Der Schneesturm - Vladimir Sorokin - E-Book + Hörbuch

Der Schneesturm Hörbuch

Сорокин Владимир

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Beschreibung

Eine verzaubernde Parabel über das heutige Russland Was beginnt wie eine Erzählung aus dem 19. Jahrhundert, entpuppt sich als fantastische Irrfahrt durch das ländliche Russland einer nahen Zukunft. Ein überraschend zartes Buch des bedeutendsten zeitgenössischen Schriftstellers Russlands. Garin, ein Landarzt, will so schnell wie möglich in den Ort Dolgoje, um die Menschen dort gegen eine rätselhafte Krankheit zu impfen, die jeden Infizierten zum Zombie macht. Doch es herrscht Schneesturm, Garins Pferde sind erschöpft, also heuert er den einfältigen Brotkutscher Kosma an, dessen Schneemobil von fünfzig winzigen Pferden gezogen wird. Und damit beginnen die Merkwürdigkeiten erst: Auf seiner Reise durch das unablässige Schneetreiben begegnet das ungleiche Paar Zwergen und Riesen, es gibt ein Radio mit »lebendigen« Bildern, eine Paste, die Filz »wachsen« lässt, eine Wunderdroge und vieles mehr – eine Märchenwelt mit Ingredienzien einer Hochtechnologie-Gesellschaft. Eingebettet in den erzählerischen Kosmos von Tolstoi, Tschechow und Gogol, versetzt »Der Schneesturm« ein grotesk-imaginäres Russland in den Abgrund zwischen den Zeiten – ein zugleich heiteres wie verstörendes Buch, das einmal mehr Sorokins herausragende Stellung unter den zeitgenössischen russischen Schriftstellern untermauert. »Vladimir Sorokin ist eine Kultfigur in Russland.« Spiegel online

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Zeit:5 Std. 43 min

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Vladimir Sorokin

Der Schneesturm

Roman

Aus dem Russischen von Andreas Tretner

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Vladimir Sorokin

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Motto

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Inhaltsverzeichnis

Ein Toter legt sich schlafen

Aufs kahle, weiße Bett.

Vorm Fenster Schneegestöber,

So friedlich, still und nett …

Alexander Blok

Inhaltsverzeichnis

»Verstehen Sie denn nicht, ich muss da unbedingt hin!«, rief Doktor Garin mit zorniger Geste. »Patienten warten auf mich. Kranke Menschen! Dort herrscht eine Epidemie! Sagt Ihnen das Wort etwas?«

»Selbstverständlich verstehe ich Sie, Verehrtester, wie könnte ich nicht?«, erwiderte der Stationsvorsteher, den Oberkörper servil vornübergebeugt, die Fäuste gegen das Wams aus Dachspelz gepresst. »Sie müssen dahin, das verstehe ich gut. Die Sache ist nur: Ich habe keine Pferde und kriege vor morgen auch keine mehr rein!«

»Keine Pferde, wie kann das sein?«, empörte sich Garin. »Was soll eine Station ohne Pferde für einen Sinn haben?«

»Sie ist zum Ausleihen von Pferden da, und momentan sind alle ausgeliehen. Alle!«, wiederholte der Stationsvorsteher so laut, als spräche er mit einem Schwerhörigen. »Vielleicht schickt der Himmel uns am Abend noch eine Postkutsche. Aber das kann man nie wissen!«

Garin nahm den Kneifer ab und schaute den Stationsvorsteher an, als sähe er ihn gerade zum ersten Mal.

»Dass da Menschen im Sterben liegen, ist Ihnen hoffentlich klar, mein Lieber?«, fragte er.

Der Stationsvorsteher löste die Fäuste und streckte die Hände offen dem Doktor entgegen, so als bäte er um Almosen.

»Wie sollte mir das nicht klar sein? Natürlich ist mir das klar. Ehrbare, fromme Leutchen rafft es dahin, das ist ein Trauerspiel, jawohl! Aber schauen Sie doch mal aus dem Fenster, was draußen los ist!«

Garin setzte den Kneifer wieder auf und richtete den Blick seiner geschwollenen Augen mechanisch zum Fenster, durch dessen Eisblumen kaum etwas zu erkennen war: ein trüber Wintertag, weiter nichts.

Der Doktor sah zur laut tickenden Wanduhr in Form eines Baba-Jaga-Hexenhäuschens. Sie zeigte Viertel nach zwei.

»Es geht schon auf drei!«, rief er und schüttelte missmutig sein kräftiges, kurz geschorenes, an den Schläfen leicht ergrautes Haupt. »Drei! Es wird bald wieder dunkel, begreifst du das?«

»Ei freilich, wie sollte ich nicht, allerdings …«, setzte der Stationsvorsteher zu einer neuen Litanei an, doch der Doktor fiel ihm schroff ins Wort.

