Der Schrei des Jaguars - Inga Peng - E-Book

Der Schrei des Jaguars E-Book

Inga Peng

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Beschreibung

Von Terror erschüttert – das ist der Andenstaat Peru in den siebziger Jahren. Dieser Terror ist es, der die wohlbehütete Kindheit der zwölfjährigen Deutsch- Peruanerin Gloria abrupt und unumkehrbar beendet. Die folgenden Jahre führen sie von dem Hochland, dem Altiplano bis in den Dschungel des Amazonasbeckens quer durch das Land ihrer Mutter. Auch nach Deutschland, in das Land ihres Vaters verschlägt es sie. Auf ihren abenteuerlichen verschlungenen Wegen, trifft sie Gott und weiß sich von ihm durch die tiefsten Täler und auf die höchsten Gipfel getragen. Gloria muss lernen, sich in den verschiedensten Kulturen und Lebenslagen zurecht zu finden. Wird Gloria ihr Glück finden?

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Seitenzahl: 467

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Der Schrei des Jaguars

Inga Peng

 

Danksagung

Meine besondere Dankbarkeit und Liebe gilt meinem "computerfähigen"' Sohn Michael. Weiterhin meiner Mutter, welche mir mit ihrem unschlagbaren Sprachgefühl zu jeder Tages-und-Nachtzeit zur Verfügung stand. Und zuletzt in memoriam an Benjamin.

