Der schwarze Handschuh - Vladimir Odoevskij - E-Book

Der schwarze Handschuh E-Book

Vladimir Odoevskij

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Beschreibung

Eine bezaubernde russische Trouvaille

Charmanter Feingeist und scharfzüngiger Kritiker skandalöser Zustände, erzählt Vladimir Odoevskij stets mit der Eleganz des formvollendeten Stilisten. Dieser Auswahlband ist eine Trouvaille für alle, die sich mit Felicitas Hoppe von der «Leichtigkeit, Geistesgegenwart und Beobachtungsgabe» dieses russischen Klassikers bezaubern lassen möchten.

Neu zu entdecken: ein Hochkaräter der russischen Literatur und ein Großmeister der kleinen Form. Vladimir Odoevskij (1803–1869) hat die Erzählkunst seiner Heimat mitbegründet und sie mit seinen Novellen in weltliterarische Sphären geführt. Sprachlich souverän und in unbefangenem Fabulierton vermittelt er uns ein launig- heiteres Zeit- und Sittenbild der spätaristokratischen Welt. Kaum ein gesellschaftlicher Missstand und kaum ein menschlicher Makel, den der versierte Satiriker nicht auf seine spitze Feder gespießt hätte. Habgier, Eitelkeit, Ruhmsucht, Trägheit des Herzens, Standes- und Geistesdünkel, nichts ist vor seiner Polemik sicher. Der Enge gesellschaftlicher Konventionen und des schönen Scheins entkommen am Ende weder die Privilegierten noch die Habenichtse, weder die Berechnenden noch die, die angeblich reinen Herzens sind. Wie das Zwillingsstück um die zauberhaften Prinzessinnen Mimi und Zizi, das den Beginn der psychologischen Analyse in der russischen Literatur markiert, sind auch die anderen Erzählungen des Bandes eine tiefgreifende Kritik an ausgehöhlten Traditionen. Romantische Motive, spätromantische Brechung und ein modern anmutender Scharfblick finden sich hier meisterhaft miteinander verschränkt.

Bei den hier von Peter Urban gehobenen Prosaschätzen handelt es sich durchwegs um Erst- bzw. Neuübersetzungen, die den Nimbus dieses großen Erzählers belegen.

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Seitenzahl: 348

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Inhaltsverzeichnis

Der schwarze HandschuhDas GespenstFolgen eines satirischen ArtikelsMärchen vom toten Körper, unbekannt, wem gehörigDie SylphidePrinzessin MimiPrinzessin ZiziAnmerkungenNachwortEditorische NotizCopyright

Der schwarze Handschuh

Gew. Jul. Mich. Duhamel (Kozlovskaja)

In meiner Jugend war ich Brautführer bei einer sehr interessanten Hochzeit. Bräutigam und Braut, so schien es, waren füreinander geschaffen… Gleichermaßenjung , gleichermaßen voller Leben, gleichermaßen schön, beide aus guter Familie und – kaum zu glauben! – beide gleichermaßen reich. Das waren zwei Geschöpfe, welche das Schicksal, so schien es, in die Welt gesetzt hatte, damit man es nicht immer unbarmherzig nennen kann. Es hatte das junge Paar von der Wiege an mit allen Gaben des Glücks überhäuft; es war, so schien es, selbst bei der Wahl dieser Gaben launenhaft gewesen und hatte sich bemüht, jeder von ihnen die vollkommenste Form zu geben. So, zum Beispiel, hatte das junge Paar viele Besitztümer und keinen einzigen Prozess am Hals, es hatte einige gute, wahrhaftige Vertraute, und nicht die Kette jener zweitrangiger Verwandten, von deren Existenz ein anständiger Mensch nur durch Visitenkarten und aus Bittbriefen und Empfehlungsschreiben weiß.

Die Väter und Mütter unserer Liebenden existierten schon lange nicht mehr auf dieser Welt. Graf Vladimir und seine Braut waren aufgewachsen im Hause ihres gemeinsamen Vormunds und Oheims Akinfij Vasiljevič Ezerskij, den Sie, denke ich, gekannt haben; erinnern Sie sich: ein recht wohlbeleibter, rotwangiger Mann, stets im weiten braunen Frack, ein wenig gepudert, mit einem so ernsten und entschlossenen Gesicht, noch ein wenig an Franklin1 gemahnend. Bei ihm lebten meine jungen Leute! beinahe von den Windeln an waren sie unzertrennlich und schon im Vorhinein, im Kopfe des Vormunds, zu Mann und Frau bestimmt. Akinfij Vasiljevič Ezerskij war ein in vieler Hinsicht höchst bemerkenswerter Mensch; die Natur hatte ihm Verstand und ein gutes Herz geschenkt. Leider schenkt uns die Natur nur die Augen, zwingt uns aber, die Gläser selbst zu erfinden, die ein wenig weiter sehen lassen als das natürliche Sehvermögen; diese Gläser hatte Akinfij Vasiljevič in seiner Kindheit nicht erhalten; man unterrichtete ihn auf alte Art: man ließ ihn geografische Namen aufsagen, historische Daten, moralische Sentenzen und Maße von Fortifikationen,2 vergaß indessen, ihn das eine zu lehren: über das, was man ihn lehrte, nachzudenken. Und solche Lehre, wie das stets zu sein pflegt, prägte ihn fürs ganze Leben: was der natürliche Verstand sah und was das Herz fühlte, vermochte seine Bildung nicht zu erkennen; deshalb dachte er nur mit der Hälfte des Kopfs, fühlte nur mit der Hälfte des Herzens und begriff deshalb oft nur die Hälfte der Gegenstände. Mit solch einer sonderbaren Erziehung verschlug ihn das Schicksal nach England, wo er einige Jahre seines Lebens verbrachte; diese neue Welt nun konnte nicht anders, als ihn zu verblüffen; doch, wie einen Wilden, verblüffte ihn das Gute gleichermaßen wie das Schlechte; das eine wie das andere vermischte sich für ihn; im einen wie im andern durchschaute er vieles nicht, übersah vieles und übertrug das eine wie das andre auf die russische Scholle. So, zum Beispiel, ungeachtet des Spotts der Ignoranten, auch des Spottes der Schriftsteller, die sich nicht schämten, mit ihrer Feder die Meinung der Analphabeten zu bekräftigen und in ihren Werken den Triumph der eingefleischten Dummheit über notwendige Verbesserungen herauszustellen, führte Ezerskij auf dem Besitztum seiner Zöglinge die vervollkommnete Landwirtschaft3 ein, und zum Ärger der analphabetischen Nachbarn, analphabetischen Novellen und Komödien zum Trotz, verzehnfachte er dort seine Einkünfte; doch damit zugleich übertrug er auch die Auswüchse jener trockenen Methodik, die sich mehr oder weniger im gesamten englischen Leben bemerkbar macht und jegliche Poesie darin abtötet. In aller Eile hatte er Bentham4 gelesen, und der Gedanke an den Nutzen wurde für Ezerskij zur blendenden Sonne; er hinterließ dunkle Flecken auf seinem eigenen Denken; der Mensch erschien ihm als eine Maschine, die erst dann glücklich ist, wenn sie zur bestimmten Stunde und zum bekannten Zweck funktioniert; Poesie erschien ihm als Unsinn, die Einbildungskraft als Dämon, den man zu meiden habe; jede unbedachte Herzensregung – beinahe als Verfehlung. Zum Glück hatte er aber auch Thomson5 gelesen – und der Gedanke an die Schönheit der Natur verband sich in seinem Kopf mit dem benthamschen Industrialismus. Auf diese Weise hatte sich Akinfij Vasiljevič ein System zurechtgelegt, das eine Mischung aus Bentham, Thomson, Paley6 und andern Autoren darstellte, die er als junger Mensch gelesen hatte; neuere kannte und mochte er deshalb nicht. Byron hasste er, denn Byron verfluchte England, das für Akinfij Vasiljevič, zusammen mit seinem System, das Muster der Vollkommenheit war. Der Oheim pflegte sein System oft zu erklären, aber es zu begreifen war recht schwierig. Mit dem Gedanken, dass die Grundlage jeder menschlichen Handlung der Nutzen zu sein habe, vereinte er eine unsagbare Naturverbundenheit und unterstrich sein Entzücken mit Versen aus den «Vier Jahreszeiten» Alles in der Natur erschien ihm vollkommen, und oft sprach er, wie er sich auszudrücken pflegte, von der Notwendigkeit, «im Einklang mit der Natur» zu leben. Infolgedessen war er entzückt von jedem Erdhaufen, von jedem bucklig gewordenen Baum; allein die Methodik ließ ihn sich über dieser Begeisterung nicht vergessen: regelmäßig legte er sich um zehn Uhr schlafen, stand mit dem Sonnenaufgang auf und las dazu Thomsons Gedichte ; nach den Gedichten trank er Tee, rauchte zwei Zigarren (nicht mehr, nicht weniger) und setzte sich an die Arbeit, die bis drei Uhr währte ; um drei Uhr kam er heraus zum Spaziergang und zum Essen, selbst wenn er allein aß, kam er heraus im weißen Halstuch und in Halbschuhen. In allen seinen Handlungen spiegelte sich erkennbar diese dem Russen gottlob unbegreifliche englische Einseitigkeit, von der alle Vorzüge und alle Mängel englischer Erzeugnisse abhängen, mit der der Engländer ein paar Räder der Maschine kennt, ein paar Gedanken im Leben – und sie vorzüglich kennt –, von allem andern auf der Welt indessen nicht den mindesten Begriff hat. Ungeachtet dieser Eigenheiten verlieh die Gewöhnung an Arbeit und Ordnung Akinfij Vasiljevič einen wichtigen Vorzug gegenüber allen seinen Altersgenossen. Er schaffte es, das zu tun, was zehn Mann nicht zu tun schafften; schon allein deshalb hatte er eine Menge zu tun; er liebte es, sich zu kümmern, da die andern das Nichtstun liebten; und da es Liebhaber letzterer Art zu Tausenden gibt, so war Ezerskij aller Welt Vormund, Vorsitzender aller möglichen Kommissionen in Angelegenheiten seiner Freunde und Vermittler in allen Streitfällen.

