbretter waren zugeschneit. Aufgrund der Straßenverhältnisse konnten sie nicht einmal die zugelassenen fünfzig Stunden­kilo­meter fahren.

»Ich bin froh, dass du mitkommst«, sagte Rokka. »Ich will, dass du bei den Ermittlungen auch weiterhin dabei bist. Ist mir scheißegal, ob du zur Schutzpolizei gehörst oder nicht.«

Almén sah ihn unschlüssig an und zögerte mit seiner Antwort.

»Von mir aus sehr gern. Aber mach dich darauf gefasst, dass das nicht jeder gerne sieht.«

»Du, mal im Ernst«, fragte Rokka. »Diese Bengtsson, die ist eine richtige alte Kratzbürste, oder?«

»Ja, das könnte sein«, antwortete Almén und sah durch die Seitenfenster. »Aber sie hat Erfahrung wie nur wenige.«

Rokka rutschte auf dem Fahrersitz hin und her. Die Scheibenwischer quietschten rhythmisch monoton, während sie die geschmolzenen Schneeflocken von der Scheibe wischten.

Bengtsson würde sicher Verständnis haben, dachte er. Alméns Qualifikation überstieg die eines normalen Schutzpolizisten bei Weitem. Neben einigen Jahren im Streifenwagen hatte er in verschiedenen Dezernaten im Bezirk Stockholm gearbeitet. Im Hinblick auf die miserable personelle Ausstattung vor Ort wäre es Idiotie, ihn wieder auf Streife zu schicken, zumindest bis sie in ihren Ermittlungen in irgendeiner Form einen Durchbruch erzielt hatten.

»Fragt sich, was für einen ersten Eindruck du hinterlassen hast«, sagte Almén und wandte den Blick nicht von der Straße ab. »Dich werden sie so schnell nicht vergessen.« Er musste lachen.

»Meinst du, ich war zu deutlich?«