Der Schritt ins Dunkle - Kim Leopold - E-Book

Der Schritt ins Dunkle E-Book

Kim Leopold

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Beschreibung

Während Ivan Louisa in den sicheren Palast bringt, machen sich Alex, Daniel und Moose auf die Reise nach Marokko. Moose stellt schnell fest, dass ihm seine Unerfahrenheit im Außeneinsatz im Weg steht. Aber nichts hätte ihn auf das vorbereiten können, was die Wächter vor Ort erwartet. Im Palast hingegen machen Hayet und ihre Freunde eine schreckliche Entdeckung, und die Unaufmerksamkeit der anderen Lehrer gibt Ivan und Silas genug Freiraum, ihre eigenen Pläne zu verfolgen. Kim Leopold hat eine magische Welt mit düsteren Geheimnissen, nahenden Gefahren und einem Hauch prickelnder Romantik erschaffen, bei dem Fantasy-Lover voll auf ihre Kosten kommen. Der Schritt ins Dunkle - Der 7. Band der Urban Fantasy Serie Black Heart!

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Black Heart 07

Der Schritt ins Dunkle

 

 

Kim Leopold

 

Für Tatjana, weil sie einen Liebling loslassen musste.

 

 

Es ist so viel dunkler, wenn ein Licht ausgeht, als wenn es niemals geschienen hätte.

 

 

 

 

 

 

[was bisher geschah]

 

Nach dem Überfall der Hexenjäger trennen sich die Wege: Ivan und Louisa kehren zum Palast der Träume zurück, während sich Alex, Moose und Daniel auf den Weg nach Marokko machen, um den entführten Tyros zu befreien.

 

In der Zwischenzeit fällt es Hayet schwer, sich am Palast einzuleben, weil sie mit ihrem Schicksal als Black Heart zu kämpfen hat. Sie nutzt die frühen Morgenstunden, um mit Aslan nach Antworten auf ihre Fragen zu suchen.

 

Jascha nutzt die Lektionen seines Lehrers Silas aus, um die Heilerin Emma wiederzusehen. Unterdessen hat Azalea mit Albträumen aus dem Gefängnis zu kämpfen, in dem ihr neu gewonnener Freund Melvin von einem Gestaltwandler getötet wurde.

 

[1]

 

Aslan

Österreich, 2018

 

So früh morgens ist kaum jemand wach, dennoch bin ich froh, dass mich die Dunkelheit vor neugierigen Blicken schützt, während ich mir meinen Weg durch die Gänge bahne. Die wenigen Wächter, die mir um diese Uhrzeit begegnen werden, sind vorhersehbar. Sie laufen die immer gleichen Wege, bleiben an den immer gleichen Stellen stehen, schauen in die immer gleichen Richtungen. Fast als wären sie keine denkenden Menschen, sondern einfach nur Figuren des Palastes.

Ich frage mich, ob sie einem Angriff wie dem auf Najam Ahmar überhaupt gewachsen wären.

Heute Morgen ist trotzdem alles anders. Heute empfängt man die ersten Gäste, die dem Rat beiwohnen, um Strategien für das weitere Vorgehen zu besprechen. Deshalb mache ich um die Eingangshalle einen großen Bogen und widme mich stattdessen einem Teil des Schlosses, in dem ich bisher noch nicht gewesen bin. Dem Lehrerbereich.

Die beiden Etagen im linken Flügel des Schlosses sind nicht ausdrücklich für Schüler gesperrt, dennoch fühlt es sich an, als würde ich etwas Verbotenes tun, während ich die Glastür leise aufdrücke und genauso leise wieder schließe.

An den meisten Türen hängen Namensschilder. Das macht es leichter, Räume im Vorbeigehen auszuschließen. Mit jeder Tür wächst die Nervosität in meinem Inneren, die ich lange nicht mehr so lebendig gespürt habe. Soll das der Tag sein, an dem ich endlich fündig werde?

Nach all den Jahren des Leidens und Suchens.

Nach Prophezeiungen, gutgemeinten Ratschlägen und fehlgeschlagenen Versuchen.