Es versteht sich, dass die Erziehung, die er seinen Zöglingen angedeihen ließ, im Einklang mit seinem System stand: er unterwies Marija in weiblichen Handarbeiten und weiblicher Demut, den Grafen hingegen in allen kommerziellen und gymnastischen Disziplinen: deshalb verstand es Marija vortrefflich, Tee und die feinsten Buttertörtchen zuzubereiten; Plumpudding und Minzplätzchen waren ihr wohlvertraut; der Graf verstand sich auf Trigonometrie, Buchhaltung, boxte mit Bravour, ritt zu Pferde und balancierte auf dem Seil; überdies konnten beide einige Grammatiken beinahe auswendig. Ihre Erziehung war, wie man sieht, die praktischste, angemessenste, gegründet nicht auf Ideen, sondern auf den Nutzen. In der Tat fiel ihnen kein anderes Buch weder in die Hände noch in den Kopf, und erst einen Monat vor der Hochzeit erlaubte Akinfij Vasiljevič den künftigen Eheleuten, «Clarissa Harlowe»7 von Richardson zu lesen.

Die Hochzeit des jungen Grafen mit Marija war längst keine Neuigkeit mehr für die Stadt, doch alle freuten sich darüber ohne Heuchelei. Beide hatten etwas unsagbar Unschuldiges, unsagbar Kindliches: es waren zwei Kindsköpfe, gestochen von einem erfahrenen Londoner Graveur, die man unwillkürlich und freudig bestaunt, wobei man vergisst, dass in diesen beiden schönen Geschöpfen schon der Samen jener moralischen Arithmethik angelegt ist, über die Byron so bittere Tränen vergoss. Tatsächlich haftete ihnen eine Art Magnetismus an, der bewirkte, dass niemand sie beneidete, dass niemand, der ihr Glück sah, über ihr Schicksal murrte, sondern es ansah als das Eigentumsrecht junger Leute. Zwar umschwirrte eine Menge junger Leute die schöne Marija, vergafften sich Frauen unwillkürlich in den ansehnlichen Vladimir; doch war das ein Staunen, keine Eifersucht, kein Ärger; sie konnten mit ihrem kindlichen Äußern nur die reine, klare Oberfläche der Seele erregen, während deren dunkle, schwere Tropfen am Boden blieben; ihre Hochzeit erschien als ein heiteres Kinderfest, an dem alle sich freuen und das bei niemandem Neid erweckt.

Die Trauung war zu Ende. Vladimir küsste zärtlich seine Marija; in der Kirche und im Haus war fast die ganze Stadt versammelt; man beglückwünschte das junge Paar; doch gegen zwölf Uhr fuhren alle nach Hause und entließen die jungen Leute in die Freiheit. Der Oheim, der an ihnen die Vaterstelle vertreten, ebenso die Brauteltern, nachdem sie die häuslichen Zeremonien erfüllt hatten, entfernten sich. Die Jungverheirateten waren schon im Schlafzimmer und freuten sich staunend mit kindlicher Unschuld der Einrichtung des Zimmers, die für sie bisher ein Geheimnis gewesen war, als sie plötzlich auf dem weißen Atlasdiwan einen schwarzen Handschuh erblickten. Anfang dachte Vladimir, jemand von den Gästen hätte ihn vergessen, aber wem hätte in den Sinn kommen können, auf eine Hochzeit mit schwarzen Handschuhen zu gehen? Mit einem gewissen Gefühl abergläubischer Angst hob er ihn auf und ertastete in ihm ein Couvert mit der Aufschrift ihrer beider Namen. Mit einem Beben riss Vladimir das Siegel auf und las mit Entsetzen das Folgende:

«Ich halte es für notwendig, Euch in Kenntnis zu setzen, dass Euer Glück das meine zerstört, dass die Erfüllung Euer beider Wünsche alle meine Lebenspläne zunichtemacht. Und da es einem Menschen zu verzeihen ist, sich selbst mehr zu lieben als andere, habe ich es mir zur eisernen Regel gesetzt, Euer Schicksal umzustülpen, denn nur durch Euer Leiden kann ich mein Ziel erreichen. Sollte mir das nicht gelingen, so werde ich zumindest in den Genuss kommen, mich an Euch zu rächen, und dieser erste Besuch ist nur die erste Stufe des Bösen, das ich für Euch bereithalte. Allein Eure Trennung in dem Augenblick, da Ihr diese Nachricht lest, kann Euch retten vor meiner Rache. Das Pfand, von mir zurückgelassen, möge Euch zeigen, dass für mich weder Türen noch Schlösser existieren. Erkühne Dich, ihn aufzuheben, allzu glückliches Paar!