Kapitel 1

Die Reisenden

Die Passagiere, die schon in dem roten klapprigen, aber noch funktionsfähigen Bus saßen, sahen gleichmütig aus dem Fenster und beobachteten das lärmende Treiben ihrer Stadt Lima oder unterhielten sich mit Verwandten und Bekannten, die sie hierher begleitet hatten. Draußen, an einem der Busfenster hinter dem Fahrer, stand ein alter Herr im hellen Anzug mit einem Stock in der Hand, auf den er sich gelegentlich stützte, und einem hellen Hut auf dem ergrauenden Haar, der ihn vor der glühenden Sonne schützen sollte. Er hatte ein schönes altes Gesicht mit lebhaften dunklen Augen und sprach auf eine Frau und deren Tochter ein. Besorgt und ermahnend klang seine Stimme. Die Frau im Innern des Busses wollte manchmal etwas ungeduldig erwidern, unterließ es jedoch, um den wohlmeinenden Vater nicht zu kränken. Pedro de la Cruz, ein Criollo mit einem guten Schuss Inkablut, hatte seine Tochter Isabella und seine Enkelin Gloria zum Bus begleitet. Als der Bus sich endlich anließ loszufahren, nickte er auch freundlich Teresa Uro zu, die seine beiden Lieben auf dieser Reise begleiten sollte. Teresa Uro war eine Quechua, die auf dem Altiplano (Hochebene) aufgewachsen war und seit ihrem dreizehnten Geburtstag im Hause de la Cruz de Mandt arbeitete. Jetzt war sie siebenundzwanzig und recht zufrieden mit ihrem Schicksal. Ihre Tätigkeit, die aus einer Mischung von Haushaltsführung und Kinderbetreuung bestand, war nicht allzu schwer. Dona Isabella zahlte ein für die Verhältnisse in Lima großzügiges Gehalt. Doch was sie am meisten an ihre Arbeit gebende Familie band, war die jetzt zwölfjährige Gloria, die sie seit ihrer Geburt – zusammen mit deren Mutter – betreut hatte. Als Fünfzehnjährige hatte sie zum ersten Mal die neugeborene Gloria, ein weißhäutiges winziges Geschöpf mit Goldflaum auf dem kleinen runden Kopf, in den Armen gehalten. Von diesem Moment an liebte sie das Mädchen und wurde zu ihrer zweiten Mutter. Gloria, die jetzt zwischen ihr und Dona Isabella saß, hatte das goldblonde Haar von einst behalten. Ihre blauen Augen suchten den Großvater in der kleiner werdenden Menschenmenge. Doch in diesem Moment fuhr der Bus in eine Kurve, und der Abfahrtsplatz verschwand aus ihrer Sicht. Wer Isabella de la Cruz de Mandt und Gloria nebeneinander sah, hätte sie kaum für Mutter und Tochter gehalten. Isabella war eine spanische Schönheit mit schwarzem Haar wie Rabenfedern und den dunklen Augen ihres Vaters und ihrer aus Andalusien gebürtigen Mutter. Doch Isabella, die Deutschland in der Nachkriegszeit besucht hatte, hatte dort ihren Mann Hermann kennen- und lieben gelernt – eine Urlaubsliebe, die ihren Höhepunkt in einer prachtvollen Hochzeit fand. Ein Jahr später, sie waren nach Peru in die Heimat der jungen Ehefrau umgezogen, brachte Isabella Hermanns Ebenbild zur Welt: goldblond mit blauen Augen. Zur Überraschung aller, denn jeder hatte eine Miniatur-Isabella erwartet. Doch leider waren Hermann, ihr Mann, und Dona Luisa, ihre Mutter, bereits verstorben und hatten Gloria nicht mehr weiter heranwachsen sehen. "Mama, mir wird schlecht!", jammerte das Mädchen plötzlich, denn der Bus schaukelte an einem Abhang entlang und die Luft war von allerlei Gerüchen erfüllt und verbraucht. "Nimm ein Bonbon und sieh immer geradeaus!", befahl Isabella kurzentschlossen. Auf der anderen Seite neben ihnen erbrach sich eine junge Frau in eine Plastiktüte, während ihr dreijähriger Sohn ängstlich zusah. Gloria würgte. Ihre Mutter legte einen Arm um sie, und drehte ihren Kopf beiseite."Schau nicht hin, meine Kleine!", mahnte sie sanft. Teresa hielt vorsorglich eine Tüte bereit, die sie rasch aus der Tasche gefischt hatte. Doch die Katastrophe blieb aus. Die junge Frau lehnte sich unterdessen mit geschlossenen Augen zurück. Als Isabella sie aus den Augenwinkeln beobachtete, erschien sie ihr sehr jung, eine ängstliche Chola-Schönheit mit furchtsamen Blick und weich um den Kopf gelegten Locken. Der kleine Junge sah ihr bemerkenswert ähnlich und trug einen dunkelblauen Anzug und eine kleine weinrote Fliege um den Hals. Ohne Zweifel waren sie zu Festlichkeiten unterwegs. Hinter den beiden saßen zwei Quechuamädchen, die unter ihren großen Hüten fast verschwanden, und sich leise unterhielten, kicherten und gickelten – zwei richtige Teenager eben. Die Schaukeltour schien ihnen nichts anzuhaben. Karge, felsige braune Berge wechselten sich mit zaghaft grünenden Tälern ab. In ihnen lagen Dörfer – staubig und grau-braun-grünlich wie ihre Umgebung. Der Busfahrer fuhr vor allem mit Bremse und Hupe, um Schafe, vereinzelt auch Lamas und die dazugehörigen Menschen von der Straße zu vertreiben. Diese blickten gleichmütig auf und gingen gemächlich zur Seite. Für sie war Zeit kein Begriff. Es war nichts, was man in Abschnitte einteilte und danach seinen Tagesablauf einrichtete. Sie waren Bauern und Hirten in ihren merkwürdig stillen, aus kleinen Steinhäusern bestehenden Dörfern – fest verhaftet in ihren Traditionen, bemerkenswert konservativ. Die Jahreszeiten und ihre Tiere diktierten ihr Tun. Auch die Hupe des ungeduldigen Busfahrers nötigte sie nicht zur Eile. Gloria, der nun weniger übel war als zu Anfang, beobachtete das alles mit lebhaftem Interesse. Diese Campesino-Dörfer schienen ihr von ihrem eigenen Leben in Lima soweit entfernt zu sein wie der Mond. Und doch war auch dies Peru – das Land ihrer Mutter und ihr eigenes, in dem sie geboren worden war und aufwuchs. Teresa und Dona Isabella waren trotz des Gerüttels ein genickt. Gloria begann vorsichtig, den Korb, der zwischen ihr und Teresa eingeklemmt stand, zu durchsuchen. "Nimm von den Keksen, die werden dir jetzt am besten bekommen, meine Süße", sagte plötzlich Teresa, die immer noch mit geschlossenen Augen dasaß, zu dem überraschten Mädchen. "Pst, wecke Mama nicht auf!", flüsterte Gloria und biss, sichtlich hungrig, bereits in den dritten Keks. "Sie darf ruhig aufwachen, bald steigen wir aus!" "Aber wir sind doch noch nicht da!" "Wir werden übernachten und reisen morgen früh weiter. Hat dir das niemand gesagt?" "Nein!", lautete die kurze Antwort. Es begann zu dämmern, und von der Bergstraße her war eine größere Ansiedlung zu erkennen. In die meisten Passagiere kam Leben. Einige freuten sich, endlich wieder zu Hause zu sein, die anderen auf ein erholsames Nachtlager für ihre durch gerüttelten Knochen. Der Bus hielt unsanft auf dem Marktplatz der kleinen Stadt an. "Schluss für heute, Leute! Vergesst nicht, morgen geht es sehr früh weiter!", rief der Fahrer mit vor Müdigkeit geröteten Augen den Passagieren zu. Er selbst würde im Bus übernachten, denn die Gefahr eines Diebstahls war zu groß. Der Bus gehörte ihm nicht und Señor Sanchez, der Busunternehmer in Lima, würde ihm das Gehalt pfänden und ihn bis an das Ende seiner Tage praktisch umsonst fahren lassen – eine moderne Variante der Sklaverei. Isabella und die Ihren mieteten sich in einem Mittelklassehotel ein – proper und durchaus bewohnbar für peruanische Verhältnisse. Die Nacht brachte beißende Kälte mit sich, und die Decken des Hotels waren abgenutzt und dünn. So begaben sie sich in voller Bekleidung auf ihre harten Nachtlager. Obwohl Isabella unter ihrem dicken wadenlangen Wollrock eine dicke Wollstrumpfhose und Stiefel trug, kroch die Kälte an ihren Beinen hoch und erfasste ihren ganzen Körper. Gloria und Teresa waren in der Wahl ihrer Reisekleidung klüger gewesen: feste Halbschuhe, lange Hosen, Wollpullover, Ponchos und – nicht zu vergessen – die Sonnenhüte aus Stroh mit den bunten Bändern. Stimmen von angetrunkenen Hotelgästen wurden auf dem Flur laut und kamen näher. "Was sollen wir tun, Dona Isabella?", flüsterte Teresa unruhig. Isabella runzelte die Stirn, stand auf und stellte den Stuhl unter die Türklinke, denn es gab keinen Schlüssel. Doch für die Reisenden bestand keine Gefahr. Die Betrunkenen polterten vorbei zu einem Zimmer am Ende des Flures. Danach war nichts mehr zu hören. Erleichtert packten sie den Proviantkorb aus. Gloria schälte die gekochten Eier, Teresa halbierte die Tomate mit dem etwas zu groß geratenen Küchenmesser, Isabella breitete das saubere Handtuch aus und legte vor jeden ein gutes Stück Brot. Gloria sah sich in ihrer kleinen Kammer um. Weiß getünchte Wände mit Flecken und ein kleines Fenster über der Kopfhöhe. "Es sieht aus wie eine Zelle!", stellte sie fest. "Wie was?", fragte Teresa. "Na, wie eine Gefängniszelle!" "Du hast recht", stimmte Isabella zu. "Nur mit dem Unterschied, dass wir uns selbst einschließen, anstatt eingeschlossen zu werden. Frierst du auch nicht, meine Kleine?" "Bis jetzt noch nicht, Mama." Teresa bürstete ihr langes dickes Haar und flocht es in Seelenruhe zu zwei prächtigen Zöpfen. Obwohl Zöpfe als hinterwäldlerisch galten, hatte sie mutig diese Haartracht auch in Lima beibehalten. Nur ihre Kleidung hatte sie der Stadt angepasst. Isabella zog die Haarspange aus ihrem weich geschlungenen Knoten. Sie war zu hart, um darauf zu schlafen. Sie freute sich auf das Wiedersehen mit ihren ehemaligen Studien- und