Ich schüttle den Kopf. Jetzt bloß nicht sentimental werden, denke ich, verwundert darüber, dass die Scheiß-egal-Einstellung mit jedem Tag mehr schwindet. Das hat nicht einmal Willem geschafft, woran liegt es also dann?

Am Ende des Ganges befindet sich eine Wendeltreppe, die in die darüberliegende Etage führt. Nach einem kurzen Blick auf die Uhr beschließe ich, auch dort noch nachzusehen, bevor ich mich wieder auf den Weg zurück in das Schülerquartier mache. Es kann nicht mehr so lange dauern, bis die ersten Frühaufsteher aus den Betten fallen.

Ich beeile mich, die letzten Räume zu überprüfen, und ganz am Ende, als ich schon glaube, nicht mehr fündig zu werden, entdecke ich es plötzlich.

Freya Erikson.

Direktorin.

Mir wird mulmig zumute, während ich die weiße Tür mit den goldenen Verzierungen betrachte. Und jetzt? Einem Ur-Instinkt folgend hätte ich beinahe das Ohr an die Tür gelegt, um zu lauschen, aber dann beschließe ich, meine Fähigkeiten zu nutzen. Ich gehe ein paar Türen zurück und finde eine Besenkammer, in die ich mich zurückziehe, um meine Kleidung abzulegen und in einem Regal zu verstauen. Dann konzentriere ich mich auf das, was ich sein möchte, spüre zunächst das Kribbeln in Händen und Füßen, bevor ich die Augen wieder öffne und auf dem Boden hocke.

Ich schüttle meine acht Beine aus und bewege mich tapsig zur Tür. Ein Spinnenkörper war noch nie mein Favorit, aber praktisch ist er trotzdem, um unter Türspalten hindurchzukriechen und unauffällig zu sein.

Eilig husche ich über den Flur zu Freyas verzierter Tür und sehe mich noch einmal um, bevor ich mich unter der Tür durchquetsche und die Wand emporklettere. Erst oben in der Ecke schaue ich mich um.

Ich befinde mich in einem spartanisch eingerichteten Wohnzimmer, von dem zwei weitere Türen abgehen. Das grüne Samtsofa sieht aus, als hätte es schon bessere Tage gesehen, aber woher soll Freya das wissen, wenn es ihr keiner sagt? Auf dem kleinen Beistelltisch liegt ein dickes Buch in Brailleschrift, daneben ein halbleeres Glas Wasser. In einer Ecke des Raumes steht eine moderne Küchenzeile, die allerdings nicht den Luxus einer vollwertigen Küche bietet. Es wirkt ganz so, als würde Freya sich hier nur gelegentlich aufhalten.

Ich krabble über die Decke auf eine hübsche Flügeltür zu und zwänge mich durch den Spalt zwischen Rahmen und Tür, bevor ich mich umsehe und erstaunt innehalte.

Freya ist hier.

Sie liegt in einem französischen Bett und schläft auf den Bauch gedreht. Ihre blonden Haare sind viel kürzer als damals, aber keinen Deut dunkler. Sie hat sie zu einem Zopf gebunden, damit sie im Schlaf nicht stören, eine Angewohnheit, die sie in all den Jahren nicht verändert hat. Eine Faust hat sich in ein Kissen vergraben, und zwischen ihren Brauen hat sich eine leichte Falte gebildet.

Sie sieht kaum älter aus als damals, und ich frage mich, wie das sein kann.

Bilder unserer gemeinsamen Vergangenheit füllen meine Gedanken – so wie jedes einzelne Mal, während ich sie in der Zeit hier gesehen habe. Irgendwie hatte ich mir eingeredet, über sie hinweg zu sein. Über das, was wir erlebt haben. Über die guten und die schlechten Tage. Über die Liebe und den Hass, über die Verzweiflung und die Tiefschläge und unseren unbändigen Wunsch danach, endlich eine Heimat zu finden.

Scheint, als wäre sie fündig geworden.

Sie bewegt sich, gähnt und reibt sich über die Augen, bevor sie die Decke zurückschlägt und ihre schlanken Beine aus dem Bett streckt.