Der schwarze Handschuh.»

Vladimir wollte Marija diesen Brief anfangs nicht zeigen, doch Marija, auf seine Schulter gestützt, hatte den ganzen Brief bis zu Ende mitlesen können.

– Das ist gewiss ein Scherz… eine Mystifikation… – sagte Vladimir mit unsicherer Stimme; doch unwillkürlich zitterte seine Hand.

– Nein, – antwortete Marija, – das ist kein Scherz und keine Mystifikation; wer wollte so grausam scherzen mit uns?

– Aber wer uns Böses wünschen? – bemerkte Vladimir.

– Erinnere dich, hast du nicht jemanden beleidigt? Nicht jemandem Versprechungen gemacht? – Hier blickte Marija Vladimir bedeutungsvoll an, und ihre Stimme brach ab.

– Und du kannst so etwas denken, Marija? – sagte zärtlich Vladimir. – Ich versichere dich, das ist ein Scherz, ein dummer Scherz, den jemand nicht umsonst getan. Wenn es eine Frau ist, – sei’s drum, wenn aber ein Mann – dann … – Und Vladimirs Augen begannen zu blitzen.

– Dann was? – fragte Marija.

– Oh, nichts! – sagte Vladimir, – ich werde versuchen, mit gleicher Münze heimzuzahlen.

– Nein, deine Augen sagen etwas andres… Hör zu, Vladimir, versprich mir, nichts zu unternehmen, ohne es mir vorher gesagt zu haben.

– Oh, wozu diese Versprechungen?

– Versprich mir wenigstens, vor morgen nichts zu unternehmen.

– Oh, wir sind wirklich Kinder! – sagte Vladimir und lachte, – ein dummer Scherzbold hat uns einen Streich gespielt, und wir verbringen eine ganze Stunde in Aufregung.

– Und wenn er uns auch hier belauscht?

– Tatsächlich, das ist mir gar nicht in den Sinn gekommen, – sagte Vladimir. Mit diesen Worten nahm er die Kerze, schritt das Zimmer ab und öffnete die Tür, um hinauszugehen.

– Geh nicht allein, – sagte Marija, – wir müssen nach den Leuten klingeln.

– Willst du, dass sie uns auslachen?

– Dann gehen wir gemeinsam.

Sie gingen aus dem Schlafzimmer. Die Lichter waren überall gelöscht; alles im Hause schlief; von draußen hörte man nur das Brett des Nachtwächters. Durch die riesigen Räume warf die Kerze lange Schatten. Marija fuhr unwillkürlich zusammen, als zufällig in den Spiegeln ihr eigenes Bild erschien, als das Scharren ihrer Schritte vom Echo wiederholt wurde und das flackernde Licht für Augenblicke in den Falten des Stoffes launische Umrisse erzeugte. So schritten sie das ganze Haus ab: alles war still, sie kehrten ins Schlafzimmer zurück; da schlug es drei Uhr morgens, und als Vladimir die Gardine zurückzog, zeigte sich schon das Morgenrot.

Das Tageslicht besitzt eine wundersame Eigenschaft: es verleiht dem Verstand unwillkürliche Frische und Ruhe. Das, was riesenhaft und furchterregend erscheint im Dunkel der Nacht, zerfällt mit dem Licht des Tages wie ein Traumgesicht. Dieses Gefühl empfanden unsre Jungvermählten.

– Wir sind wirklich Kinder, – wiederholte Vladimir noch einmal, – wo hat man je gesehen, dass jemand die Hochzeitsnacht über einem dummen Briefchen verbringt?

Mit diesen Worten trat er an den Kamin und hätte den Handschuh um ein Haar hineingeworfen, hielt aber inne bei dem Gedanken, dass es nicht schlecht wäre, ihn dem Oheim zu zeigen.

– Kann etwa dieser Unfug unser Glück ins Wanken bringen?

– Niemals! – antwortete Marija und umarmte ihn.

Am andern Tag vergaßen die Jungvermählten nicht, den geheimnisvollen Brief dem Oheim zu zeigen. Der Oheim besah den Brief mit der ihm eigenen, systematischen Gelassenheit und sagte:

– Das ist irgendein Unfug, den man aber nicht auf sich beruhen lassen darf. Gebt mir diesen Brief; was sollt ihr euch damit befassen; lasst das meine Sache sein.

Wir sagten bereits, dass der Oheim ein in seiner Art höchst bemerkenswerter Mann war und dass die strenge Ordnung im Leben, die unwandelbare Gelassenheit selbst in schwierigsten Umständen sowie einige erfolgreiche Finanztransaktionen ihm das Vertrauen aller seiner Bekannten erworben hatten. In der Tat, wenn er sagte: «Lasst das meine Sache sein», – mit seiner festen, methodischen Stimme, mit der Betonung auf jedem einzelnen Wort, so konnte man nicht anders, als ihm zu glauben.

Als die Neuvermählten alle Visiten gemacht hatten, bestand Akinfij Vasiljevič darauf, dass sich die jungen Leute unbedingt aufs Land, in ihr Dorf begaben. Er hätte beide gern am ersten Tag der Ehe dorthin geschickt, nach englischem Brauch, und zum ersten Mal im Leben hatte er, wider seinen Willen, den eindringlichen Bitten der Verwandtschaft nachgegeben.

– Fahrt aufs Land, – sprach Akinfij Vasiljevič, – erstens müsst ihr einander kennenlernen, und zweitens darf der Mensch auf dieser Welt nicht nutzlos leben. Du, Vladimir, musst dich mit der Landwirtschaft befassen; merke dir, dass jeder Grundbesitzer auf dieser Welt die Produktivkraft seines Grunds und Bodens beständig mehren soll und dass derjenige, der seine Einkünfte nicht mit jedem Jahr vermehrt, alles verliert, was er hätte erwerben können. Ich fahre absichtlich nicht mit dir: ich will, dass du dich deiner Kräfte versichern kannst, ohne dich auf anderer Leute Hilfe zu verlassen, und dass du, wenn ich einmal sterbe, – denn der Tod ist ein notwendiges und wohltätiges Naturgesetz, – deinen Verlust erst gar nicht bemerkst.

– Onkel, und Sie können darüber so gelassen sprechen?