Arbeitskollegen. Es verwunderte sie nur, dass dieses Lehrertreffen nicht in Lima stattfand, sondern in einem kleinen Ort Mittelperus – nahe den Regenwäldern. Das hatte womöglich politische Hintergründe, und es war besser, nicht genau danach zu fragen. Wohnen würden sie bei einer Freundin Isabellas, die in diese Stadt geheiratet hatte. Mercedes hatte darauf bestanden, dass sie bei ihr einkehrten, denn sie war in ihrer, leider kinderlosen, Ehe einsam und sehnte sich nach den Gefährten ihrer Jugend, mit denen sie ihre Erinnerungen an das pulsierende Leben Limas austauschen konnte. Außerdem war Isabella eine wirklich gute Freundin gewesen, und sie schätzte sie auch um ihrer selbst willen. Gloria hatte so lange geschmollt, gebettelt und der Mutter in den Ohren gelegen, bis diese ihrem einzigen Kind nicht mehr widerstehen konnte, und sie nebst Teresa Uro mit auf die Reise nahm. Pedro de la Cruz hatte vergebens sein Veto eingelegt: Das Kind sei von zarter Gesundheit, und Reisen sei in diesem Lande oft übermäßig strapaziös – womit der alte Herr durchaus Recht hatte. Doch die eigenwillige Zwölfjährige hatte sich durchgesetzt: Sie habe Ferien, sie wolle endlich auch etwas von Peru sehen. Außerdem fahre sie ja nicht allein. Mama und Teresa würden sie nicht aus den Augen lassen. Da gab auch der Großvater nach. Als er die drei zum Bus brachte, befielen ihn wieder diese dunklen unguten Ahnungen, die ihn schon die Nacht vorher gequält hatten. Er schalt sich jedoch einen alten Toren, dessen innere Unruhe von seinem kränkelnden Herz, das sich ab und an durch Anfälle bemerkbar machte, herrührte. Der Seelenzustand Don Pedros war den drei Abreisenden verborgen geblieben. Jetzt lagen sie fröstelnd in einer Herberge und versuchten Schlaf zu finden. Es wurde eine unruhige kurze Nacht. Weitere Hotelgäste lärmten singend und angeheitert durch den Flur. Gloria wälzte sich hin und her und Teresa schien von Alpträumen geplagt zu sein. Doch als es zu dämmern begann, verließ Glorias Zweitmutter leise die Kammer und kam nach einer Weile mit einem neu aufgefüllten Proviantkorb zurück. Isabella band gerade ihr Haar im Nacken zusammen. "Guten Morgen, Dona Isabella!", grüßte die Eintretende. "Guten Morgen, Teresa – kannst du mir helfen, die Spange festzumachen?" "Ja, sofort." Teresa stellte den Korb auf dem Bett ab und ging geschickt ans Werk. Die Spange saß im Handumdrehen. Dann weckte sie Gloria, die nur widerwillig erwachte. Isabella fuhr mit dem Zitronenholzkamm, den sie noch nicht weggepackt hatte, durch das halblange dichte glatte Goldhaar ihrer Tochter, die einen verschlafenen murrenden Laut von sich gab. Hermanns Kind war ein ausgewachsener Morgenmuffel! Angesichts dessen, was Teresa da zum Essen auspackte, wurde Gloria jedoch schlagartig hellwach! "Aber Mama, zum Frühstück kann ich doch keine Camote (Süßkartoffel) essen!", protestierte sie lautstark. "Du kannst! Mit leerem Magen fährst du nicht los!", erklärte Isabella in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. Gloria verzog einen Moment das Gesicht, als ob sie weinen wollte – unterließ es dann aber. Sie war schließlich kein Kleinkind mehr, oder? Mutig drückte sie ein weich gekochtes Ei, eine noch dampfende Camote, die sie mit Salz würzte, und ein Glas Milch unter den strengen Blicken ihrer Mutter in sich hinein. Mit leidender Miene saß sie da, obwohl es ihr zu schmecken begann und sich Camote zum Frühstück als durchaus bekömmlich erwies. Nachdem Isabella die Rechnung bezahlt hatte, schlenderten sie zum Marktplatz. Der rote klapprige Bus stand an der gleichen Stelle, der Busfahrer erkannte in den dreien seine Passagiere und öffnete die Tür. "Ihr seid die ersten, steigt ruhig schon ein!" "Danke!", erwiderte Isabella knapp und ärgerte sich über den neugierigen Blick, mit dem er Gloria musterte. "Eine Gringa ?", fragte der Mensch. "Nein, meine Tochter", antwortete sie kühl. "Na, so was! Aber hübsch ist sie, Ihre Kleine, Señora!", bemerkte er noch und wandte seine Aufmerksamkeit einem kleinen Radio zu. Vergebens versuchte er, den gewünschten Kanal einzustellen. Eine halbe Stunde später konnte der Bus starten. Die Zusammensetzung der Passagiere hatte sich verändert. Zur geheimen Überraschung Isabellas fand sich auch wieder die ängstliche Chola-Schönheit mit ihrem kleinen Sohn ein, immer noch in den Festkleidern. Man sah ihnen an, dass sie froren. Neben den beiden ließ sich eine rundliche, hübsche und fröhlich-laute Markthändlerin nieder, die auch nicht mit Bemerkungen über die unpassende Kleidung ihrer zwei Mitreisenden sparte. Die junge Mutter erwiderte kein Wort und sah entweder verlegen auf den Boden oder aus dem Fenster. Da aber die Marktfrau eine gutmütige Person war, stellte sie ihre Kritteleien ein und gab dem Jungen etwas von ihren Süßigkeiten ab, die dieser zögernd annahm. Zum ersten Mal öffnete die Chola-Schönheit den Mund und brachte mit einer hellen Silberglockenstimme ein leises Danke heraus. Der Bus gab in jeder Kurve unsympathische Geräusche von sich, aber er blieb nicht stehen. Sie waren drei Stunden unterwegs, als Teresa Gloria anstieß und aus dem Fenster deutete. "La Selva !", erklärte sie einfach. Mit "la Selva" war in Peru der Urwald gemeint und Gloria bekam ihn zum ersten Mal im Leben zu Gesicht. Beeindruckt beäugte sie diesen unübersehbaren Horizont voller Bäume, über denen vereinzelt Nebelschwaden hingen. Sie fuhren genau die Grenze zwischen Sierra (Gebirge) und Selva entlang. Blickte Gloria nach oben, wurde sie der Kargheit der grünenden Berge gewahr, blickte sie nach unten, lag ihr "la Selva" zu Füßen. Dann gingen sie in eine sehr scharfe Kurve. Der Bus gab merkwürdig asthmatische Töne von sich, und einige Passagiere hielten gespannt die Luft an. Aber der Klapperkasten hielt durch! Teresa führte lebhafte Gespräche mit einem Indio-Ehepaar mittleren Alters. Der Mann war der Alcalde (Bürgermeister) eines größeren Dorfes. Als Zeichen seiner Würde trug er einen silberbeschlagenen Stab bei sich, den er fast zärtlich hielt und sorgsam hütete. Auch auf dieser Reise hatte er nicht auf ihn verzichten wollen. Die Gespräche wurden auf Quechua geführt, und Gloria bedauerte, dass sie fast nichts davon verstand. Bis sich die vorzeitig gealterte, aber freundliche Gattin des Alcalde in einem etwas mühsamen Spanisch an sie wandte. Das erlöste das Mädchen für gut eine halbe Stunde aus ihrer wachsenden Langeweile. Die Bergstraße verbreiterte sich zusehends, verwandelte sich langsam in eine Art Ebene. Da es jetzt stetig bergab ging, bekamen die meisten Passagiere einen Unterdruck im Ohr. Der hagere, nervöse Busfahrer kniff seine leicht kurzsichtigen Augen zusammen. Lag da nicht ein dunkler langer Gegenstand quer über dem Weg? Eine warnende Unruhe erfasste ihn! Langsam bremste er den mit hoher Geschwindigkeit rollenden Bus ab. Tatsächlich – ein großer Baumstamm versperrte den Weg direkt vor einer scharfen Kurve. Zwei Meter vor dem lehm beschmierten hölzernen Ungetüm kam der Bus mit einem Ruck zum Stehen. Der Busfahrer drehte sich gerade zu seinen überraschten Fahrgästen um, um sie zur Beseitigung des Hindernisses aufzufordern, als die Chola-Schönheit einen hellen durchdringenden Schrei ausstieß. Sie hatte, ganz vorne sitzend, als erste die Gestalten mit den Gewehren in der Hand wahrgenommen! Der Busfahrer fuhr herum wie ein in die Falle geratenes Tier. Schlagartig herrschte Totenstille in dem Wagen. Jeder konnte sehen, dass es sich nicht um Banditen, sondern um eine Art Guerilleros handelte. Isabella hatte das Empfinden, als ob ihr jemand mit voller Wucht in den Magen geboxt hatte – so übel wurde ihr vor Entsetzen! -, und Gloria drückte sich zitternd, mit vor Schreck riesigen Augen an sie. Isabella umschlang sie. "Ganz ruhig, meine Kleine, ganz ruhig!", hauchte sie in das Ohr ihrer Tochter. Teresa umklammerte krampfhaft den Henkel des Korbes. Unter ihrer braunen Haut wurde sie aschgrau. Einer der Typen befahl mit schnarrender Stimme den Ausstieg. Zur Unterstützung seines Befehls richtete er den MG-Lauf auf die erstarrten Passagiere. Es waren sieben, die ihre siebenunddreißig Gefangenen mühelos in Schach hielten und sie wie eine willige Schafherde vor sich hertrieben. Hinter der scharfen Kurve lag am Wegesrand eine verlassene Chacra- ein kleines bäuerliches Anwesen . mit zwei verfallenden Gebäuden. Vor dem größeren blieben sie stehen, mussten sie stehenbleiben. Der Guerilla-Anführer Suarez trat näher und musterte seine menschliche Beute düster mit glänzenden ironischen, bösen Murmelaugen. "Hör auf zu heulen, du dummes Weibsstück!", herrschte er die Chola-Schönheit an, der unentwegt die Tränen aus den mit Panik erfüllten Augen flossen. "Na, wird‘s bald?", schrie er weiter und ergötzte sich insgeheim an ihren Ängsten. Einer der Guerilleros stand etwas abseits und beobachtete die Szene mit kaum verhohlenem Unwillen. Sein Schnurrbart zuckte nervös. Eduardo Carillo war Kubaner und sollte im geheimen Auftrag seiner Regierung Kontakte zu linken Gruppen in den Andenländern knüpfen. Außerdem sollte er herausfinden, bei