Ich halte unwillkürlich den Atem an, obwohl sie mich wohl kaum an der Decke hängen spüren wird.

Eine Weile beobachte ich sie dabei, wie sie den Schlaf abschüttelt und sich auf den Tag vorbereitet. Ihre Bewegungen sind schwerfällig, fast so, als würde sie von einem unsichtbaren Gewicht hinuntergedrückt.

Wenn ich mich nur daran erinnern würde, wie sich unsere Wege getrennt haben.

Sie löst ihren Zopf und kämmt die Haare mit ihren Fingern durch. Sie fallen ihr gerade mal auf die Schultern, aber irgendwie mag ich das. Sie nimmt ein paar Kleidungsstücke aus dem Schrank und verschwindet ins angrenzende Badezimmer.

Mein Stichwort.

Jetzt, da ich weiß, wo ihre Räume sind, sollte ich kein Risiko eingehen und mich erwischen lassen. Ich kann später zurückkehren, um das zu suchen, was mir gehört.

Also krabble ich zurück zur Tür, schlüpfe durch den Spalt und kehre in die Besenkammer zurück, um mich in den Schüler zu verwandeln und meine Kleidung anzuziehen. Auf dem Weg Richtung Schülertrakt begegnen mir zwei Wächter, die mir angespannt zunicken. Wirkt, als wären sie auf dem Weg zur Besprechung. Sie scheinen sich nicht darüber zu wundern, dass ein Schüler so früh am Morgen durch den Palast rennt.

Sie sollten dringend mehr Vorsicht an den Tag legen.

[2]

Azalea

Österreich, 2018

 

»Es tut mir so leid«, flüstere ich den Tränen nahe und greife nach seiner Hand, weil das womöglich die einzige Stelle seines Körpers ist, die nicht schmerzt. Seine Lider flattern, und er hat Mühe, sie aufzuhalten. »Kannst du aufstehen? Ich bring dich hier raus.«

Er schüttelt leicht mit dem Kopf, und mir fällt das Herz in die Hose, als mir bewusst wird, dass er alles gegeben und es doch nicht gereicht hat.

»Du musst«, wispere ich und streichle ihm durchs Haar. »Du kannst nicht hierbleiben.«

»Ich ... kann nicht.« Seine Stimme ist kaum ein Hauch, und es fällt mir schwer, die Tränen zurückzuhalten. Aber ich muss. Für ihn. »Azalea ...«

Seine meerblauen Augen fixieren mich mit einer Panik, die ich noch nie gesehen habe.

Das muss es sein.

Die Angst vorm Sterben.

Ich presse die Lippen aufeinander, ziehe seinen Kopf auf meinen Schoß und streichle ihn weiter.

Sei stark.

»Du musst keine Angst haben«, erwidere ich leise und schlucke den Kloß in meinem Hals hinunter. »Ich bin bei dir. Ich lasse dich nicht los. Ich versprech’s dir.«

Er sucht in meinen Augen nach der Wahrheit meiner Worte. Ich lächle ihn an, auch wenn es mir das Herz bricht.

»Ich verspreche es«, wiederhole ich erstickt. »Du bist nicht allein.«

Mit einem lauten Keuchen reiße ich die Augen auf und verharre für einen Moment in dieser Zwischenwelt von Traum und Wirklichkeit. Ich versuche mir einzureden, dass ich bloß schlecht geträumt habe. Aber das ist es nicht. Es ist kein Traum, sondern eine Erinnerung, die mich nie wieder loslässt.

Ich strample die Decke von meinen Beinen und stehe auf, um das Licht einzuschalten und den Raum mit Erleichterung zu fluten. Das Licht hilft mir, die bösen Geister meiner Erinnerung zu vertreiben.

Es hilft jedoch nicht gegen den pochenden Schmerz, der sich in meiner Brust ausbreitet, wann immer ich an Melvin denke. Verzweifelt lasse ich mich aufs Bett zurückfallen und vergrabe das Gesicht in meinen Händen.

Es ist meine Schuld, dass er tot ist.