– Nichts da, nichts da, dummes Zeug. Der Tod ist ein Naturgesetz, und alles in der Natur ist schön; die Menschen müssen sterben, weil, – fügte der Oheim mit bedeutungsvoller Miene hinzu, – Menschen geboren werden müssen; also, – fuhr er fort, – du wirst dich mit der Landwirtschaft befassen, und du, Marija, auch. In dem Landhaus, im Kabinett, auf dem Bureau, wirst du ein Heftchen finden, das ich für euch schon vor zehn Jahren geschrieben habe und worin im Einzelnen festgehalten ist, was der Mann tun soll und was seine Frau. Befolgt meine Ratschläge peinlich genau – und ihr werdet es nicht bereuen. Anfangs wird es euch schwer erscheinen, danach aber wird alles leichter und leichter. In schwierigen Fällen wendet euch mit euern Fragen an mich. Vor allem bemüht euch, eure Leidenschaften zu mäßigen und sogar ganz zu unterdrücken – danach wird alles leicht. Ich werde auf dem Dorf im Simbirskischen sein, denn den Sommer in der Stadt zu verbringen ist ein Verbrechen. Hier sieht man nichts von der Natur, und was ist mit der Natur zu vergleichen? «Nichts erhebt die Seele so wie der Aufgang der Sonne», – sagt Thomson. Jetzt fahrt mit Gott; eure Reisekutsche steht bereit, – ich selbst habe sie bestückt und eingerichtet – auch die Pferde sind schon eingespannt.

Vladimir und Marija stürzten unter Tränen auf den Oheim zu, um ihn zu umarmen, doch der hielt sie davon ab:

– Keine Tränen, kein Abschied – nicht nötig; all das sind Wassertriebe, die der kundige Gärtner sorgsam beschneiden muss…

Doch Vladimir und Marija gehorchten nicht dem strengen Rat des Oheims und weinten wie die Schlosshunde… Schließlich bestiegen sie die Kutsche, der Oheim indes begab sich auf sein Zimmer, denn er hatte seine zweite Zigarre noch nicht geraucht.

Wir werden unseren Reisenden nicht auf ihrem langen Weg folgen, über steile Anstiege, über beschädigte Brücken; wir werden uns nicht aufhalten lassen von Beschädigungen der Equipage, vom Gezänk mit den Stationsaufsehern und den unendlichen Losentscheiden der Kutscher, – und nehmen an, dass sie ihr Dorf in jener seligen Zeit erreichten, da Russland in alle Himmelsrichtungen Eisenbahnen durchschneiden, worauf nicht allein Akinfij Vasiljevič voll Ungeduld gewartet hatte, ungeachtet der weisen Erörterungen einiger Philosophen, die sich vorstellen, dass mit den Eisenbahnen die so friedliebende und arbeitsame Klasse der Kutscher ausgerottet werde. In ihrem Dorf, unter dem gesegneten Himmel des Gouvernements Tambov, an dem nicht zum Scherz, sondern in der Tat die helle, warme Sonne wandelt, fand unser junges Paar ein Haus, eingerichtet mit sämtlichen aufgeklärten Bequemlichkeiten des Lebens. Im Kabinett, auf dem Bureau, befand sich tatsächlich das vor zehn Jahren dorthin gelegte Heft, eigenhändig verfasst von Akinfij Vasiljevič. Wir können uns das Vergnügen nicht versagen, einige Zeilen aus diesem wahrlich praktischen Heft herauszuschreiben:

«Mann und Frau sind die zwei Hälften eines und desselben Wesens; aber jede von ihnen hat ihre besonderen Eigenschaften und Pflichten und muss auf ihre Weise hinwirken auf die Erreichung des einen Ziels von Natur und Gesellschaft – des allgemeinen Nutzens:

1) Mann und Frau stehen zur gleichen Zeit auf. Im Sommer gehen sie sofort an die frische Luft und genießen der Natur. Nichts stärkt so sehr die Kräfte des Menschen, deren er zu seiner Tagesarbeit bedarf, wie die schöne Landschaft, beschienen von den Strahlen der aufgehenden Sonne, wenn alle Natur auflebt und jede Blüte einen Hymnus singt dem Allerhalter.» Hier folgten einige Verse aus Thomson, und am Ende die Anmerkung: «Im Winter bleiben die Eheleute in ihrem Zimmer.

2) Um sieben Uhr frühstücken die Eheleute (Tee oder Kaffee); nach dem Frühstück begibt sich der Ehegemahl ins Freie, die täglichen Arbeiten zu beaufsichtigen; zu seinem Betätigungsfeld gehören Ackerland, Garten, Wiesen, Küchengärten, ausführlicher beschrieben im Heft unter N°26. Auf die Wirtschaft der Ehefrau bezieht sich die gesamte Haushaltung: Milchhof, Küche, Wäscherei, verschiedene häusliche Handarbeiten, ausführlicher beschrieben im Heft unter N°28.

3) Gegen Mittag sollen sämtliche Anweisungen beendet sein, und die Eheleute versammeln sich im Speisezimmer zum zweiten Frühstück (Brot, Butter und kaltes Roastbeef); wie man bemerkt hat, dass alle Tiere sich nach Mittag dem Schlafe hingeben, woraus zu schließen ist, dass dies so gewollt ist von der wohltätigen Natur, so sollen auch die Eheleute diese Zeit dem Ausruhen widmen …»

Wir werden diese Auszüge nicht weiter fortsetzen, können aber versichern, dass unser junges Paar das ganze Heft mit dem gebotenen Respekt durchgelesen und sogar nicht ein einziges Mal gelächelt hat.

Die Erfüllung der oheimschen Vorschriften indes hatte nicht den gleichen Erfolg. Angefangen damit, dass die jungen Leute am ersten Tag nach der Reise bis zum Mittag durchschliefen. Dadurch geriet der ganze Tag in Unordnung. Sie schafften es nicht, rechtzeitig der Natur zu genießen, gingen spazieren während des allgemeinen natürlichen Schlafs, frühstückten um halb zwei, weshalb sie gezwungen waren, um acht zu essen; worauf sie bis Mitternacht spazieren gingen, und schlafen legten sie sich in der dritten Morgenstunde. Deshalb schliefen sie am andern Tag wieder bis zum Mittag, und auf diese Weise verliefen unbemerkt alle Tage verkehrt. Zum Festlegen der Arbeiten kam es, als die Knechte gerade ausruhten; zum Besuch des Viehhofs, als alle Kühe auf der Weide waren, und so weiter. Die Berichte der Verwalter wurden aufgeschoben; schließlich hatten sich ihrer derart viele angehäuft, dass es unmöglich geworden war, sie auch nur zu lesen; nach und nach verwandelte sich die englische systematische Wirtschaft in den gewohnten Trott des russischen Barins,8 wo alles vernichtet, aufgegessen und ausgetrunken wird und niemand von irgendetwas eine Ahnung hat und sich um etwas kümmert, immer im Zutrauen auf das rechtgläubige es lebt, das, weitaus mehr verlebt, als aller erdenkliche Luxus.