welchen es sich lohnte, sie zu unterstützen. Eine Woche war er jetzt mit den "Nuevos hombres" -den „Neuen Menschen“ - des Commandante Suarez unterwegs. Was Carillo da miterlebte, missfiel ihm sehr, denn die "Nuevos hombres" glaubten anscheinend, die Umerziehung des Volkes bestehe darin, es bis auf einen lohnenden willfährigen Rest einfach auszurotten. Genosse Suarez nahm sich ohne Zweifel den massenmordenden Genossen Stalin zum Vorbild! Mit Unbehagen fragte sich Carillo, was aus den zitternden Reisenden da werden sollte! Suarez und seine Mannen trieben sie gerade in das größere, stabilere Gebäude hinein. Donnernd schlug die Tür zu. Ein sehr junger Guerillero wurde als Wache davor postiert. Sie verhielten sich wie eine wortlose dumpfe Masse. Erst nach Minuten des Eingeschlosseseins wagten es die Überfallenen, sich zu regen. Die Chola-Schönheit erlaubte es sich jetzt, hörbar zu schluchzen, der Busfahrer wanderte zitternd und lamentierend auf und ab. "Was die mit uns machen werden! Was für ein Land! Umbringen werden sie uns alle, umbringen! Por Dios – und die armen Frauen erst!" Bevor der Mann noch ausführlicher werden konnte, griff der Alcalde energisch ein. "Sei endlich still! Willst du alle anderen verrückt machen? Halt den Mund und setz dich!", befahl er voller Autorität. Der Busfahrer wollte zornig aufbrausen, denn als Cholo aus Lima fühlte er sich jedem ländlichen Indio weit überlegen – auch einem Alcalde! Doch in den Augen des Mannes lag so viel gebieterische Macht, dass er schwieg, sich hinsetzte und sich über sich selbst wunderte. Das breite dunkle Gesicht des Alcalde spiegelte steinerne Ruhe wider, als er abermals sprach: "Wir wissen nicht, was geschehen wird. Aber rechnet mit allem und ergreift jede Chance zu fliehen, wirklich jede!" Wieder breitete sich Totenstille aus. Isabella hielt Gloria fest an sich gedrückt. Was hätte sie darum gegeben, jetzt beten zu können! Welch eine Kraft hatte Hermano – so hatte sie ihren Mann Hermann genannt – vor seinem Tod im Gebet gefunden! Durch seine Krankheit war er zunächst ein sehr schwieriger Mann geworden. Nicht mehr vergleichbar mit dem Menschen, den sie geliebt und geheiratet hatte! Drei Jahre lang hatte sie ihn betreut, eine leidende, von Schmerzen gequälte Kreatur, die versuchte, ihre Pein in Alkohol zu ertränken. Jeder Tag hatte trübe begonnen und noch trüber geendet. Die furchtbaren Folgen einer schweren Kriegsverletzung hatten den scheinbar genesenen und für Jahre gesunden Mann wieder in ein Wrack verwandelt. Bittere Jahre waren das für Isabella und die kleine Gloria gewesen. Nein, Gewalt war nie im Spiel gewesen! Noch nicht einmal im alkoholisierten Zustand war Hermano jemals gewalttätig geworden, doch plagte er seine kleine Familie seelisch. Sein kleines Ebenbild Gloria liebte er zwar abgöttisch, aber das Kind wurde ihm, dem Schwerkranken, oft auch lästig, und dann verjagte er es unwirsch. Isabella hatte sich des Öfteren gefragt, in wieweit sich Gloria an diese Zeit erinnerte, denn sie sprach kaum darüber. Gerade in dieser entscheidenden Lebensphase der Kindheit hatte Gloria ein Wechselbad der Gefühle durch den kranken, sterbenden und schließlich toten Vater erlebt! So war Isabella sehr dankbar für die Anwesenheit ihres eigenen Vaters gewesen. Abuelo (Großvater) Pedro war stets der ruhende Pol in Glorias Dasein gewesen, ein Ersatzvater mit einem ungewöhnlich ausgeglichenen Wesen und der stets gleichstarken Liebe, die der eigentliche Vater nicht mehr hatte zeigen können. Doch dann, vier Monate vor seinem Tod, war eine Änderung bei Hermano eingetreten. Er, der in religiösen Dingen überkritische Mensch, hatte sich Gott zugewandt und sein Leben Jesus, dem Sohn Gottes, übergeben. Erstaunlich schnell änderte er sich. Von einem Tag zum anderen waren die Schnapsflaschen aus dem Haus verschwunden. Dann wich auch die nackte Verzweiflung – und der so unfreundlich gewordene Mann gab kein lautes Wort mehr von sich. Er versuchte das gutzumachen, was er zerstört hatte. Für den Rest seines verbleibenden Lebens wurde er wieder zum liebenswerten Ehemann wie zu Anfang ihrer Ehe. Auch als Vater wurde er der, den sich Gloria so vergeblich gewünscht hatte. Aber das Kind konnte diesem Wandel nicht mehr folgen und verkroch sich misstrauisch hinter dem Rockzipfel seiner Mutter und seines Abuelito. Schließlich starb Hermann Mandt im Alter von siebenunddreißig Jahren – versöhnt mit Gott und der Welt. Und der, dem er die letzten Monate seines Lebens konsequent gefolgt war, geleitete ihn sicher in sein ewiges Reich. Isabella wusste, dass diese Wandlung durch seinen Glauben an Jesus und an das Wort Gottes – die Bibel – gekommen war. Und plötzlich, als sie in den Händen von gefährlichen Terroristen in dieses düstere Gebäude eingesperrt war, bereute sie zutiefst, dass sie selbst nie die Bibel zur Hand genommen hatte, um den Glauben darin zu finden, der Hermano so sichtbar Kraft und Zuversicht geschenkt hatte. Und jetzt sollte alles zu spät sein? Sie wusste noch nicht einmal, wie und was man betete – in einer solchen Situation! Isabella sah auf und ihr Blick traf sich mit dem Teresa Uros. Und sie spürte, dass auch diese sich gerade an Don Hermano erinnerte. "Er hatte die Hoffnung, die uns jetzt fehlt", teilten die schwarzen Augen Teresas Isabella stumm mit. Die Tür wurde unvermittelt aufgerissen. Knarrend und ächzend donnerte sie heftig gegen die Außenwand. Geblendet durch das plötzlich hereinfallende grelle Licht kniffen die meisten der Gefangenen die Augen zusammen. Commandante Suarez stampfte in den Raum. Die bösen Murmelaugen wanderten von Gesicht zu Gesicht, als ob sie irgendetwas oder irgendjemanden suchten. Dass draußen gestritten worden war, war von keinem der Gefangenen überhört worden. Doch auch denen mit einem scharfen Gehör war der Inhalt entgangen. Und so wussten sie nicht, was auf sie zukam. Suarez deutete, scheinbar wahllos, auf einige der Unglücklichen. "Du da – und du, ja du auch – ihr kommt mit raus!", kommandierte er ungnädig. Zu den Ausgesuchten gehörten die rundliche – jetzt gar nicht mehr fröhliche – Marktfrau, der Busfahrer, dem sichtlich der Schweiß ausbrach, der Mann – ein Mestize mit einem klugen Gesicht -, der nur einen Meter von Teresa entfernt auf dem Boden gesessen hatte – so still und wortlos wie er die gesamte Fahrt über gewesen war. Dann wurde noch die wimmernde Chola-Schönheit, nebst Sohn, und zuletzt auch Isabella hinaus kommandiert. Gloria war wie betäubt, als ihre Mutter sich langsam erhob. "Trenne dich keine Minute von ihr! Ohne dich ist sie verloren! Ich vertraue sie dir an!", flüsterte Isabella Teresa eindringlich zu, die tieftraurig nickte. "Glorias Leben ist mein Leben!", gab sie schlicht zurück, und es klang wie ein Gelöbnis. "Und du, meine Kleine, wirst tun, was Teresa sagt! Wir sehen uns bald wieder!" Ehe Gloria etwas erwidern konnte, hatte ein Guerillero Isabella ungeduldig aus dem Gebäude gezerrt. Was sich im Folgenden draußen abspielte, sollte Gloria erst Jahre später auf überraschende Weise erfahren. Sie warteten – schier endlos. Sie bekamen Durst und Hunger und wagten es nicht, sich zu rühren. Sie warteten so lange, bis sie fast zu erschöpft waren, um sich noch weiter zu fürchten! Plötzlich knallten Schüsse – mal näher, mal weiter entfernt. Unbewusst zogen die meisten die Köpfe ein. Dann war es still! Vollkommen still! Der Alcalde erhob sich entschlossen, schlich zum Eingang und lauschte nach draußen. "Sie sind weg!", stellte er überrascht fest und öffnete vorsichtig die Tür. Die anderen, auch Teresa und Gloria, drängten ihm nach ins Freie. Man hatte sie tatsächlich unbewacht zurückgelassen! Da wurden in der Ferne erneut Schüsse laut. "Sie kommen zurück! Los, lauft weg!", rief einer der Gefangenen, ein Bauer, den anderen zu, die gleich ihm Serranos -Leute aus den Bergen - waren, und lief bergan. Die anderen folgten ihm. Nur Teresa zögerte, packte dann aber Gloria am Handgelenk und zog sie kurzentschlossen hinter sich her – in Richtung Urwald – weg von den Bergen! Eine Entscheidung, die das Leben der beiden retten sollte! Gloria versuchte, sich aus Teresas festem Griff zu befreien. "Wir müssen nach Mama suchen", schrie sie, "wir können Mama doch nicht alleine zurücklassen!" "Wir gehen weiter, wir müssen! Hörst du nicht? Sie kommen näher! Wir sind so gut wie tot, wenn wir uns nicht beeilen! Deine Mama liegt in Gottes Hand!", schrie Teresa zurück, keuchend und mit verzerrtem Gesicht, so energisch, wie Gloria es noch nie bei ihr erlebt hatte. Das verzweifelte Mädchen gab nach und im Laufschritt ging es bergab. Teresa hielt Glorias Handgelenk weiter fest umschlossen. Bei jedem Geräusch hinter ihnen zuckten sie zusammen. Gloria bekam sogar eine Gänsehaut. An dieses Gefühl der Bedrohung im Rücken sollten sich beide ihr Leben lang erinnern. Endlich, ja endlich erreichten sie "la Selva" und waren damit aus der Sicht eventueller Verfolger. Der Urwald nahm sie in seinen Dunstkreis auf – schützte und bedrohte sie zugleich und wurde für ein halbes Jahr ihr Schicksal.