»Pass mal auf, Alter. Es ist mir egal, wo du die Pferde hernimmst, grab sie aus wegen mir! Wenn ich dort heute nicht mehr hinkomme, bringe ich dich vor Gericht. Wegen Sabotage!«

Das Wort, von Staats wegen bekannt, wirkte auf den Stationsvorsteher offenbar einschläfernd. Er hörte auf zu salbadern und schien wegzunicken. Seine hüftlahme Gestalt in dem kurzen Wams, den Plüschhosen und den hohen weißen, mit gelbem Leder abgesetzten Filzstiefeln erstarrte im Halbdunkel der geräumigen, überheizten Wohnstube. Dafür regte sich seine Frau, die bis dahin still mit ihrem Strickzeug hinter einem Kattunvorhang gesessen hatte; ihr breites, ausdrucksloses Gesicht, das anzuschauen der Doktor nach den zwei Stunden, die er hier versessen, Tee zu Himbeer- und Pflaumenkonfitüre getrunken und in einer Ausgabe der Niwa vom vorigen Jahr geblättert hatte, bereits leid war, lugte um die Ecke.

»Ob wir den Krächz fragen oder was meinst, Michalytsch?«

Der Stationsvorsteher kam umgehend zu sich.

»Den Krächz fragen, das ginge auch«, erwiderte er, der Frau halb zugewandt, während er sich bedächtig mit der rechten Hand den linken Arm kratzte. »Aber es sollen ja amtliche Pferde sein.«

»Das ist mir egal, was für welche«, rief der Doktor. »Hauptsache Pferde! Pferde! Pfeer-dee!«

Der Stationsvorsteher schlurfte zum Stehpult.

»Falls er nicht beim Oheim in Choprowo ist, könnte man ihn fragen …«

Beim Stehpult angekommen, nahm er den Hörer von der Telefongabel, drehte ein paarmal die Kurbel, richtete sich auf und reckte, die Linke in die Hüfte gestützt, seinen Glatzkopf, so als wollte er in diesem Moment über sich hinauswachsen.

»Grüß dich, Mikolai Lukitsch. Michalytsch am Apparat. Sag mal, unser Brotkutscher ist nicht zufällig bei euch? Nein? Na dann ist ja gut. Nein, klar, wie sollte er. Bei dem Wetter, das ist ja nicht die Möglichkeit. Also dann, ich danke schön.«

Er legte den Hörer behutsam auf die Gabel und kam zurück zum Doktor geschlurft. In seinem Gesicht – von unbestimmbarem Alter, das fliehende Kinn nachlässig rasiert – schien etwas zum Leben erwacht.

»Sieht so aus, als wäre unser Krächz nicht nach Choprowo gefahren. Dann ist er zu Hause und liegt auf dem Ofen. Weil, wenn er die Brotfuhre macht, ist er anschließend immer gleich beim Oheim zum Teetrinken und Schwätzen. Sodass wir unser Brot nie vor dem Abend kriegen.«

»Der Mann hat Pferde?«

»Er hat ein Mobil.«

»Ein Mobil?«

Der Doktor holte stirnrunzelnd sein Zigarettenetui hervor.

»Wenn Sie ihn überreden könnten, brächte er Sie mit dem Mobil nach Dolgoje.«

»Und was ist mit meinen?«, fragte Garin, die Stirn in Falten, da ihm in dem Moment sein Schlitten samt Kutscher und Gespann im Stall einfiel.

»Die könnten dahier warten, bis dass Sie zurück sind. Dann könnten Sie mit denen gleich wieder nach Hause fahren.«

Der Doktor rauchte an, tat einen tiefen Zug.

»Und wo ist er, dein Brotkutscher?«, fragte er, den Rauch ausstoßend.

»Nicht weit von hier«, sagte der Stationsvorsteher und wies mit dem Daumen über seine Schulter. »Mein Wasja bringt Sie hin. Wassilein!«

Es blieb still.

»Er wird drüben im Neubau sein«, sagte die Frau des Stationsvorstehers hinter dem Kattun, trat hervor und verließ den Raum, ihr Rock schleifte über die Dielen. Der Doktor nahm seinen langen, schweren Parka mit Biberlammfutter vom Haken, fuhr hinein, setzte die Trappermütze mit Fuchsschwanz auf, legte den langen weißen Schal um, zog die Handschuhe über, ergriff die beiden großen Bügeltaschen und trat entschlossen über die Schwelle der vom Stationsvorsteher aufgehaltenen Tür hinaus in den dunklen Flur.

Der Landarzt Platon Iljitsch Garin war ein großer, kräftiger zweiundvierzigjähriger Mann mit einem steten Ausdruck konzentrierter Unzufriedenheit im schmalen, sorgfältig glatt rasierten Gesicht. ›Ihr haltet mich ab von dem, was meine hehre und einzige Pflicht und Bestimmung ist, was ich besser kann als ihr alle und womit ich den größten Teil meines erwachsenen Lebens zugebracht habe‹ – so schien dieses Gesicht mit der großen, geraden Nase und den verschwommenen Augen sagen zu wollen. Im Vorhaus stieß er auf die Frau des Stationsvorstehers und Sohn Wasja, der ihm sogleich die beiden Taschen abnahm.

»Das siebte Haus von hier«, gab der Stationsvorsteher ihm auf den Weg, während er vorauseilte und die Tür nach draußen öffnete. »Sei so gut, Wassilein, und bring das Herr Doktorchen.«

Garin trat ins Freie und blinzelte. Es war nicht sehr kalt, ein paar Grad unter null, bedeckt; immer noch, wie vor drei Stunden, wehte es feinen Schnee vom Himmel.