Es ist also kein Wunder, dass der junge Graf der Landwirtschaft bald überdrüssig war. Zudem bemerkten er und die Gräfin unversehens, dass sie sich langweilten, dass es ihnen wiederholt geschah, dass sie den lieben langen Tag Aug in Auge miteinander verbrachten und schwiegen; das kam ganz natürlich und aus einem sehr einfachen Grunde: weil sie über nichts zu reden hatten. Menschen, deren Vorstellungskraft und Gefühl entwickelt sind, leben ein Leben lang und finden immer etwas Neues, das sie dem andern zu sagen haben; aber man kann ja nicht ein Leben lang über Pferde oder über Buttertörtchen reden; und weil die Eheleute über nichts zu reden hatten, begannen sie miteinander zu schmollen; da es aber auch unmöglich ist, ein Leben lang zu schmollen, begannen sie aus Langeweile sich zu zanken, doch schließlich waren sie bald auch dieser attraktiven Betätigung überdrüssig. Zum Glück fand der Graf für sich eine neue: im Umkreis gab es viele Jäger, die mit Hunden jagten; er schloss Bekanntschaft mit ihnen, jagte Füchse und Hasen und trank für zwei, russisch und englisch. Die junge Gräfin schloss Bekanntschaft mit den Nachbarinnen, die ihr jedoch schrecklich auf die Nerven fielen und mit denen sie sich bald überwarf. Unwillkürlich begann die Gräfin sich der Moskauer Salons zu erinnern, des Moskauer Theaters. In dieser Beschäftigung verging der Sommer und ein Teil des Herbsts.

Unterdessen trug sich eine kleine Begebenheit zu, die einen völligen Umsturz im Denken des Grafen bewirkte. In jenem Gouvernement begannen die Wahlen;9 einige Verehrer des Grafen, deren jeder reiche Mensch immer viele hat, erschienen bei ihm mit Plänen und Erwägungen dessen, dass es für sie und ihre Geschäfte angenehm, für den Grafen aber ehrenvoll wäre, wenn er einwilligen wollte, Marschall ihres Landkreises zu werden. Dem jungen Grafen gefiel dieser Gedanke sehr; in ihm lag etwas Neues, da ihm doch alles Alte schon sehr auf die Nerven fiel. Er erklärte mit großer Herablassung sein Einverständnis; in seinem Kopf regten sich schon Pläne zur Umgestaltung des ganzen Landkreises, denn der junge Graf hatte etwas von seinem Oheim, das von unserer gewohnten Sorglosigkeit und Faulheit nur verwässert war. Bald beherrschte dieser Gedanke den Rest seiner Vorstellungskraft vollkommen, und der Titel des Marschalls erschien ihm sogar nachts im Traum. An dem für die Wahl festgesetzten Tag legte der Graf die Uniform an und erschien in der festen Überzeugung, gewählt zu werden. Aber welch ein Schlag wurde ihm zuteil, als man statt seiner einen anderen wählte! Er konnte sich nicht fassen vor Staunen.

– Was bedeutet das? – fragte er bald den einen, bald den andern, – welche Vorzüge besitzt mein Rivale? er ist nicht reicher, vielleicht auch nicht klüger?…

Der eine wich aus, der andere antwortete mit Ausflüchten, viele machten sich mit aller Bosheit der Provinzler insgeheim über die Hauptstadtbewohner lustig.

– Ich will es Ihnen sagen, – sagte ihm schließlich einer seiner älteren Nachbarn, – schuld ist nicht der Adel, sondern Sie. Ihr Rivale ist ein Mensch mit Rang,10 Sie dagegen, Euer Durchlaucht, besitzen keinerlei Rang.

– Keinerlei Rang! – rief der Graf, – keinerlei Rang? – und verließ die Versammlung. Diese wenigen Worte entdeckten ihm eine ganze Welt, von deren Existenz er nie auch nur etwas geahnt hatte.

In der Tat hatte der Oheim, gemäß seinem englischen System, nie angenommen, dass sein Neffe irgendwann dienen müsse; er wollte ihn zu einem ausgezeichneten Agronomen heranbilden, zu dem, was er einen «Besitzer der Erde» nannte, und bildete sich ein, es reiche völlig, wenn der Graf pro forma ein oder zwei Jahre auf seinem Landsitz leben würde, nach dem Vorbild eines englischen Lords oder Farmers.

Gewiss ist das ein schönes Leben, aber nicht für uns. Vladimir war an die Vormundschaft des Oheims in allem, was ihn nur betraf, so gewöhnt, war so gewöhnt, in seinen Gedanken zu denken, dass es, als der Oheim zu ihm sagte: «es ist unmöglich, zu dienen und gleichzeitig seinen Geschäften nachzugehen», oder: «der Besitzer der Erde ist verpflichtet, sein ganzes Leben der Mehrung seines Vermögens zu widmen», – Vladimir gar nicht in den Sinn gekommen wäre, Akinfij Vasiljevič zu widersprechen, sondern einfach am andern Tag seinen Abschied eingereicht hatte und der im Rang eines Beamten der 14. Klasse11 aus dem Dienst geschieden war.

Die Begebenheit bei den Wahlen hatte den jungen Mann stark beeindruckt; seine Eigenliebe, berührt schon von der Aussicht auf den Marschallposten, war jetzt noch stärker angestachelt; unsere allgemeine Krankheit, die Titelsucht oder, wenn es beliebt, unsere Ehrsucht, hatte sich unmerklich in seine Seele eingeschlichen; schon schien ihm, als verbeugten sich Passanten auf der Straße vor ihm nicht gebührend, weil er gesehen hatte, mit welcher Verehrung man sich nach den Wahlen vor dem neuen Marschall im Staub wälzte, weil er bemerkt hatte, welche Wirkung auf die Umgebung Kreuze und Sterne ausübten, die man in den Hauptstädten gar nicht bemerkte. In diesen wenigen Stunden war Vladimir um zehn Jahre gealtert. «Was soll ich hier in diesem Dorfe verfaulen!» – sagte er zu sich selbst, – «was ich brauche, ist der Dienst, sind Titel, Kreuze, Sterne, Glanz, Ehren!»

Nach und nach setzten in seinem Verstande Berechnungen ein, die zur gewohnten beständigen Betätigung eingefleischter Beamten zählen; er rechnete aus, wie viele Jahre er für nichts verloren hatte, ärgerte sich über den Oheim, über dessen englisches System, über sich selbst, über seine Heirat, mit einem Wort gesagt: über alles auf der Welt.

Nach Hause kam er sehr schlecht gelaunt. Auch Marija waren die Nachbarinnen auf die Nerven gefallen mit allerlei provinziellen Klatschgeschichten, wie sie vor Wahlen gang und gäbe waren, – auch Marija war schlecht gelaunt. An diesem Abend zankten sie sich wieder – worüber, wussten sie selbst nicht, einfach weil es nötig war, sich zu zanken, seinen Ärger am andern auszulassen: das ist einer der Vorteile des ehelichen Lebens.