Kapitel 2

Don Pedro und die "Neuen Menschen"

Die drei Campesinos hatten die Schüsse gehört. Doch es war klug gewesen, die Richtung, aus der die Schüsse herüber gehallt waren, zu meiden. Sie hatten sich beeilt, ihr nahe liegendes Dorf zu erreichen. Es war still gewesen, den Mittag und die gesamte Nacht über. Im Morgengrauen hatten sie sich allerdings entschlossen nachzusehen, was sich dort an dem Ort der Schießerei abgespielt hatte. Man wusste ja nie, ob nicht auch Verwandte oder Freunde in Gefahr geraten oder gar tot waren. In einem armen Land wie dem ihren blieb es nicht aus, dass manch einer glaubte, die Situation mit Gewalt verändern zu müssen. Die Regierung antwortete selbstverständlich mit Gegengewalt. Und doch stellten Zwischenfälle dieser Art nur ein Vorgeplänkel dar, gegenüber dem, was sich Jahre später in dem Andenstaat Peru, dank des Sendero Luminoso, abspielen sollte! Die Campesinos waren es, die die Hauptlast solcher Auseinandersetzungen zu tragen hatten. Manchmal kam die Guerilla irgendwelcher Splittergruppen in ihre Dörfer, forderte Unmögliches und terrorisierte die Leute – zum "Wohl des Volkes", versteht sich! Dann wieder erschienen Regierungstruppen und suchten nach vorhandenen oder nicht vorhandenen Terroristen. Nach solchen "Besuchen" fehlten ab und an einige Männer und Frauen, verschwanden in Militärgefängnissen oder tauchten überhaupt nicht mehr auf. Die drei Campesinos machten sich auf den Weg und erreichten nach knapp einer Stunde die Chacra. In dem großen Gebäude fanden sie einzelne Kleidungsstücke, zwei Taschen und einen Korb. Die Erde vor und in dem Gebäude wies die Abdrücke vieler menschlicher Füße auf, denn sie war feucht und weich gewesen. Der älteste der drei Männer war ein erfahrener Jäger und verstand sich auf das Spurenlesen. Etwa dreihundert Meter weiter trafen sie auf die ersten leblosen bekleideten Bündel, welche einmal Menschen gewesen waren. Sie blickten sich vorsichtig um und besahen sich dann die Toten genauer. Löcher, aus denen Blut gelaufen war, zeigten, dass sie erschossen worden waren. Dann hatte man die Ermordeten einfach den Abhang hinunter gestoßen. Die Mörder waren ohne Zweifel in großer Eile gewesen, sonst hätten sie ihre Opfer verscharrt. Die drei fanden unter den elf Toten kein bekanntes Gesicht und machten sich – halb bedrückt, halb erleichtert – auf und davon. Diesmal wählten sie einen anderen Weg, der zwar steil bergan führte, aber eine Abkürzung bedeutete. Zu ihrem Entsetzen war dieser Pfad ab einer bestimmten Stelle mit weiteren Toten gepflastert. Diese wurden durch ihre Kleidung als Serranos ausgewiesen. Trotz ihres Grauens zwangen sich die Männer, genauer hinzusehen. Diese Getöteten wiesen keinerlei Schusswunden auf, hatten aber alle einen eingeschlagenen Schädel. Die Männer rätselten, was das zu bedeuten hatte, fanden aber keine Erklärung. Wieder kein bekanntes Gesicht! Zutiefst erschrocken und verwirrt kamen sie im Laufschritt in ihrem Dorf an. Polizei und Militär erfuhren in Windeseile von dem Massaker bei der verlassenen, abgelegenen Chacra. Und da diese Untat nicht auf ihr eigenes Konto ging, waren am nächsten Morgen die lokalen Zeitungen voll mit Berichten über den blutigen Vorfall. Die Kunde erreichte sehr schnell auch Lima und brachte die Angehörigen der ermordeten Reisenden auf den Plan. Pedro de la Cruz wurde durch heftiges unnachgiebiges Klingeln aus seinem leichten Morgendämmerschlaf gerissen. Sein bester Freund Felipe de Ayala stand mit der Zeitung in der Hand vor der Tür und brachte vor Aufregung kein Wort heraus. "Por Dios! Felipe, mein Bester, ist etwas geschehen?", rief Don Pedro nicht wenig überrascht aus, und führte den so sichtlich Verstörten sachte am Arm in das große Wohnzimmer. Eine ältere, dickliche und verschlafene Frau trat leise ein. Das heftige Klingeln hatte auch sie aus ihrer kostbaren Ruhe aufgeschreckt. Isabella hatte Maria aushilfsweise, für die Zeit ihrer und Teresas Abwesenheit, zur Betreuung Don Pedros eingestellt. Nicht, dass der alte Herr besonderer Pflege bedurfte, aber irgendjemand musste für ihn kochen, denn er verabscheute es, auswärts zu speisen. Und er gab auch nicht allzu genau auf seine Kleidung acht. Maria erwies sich als schweigsam, tüchtig und eine gute Köchin. Jetzt stand sie wartend da, ob Señor de la Cruz irgendwelche Wünsche hatte. "Maria, trage uns bitte Kaffee auf. Ich glaube, mein Freund hat ihn nötig!" Don Felipe hatte seine Fassung größtenteils wiedergewonnen und ließ sich schwer auf einen der kostbaren antiquarischen Stühle fallen, der verdächtig ächzte und knackte. Er beschloss, seinen herzkranken Freund nicht mit der Hiobsbotschaft, welche er heute Morgen in der Zeitung entdeckt hatte, zu überraschen, sondern ihn sachte darauf vorzubereiten. Maria servierte in verschlafener Seelenruhe den Kaffee in den teuren, zarten Porzellantassen, und Don Pedro wunderte sich im Stillen über das Verhalten seines Freundes. Erst war er doch so sichtlich erregt gewesen, und nun wollte er nicht mit der Sprache heraus! Don Felipe kam auf dieses und jenes zu sprechen und zerdrückte die Zeitung, welche er immer noch nicht aus der Hand gelegt hatte. Scheinbar so ganz nebenbei wandte sich das Gespräch der verreisten Familie Don Pedros zu. Ob er schon etwas gehört habe von seinen Lieben? An diesem Punkt horchte Don Pedro auf. Die Art, wie sich Don Felipe nach seiner Familie erkundigte, und auch sein betrübter Blick beunruhigten ihn. "Mir will scheinen, mein Freund, dass du ein nicht leicht zu erklärendes Anliegen hast!", forderte Don Pedro den Zögernden auf. Don Felipe legte kurzentschlossen die Zeitung hin, denn sein Freund musste die tragische Geschichte ja doch erfahren! Don Pedro studierte den Bericht und wurde unter seiner bräunlichen Haut weiß wie die Wand. Und er las ihn abermals mit zitternden Lippen. Don Felipe beobachtete ihn besorgt und fragte sich, wo die Herztabletten waren, denn er fürchtete, dass sie gebraucht würden. Nachdem er eine Weile geschwiegen hatte, erhob Don Pedro sich steif und beherrscht. Wenig später war er angekleidet und befand sich mit Don Felipe – in dessen Wagen – auf dem Weg zur Polizei. Dort wurden sie zuvorkommend behandelt, denn sie waren vornehme – und was noch mehr zählte – wohlhabende Herren. Der Offizier klärte sie über das Massaker auf. Einunddreißig Tote seien gefunden worden. Ob es Überlebende gäbe? Nein, das wisse er nicht! Bis jetzt sei noch unbekannt, wie viele Menschen in dem Bus gewesen seien. Wer die Mörder waren? Auch noch ungeklärt! Die Leichen müssten identifiziert werden. Ob Señor de la Cruz Fotos von den Vermissten dabei habe? Don Pedro zog aus der Innenjackentasche seines beigen Anzuges ein kleines handliches Fotomäppchen. Die Aufnahmen waren an Glorias zwölftem Geburtstag gemacht worden: Isabella und ihre Tochter, die dabei waren, den Geburtstagskuchen anzuschneiden – Teresa Uro, die lachend eine Kanne Limonade in der Hand hielt – wieder das Geburtstagskind in seinem roséfarbenen