»Gar zu viel wird er von Ihnen nicht verlangen«, mutmaßte der Stationsvorsteher, fröstelnd im Wind. »Er ist nicht sehr auf Gewinn aus. Hauptsache, er lässt sich bewegen.«

Wasja stellte die Taschen auf der in die Veranda eingezimmerten Bank ab, verschwand noch einmal im Haus und kam in einer Pelzjoppe, Mütze und Filzstiefeln wieder, ergriff die Taschen, tappte die Stufen hinunter und in den angewehten Schnee hinein.

»Bitte, der Herr.«

Der Doktor folgte ihm mit dampfender Papirossa. Sie stapften die verwaist und verweht daliegende Dorfstraße entlang. Es war reichlich Neuschnee gefallen, und die pelzgefütterten Stiefel des Doktors versanken beinahe bis zur Hälfte des Schafts.

Weht ganz schön, dachte Garin, der hastig noch ein paarmal an der Zigarette zog, ehe der Wind sie ihm herunterbrannte. Der Teufel muss mich geritten haben, den kurzen Weg über diese verhexte Station zu nehmen. So ein Krähwinkel! Völlig aussichtslos, hier im Winter auf Pferde zu hoffen. Wollte erst nicht und bin dann doch hier langgefahren, ich Dummkopf[1]. Hätt ich die Poststraße genommen und in Saprudny die Pferde gewechselt, auch wenn die Strecke sieben Werst länger ist, ich wäre längst am Ziel. Die Station ist in Schuss, die Trasse ordentlich breit. Ich Dämlack, ich! Jetzt muss ich es ausbaden …

Vor ihm stiefelte Wasja munter durch den Schnee, die zwei gleichen Bügeltaschen schwenkend wie Dorfweiber die Eimer unterm Tragejoch. Die zur Station gehörende Siedlung Dolbeschino nannte sich Dorf, war aber kaum mehr als ein Weiler, der aus einem Dutzend weit auseinanderliegender Häuser bestand. Während sie sich auf der dick überpuderten Landstraße dem Anwesen des Brotkutschers näherten, kam Garin in seinem langen Parka ein wenig ins Schwitzen. Um das alte, in sich zusammengesunkene Hüttchen herum war alles verweht, es gab keine Spuren, nichts, was darauf hinwies, dass da jemand wohnte – wäre nicht der weiße Rauch gewesen, den der Wind fetzenweise aus dem Schornstein riss.

Durch ein nachlässig abgezäuntes Gärtchen gingen die zwei auf das windschiefe Vordach zu, erklommen die Stufen. Wasja stieß mit der Schulter gegen die Tür, sie gab nach. Beim Eintreten ins düstere Vorhaus prallte er gegen etwas, fluchte. Garin, der ihm gefolgt war, starrte in die Dunkelheit und konnte zwei Fässer, eine Schubkarre sowie allerlei Gerümpel gerade so ausmachen. Es roch irgendwie nach Bienenzucht: Waben, Perga und Wachs. Dieser liebliche Sommergeruch passte überhaupt nicht zum Schneetreiben im Februar.

Wasja hatte sich zu der mit Sackleinen tapezierten Tür vorgekämpft und öffnete sie, wozu er eine der beiden großen Taschen unter die Achsel klemmen musste.

»Hallöchen!«, rief er und schritt über die hohe Schwelle. Der Doktor stieg, den Kopf vor dem Türbalken einziehend, hinterher.

Im Wohnraum der Hütte war es etwas wärmer, heller und geräumiger als im Vorhaus: Im großen russischen Ofen brannte Holz; auf dem Tisch stand ein einsames hölzernes Salzfässchen neben einem Laib Brot, über den ein Tuch gedeckt war; in der Ecke hob sich eine einsame Ikone ab; an der Wand eine einsame Pendeluhr, sie stand auf halb sechs. Außer einer Truhe und einer eisernen Bettstatt konnte der Doktor keine weiteren Möbel erkennen.

»Onkel Kosma?«, rief Wasja und stellte die Taschen des Doktors sorgsam auf dem Boden ab.

Keine Antwort.

»Vielleich dasser aufm Hof iss?«, äußerte Wasja eine Vermutung, das breite sommersprossige Gesicht mit der lächerlich rosafarbenen, wie frisch geschält wirkenden Nase nach dem Doktor umgewandt.

»Hä? Wassiss?«, tönte es vom Ofen herab. Ein verstrubbelter Rotschopf mit zottigem Bart und verschlafenen Augenschlitzen tauchte über ihnen auf.

»Da biste ja, Onkel Kosma!«, rief Wasja freudig. »Das Doktorchen dahier muss dringends nach Dolgoje, und auf der Station hats keine Pferde.«

»Ja, und?«, fragte der Kopf und kratzte sich.

»Vielleich dassde ihn mitm Mobil hinbring tätst?«

Garin trat vor den Ofen.

