Der schwarze Koffer - George Lloyd-Allen - E-Book

Der schwarze Koffer E-Book

George Lloyd-Allen

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Beschreibung

Geschichte eines Mords erzählt von dem, der den Mörder ausfindig machte. Bei einer Zollkontrolle im Pariser Gare du Nord wird eine schreckliche Entdeckung gemacht. In einem Reisekoffer einer jungen Engländerin ist die sorgfältig verpackte Leiche einer älteren Dame versteckt. Der Verdacht fällt natürlich auf die Besitzerin des schwarzen Koffers, zumal sie sich in Widersprüche verstrickt. Obwohl sie alles abstreitet wird sie verhaftet und ins Gefängnis geschafft. In dem bei dem Vorfall zufällig anwesenden Detektiv George Lloyd-Allen erwacht die berufliche Neugier. Auf eigene Faust beginnt er nachzuforschen, und schon bald kommen ihm Zweifel an der Täterschaft der jungen Frau, den auch die anderen Personen ihres Umfeldes benehmen sich mehr oder weniger verdächtig. Ein Leckerbissen für Krimi-Nostalgiker George Lloyd-Allen ist das Pseudonym eines deutschen Autors, der Romane – insbesondere Kriminalromane – im Stil des 19. und frühen 20. Jahrhunderts schreibt.

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Seitenzahl: 222

Veröffentlichungsjahr: 2022

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George Lloyd-Allen

Der schwarze Koffer

Geschichte eines Mords erzählt von dem, der den Mörder ausfindig machte.

Impressum

 

 

 

Der schwarze Koffer

 

Geschichte eines Mords erzählt von dem, der den Mörder ausfindig machte.

 

 

 

 

 

George Lloyd-Allen

 

 

 

 

 

 

Impressum

 

Copyright: vss-verlag

Jahr: 2022

 

 

 

Lektorat/ Korrektorat: Hermann Schladt

Covergestaltung: Franz Eduard

 

Verlagsportal: www.vss-verlag.de

 

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie

 

Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verfassers unzulässig.

Erstes Kapitel. Der Verfasser stellt sich vor

 

Wenn ich mich heute hinsetze, um einen Bericht niederzuschreiben über die Vorgänge, die den Herren von der Polizei und von der Presse unter dem Namen des »Schwarzen Koffermords« bekannt sind, so geschieht es, weil ich mir nach reiflicher Überlegung sagen muss, dass hierzu niemand besser geeignet ist als ich. Dies Bewusstsein erstreckt sich durchaus nicht auf den litterarischen Teil meiner Aufgabe, denn schriftstellerisches Talent habe ich nie besessen und werde mich tunlich hüten, danach zu streben. Das Leben, das ich in den letzten dreißig Jahren geführt habe, hatte nichts gemein mit solchen Gaben, höchstens dass ich darin von allem etwas und von nichts zu viel haben musste, und so wird es gut sein, wenn ich den Leser gleich auf der ersten Seite warne, dass er sich bei einer trockenen Aufzählung trockener Tatsachen keiner künstlerischen Schönheit zu versehen habe. Mein Buch wird kein Kunstwerk werden und maßt sich nicht an, für ein solches zu gelten; es ist die Geschichte einer bösen Tat, die klug vollführt und, wie manche Leute damals meinten, klug aufgedeckt worden ist.

Ich habe über mich selbst eben eine große Wahrheit gesagt: »von allem etwas und von nichts zu viel«, und jedes Ding nur für eine Weile – das war der Grundzug meines Lebens und ist ein herzlich schlechter. In ein dutzend Geldsäcke habe ich die Hand eingetaucht und sie immer wieder herausgezogen, ehe ich Zeit gehabt, den Schatz zwischen die Finger zu fassen, und manch ein gut gekleideter, glattzüngiger Schurke hat undankbarer Weise vergessen, dass er es mir zu danken hat, wenn er allzu rasch aus einem wohnlichen Quartier, das er für lange hätte bewohnen können, heraus kam.