Die Sache ist die, dass am nächsten Morgen beide auf die Notwendigkeit zu sprechen kamen, das Dorf zu verlassen; nur wie sollte man dies dem Oheim erklären, der ihnen mit jeder Post schrieb, sie daran erinerte, dass man sich um diese Zeit der Feldarbeit zu widmen habe, ihnen sprach von der Wichtigkeit der Landwirtschaft im Allgemeinen und von der Schönheit der Natur im Besonderen…

Ein Umstand enthob sie aller Schwierigkeiten: Marija wurde schwanger. Die Eheleute zögerten nicht, den Oheim hiervon in Kenntnis zu setzen und ihm zu erklären, die Lage der Gräfin erfordere kategorisch ihre Übersiedelung nach Moskau oder nach Petersburg.

Obgleich der Oheim die schwangere Gräfin nur zu gern der wohltätigen Kraft der Natur überlassen hätte, hielt er es, nach reiflicher Überlegung, für das Beste, einzuwilligen in den Wunsch der jungen Leute und sich statt der Natur einem guten Accoucheur12 anzuvertrauen; zudem riefen ihn seine Vormundschaftsangelegenheiten selbst nach Petersburg, – und schließlich bestimmte er diese Stadt zum Ort des Wiedersehens mit dem jungen Paar. Darauf hatten die jungen Leute nur gewartet und beschlossen, noch am selben Tage abzureisen, ungeachtet der Wegelosigkeit. Ihn erfreuten die Träume von Titeln und Kreuzen, sie – die Petersburger Bälle; doch inmitten dieser freudigen Vorbereitungen erhielten sie einen Brief, versiegelt mit einem schwarzen Siegel. Vladimir hatte den Brief öffnen wollen, doch Marija erblickte ihn, und – gibt es eine Möglichkeit, der Neugier einer Frau zu widerstehen? Dieser Brief enthielt die wenigen folgenden Worte:

«Ihr seid jetzt auf dem Gipfel der Glückseligkeit; bald werdet Ihr Vater und Mutter sein; Euch gelingt alles, alles erfüllt sich nach Euerm Wunsch; doch hütet Euch und bedenkt, dass Euer Feind nicht schläft und dass jedes Glück ein neuer Grund für ihn ist, Euch zu hassen und Euch insgeheim alles erdenklich Böse zu bereiten.

Der schwarze Handschuh.»

Dieser Brief verstörte die jungen Leute; sie konnten nicht fassen, wer ihnen ein so eingefleischter Feind sein konnte. In den Worten «Euch gelingt alles» sah Vladimir seinen Misserfolg bei den Wahlen; ihn beschlich der Verdacht, ob daran nicht dieser vermaledeite Handschuh teilgehabt haben konnte; umso mehr wünschte er, wie man so sagt, zum Menschen zu werden, um mit seinem Gewicht den aufdringlichen Feind zu erdrücken. Marija quälte ein anderes Gefühl: die Neugier, zu erfahren, wer dieser Schwarze Handschuh sei und was die Ursache sein könnte für diese sonderbaren Nachstellungen; sie hoffte, dieses Rätsel in der Hauptstadt eher aufzuklären als in ihrer Einöde; Sie sehen, auch Marija war mittlerweile weitaus erfahrener.

Wie dem auch sein mochte, alle diese Gedanken hinderten sie nicht an den Vorbereitungen zu ihrer Abreise. Ehrfürchtig legten sie das Heftchen des Oheims an seinen früheren Platz zurück und bestiegen die Kutsche, voller Bedauern schauten sie auf das umstehende Gesinde, das laut schluchzte und weinte, sich insgeheim aber selbstverständlich freute, dass die Herrschaft abreiste; einige der treuen Diener waren vor Freude schon halb betrunken; sie weinten lauter als die andern.

Nach langer Pilgerfahrt trafen unsere Eheleute in Petersburg ein, das sich ihnen in all seinem Glanz darbot: mit Regen, Matschwetter, gefrorenem Atem – es war der 1. Mai.

Sie fanden den Oheim bereits in Petersburg. Dieser Mensch, geboren zu unentwegtem Tätigsein, hatte es bereits geschafft, alles für sie vorzubereiten. Ein Haus im besten Teil der Stadt, in dem bisweilen sogar die Sonne schien, Mobiliar, Dienstboten, sogar eine Hebamme und ein Accoucheur – alles hatte seine unermüdliche Fürsorge im Voraus bedacht. – Die ersten Tage verbrachten unsere jungen Leute recht eintönig. Man musste dem Oheim Bericht erstatten über das, was sie nicht getan hatten, von Dingen erzählen, die sie nicht interessierten, und den wahren Grund ihrer Reise nach Petersburg verheimlichen. Durch alles dies kam es in ihrem kleinen Kreis zu einer gewissen Gezwungenheit; wären sie in der anderen Stadt gewesen, hätte der Oheim bald erraten, dass seine jungen Leute nicht danach strebten, englische Farmer zu werden, sondern einfach, auf gut Russisch gesagt, das Leben genießen wollten. Doch das Leben in Petersburg, wo jedes Geschäft im Handumdrehn gelingt, und zwar zum Nachteil, wo der Mensch einer Dreschmaschine gleicht, die unaufhörlich rattert und ächzt, bis sie zu Bruch geht, – in solch einem Leben hatten es die Jungvermählten leicht, sich dem Scharfblick des Oheims zu entziehen.

In diesem Leben alterten unsere jungen Leute schnell. Die Gräfin stürzte sich in diesen Abgrund mit der Gier nach Genüssen, nach Lärm, Vielfalt, Tanzvergnügen, Courmacherei, – der Graf mit der entbrannten, frischen Leidenschaft der Ehrsucht; schnell hatte er alle Geheimnisse dieser bunten Welt erfasst, schnell die Kunst erlernt, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, die Zeit abzupassen, zu wissen, mit wem man Bekanntschaft schließt, wem man den Rücken kehrt, hatte die Worte gelernt, die man gelegentlich um seines Vorteils willen in die Luft wirft, gelernt, im richtigen Moment zu kaufen und im richtigen zu verkaufen, gelernt, ein wenig zu lügen, ein wenig anzuschwärzen und ein wenig zu verleumden. Er hatte es nicht eilig, beklagte sich nicht, sondern führte, wie ein erfahrener Heerführer, seine Trancheen leise ins Feld.