»In Dolgoje herrscht eine Epidemie, ich muss dahin, heute noch! Unbedingt!«

»Eine Epidemie …« Der Brotkutscher rieb sich die Augen. Seine Finger waren groß und schwielig, mit schmutzigen Nägeln. »Stimmt. Davon wars die Rede. Vorgestern, auf der Post in Choprowo.«

»Die Kranken erwarten mich. Ich bringe die Vakzine.«

Der Kopf auf dem Ofen verschwand, man hörte ein Ächzen, das Knarren einer Stiege. Kosma kam herunter. Hustend trat er hinter dem Ofen hervor: ein kleiner, hagerer, schmalschultriger Mann um die dreißig, mit krummen Beinen und übermäßig großen Händen, wie man sie öfters bei Schneidern findet. Sein Gesicht – spitznasig und verquollen vom Schlaf – schien gutmütig. Versuchte ein Lächeln. Barfüßig, in Unterzeug stand er vor dem Doktor und raufte sich das struppige rote Haar.

»Die Vak…zine, sagt Ihr?« Ehrerbietig und mit Vorsicht formten seine Lippen das fremde Wort, so als könnte es bei Unachtsamkeit entgleiten und auf den alten, rissigen Dielenboden fallen.

»Die Vakzine«, bekräftigte der Doktor und zog sich die Fuchsschwanzmütze, unter der es ihm schnell warm geworden war, vom Schädel.

»Draußen stürmts und schneits, der Herr«, sagte Kosma, den sie den Krächz nannten, mit einem Blick auf das beschlagene Fenster.

»Das weiß ich«, erwiderte der Doktor und, mit erhobener Stimme: »Aber die Kranken können nicht warten!«

Der Krächz kratzte sich und ging zum Fenster, dessen Rahmen dick bereift war.

»Nich mal Brot hab ich heute gefahrn«, sagte er und fuhr mit dem Finger über eine von der Ofenwärme angetaute Stelle, spähte hindurch. »Der Mensch, der lebt ja nich vom Brot alleine, nich wahr?«

»Wie viel willst du?«, fragte der Doktor, der langsam die Geduld verlor.

Der Krächz sah ihn an, als fürchtete er, von ihm geschlagen zu werden, ging schweigend in die Ecke rechts vom Ofen, wo auf einer Bank und darüberliegenden Borden Eimer, Töpfe und Kessel standen, nahm eine kupferne Kelle zur Hand, mit der er Wasser aus einem Eimer schöpfte. Trank in hastigen Schlucken. Der Adamsapfel hüpfte.

»Fünf Silberrubel!«, bot der Doktor an – mit einem so drohenden Unterton, dass der Krächz zusammenzuckte.

Doch im nächsten Moment lachte er, wischte sich den Mund mit dem Ärmel.

»Ja nu. Was soll ich damit …«

Er legte die Kelle zurück, sah sich um. Hickste.

»Weiß nich … Hab grad erst angeheizt!«

»Da sterben Menschen!«, rief der Doktor.

Der Krächz, ohne ihn anzusehen, scharrte sich die Brust, spähte zum Fenster hinaus. Der Doktor sah den Brotkutscher an, als wollte er ihn erschlagen – oder aber im nächsten Moment losheulen.

Der Krächz schabte sich seufzend den Nacken.

»Na schön. Dann übernimm du das hier, Kleiner …«

»Hä?«, machte Wasja mit offenem Mund, er verstand nicht.

»Bleibst noch ein Weilchen hier sitzen. Wenn der Ofen durch ist, machst du die Klappe zu.«

»Gemacht, Onkel Kosma«, rief der Junge, zog die Jacke aus, legte sie auf die Bank und setzte sich darauf.

»Dein Mobil … hat welche Stärke?«, fragte der Doktor erleichtert.

»Fünfzig Pferdis.«

»Gut. Dann sind wir in anderthalb Stunden in Dolgoje. Und zurück fährst du mit fünf Silberlingen in der Tasche.«

»Nich nötig, der Herr«, winkte der Krächz lächelnd mit seiner großen, schraubzwingenartigen Klaue ab und klopfte sich auf die mageren Schenkel.

»Oki. Dann wolln wir mal anspannen!«

Er verschwand hinter dem Ofen und kam bald darauf in einer groben Strickjacke und wattierten Hosen wieder, die, mit einem Soldatenkoppel gegürtet, weit oben, beinahe in Brusthöhe saßen; unterm Arm ein Paar graue Filzstiefel. Er setzte sich neben den Jungen, warf die Stiefel auf den Boden und ging hurtig daran, sich die Fußlappen zu wickeln.

Der Doktor holte sein Zigarettenetui hervor und ging vor die Tür. Dort war alles unverändert: grauer Himmel, Wind und Schneegestöber. Der Weiler wie ausgestorben.Kein menschlicher Laut, kein Hundegebell.