Wäre mir diese Kette nicht so verdammt wichtig gewesen, hätte er mich nach Hause gefahren und mein verteufeltes Leben mit einem gut gemeinten Gruß verlassen.

»Merde«, murmle ich und stehe auf, um mich anzuziehen. Es dämmert noch, aber an Schlaf ist auch nicht mehr zu denken. Nicht, wenn mich Bilder von Melvin verfolgen, wann immer ich die Augen schließe. Mein Blick fliegt zu dem leeren Bett auf der anderen Seite des Raumes. Ich frage mich, ob es mir besser gehen würde, wenn ich eine Zimmergenossin hätte. Oder wäre es dann schlechter? Hätte ich vielleicht sogar Angst vor ihr, so wie ich ganz zu Beginn vor allem Angst hatte, was nur annähernd magisch war?

Wenn ich das bedenke, gleicht es einem Wunder, dass ich mich mit Hayet, Zoe, Aslan und Jascha so gut angefreundet habe. Sie geben mir das Gefühl, nicht vollkommen fehl am Platz zu sein, auch wenn ich meine eigene Magie bisher noch nicht hervorlocken konnte.

In der Hoffnung, einem von ihnen zu begegnen, damit sie mich von meinen Gedanken ablenken können, verlasse ich kurze Zeit später mein Zimmer. In einer Hand mein Handy und den Zimmerschlüssel, in der anderen ein Buch, das ich mir gestern in der Bibliothek ausgeliehen habe.

Im Kaminzimmer treffe ich tatsächlich auf Hayet und Aslan, die über einem dicken Buch brüten und angestrengt nachzudenken scheinen. Sie bemerken mich erst, als ich mich ihnen gegenüber auf das Sofa fallen lasse.

»Morgen«, begrüßt mich Hayet mit einem Gähnen.

»Morgen.« Ich schenke ihr ein müdes Lächeln und lege meine Sachen auf den Tisch. »Was macht ihr so früh hier?«

Aslan blickt auf und mustert mich aus dunklen Augen. Ein warmes Gefühl breitet sich in meiner Magengrube aus, und ich schaue verlegen auf meine Hände. Ich weiß nicht, was das zwischen uns ist. Wir reden kaum, und doch fühlt es sich an, als würde uns etwas verbinden. Fast wie ein unsichtbares Band. Und so wie er mich manchmal ansieht, scheint er es ebenfalls zu spüren.

»Nichts Besonderes.« Hayet zuckt mit den Schultern und schlägt das Buch zu. »Aslan gibt mir ein bisschen Nachhilfe in der Geschichte der Magie.«

»Nachhilfe?« Jetzt schon? Dabei sind wir gerade mal etwas über eine Woche hier. Argwöhnisch lasse ich meinen Blick über den Buchtitel gleiten, aber tatsächlich – es ist das Lehrbuch für den Geschichte-der-Magie-Unterricht.

»Ja, ich ...«, setzt Hayet an, und Aslan fällt ihr ins Wort.

»Hayet dachte sich, für ihren neuen Job in der Bibliothek sollte sie vorbereitet sein.«

»Du hast einen Job?« Ich reiße erstaunt die Augen auf. Vor ein paar Tagen klang es noch so, als würde Hayet nichts lieber als wieder verschwinden. Dass sie plötzlich in der Bibliothek arbeitet, überrascht mich.

Sie hebt noch einmal die Schultern. »Herr Seidel hat mir einen Bewerbungszettel in die Bücher gelegt. Ich hab mich gestern bei ihm gemeldet.«

»Das freut mich.« Ich lächle sie aufrichtig an. So besteht wenigstens die Chance, dass Zoe und Hayet bleiben, bis ich mich in meine neue Rolle eingefunden habe. Ich könnte es nicht ertragen, wenn sie abreisen und mich in all dem Chaos hier allein lassen.

Wir reden noch eine Weile über die Bibliothek, bevor wir das Thema wechseln und über die Worte der Direktorin rätseln, mit denen sie uns gestern vom Unterricht freigestellt hat. Im Palast ist es mittlerweile gewimmelt voll, und man hört noch mehr unterschiedliche Sprachen als sowieso schon. Vertreter aus allen möglichen Ländern sind eingetroffen, um mit dem Rat über das weitere Vorgehen zu diskutieren.