Kleid und den goldfarbenen Schuhen, ein Geschenk an sich drückend, umringt von ebenso kleinen, aber schwarzhaarigen Mädchen. Der Offizier betrachtete die blonde Gloria mit merklichem Interesse. "Das ist Ihre Enkelin, Señor de la Cruz?" "Ja, mein Schwiegersohn war Deutscher." "Mir ist nicht bekannt, dass sich unter den Toten ein blondes Mädchen gefunden hätte! Man weiß natürlich nicht . . .", der Offizier brach ab. Ein kleines Militärflugzeug brachte Don Pedro und Don Felipe – der darauf bestand, ihn zu begleiten – und andere Angehörige zu dem Dorf, das dem Unglücksort am nächsten lag. Vor der Reihe der Toten, die man bereits in Särgen mit Gesichtsfenstern aufgebahrt hatte, weinten viele Menschen. Don Pedro griff sich schwer atmend an die Herzgegend und schluckte schließlich eine Tablette, die er einem vergoldeten Pillendöschen entnahm. "Warte du hier, ich werde sie mir ansehen!", erklärte Don Felipe mitfühlend, aber energisch. Don Pedro nickte wortlos, denn dumpfe Schmerzen durch pochten seinen Brustkorb, und er fühlte sich außerstande, auch nur einen weiteren Schritt zu tun. Er fürchtete zutiefst den Augenblick, in dem der Freund kommen würde, um ihm mitzuteilen, dass er sie gefunden habe. Mit rasendem Puls wartete er. Don Felipe indes kämpfte sich von Sarg zu Sarg, aber er konnte weder Isabellas spanisches noch Teresas indianisches Gesicht oder Glorias Blondhaar ausmachen. Er wandte sich halbwegs erleichtert an einen in der Nähe stehenden Polizisten. "Sind das wirklich alle?", fragte er fast herrisch. "Ja, Señor, wir haben die ganze Gegend gründlich abgesucht!", erwiderte der Mann vorsichtig und leicht beleidigt. Don Felipe beeilte sich, die hoffnungsträchtige Botschaft zu überbringen, und er ließ sich mit Don Pedro auf einem staubigen Erdwall nieder, der eine Art Grenze zwischen zwei Grundstücken darstellte. "Ich habe sie nicht gefunden, es ist anzunehmen, dass sie noch am Leben sind!" Jäh erhellte sich Don Pedros verdüsterter Blick – so etwas wie zaghafte Zuversicht glomm in ihm auf. Tiefe Ringe und eingefallene Wangen waren die sichtbaren Zeichen des Herzanfalls und seiner seelischen Erschöpfung. Ein älterer Polizeioffizier, alarmiert durch den jungen Polizisten, den Don Felipe angesprochen hatte, kam auf sie zu und stellte höflich einige Fragen. Bald war er darüber im Bild, was die beiden Herren hier zu suchen hatten. Mit freundlicher Gleichgültigkeit sprach er sein Bedauern aus. Denn die Auseinandersetzung mit den Folgen von "la muerte"- dem Tod - war sein tägliches Brot, und er war nach so vielen Dienstjahren bar jeder Erschütterung, solange die Angelegenheit ihn nicht selbst betraf. Außerdem war er von Haus aus nicht gerade ein Menschenfreund. Don Pedro erkundigte sich nach der Möglichkeit, den Ort des bösen Geschehens selbst zu besichtigen, und Don Felipe half dem Ansinnen mit ein paar großen Scheinen nach, die noch so neu waren, dass sie knisterten. Rasch und diskret steckte er sie dem Offizier zu, der daraufhin freundlicher wurde und sofort einen Jeep mit zwei jungen Polizisten – den einen als Fahrer, den anderen als Wächter – bereitstellte. Als geborene Peruaner waren beide Herren weit davon entfernt, sich über die Bestechlichkeit des Mannes zu empören. Sicher, sie waren sich bewusst, dass Korruption eine schwere Hypothek für ihr Land darstellte. Doch was hätten sie daran ändern können? So war es immer gewesen, und so würde es wohl auch bleiben! Ein paar Scheine hatten gegen eine kleine Gefälligkeit den Besitzer gewechselt, und jetzt waren sie auf dem Weg zu dem gewünschten Ziel. Das war die Hauptsache! Die Einsamkeit der Landschaft wirkte auf sie beide bedrückend. Schweigend hingen sie ihren Gedanken nach. Don Pedro fragte sich, wie hier jemand – insbesondere seine zarte, des Öfteren kränkelnde Enkelin Gloria – überleben sollte. Angesichts dieser Tatsache verdüsterte sich sein Gemüt erneut. "Das Mädchen ist nicht alleine. Und glaube mir, Isabella und Teresa werden alles daransetzen, sie wieder heil nach Hause zu bringen!", sagte Don Felipe in die Stille, als ob er die Gedanken des Freundes erraten hätte. Dieser warf ihm einen dankbaren Blick zu. Die Unglückschacra und die Selva kamen in ihren Sichtbereich. Neben dem großen Gebäude bedeutete Don Pedro dem Fahrer anzuhalten, was dieser dankbar tat, denn ihm war nach einer Zigarettenpause zumute. Die beiden Herren stiegen durch gerüttelt und steif geworden aus. Sorgfältig betrachteten sie die Umgebung. Besonders die Selva erweckte Don Pedros Aufmerksamkeit. Sein Herz machte sich wieder verstärkt bemerkbar. Vorsichtig setzte er sich auf einen von der Sonne erwärmten Felsen und nahm vorbeugend eine zweite Tablette ein. Eine Ahnung war da in seinem Innern, die er in Gedanken umzusetzen versuchte. "Ob sie etwa . . .? Nein, das würden sie sicher nicht wagen! Oder doch?" Nachdenklich starrte er auf die Selva, die er jetzt zum zweiten Mal in seinem Leben zu Gesicht bekam, und plötzlich wuchs in ihm die Gewissheit, dass sie in der Selva Schutz gesucht hatten! Und dann wanderten seine Gedanken über vierzig Jahre zurück zu der Zeit, als er selbst ein junger Mann Anfang zwanzig gewesen war und sich in den Urwald geflüchtet hatte, um sein junges Leben zu retten. Damit hatte seine geliebte, leider schon verstorbene Frau Luisa zu tun gehabt. Don Pedro erinnerte sich nun wieder an jede Einzelheit: Luisa Navarro de la Cruz war die Tochter einer spanischen Einwandererfamilie, die aus nicht ganz klaren – aber wahrscheinlich politischen – Gründen ihre Heimat Andalusien verlassen und den Sprung in das südamerikanische Peru gewagt hatte. Señor Ramon Navarro hatte sehr klein angefangen. Mit einem Ländchen, das auf einer ausgebreiteten Decke Platz gefunden hätte. Doch das Geschäft wuchs! Im zweiten Jahr hatte die Familie Navarro genug zum Leben, im dritten Jahr herrschte bescheidener Überfluss. Und ab dem vierten Jahr konnte man die Navarros getrost als wohlhabend bezeichnen, ab dem fünften waren sie reich! Señor Ramon Navarro führte außerhalb seines Geschäftes eher ein stilles, zurückgezogenes Leben. Er verbrachte es in seiner Bibliothek in der Gesellschaft leichter, würziger Weine und entzog sich auf diese Weise seiner Gattin Ines und seinen hitzköpfigen Söhnen – vier an der Zahl. Außer der einzigen Tochter Luisa fürchtete er sie insgeheim alle, denn sie waren ein lauter, wilder, streitbarer Menschenschlag. Der feine gebildete aus vornehmer, aber verarmter Familie stammende Mann war seiner urwüchsigen ungestümen Macha (tonangebende Person) Ines auf Dauer nicht gewachsen, besonders auch dadurch, dass die Söhne nach der Mutter geraten waren und diese allzu willig unterstützten. Also teilte er seine Liebe zwischen Tochter Luisa und den würzigen Weinen auf und blieb zur Sicherheit in der Bibliothek. Luisa und ihr Zwillingsbruder Luis waren die jüngsten Kinder des Ehepaares. Luisa, das einzige Mädchen der Familie, wurde von Mutter und Brüdern eifersüchtig geliebt und bewacht – auf eine sehr