Garin stand unterm Vordach und sog den belebenden Papirossarauch ein; dabei dachte er schon an morgen. Die Nacht impfe ich, und früh gehts zum Friedhof, die Gräber inspizieren. Hauptsache, die Quarantäne hält stand bei dem Wetter, denn wenn sich da einer aus dem Kordon davonstiehlt, den kannst du abschreiben! In Mitino hatten sie einen doppelten Ring gezogen, nützte auch nichts – im Nu waren sie durch, und schnapp … Ich frag mich, ob Silberstein nicht schon dort ist. Na, selbst wenn! Zu vier Händen impft es sich flotter, da kommen wir in einer Nacht durchs ganze Dorf … Aber der wird es sowieso nicht schaffen, früher da zu sein aus seinem Usochi, das sind gut und gerne vierzig Werst, und das bei dem Wetter … Ist aber auch ein Kreuz mit diesem Schnee …

Inzwischen hatte der Krächz die Stiefel an den Füßen und trug einen kleinen schwarzen Schafpelz mit Gürtel, hinter dem die Handschuhe steckten, sowie eine Pelzmütze auf dem Kopf. Er nahm den Brotlaib vom Tisch, schnitt einen Kanten ab, den er sich unter den Pelz schob, und dann noch ein Stückchen, von dem er abbiss; kauend zwinkerte er dem auf der Bank sitzenden Jungen zu.

»Ein Schluck heißer Tee wär noch gut … Aber nein, keine Zeit, iss schon ganz fuchtig, der Herr. E-pi-de-mie! Woher kommt der überhaupt angebraust?«

»Von Repischnaja, denkichs.« Der Junge rieb sich das Auge mit der Faust. »Mit die Post. Der Kutscher vons Amt hat sich gleich mal aufs Ohr gelegt.«

»Warum auch nich. Wenns von Amts wegen iss.«

Krächz bedachte seinen Ofen mit einem Abschiedsblick, gab Wasja einen Klaps auf den Hinterkopf und ging kauend, den Kanten Roggenbrot in der Hand, durch die Hintertür hinaus auf den Hof.

Der Hof des Brotkutschers war genauso alt und unansehnlich wie das Haus: der angebaute Stall in Schieflage, das Brennholz nachlässig gestapelt, in einigem Abstand eine Scheune mit löchrigem Dach, die Schadstellen notdürftig mit Stangen und Stroh geflickt, und noch dahinter ein verwittertes Kornhaus mit Tenne, auf der, allem Anschein nach, die letzten drei, vier Jahre nicht mehr gedroschen worden war. Dafür war der kleine, an ein Badehäuschen erinnernde Pferdestall aus frisch gehobelten Brettern errichtet und mit breiten Schindeln gedeckt; die Wände gut mit Werg abgedichtet, zwei winterfest gemachte Fenster darin. Daneben, unter einem dick verschneiten Dach, stand das Mobil. Krummbeinig und flink, wie es seine Art war, den Schnee mit den Stiefeln aufstäubend, eilte der Krächz zum Pferdestall; im Laufen schob er die Hand unter den Pelz und das Hemd, zog die Schnur mit dem Schlüssel hervor und steckte ihn in das Vorhängeschloss.

Von drinnen hörte man ein scharfes, rasselndes Geräusch, es klang wie ein großes Heimchen. Das Geräusch verdoppelte, vervierfachte sich, immer mehr Stimmen kamen hinzu, und plötzlich schien ein ganzer Heuschreckenschwarm zu zirpen, ausdauernd und nach allen Regeln der Kunst. Der Eber nebenan fing auch gleich zu grunzen an, doch gegen das Zirpen im Pferdestall kam er nicht an.

»Habt euch nich, ich komm ja schon«, murmelte der Krächz beim Aufschließen, zog die Tür auf und betrat den Stall.

Sogleich wehten ihn die vertrauten, lieb gewonnenen Gerüche an. Ohne die Tür hinter sich zuzuziehen, damit ein bisschen Licht hereinfiel, ging er, vorbei an der Schmiede- und Sattlerbank, stracks zu den Boxen mit den Pferden. Ein freudiges Zirpen erfüllte den Raum. Im Unterschied zu Haus und Hof war der Pferdestall mustergültig in Schuss – neu, hübsch und sauber, was erkennen ließ, worin des Hausherrn vornehmliche Passion bestand. Der Stall war zweigeteilt. Gleich hinter der Tür lag der Bereich für Behufung und Schirrung, hier stand die Werkbank, auf ihm ein kleiner Amboss, daneben ein winziger Schmiedeofen, nicht größer als ein Samowar, der Blasebalg aus einem Smoker gefertigt, wie der Imker ihn benutzt; akkurat ausgelegt das Werkzeug: Messer, Hämmer, Zangen, Handbohrer, Raspeln, alles von kleinem Kaliber, dazu eine Büchse mit Pferdesalbe, ein Pinselchen darin. In der Mitte der Werkbank stand eine irdene Schale voll mit Hufeisen in Kopekengröße. Daneben eine weitere mit Hufnägelchen. An der Wand waren reihenweise winzige Kummete aufgehängt, die an Schnüre mit getrockneten Pilzen denken ließen. Über der Werkbank hing eine große Petroleumlampe.

Hinter der Huf- und Schirrwerkstatt befand sich der Futterboden – ein großer Bastkorb mit fein gehäckseltem Klee; dann kamen die Boxen mit den Pferden. Mit strahlendem Lächeln beugte sich der Krächz über die Bretterwand, und es ertönte ein vielstimmiges, an- und abschwellendes Gewieher aus den Mäulern von fünfzig Kleinpferden. Paarweise, zu dreien oder fünfen standen sie in den Boxen, deren jede über zwei aus dem Stamm gehauene Tröge verfügte: einen mit Wasser und einen mit Futter. In den Futtertrögen waren Reste der Hafergrütze zu erkennen, die der Krächz den Pferden um fünf Uhr morgens eingestreut hatte.