Eins ist jedenfalls allen klar: Es muss etwas getan werden.

»Nur was?«, überlegt Hayet laut. »Ich meine, es ist ja nicht so, als könnten sich Hexen und Wächter nicht schützen.«

»Nicht gut genug, scheinbar.« Aslan lehnt sich zurück und verschränkt die Hände hinter dem Kopf. »Ich meine, ganz ehrlich: So schwer kann es nicht sein, sich als Gestaltwandler hier einzuschleichen, oder?«

Seine Worte lassen mein Herz schneller schlagen. Mein Blick fliegt zu Hayet, die nicht minder entsetzt aussieht. Sie schüttelt kaum merklich mit dem Kopf, in ihren Augen erkenne ich die unausgesprochene Bitte, Yanis nicht zu verraten.

»Das glaub ich nicht.« Ich lache auf, als wäre seine Idee absurd. Hayet, Zoe und Yanis haben mir geholfen, ich würde ihnen niemals in den Rücken fallen. »Hier laufen so viele Wächter rum. Außerdem ist der Palast doch mit Magie geschützt.«

Er zuckt mit den Schultern und springt auf. »Wie dem auch sei. Ich muss Jascha wecken und meine Sachen holen. Wir sehen uns beim Frühstück.«

Ich blicke ihm hinterher, bis seine hochgewachsene Gestalt hinter den Flügeltüren verschwunden ist. Dann wende ich mich Hayet zu.

»Meinst du, er ahnt was?«, fragt sie mich mit blassem Gesicht.

»Nein«, wispere ich zurück. »Ich denke nicht. Er hat das sicher nur so daher gesagt.«

 

 

»Eigentlich stand für ein paar Wächterschüler heute ein Ausflug in den Ort an, aber so wie es aussieht, wurde der abgeblasen.« Jascha grummelt und beißt von seinem Brötchen ab. »Ich hatte gehofft, wir könnten mal ein bisschen Schokolade besorgen. Das vermisse ich echt tierisch.«

Zoe schließt die Augen und konzentriert sich, kurz darauf taucht neben Jaschas Teller eine Tafel Vollmilchschokolade auf. Sie schmunzelt, weil er sie verblüfft ansieht.

»Manchmal wäre ich auch gerne eine Hexe«, murmelt er kopfschüttelnd und hebt die Tafel hoch, um sie zu untersuchen. Er zögert nicht lange und knickt einen Riegel ab, bevor er die Verpackung löst und davon abbeißt. Genüsslich schließt er die Augen. »Zoe! Es ist offiziell. Du bist meine Lieblingshexe!«

»Ich fühle mich geehrt.« Sie grinst ihn an und ruft mir unser Gespräch über die Jungs wieder in Erinnerung. Es ist kaum zu übersehen, dass sie auf Jascha steht. Kein Wunder, mit seiner offenen Art umgarnt er jeden.

Außer Silas vielleicht, der ihn jetzt schon zwei Mal in den Krankenflügel befördert hat.

Aber Jascha nimmt es mit Humor, und das ist es, was ihn ausmacht. Er scheint immer fröhlich zu sein, ganz im Gegensatz zu Aslan, den man oft genug grüblerisch vorfindet.

Ich lasse meinen Blick zu ihm gleiten und stelle fest, dass er mich betrachtet. Mein Herz macht einen Satz, bevor ich ihm die Zunge rausstrecke und er zu lächeln beginnt.

»Ich hab heute Nacht etwas Merkwürdiges geträumt«, füllt Hayet die Stille, die nach Zoe und Jascha entstanden ist. Es ist das erste Mal, das an unserem Tisch über Träume gesprochen wird, und ich bin neugierig, was die anderen wohl in ihren Nächten verfolgt. »Ich bin durch einen dunklen Gang gelaufen, und dann war ich plötzlich in einem lichtdurchfluteten Innenhof. Das Gebäude war verlassen und mehrere Stockwerke hoch. Irgendwie schaurig. Es war wie ein altes Gefängnis.«

Ich erstarre und kralle mich an der Tischplatte fest, während ihre Worte zu mir durchsickern.