unvernünftige Weise. Die Probleme begannen, als Luisa sich danach sehnte, von dem Podest der Tugend, auf das ihre Familie sie gestellt hatte, herunterzusteigen, um einem jungen Mann in die Arme zu sinken und eine eigene Familie zu gründen. Sie war inzwischen sechzehn und noch nicht einmal verlobt – eine Schande in einer Zeit, in der vierzehnjährige Ehefrauen durchaus üblich waren! Aber ihre wilden Brüder hatten jeden Freier, der darum bat, um sie werben zu dürfen, in ihrem andauernden unvernünftigen Zorn nicht nur abgewiesen, sondern unter Drohungen davon gejagt. Luisa fürchtete zu Recht, ihr Leben als alte Jungfer oder als unfreiwillige Nonne in einem Kloster verbringen zu müssen. Doch auf dem täglichen Gang in die Kirche – selbstverständlich eskortiert von ihrer Mutter, einer Dienerin und ihrem Zwillingsbruder – wandte sich ihr Schicksal. Ihr Weg kreuzte sich dabei mehrmals mit dem von Pedro de la Cruz, der bald ihre Aufmerksamkeit erregte. Ein zarter, immer intensiver werdender Flirt mit den Augen entwickelte sich. Tag und Nacht stand ihm dieses spanische Filigranfigürchen, mit seinem lackschwarzen Scheitel, welcher für den Kirchgang größtenteils mit einer weißen teuren Spitzenmantilla bedeckt war und seinen grazilen Bewegungen vor Augen. Und dann dieses Gesicht – fein, lebendig und sichtlich intelligent! Nach der siebten Begegnung stand er vor der Kirche und betrachtete sinnend die im Staub sichtbaren Abdrücke von Luisas Puppenschuhen. Da wusste er plötzlich, was er zu tun hatte. Diskret erkundigte er sich bei dem Priester in der Kirche nach der schönen Unbekannten. Dieser gab ihm bereitwillig Auskunft – aber nicht ohne ihn vor dem gefährlichen Anhang der reizenden jungen Dame zu warnen! Denn mancher der schnöde Abgewiesenen hatte bei dem Pater sein vor Liebe und verletztem Stolz angeschlagenes Seelenleben ausgebreitet. Daraufhin wartete Don Pedro erneut auf Luisa, die auch pünktlich wie immer – umgeben von ihren unvermeidlichen Wächtern – erschien. "Ich will dir meine Aufwartung machen, denn ich liebe dich!", sagten seine Augen zu ihr, und sie verstand. "Ich würde dich willkommen heißen, aber es ist gefährlich!", erwiderte ihr bejahender und zugleich warnender Blick. Unauffällig ließ sie ein mit Blumen besticktes weißes Seidentüchlein zu Boden gleiten. Doch ehe Don Pedro den zarten Liebesbeweis an sich nehmen konnte, trat Bruder Luis auf den Plan! "Ah, Sie sind der Señor, der es wagt, meiner Schwester aufzulauern!", schrie er laut, und seine Augen wurden schwarz vor Empörung. "Das werden Sie bereuen, Señor, wirklich bereuen!" Der Sechzehnjährige rannte los, um seine Brüder herbeizuholen, die sich nicht weit entfernt von der Kirche aufhielten. "Bringen Sie sich in Sicherheit!", rief Luisa verzweifelt, während ihre Mutter auf sie einschimpfte. Woher sie den Señor denn kenne? Ob sie der Untugend verfallen sei? Don Pedro, der Mittelpunkt dieses Dramas, stand verdattert und ratlos da, bis Luis mit seinen drei Brüdern nahte! Ihre bösen Absichten waren unverkennbar, und Don Pedro ergriff die Flucht und lief diesen kleinen stämmigen Männern, die schlechte Läufer waren, schnell wie ein Hase davon. Dann entwickelte sich die Angelegenheit sehr rasant. Unser jugendlicher Held hatte schlimmstenfalls damit gerechnet, unter Drohungen vor den Traualtar geschleppt zu werden. Nach der Hochzeit hätten sich normalerweise die wütenden Brüder in treue und hilfsbereite Verwandte verwandelt. Doch die Navarros hielten sich nicht an das Gängige und schickten Don Pedro ernstzunehmende Morddrohungen ins Haus, die ihn und seinen Vater Fernando de la Cruz in Angst und Schrecken versetzten. Don Fernando dachte nicht daran, seinen einzigen Sohn durch diese Burschen zu verlieren und leitete alles Nötige zu seiner Rettung in die Wege. In Begleitung eines finsteren Menschen namens Bruno, der als Leibwächter fungierte, schickte er ihn auf geheimen Pfaden zu einem entfernten Verwandten, der einen schwunghaften Holzhandel betrieb, in die Selva. Dort begann für den jungen Don Pedro eine harte Prüfungszeit. Der finstere Bruno ließ ihn tatsächlich keine Minute aus seinen düsteren Augen. Ununterbrochen paffte er übel riechende Zigarren und blieb nervtötend wortkarg. Als Don Pedro ihn bat, doch wenigstens kurzfristig das Rauchen aus Rücksicht auf ihrer beider Lungen einzustellen, erwiderte der Pistolero nur unwirsch, dass er sich zwar verpflichtet habe, ihn zu bewachen, aber nicht sich von den Moskitos auffressen zu lassen! Selbstverständlich könne der junge Herr zwischen dem Rauch und den Navarro-Brüdern wählen . . . Don Pedro entschied sich augenblicklich und ohne zu zögern für die Zigarren! Standhaft ertrug er den menschlichen Schlot an seiner Seite, das andauernde Kreischen der Sägen, die Dschungelschwüle und den zwar hilfsbereiten, aber unfreundlichen Verwandten. Doch Luisa schlug er sich nicht aus dem Kopf. Er war kein Held, aber stur! Bis jetzt hatte er alles erreicht, was er wollte. Und so war er sich sicher, dass er heiraten würde – Luisa natürlich, und keine andere! In seinen langen Nächten entwarf er allerlei Pläne, um sie doch noch zu gewinnen. Luisa indessen war maßlos verzweifelt! Die Mutter ließ sie keinen Schritt mehr aus dem Haus und hielt sie wie eine Gefangene. Was noch schlimmer war, ihre Gespräche wandten sich öfter und öfter einem in ihren Augen gottgefälligen Leben im Kloster zu. Doch nach zwei Monaten familiärer Haft wandte sich abermals ihr Schicksal. Luisa schlich zu ihrem Vater in die Bibliothek und klagte ihm traurig ihr Leid. Don Ramon erwachte durch die Verzweiflung seiner Tochter aus seiner weinseligen Bibliotheksisolation und schlagartig wurde ihm klar, dass er zu lange zu viel geduldet hatte. Doch jetzt musste er etwas unternehmen – und wenn es das letzte Mal in seinem Dasein war. Diese Macha und ihre unvernünftigen Söhne waren dabei, das Leben seiner einzigen Tochter zu zerstören! Er besänftigte Luisa und schickte sie auf ihr Zimmer. Dann machte er sich auf den Weg in die Höhle des Löwen. Aufrecht und mit zusammengekniffenen Augenbrauen trat er seiner Frau und den Söhnen gegenüber und erklärte ihnen mit kalter Stimme, was er zu tun gedachte: Er würde sich bei Señor Fernando de la Cruz entschuldigen und dessen Sohn Pedro herzlich willkommen heißen – falls dieser überhaupt noch wolle! Seine Tochter Luisa würde auf ihren Wunsch hin heiraten! Als ein Entrüstungssturm losbrechen wollte, gebot er Einhalt und drohte seinen Söhnen und ihrer Mutter, sie auf der Stelle zu enterben, wenn sie es wagen sollten, ihm zu widersprechen! Ines starrte den verwandelten Gatten fassungslos an und begriff, dass er es ernst meinte. So kam es, dass Ramon Navarro persönlich bei Fernando de la Cruz vorsprach, dass Don Pedro aus der Selva zurückgerufen wurde und dass einen Monat später, nach einem ausführlichen Gespräch mit Vater und zukünftigem Schwiegervater, die Hochzeit stattfand. Gute Zeiten waren gefolgt. Luisa erwies sich als die Frau, welche er immer