»Was iss, ihr Galgenstricke, fröhliches Juchteln angesagt?«, fragte der Krächz seine Pferde, und das Wiehern verstärkte sich.

Die jüngeren gingen hoch und strampelten mit den Vorderhufen, die gestandeneren schnaubten nur, nickten gravitätisch oder pendelten mit den Köpfen. Der Krächz ließ seine grobe Pranke in den Verschlag hineinfallen, die andere hielt den Brotkanten, und er begann nach den Tieren zu greifen. Streifte sie mit den Fingerspitzen, tippte ihnen an die Kruppen, strich über die Mähnen – und sie wieherten, streckten ihre Mäuler in die Höhe, schnappten spielerisch mit ihren Beißerchen nach seiner Hand, stießen die warmen Nüstern hinein. Keines der Pferde war größer als ein Rebhuhn. Er kannte jedes einzelne und hätte sagen können, wie es in seine Box gekommen war, seine Geschichte hererzählen, wer die Eltern waren und wie es sich machte, was für Allüren es hatte und welchen Charakter. Den Grundstock von des Krächzens Herde bildete eine Anzahl breitbrüstiger Falbhengste mit kurzem dunkelblondem Schweif, sie machten mehr als die Hälfte des Bestands aus; die übrigen waren Goldfüchse, Dunkelfüchse, acht Braune, vier Graue, zwei Apfelschimmel, ein Rapp- und ein Rotschimmel.

Es waren ausnahmslos Hengste und Wallache. Kleinstuten waren kostbar, buchstäblich mit Gold aufzuwiegen. Sie standen alle in den Zuchtbetrieben.

»Da habts ihr ein Fresschen. Feines Brot!«, sprach der Krächz und bröselte es ihnen in die Tröge.

Die Pferde neigten die Köpfe darüber. Er wartete, bis alles Brot vertilgt war, dann klatschte er in die Hände und kommandierte laut: »Zum Anspannen! Hopp-hopp!«

Und mit einem Ruck hob er die Planke, die alle Boxen nach vorne abschloss.

Die Pferde liefen durch eine sauber ausgefegte hölzerne Rinne und formierten sich in ihr zur Herde, begrüßten sich überschwänglich, rappelten und zwackten einander, schlugen aus. Die Rinne führte zur Wand, hinter der das Mobil stand. Mit Entzücken betrachtete der Krächz seine Herde, sein Gesicht hellte sich auf und schien verjüngt. An den Pferden konnte er sich allezeit freuen – und war er noch so müde oder betrunken oder gedemütigt von irgendwem. Er zog den Schieber zur Seite, gab somit den Weg ins Gestämme des Mobils frei. Munter trabte die Herde ein, ungeachtet der frostigen Luft, die ihr aus dem ausgekühlten Inneren des Mobils entgegenschlug.

»Hopp-hopp«, feuerte der Krächz seine Schützlinge an. »Iss nich gar so arschkalt heute, lässt sich aushalten …«

Er wartete, bis das letzte Pferd im Mobil war, rückte den Schieber an seinen Platz und verließ eilig den Stall, schloss ihn ab und barg den Schlüssel an seiner Brust, dann watschelte er krummbeinig um den Pferdestall herum und klappte die Kaube des Mobils auf. Die Pferde, eingeübt, hatten sich schon an ihre Plätze verteilt und erwarteten das Kummet. Fünf Holme zu je zehn Pferden waren unter der Kaube. Zügig schirrte der Krächz die Pferde ein, stieß die kleinen Köpfe in die Kummete, was sie gehorsam über sich ergehen ließen, nur zwei Braune hatten wie üblich Zwist miteinander und störten die Ordnung am dritten Holm.

»Gleich schmeckt ihr die Knute, Galgenstricke, passt mal auf!«, mahnte der Krächz.

Die zuerst angespannten zehn Falben, gut im Futter stehende Führungspferde, trommelten scheppernd mit den Hufen gegen die Rippen des vereisten Laufs; die Goldfüchse am dritten Holm streckten dem Hausherrn ergeben die Köpfe mit der üppigen Mähne hin, damit er sie ins Kummet zwängte; die Braunen gaben sich der Würde ihrer höheren Rasse bewusst und spielten mit den Ohren, die Grauen käuten ungerührt, die schwarzbraunen Füchse schnaubten und nickten, die Apfelschimmel tänzelten ungeduldig, und der stürmische Rotschimmel wieherte unentwegt und ließ sein junges Gebiss dabei sehen.

»Das hätten wir«, sagte der Krächz und setzte den hölzernen Zapfbaum auf, der die Pferde in ihren Positionen hielt, langte nach dem Fässchen mit der Wagenschmiere und schmierte die beiden Lauflager, fuhr in die Handschuhe, ergriff die Peitsche und ging den Doktor holen.

Der stand immer noch auf der Vortreppe und rauchte gerade die zweite Papirossa zu Ende.

»Wir können, der Herr«, meldete der Krächz.