»Ich war nicht allein. Da war jemand bei mir. Ein blonder Mann mit einem breiten Lächeln«, beschreibt sie weiter. Ich muss ihr nicht zuhören, ich weiß genau, von wem sie spricht. Es muss so sein. In einer Welt wie unserer gibt es keine Zufälle mehr.

»Er ...« Hayet stockt. »Er hat mich vor einem Gestaltwandler gerettet.«

»Melvin«, flüstere ich, gefangen in der Erinnerung seiner letzten Minuten. An seine blauen Augen, aus denen langsam, aber sicher das Leben weicht. An seine Angst vor dem Tod.

Eine entfernte Stimme durchschneidet meine Gedanken. »Azalea?« Ich konzentriere mich auf den Klang und blinzle. Aslans Gesichtszüge werden schärfer. Er blickt mich besorgt an. »Alles in Ordnung?«

Ich versuche zu nicken, aber irgendwie kommt dabei ein Kopfschütteln zustande. Vielleicht ist jetzt der richtige Zeitpunkt gekommen, um den anderen von meiner Geschichte zu erzählen, denke ich und hole einmal tief Luft, bevor ich ihnen mit stockendem Atem von Melvin und dem Gefängnis in Lille erzähle.

Mit jedem Wort verschwindet das Gewicht von meinen Schultern. Es tut so gut, endlich über die Geschehnisse zu sprechen. Es den Leuten zu erzählen, die mich verstehen, weil sie wissen, dass ich keinen Unsinn rede. Als ich bei Melvins Tod angelangt bin, kann ich die Tränen nicht länger zurückhalten. Hayet streichelt meine Schultern, und Aslan streckt eine Hand über den Tisch aus, um nach meiner zu greifen. Zoe ballt ihr Hand zur Faust, zaubert mit dem Öffnen ein weißes Stofftaschentuch hervor und reicht es mir. Und trotz all der Trauer, die ich in meinem Inneren gefangen halte, spüre ich zum ersten Mal seit Tagen endlich wieder so etwas wie Glück.

»Ich frage mich nur, wieso ausgerechnet du davon träumst«, schließe ich meine Erzählung an Hayet gerichtet ab. Sie reibt sich mit der freien Hand übers Gesicht.

»Der Traum war da noch nicht vorbei«, sagt sie und senkt ihre Stimme. Automatisch rutschen wir alle dichter an den Tisch. »Ich hab ihn gesehen. Nach seinem Tod. Angekettet wie ein wildes Tier in einem Raum, der aussieht, als könnte er zum Palast gehören.«

Auf meinen Armen bildet sich eine Gänsehaut.

»Ich glaube, er ist hier.«

 

[3]

 

Willem

Brive-la-Gaillarde, 1944

 

Ich wache langsam auf und spüre, dass sich etwas verändert hat. Irgendetwas fehlt.

Und es fehlt so sehr, dass es wehtut.

Ich komme nicht darauf, was es ist, also liege ich einfach noch eine Weile da und lausche in mich hinein. Früher war da immer so ein Summen, ganz unterschwellig, kaum spürbar, aber trotzdem irgendwie da.

Emma.

Vor Schreck öffne ich die Augen. Es ist ihr Summen, das fehlt. Die Magie, das Band, das uns verbindet, seit wir zum ersten Mal unsere Träume geteilt haben.

Ich versuche mich zu erheben, um nach ihr zu suchen, aber ich kann mich kaum bewegen. Es fühlt sich an, als hätte ich sämtliche Knochen gebrochen.

»Du bist wach.« Eine mir bekannte Stimme unterdrückt die aufkeimende Panik. Ich wende den Kopf und nehme meine Umgebung zum ersten Mal wahr, seit ich wach bin. Das Wohnzimmer hat schon bessere Zeiten gesehen, die Schränke sind leergeräumt, ein paar lose Fotos liegen auf den Regalböden, teilweise ist das Glas eingeschlagen worden.