Die Niederkunft der Gräfin unterbrach vorübergehend diese Betätigungen der Eheleute. Der Oheim, bis zu dieser Zeit ruhig, überzeugt vom vollen Erfolg seines vortrefflichen Systems, begann schließlich zu erraten, dass man ihm etwas verheimlichte. Zum Beispiel verwunderte es ihn sehr, dass der junge Graf es nicht vermochte, ihm von der Balance von Debet und Kredit des tambovschen Landguts zu erzählen, ihm auch nicht erklären konnte, welche Auswirkung der von Akinfij Vasiljevič vor zehn Jahren angelegte Wald auf die Ernte gehabt hatte. Aber wie groß war sein Erstaunen, als ihm der Neffe einmal den Brief eines bedeutenden Mannes zeigte, der den Grafen einlud, in Dienst zu treten, und als der Graf ihm in der Folge inständig die ihm angeborene Neigung fürs diplomatische Fach aufzuzeigen begann; als er begann, ihm alle Vorteile, die ihn erwarteten, an den Fingern aufzuzählen, und alles dies in einem Augenblick, da Vladimir sich anschickte, Vater zu werden, «Staatsoberhaupt im eigenen Hause, natürlicher Lehrer und Lenker der eigenen Kinder», wie Akinfij Vasiljevič sagte, als der Accoucheur schon vor dem Zimmer der Gräfin stand. Akinfij Vasiljevič war verblüfft, bestürzt und verlor zum ersten Mal im Leben die gewohnte Festigkeit und Entschiedenheit seiner Stimme; er fand nicht einmal, was er dem jungen Eiferer hätte antworten sollen. Der erste Schritt war getan.

Die Niederkunft verlief glücklich, nur dass das Kind bald darauf starb – die Hebamme sagte, weil die Gräfin sich vor der Geburt zu fest geschnürt und zu viel getanzt habe; der Accoucheur dagegen sagte, das Kind sei gestorben, weil es nicht die Mittel zur Fortsetzung seines Lebens besessen habe.

Die Gräfin kam schnell wieder zu Kräften. Es waren die Großen Fasten,13 die Ballsaison war zu Ende, die Gräfin fuhr früh zu Konzertproben, weil sie das Abendkleid noch nicht anlegen konnte. Einmal eines solchen Morgens war der Gräfin langweilig; draußen heulte der Wind, auf der Straße war ein ebensolches Schneetreiben wie im Leben und im Kopf der Petersburger. Die Gräfin erwartete niemanden. Ihr Blick fiel auf das riesige Blatt eines Plakats; irgendein verwegener Bursch gab ein Konzert, anscheinend auf der Maultrommel, doch der Gräfin war alles gleich: sie wollte ausfahren, irgendwohin. Der Graf war längst nicht mehr zu Hause.

Im Konzertsaal waren nur wenige; doch die Gräfin war, ihrer Gewohnheit folgend, aufs Eleganteste gekleidet. Der Gedanke, verwaiste Mutter zu sein, jung und hübsch zu sein, kürzlich erst von einer Krankheit genesen zu sein, – verlieh der Gräfin eine sittliche wie auch physische Mattigkeit. Sie kokettierte mit ihrer Rekonvaleszenz und ihrem Kummer. Als die Gräfin den Saal durchschritt, huschte ein Gesicht an ihr vorbei, das ihr bekannt vorkam; und neben diesem Gesicht ein anderes, das ihr in der Tat bekannt war. Dieses letztere gehörte einem jener Menschen, die einem, so scheint es, überallhin nacheilen, denen man überall begegnet: bei der morgendlichen Visite, beim Essen, vor dem Diner, auf der Abendgesellschaft und sogar nachts, in der Kutsche an der Auffahrt, – Menschen, die nach allem und jedem fragen, die auf alles und jedes antworten, die sogar bereit sind, mit unsern Sittenschilderern zu sprechen, ohne deren tiefsinnige und feine Beobachtungsgabe zu fürchten. Sein Adlerblick hatte die ihm bekannte Dame sofort bemerkt; er zögerte nicht, auf sie zuzutreten – mit den gewohnten Nachfragen.

– Mit wem haben Sie eben gesprochen? – fragte die Gräfin.

– Das ist Ihr alter Bekannter, Vorotynskij.

– Alter Bekannter, – wiederholte die Gräfin, – vor zehn Jahren habe ich mit ihm auf Kinderfesten getanzt, seitdem habe ich ihn aus den Augen verloren.

– Soeben bat er mich, ihn Ihnen vorzustellen… Sie gestatten?

– Oh, zweifelsohne.

Der junge Mann trat näher, bemüht, an Dinge zu erinnern, die er längst vergessen hatte, verschiedene Abenteuer der Kindheit; er bemerkte im Scherz, dass er schon damals der Gräfin den Hof gemacht habe, und bat um die Erlaubnis, darin fortfahren zu dürfen. Die Gräfin lachte, bemühte sich ebenfalls, zu zeigen, dass sie sich an längst Vergessenes erinnerte, als sie plötzlich, mitten im lebhaftesten Gespräch, in unwillkürlicher Verlegenheit innehielt: sie hatte bemerkt, dass Vorotynskij schwarze Handschuhe trug. Der junge Mann wurde der sonderbaren Wirkung gewahr, die diese auf Marija ausübten, und wurde ebenfalls verlegen; doch die Gräfin, Dame von Welt, fasste sich sofort wieder und fragte gelassen:

– Was bedeuten diese schwarzen Handschuhe? tragen Sie Trauer?

– Ja, Gräfin, Trauer.

– Und um wen?

– Auf diese Frage gestatten Sie mir nicht zu antworten, Sie würden lachen.

– Meinen Sie, ich sei so heiteren Gemüts?

– Mir scheint: Sie sind so glücklich.

Bei diesem Satz war die Gräfin wieder nachdenklich geworden, wandte sich aber sogleich mit einer neuen Frage an ihn:

– Sagen Sie doch, um wen tragen Sie Trauer?

– Wenn Sie es unbedingt wollen, werde ich es Ihnen sagen, Gräfin, aber unter der Bedingung, dass Sie nicht lachen.

– Oh, genug doch; ich will unbedingt wissen, um wen Sie trauern.

– Um mich, – sagte mit ernster Miene der junge Mann. Die Gräfin brach in lautes Gelächter aus.

– Sind Sie etwa gestorben?

– Ich sagte Ihnen ja, Sie würden lachen.

– Ihre Worte sind entweder bloß ein Scherz, oder sie sind sehr ernst.

– Das eine wie das andere, Gräfin; im Leben geht alles durcheinander.

– Sie sprechen vom Leben, als kennten Sie es.

– Ich kenne es, und das schon sehr lange.

– Sie sind nicht verheiratet?

– Nein.

– Dann kennen Sie gar nichts. – Die letzten Worte waren der Gräfin unwillkürlich über die Lippen gekommen. Jetzt schwiegen beide. Ich weiß nicht, was in der Seele des jungen Mannes vorging; und es wäre auch schwierig gewesen, das zu erfahren: er gehörte zu den Menschen einer neuen Generation, die zu lachen verstehen, ohne zu lächeln, und ohne Tränen zu weinen; die, wie es scheint, nichts imstande ist in Staunen zu versetzen oder in Rührung – und das nicht aus Verstellung, sondern aus Gewohnheit. Kein einziges Gefühl von ihm drang nach außen, keine einzige Regung verriet das unbegreifliche Geheimnis seiner Seele. Er konnte über das bitterste Gefühl mit einem gleichgültigen Lächeln sprechen, über das freudigste mit einer Verachtung, die, so schien es, jede neugierige Frage schon im Vorhinein beantwortete. Sein Umgang war, wie seine Kleidung: schlicht, ohne jegliche Prätention und methodisch zugeknöpft. Er war bleich; schwarze gelockte Haare schattierten die kalten, beinahe leblosen Züge seines Gesichts; nur manchmal blitzte in seinen Augen ein flüchtiges Feuer auf und erlosch im gleichen Moment. Ob Kummer in seiner Seele war, oder einfach die aristokratische Gewohnheit des Weltmannes,… nicht zu fühlen, oder, schließlich, einfach fashionables Gebaren, – war schwierig zu erraten: alles ist so durcheinandergemischt in der neuen Generation, die es sich, anscheinend, zur Regel gesetzt hat, für alle ein Rätsel zu sein und, vielleicht, am meisten für sich selbst.