»Na Gott sei Dank«, brummte der Doktor und schleuderte missmutig die Kippe in den Schnee. »Nichts wie los!«

Der Krächz nahm dem Doktor eine der Reisetaschen ab, und sie gingen durch das Vorhaus nach hinten auf den Hof und zum Mobil. Zuvorkommend schlug der Kutscher das Bärenfell zurück, der Doktor nahm Platz. Während der Krächz die Taschen auf dem Bock verstaute, galt das Interesse des Fahrgasts den Pferden. Bisher waren ihm Kleinpferde nur selten unter die Augen gekommen, geschweige dass er mit ihnen gereist war. Mit der gebremsten Neugier, zu welcher er nach der langen Wartezeit noch fähig war, betrachtete er sie, wie sie an den fünf Holmen in der Kaube standen und auf der gerippten Lauffläche von einem Bein auf das andere traten.

Sind so kleine Wesen – und doch imstande, uns aus unüberwindbar scheinenden Fährnissen herauszuhelfen!, dachte er. Was finge ich an ohne diese Winzlinge? Sie sind nun meine einzige Hoffnung, so seltsam es ist. Sonst ist da keiner mehr, der mich in dieses Dolgoje brächte …

Er gedachte der zwei gewöhnlichen Pferde, mit deren Hilfe er vor dreieinhalb Stunden im vermaledeiten Dolbeschino gelandet war, die sich im Schneesturm völlig verausgabt hatten und jetzt im Stall der Poststation standen und vermutlich gerade etwas mampften.

Je größer ein Tier, desto empfindlicher in diesen unseren Breiten. Und erst der Mensch, hach! …

Der Doktor streckte den Arm, spreizte die behandschuhten Finger und berührte die Kruppen der zwei Braunen am letzten Holm. Gleichmütig äugten die Pferde zu ihm her.

Der Krächz kam und setzte sich neben den Doktor, zurrte die Bärenhaut fest, ergriff das Lenkscheit und schwang die Peitsche.

»Auf gehts, mit Gott … Hü-üh!«

Er schnalzte mit der Zunge. Die Pferdchen legten sich ins Geschirr, begannen die Beine zu werfen, der Lauf ruckte knarrend an und begann sich unter ihnen hindurchzubewegen.

»Hü-üh! Hü-üh!«, rief der Krächz und wirbelte über ihnen die Peitsche.

An den kleinen Kruppen sah man die Muskeln spielen, die Kummete knarrten, die Hufe schurrten über den Lauf, und der glitt unter ihnen dahin, geschwind und immer geschwinder. Das Mobil hatte sich in Bewegung gesetzt, der Schnee knirschte unter den Kufen.

Der Krächz schob die Peitsche in ein Futteral und schwenkte das Lenkscheit. Das Mobil fuhr vom Hof. Es gab kein Tor, nur zwei schiefe Säulen, zwischen denen das Mobil hindurchfuhr. Der Krächz lenkte es auf die Landstraße zu, schnalzte.

»Schon kommt die Sache ins Rolln!«, rief er und zwinkerte dem Doktor zu.

Der klappte befriedigt den Biberlammkragen seines Parkas hoch, schob die Hände unter das Bärenfell. Auf der Straße ging es flott voran. Sie fuhren auf eine Gabelung zu: Links ging es ins entlegene Saprudny, rechts nach Dolgoje. Das Mobil hielt sich rechts. Die Straße war fast vollständig zugeweht, nur hie und da sah man einmal eine Wegstange aus dem Schnee ragen oder ein paar nackte Zweige im Wind schaukeln. Immer noch rieselte der Schnee in grießkorngroßen Flocken den Pferden auf den Rücken.

»Warum haben die keine Abdeckung?«, fragte der Doktor.

»Die frische Luft tut denen gut, die Plane können wir später immer noch drüberziehn«, antwortete der Krächz.

Dem Doktor fiel auf, dass der Fuhrmann beinahe die ganze Zeit lächelte.

Wohl ein herzensguter Kerl!, dachte der Doktor und knüpfte ein Gespräch mit ihm an.

»Zahlt es sich aus für dich, Kleinpferde zu halten?«

»Ach, wie soll ich sagen, der Herr«, erwiderte der Krächz, sein Lächeln wurde noch breiter und entblößte die schief stehenden Zähne. »Solang es fürs Brot reicht und für den Kwas, möcht man zufrieden sein.«

»Du fährst Brot?«

»Sozusagen.«

»Lebst du allein?«

»Ja.«

»Wie kommts?«

»Die Ermattung hat nach mir gegriffen.«

Impotentia coeundi, verstand der Doktor.

»Heißt das, du warst früher verheiratet?«

»War ich«, bekannte der Krächz lächelnd. »Zwei Jahre war ich mit ihr beisamm. Und wies über mich kam, merkt ich auf einmal, dass ich des Weibes Leibs nich mehr Herr bin. Welche will mit so einem leben?«

»Sie hat dich verlassen?«, fragte der Doktor und richtete seinen Kneifer.

»Ja nu. Bloß gut!«

Die nächste Werst fuhren sie schweigend. Die Pferde liefen ein gutes Tempo – weder zu hastig noch zu träge, man merkte, dass sie gepflegt und gut im Futter waren.

»Ists denn nicht langweilig, allein in so einem Nest?«, fragte der Doktor.