Aber am schlimmsten ist die weggerissene Wand, vor die man ein paar zerfetzte Vorhänge gehängt hat, die sanft im Sommerwind wehen. Der Mann, der den Vorhang beiseitegeschoben hat, um den Raum zu betreten, blickt mich erleichtert an.

»Mikael«, krächze ich. »Was ist passiert?«

Er kommt zu mir, hockt sich neben das Sofa, auf dem ich liege, und gibt mir etwas Wasser. Das hilft mir dabei, wenigstens so weit zu Kräften zu kommen, dass ich mich aufsetzen kann. Offensichtlich habe ich keine ernsteren Verletzungen.

»Du erinnerst dich nicht?« Er fährt sich mit einer Hand durch das kurze, dunkle Haar.

Ich schüttle verwirrt den Kopf. »Sag schon. Ich kann Emma nicht mehr spüren. Wo ist sie? Ist sie bei uns?«

In seinen Gesichtszügen spiegelt sich Bedauern wider.

Mein Herz bleibt für einen Moment stehen. »Nein ...«, flüstere ich. »Das ... Sie ist nicht ...«

»Ich weiß es nicht.« Er verzieht das Gesicht und stellt die Flasche auf den Boden. »Ich glaube nicht, dass sie ... überlebt hat.«

Ich atme schwer aus.

»Wer nicht entkommen ist, ist tot«, murmelt Mikael.

Vage beginne ich mich zu erinnern. »Aber wir haben doch gerade erst einen Erfolg ...«

Er schüttelt den Kopf. »Tulle war kein Erfolg. Die Wehrmacht war längst auf dem Vormarsch. Sie haben am Morgen angegriffen und kaum Überlebende gelassen.«

»Daran erinnere ich mich nicht.« Aber allein seine Erzählung lässt mich erschaudern. Ich weiß nicht, wie wir entkommen sind, während viele unserer Freunde sterben mussten. Während Emma ... Anders kann ich mir nicht erklären, dass die Verbindung plötzlich weg ist. »Wie haben wir es geschafft?«

»Haben wir nicht.« Mikael schaut mich wieder an. »Unter den Soldaten waren Hexen und Gestaltwandler. Einer von ihnen hat dich erwischt und getötet.«

Ich lache auf, so absurd klingen seine Worte. Wenn ich tot wäre, würde ich wohl kaum hier liegen und dieses Gespräch mit ihm führen. Vielleicht fiebere ich. Vielleicht ist das gar nicht real, sondern ich liege in irgendeinem Lazarett und verende an einer Kampfwunde. Vielleicht lebt Emma noch. Vielleicht sitzt sie sogar neben meinem Bett und hält meine Hand.

Nein ... dann würde sie versuchen, mich zu heilen. Sie würde nicht zulassen, dass mich ein Mensch zusammenflickt, wenn sie die Möglichkeit hat, ihre Magie auf mich anzuwenden.

»Wenn ich wirklich gestorben bin, wie kann es dann sein, dass ich hier mit dir spreche?«, frage ich ihn, obwohl ich ahne, dass er mir keine Lügen erzählen würde.

»Ein Wächter, der durch Magie stirbt, wacht wieder auf«, erklärt er mir, »weil er zum Gestaltwandler wird.«

[4]

 

Ivan

Österreich, 2018

 

Im Radio läuft einer meiner Lieblingssongs. Ich bin versucht, die Lautstärke aufzudrehen, aber ich will Louisa nicht wecken. Nach allem, was bei Diana geschehen ist, kann sie den Schlaf sicher gut gebrauchen.

Doch als hätte sie gespürt, dass ich über sie nachdenke, rührt sie sich und schlägt gähnend die Augen auf. Unter ihnen liegen tiefe Schatten, und in diesem Moment wünsche ich mir für sie nur noch, dass sie sich am Palast einlebt und Frieden mit dem Geschehenen machen kann.

»Guten Morgen«, begrüße ich sie.

---ENDE DER LESEPROBE---