Auf die Gräfin machte er einen erstaunlichen Eindruck. Vage stellte sie sich vor, dass zwischen diesem neuen Bekannten und dem Schwarzen Handschuh ein Zusammenhang existierte. Ihrer weiblichen Eitelkeit schmeichelte der Gedanke, sie könnte einen exklusiven Hass auf sich gezogen haben, den ihr eine geheimnisvolle, kaum hörbare Stimme auf andere Weise erklärte. Sie war erschrocken und von Neugier gequält. Letztere gewann die Oberhand.

Die Musik knüpfte erneut das Band des unterbrochenen Gesprächs. Der unglückliche Artist, der sich im Orchester abmühte, hätte nie erwartet, dass er mit einer falschen Note Anlass geben könnte zu einer Aussprache zwischen zwei Personen, die Raum und Zeit so lange getrennt hatten. Diese falsche Note erinnerte an den Geiger, der während des Tanzunterrichts gespielt hatte, wo die Gräfin und Vorotynskij einander begegnet waren. Dieser Geiger erinnerte wiederum an einen Umstand, den die Gräfin ganz vergessen hatte, dass nämlich Vorotynskij als Kind immer einen Verband im Gesicht getragen hatte. Dieser Verband erinnerte daran, dass alle Kinder sich von dem armen Kranken ferngehalten hatten, und gab Vorotynskij Gelegenheit, der Gräfin zu erzählen, wie sehr das Schicksal ihn von frühester Kindheit an verfolgt habe; von hier an gab ein Wort das andre.

Die Gräfin hatte bisher in ihrem Umkreis stets nur reiche, gesunde, rotwangige, selbstzufriedene Menschen gesehen, für die alles Unglück in einer verlorenen Whistpartie bestand. Inmitten dieser Zufriedenheit hatte sich die Gräfin bisweilen gelangweilt, aber weshalb – hatte sie lange nicht begriffen. Sie wagte es nicht, sich unglücklich zu nennen: dieses Wort auszusprechen wäre ihr unpassend und unanständig erschienen. Vorotynskij, indem er von sich sprach, brachte Klarheit in ihr eigenes Gefühl und verlieh den verworrenen Empfindungen ihrer Seele Leben und Wort. Er erzählte ihr von dem Unglück, glücklich zu sein, vom Unglück, reich zu sein, vom Unglück, an nichts Not zu leiden, vom Unglück, sich alle Wünsche erfüllen zu können, vom Unglück, eine Zeit lang in fremden Ländern zu leben, schließlich von Geheimnissen, unerklärlichen Unglücksfällen, welche die Seele eines Menschen von Verstand und Gefühl belasten, wie zum Beispiel das Unglück, gute Musik zu hören, das Unglück, ein gutes Bild zu betrachten, das Unglück, gute Gedichte zu lesen, überhaupt das Unglück, zu leben, – mit einem Wort, alle diese Unglücksfälle, die in Romanen und Novellen zum Lachen reizen, die in Wirklichkeit aber ebenso wesentlich sind und an die man unwillkürlich ebenso glaubt wie an jene Umstände, die in der großen Welt ausschließlich unter der Bezeichnung «unglücklich» firmieren.

All dies begriff die Gräfin, obgleich ihr diese Worte neu waren; sie horchte sich in sie hinein, wie ein künftiger Renegat in die Worte eines Menschen, der ihn zum Glaubensübertritt zu bewegen versucht; oft wollte sie das Gespräch auf den Gegenstand ihrer Neugierde lenken; der junge Mann aber verstand es, Fragen auszuweichen: sie dienten ihm nur als Treppchen zu dem, was er der Gräfin sagen wollte. Erfahren, wie er war, ließ er einen Gedanken unerklärt, ein Wort nicht zu Ende gesprochen – und sagte mit diesem Kunstgriff vieles, was er nicht aussprach…

«Törichte Leser!» – rief einst der Abbate Galiani,14 – «ihr lest nur, was schwarz auf weiß geschrieben steht, lest nur die Zeilen; verstehen sollt ihr, das Weiße im Schwarzen zu lesen, verstehen, zwischen den Zeilen zu lesen.»

Vorotynskij beherrschte diese Kunst in Vollkommenheit: in den Zwischenräumen zwischen den Wörtern, die er nicht aussprach, waren andere Worte, die der Gräfin aber eine geheimnisvolle Stimme ins Ohr flüsterte.

Wie dem auch sei, die Gräfin kehrte nach Hause zurück mit dem Gedanken, dass sie reich, jung und schön sei, dass ihr Gemahl ein gesunder, rotwangiger Mann sei, der prächtig reitet und sehr gut boxt, und dass sie deshalb sehr, sehr unglücklich sei. Sie liebte es, dieses frische, ihr vollkommen neue Wort im Stillen zu wiederholen; sie bemühte sich, alle Begebenheiten ihres Lebens zu erinnern und deren dunkle Seite auszumachen; sie fand, dass ihr in allen Genüssen, die sie bisher erfahren, etwas gefehlt habe; mit einem Wort, sie kehrte nach Hause zurück in der Überzeugung, sehr, sehr unglücklich zu sein. Der Graf war nicht zu Hause; er ließ ausrichten, man möge ihn nicht zum Essen erwarten. Die Gräfin war darüber sehr froh; zum Beweis ihres Unglücks ließ sie auch für sich kein Essen servieren, warf sich in den Sessel ihres Kabinetts und begann, an ihrem Unglück Vergnügen zu empfinden, wie ein Kind an einem neuen Spielzeug; sie nahm bald dieses, bald jenes Buch zur Hand; ihr stand nicht der Sinn nach Lektüre; der Roman spielte in ihrem Kopf, die fremden erschienen ihr spröde und kalt. Um elf Uhr kehrte der Graf mit gerötetem Gesicht und in sehr heiterer Stimmung zurück: er war mit Zufallsbekanntschaften zu einem improvisierten Frühstück gewesen, und seine Sache war sehr gut gediehen. Der Graf betrat das Kabinett seiner Frau mit lautem Gelächter und einem Dutzend Calembourgs,15 die er während des Frühstücks aufgeschnappt hatte. Dieser Auftritt verwirrte und bekümmerte die Gräfin: er störte ihre bittere Ruhe, und als sich der Graf ins Bett warf und eingeschlafen war, blieb die Gräfin in ihrem Sessel sitzen, neigte den Kopf auf das kalte Marmortischchen und sprach leise: «Wie bin ich unglücklich, wie bin ich unglücklich!»