»I wo. Zum Langweiln iss keine Zeit. Im Sommer fahr ich Heu.«

»Und im Winter?«

»Im Winter … Euch!«, sagte der Krächz lachend.

Auch Platon Garin konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. In des Krächzens Nähe fühlte er sich zunehmend wohl und behaglich, die Gereiztheit schwand, er hörte auf, sich und andere anzutreiben. Dieser Krächz würde ihn an Ort und Stelle bringen, was immer geschähe, so viel war ihm nun klar; und er, Garin, konnte seine Pflicht tun, den Menschen zu Hilfe kommen, sie vor der schrecklichen Krankheit bewahren. Das Gesicht des Kutschers hatte etwas Vogelhaftes, so schien es dem Doktor – keck und hilflos zugleich, arglos und gut; dieses lächelnde Spitznasengesicht mit dem schütteren roten Bärtchen, den verquollenen Augenschlitzen unter der unförmigen alten Fellmütze mit den Ohrenklappen schaukelte neben dem Doktor im Rhythmus des Mobils und war, so schien es, vollauf zufrieden mit allem: dem Gefährt, dem sanft in die Nase zwackenden Frost, seinen brav dahinlaufenden Pferdchen, auch diesem Doktor mit dem Kneifer und der Fuchsschwanzmütze, wer weiß woher aufgekreuzt mit seinen wichtigen Taschen, und mit der endlos glatten weißen Weite, die sich vor ihnen erstreckte und immer mehr im wirbelnden Schnee versank.

»Verdingst du dich auch anderweitig?«, wollte der Doktor wissen.

»Wozu sollt ich … Das Geld von Staats wegen langt mir. Einmal war ich bei wem in Solouchi in Dienst, da hab ich gemerkt: Fremde Kost liegt schwer im Magen. Ich fahr lieber mein Brot. Bin froh, dass ich den Posten hab.«

»Wie kommst du eigentlich zu dem Spitznamen?«

»Ach«, lachte der Fuhrmann, »den haben sie mir in meiner Jugend verpasst, da war ich mal im Forst arbeiten, ne Schneise roden. Wir haben in Baracken gehaust. Zwischendurch kriegt ichs auf der Plauze und musste nachts immer husten. Alle wollten schlafen und konnten nich, weil ich ihnen was vorgekläfft hab. Da warn sie wütend auf mich und hielten mich auf Trab deswegen: Wenn wir uns wegen deinem Gekrächze die Nächte um die Ohren schlagen, dann machs gefälligst wieder gut und hack Holz! Heiz den Ofen an! Hol Wasser! Die haben mir die Hölle heißgemacht für mein Husten. Krächz, mach dies, Krächz, mach das! Ich war ja auch mit der Jüngste im ganzen Artel. Und seither hängt der Name mir an. Immer nur: der Krächz.«

»Eigentlich heißt du Kosma?«

»Na genau.«

»Bist du den Nachthusten denn wieder los, Kosma?«

»Jo! Da ist der liebe Gott vor. Manchmal ziehts im Rücken, wenn das Wetter umschlägt. Aber sonst bin ich gesund.«

»Und fährst Brot …«

»Genau.«

»Ist es nicht gefährlich, so allein zu fahren?«

»I wo. Alleine isses am besten, der Herr. Was die alten Kutscher warn, die meinten immer: Wer alleine fährt, der hat auf jeder Schulter nen Engel sitzen. Wer zu zwein fährt, hat nur einen. Und wer zu dritt fährt, der hat den Teufel im Wagen.«

»Das ist weise gesagt!«, lachte der Doktor.

»Und obendrein wahr, der Herr. Die wo im Tross zurückfahrn, sind im Nu irgendwo eingekehrt und versaufen ihr Geld.«

»Du selber trinkst nicht?«

»Doch, schon. Aber in Maßen.«

»Na, da staune ich aber!«, lachte der Doktor, während er unter dem Bärenfell nach dem Zigarettenetui tastete.

»Was gibts da zu staunen?«

»Einspänner pflegen zu trinken.«

»Hält mir einer die Pulle vor die Nase, sag ich nich Nein. Aber selber hab ich kein Fusel im Haus, wozu auch. Keine Zeit zum Trinken, der Herr – fünfzig Pferdis sind kein Pappenstiel.«

»Das sehe ich«, sagte der Doktor und versuchte seine Zigarette anzuzünden, doch das Hölzchen wurde ausgeblasen.

Auch der zweite Versuch misslang. Es war nicht zu übersehen, dass der Wind zugenommen hatte. Der Schnee fiel jetzt in großen Flocken. Sie fielen auf die Pferderücken, drangen bis in die Ecken der Kaube, kitzelten den Doktor im Gesicht, rauschten gegen den Kneifer.

»Wie viel Werst sind es bis Dolgoje?«

»Um die siebzehn.«

Der Doktor meinte vom Stationsvorsteher eine andere Zahl gehört zu haben: fünfzehn.

»Ist es bei dem Wetter in zwei Stunden zu schaffen?«, erkundigte sich Garin.

»Wer weiß das schon«, sagte der Krächz lächelnd und zog sich die Mütze zum Schutz gegen den Schnee tief in die Augen.