wieder für sich gewählt hätte. Auch sie fand ihr Glück bei ihm. Drei Kinder waren ihnen geboren worden, zwei Knaben und dann ihre Tochter Isabella. Sie blieb ihnen als einzige, denn die beiden Jungen verstarben im zarten Kindesalter während einer Typhusepidemie. Don Pedro hatte sich nie eine casa chica -ein kleines Haus – wie man eine illegale Zweitfamilie nannte – zugelegt, so wie es viele Männer seines Standes taten. Und wie man es auch seinem Freund Don Felipe nachsagte. Nein, er brauchte keine Mätresse, seine aufregend lebendige und feurige Luisa war ihm genug. Wie einen kostbaren Schatz verbarg er seine ungewöhnlich glückliche Ehe sorgfältig vor Freunden und Bekannten, denn man war allzu schnell als impotenter Pantoffelheld verschrien. Es war ihm gelungen, dass man ihn in jüngeren Jahren für einen verschwiegenen Genießer gehalten hatte. Keiner ahnte, dass dieses wissende Lächeln jetzt seiner eigenen Frau galt! Don Pedro befand sich wieder in der Gegenwart. Mühsam erhob er sich von dem Felsen. Don Felipe eilte herbei und langsam gingen sie zu dem Jeep, der sie zum Dorf bringen sollte. In Don Pedro war die Gewissheit, dass sie lebten. Und so kehrte er nach Lima zurück, um auf sie zu warten! Die "Neuen Menschen" lösten sich als Gruppe fast so schnell wieder auf, wie sie entstanden war. Das unüberlegte Massaker hatte ihr Ende bedeutet und die sieben Guerilleros in alle Winde zerstreut. Ihre einzelnen Lebensläufe waren so verschieden wie die Männer selbst. Eduardo Carillo kehrte nach Kuba zurück und betrat nie wieder einen der Andenstaaten. Von da an führte er ein bemerkenswert ruhiges Leben. Ex-Commandante Suarez dagegen betätigte sich als einzelgängerischer Bandit, in dem peruanisch-bolivianischen Grenzgebiet, das auch seine Herkunftsgegend war, und lebte von kleineren, manchmal blutigen Diebereien. Nicht weit von dem Dorf seines eigenen Ayllu zog er sich in einer der besagten Räubereien eine stark blutende, im Übrigen harmlose Fleischwunde zu, die ihn schwächte. Mühsam entkam er seinen aufgebrachten Häschern. Ebenso mühsam und scheinbar vergeblich versuchte er, die Blutung zu stoppen. Doch sie hörte nicht auf, und er begann um sein böses, entartetes Leben zu fürchten. Da beging er den größten Fehler seiner Laufbahn: Er kroch entkräftet in das Dorf seines Ayllu und schleppte sich in eine Scheune am Rande der Ortschaft. Seine Anwesenheit dort blieb nicht lange verborgen. Der Besitzer des Schuppens, ein Cousin zweiten Grades von Suarez, wollte einen Sack voll Kartoffeln dort abstellen. Es war Juni, die Zeit der Kartoffelernte, und der erdverschmierte müde Campesino sehnte sich danach, seinen neugeborenen Sohn in den Armen seiner jungen Frau wiederzusehen. Obwohl er für zwei hatte arbeiten müssen, war er dankbar und zufrieden, dass die Frau und der Sohn die schwierige Geburt doch noch lebendig überstanden hatten. Doch anstatt sich zu seiner Familienidylle begeben zu können, entdeckte er Suarez hinter einigen schon abgestellten Säcken. Ohne den Verwundeten anzusprechen oder sich gar um ihn zu kümmern, wandte er sich um, lief los und informierte jeden nur erreichbaren Mitbewohner über die Anwesenheit des gefährlichen Verwandten. Mit den Tacllas (spatenähnliche Grabstöcke) in den Händen umstellten die Männer des Ortes die Scheune. Sie hatten seinen Tod beschlossen, weil er das wichtigste ungeschriebene Gesetz, das sonst jeder, ob Campesino, Militär, Guerillero oder Normalbürger seiner Gruppe gegenüber einhielt, gebrochen hatte: Suarez, dieser entartete Sohn ihres Ayllu, hatte vor Jahren sein eigenes Dorf überfallen und seine eigenen nahen und fernen Verwandten beraubt, misshandelt, drei sogar getötet! Und das vergaßen sie ihm nie! Sie bereiteten ihm ein grausames, aber schnelles Ende mit ihren Tacllas und vollendeten ihr Werk so gründlich, dass keine Spur mehr von Suarez zu finden war. Er und sein Name wurden nie mehr erwähnt. "Suarez? Nie gehört! Wer soll das gewesen sein, Señor?" Mit ihm waren die "Nuevos hombres" endgültig gestorben. Die ältesten Mitglieder der Gruppe, die Gebrüder Juan und José Gonzales, begaben sich über die peruanisch-bolivianische Grenze, nachdem sie sich von Suarez getrennt hatten, und versuchten in der bolivianischen Unterwelt mitzumischen. Das nahmen ihnen die Einheimischen übel. So beeilten sie sich, das Land zu verlassen und wechselten nach Brasilien über. Dort verdingten sie sich als Pistoleros an einen reichen landhungrigen Hacienda-Besitzer, der Grund und Boden überwiegend analphabetischer Kleinbauern an sich raffte, die nur von der Hand in den Mund lebten. Genau genommen gingen die Brüder Gonzales nun unter umgekehrtem Vorzeichen auf Menschenjagd. Aus den "Rettern der Menschheit" waren endlich jene Räuber geworden, die sie im Grunde immer gewesen waren. Trotz ihres gewalttätigen Lebenswandels sollten sie beide steinalt das Zeitliche segnen und eine Horde illegitimer Nachkommen hinterlassen. Pepe, der jüngste Guerillero der "Nuevos hombres", der als Wache vor das große Gebäude abkommandiert gewesen war, verkraftete das Massaker nicht und wurde gerade zwanzigjährig zu einem ausgeprägten Säufer, der betrunken in seine Becher voller Schnaps und Chicha – ein alkoholhaltiges Maismehlgetränk der Quechua - weinte und Tag und Nacht von Schuldgefühlen erdrückt wurde. Zwei Jahre später erlag er einer schweren Leberzirrhose. Die beiden restlichen Mitglieder von Suarez‘ Truppe waren zwei weitläufig miteinander verwandte junge Männer, gebürtig aus der Provinz Ayacucho. Sie liefen zu einer kleinen, militanten Splittergruppe über, die sich später "Sendero Luminoso" nennen sollte. Der eine, ein einfältiger, etwas langsamer Bursche, wurde bei seinem ersten und letzten Versuch, sich als Bombenleger zu betätigen, in der Nähe der Stadt von Regierungssoldaten verhaftet und in ein kleines Militärgefängnis gebracht. Bei dem ersten "Spezialverhör" schwieg er verstockt. Beim zweiten "Plauderstündchen" gestand er alles, was es überhaupt zu gestehen gab – einschließlich dem Massaker in der abgelegenen Chacra. Die Militärs freuten sich richtiggehend, endlich jemanden in der Mangel zu haben, der tatsächlich etwas wusste und zu verraten hatte. Darum beschlossen sie, diese "informative Unterhaltung" "verschärft" fortzusetzen. Leider gab der schwächliche Gefangene plötzlich seinen Geist auf, nachdem ihm jeder Knochen, der überhaupt gebrochen werden konnte, zerschlagen war. Verpackt in einem handlichen grauen Müllsack wurde er auf der städtischen Müllhalde abgeladen und später von Anwohnern eilig verscharrt. Denn Ärger mit der Polizei war unter allen Umständen zu vermeiden. Sein entfernter Verwandter dagegen, ein Analphabet zwar, erwies ein einmaliges Talent im Umgang mit Explosionsgeschossen. Zeit und Ort wählte er mit unheimlicher Sicherheit, einen Misserfolg gab es bei ihm nicht. In Kürze verwandelte sich der unwissende Dorfjunge in einen der meistgesuchten Terroristen Perus. Aber gefasst wurde er nie!

Kapitel 3

Das Mädchen im Wald