Vor etlichen zehn Jahren stand ich achtzehn Monate lang in Diensten eines »Privatnachfragebüros«. Wie ich dazu gekommen bin, hat nichts mit der Sache zu tun, ich habe nachher und vorher den verschiedensten andern Berufsarten angehört, damals war ich aber also ein Privatfahnder. Ich war zu jener Zeit ein angehender Vierziger und hatte unter dem Druck ungünstiger Verhältnisse dies Gewerbe ergriffen, das mir wenigstens die Möglichkeit bot, einen sehr unentbehrlichen Gegenstand, nämlich mein tägliches Brot ehrlich zu verdienen. So vielerlei Taschen die Pfennige dazu auch entstammt sein mögen, ehrlich verdient waren sie gottlob allzeit, reichten aber auch in der Regel nur für Brot im buchstäblichen Sinne des Worts und selten genug für Leckerbissen.

Die Tätigkeit eines Privatfahnders sagte mir sehr zu, und ich glaube, ich hatte Talent dafür. Um so mehr ist es zu beklagen, dass ich sie wieder aufgeben musste, ehe ich sie zur Genüge erschöpft hatte, aber selbst während meiner kurzen Anstellung bei dem Büro bekam ich – oder vielmehr stolperte ich über – einen großen Fall, den ich zu befriedigender Lösung bringen konnte.

Über diesen Fall zu berichten, drängt es mich, denn außer mir weiß niemand viel davon; er ist vor keinen Gerichtshof gelangt und ist in der Presse nur stückweise dargestellt worden, denn die einzelnen Tatsachen wurden den gierigen Berichterstattern nicht eine um die andre mitgeteilt, wie es unfehlbar geschehen wäre, wenn die Polizei die Sache in Händen gehabt hätte.

Ich werde also erzählen, was ich von dem »Schwarzen Koffermord« weiß. Seit er begangen worden ist, sind Jahre dahingegangen, und die beteiligten Personen, um derentwillen ich bisher geschwiegen habe, sind tot oder der Welt sonst wie abhanden gekommen. Ich selber bin ein kranker Mann und ein bitterlich enttäuschter, der vor der Zeit aus dem Glied treten musste, ein Mann, dem die Welt arg mitgespielt hat, und der sich vielleicht auch selbst übel mitspielte, und es macht mir jetzt Freude, mir jene Episode zurückzurufen, macht mir Freude, von alten Zeiten und besonders von jener zu plaudern.

Noch eines – es hat mit der Geschichte nichts zu tun, möglicherweise aber mit meiner Art zu erzählen. Ich gehörte vor dreißig, vierzig Jahren – in der Schule und nachher – zu den Gebildeten; ich weiß nicht, ob davon nicht noch etwas hängen bleibt, auch wenn der Rock schäbig wird.

 

Zweites Kapitel. Der Koffer tritt auf

 

Es war in Paris im Nordbahnhof. Der London-Calaiser Zug war eben eingetroffen – sechs Uhr dreißig Minuten abends, so viel ich mich erinnere – und die Reisenden beförderten ihr Gepäck hastig nach dem großen Raum mit den hufeisenförmigen Gestellen, wo die Zollbeamten ihres Amtes walten – walteten, sollte ich vielleicht sagen, aber ich denke mir, dass diese Einrichtung heute noch dieselbe ist. Ich war ebenfalls von England herübergekommen, da ich aber kein größeres Gepäck bei mir hatte und mein Handkoffer schon bei der Landung des Schiffes untersucht worden war, hätte ich in Frieden meines Weges ziehen können. Trotzdem trieb ich mich auch in dem kahlen, geräuschvollen Zollbüro umher, denn ich musste meine »Partei« – die Leute, die ich im Auftrag meines Büros zu bewachen hatte – im Auge behalten. Unbekannter und gänzlich unerwünschter Weise widmete ich meine Dienste einem jungen Paar, das des frommen Glaubens war, seinen beiderseitigen Vätern entlaufen zu sein. Sie waren sehr verliebt und sehr harmlos diese glücklichen Menschen, und ich sah wohl, mit welchem Eifer sie die Riemen an ihren Koffern aufschnallten und die Schlüssel handhabten. Die Liebenden machten mir meine Aufgabe nicht schwer, und ich hatte vollauf Muße, mich nach allen Seiten umzusehen.

Ich schlenderte zwischen den erregten, hastigen, gereizten Leuten herum und suchte nach irgend einem Gegenstand, der mein Interesse fesseln könnte, und es dauerte nicht lange, da zogen zwei Damen, offenbar Mutter und Tochter, die vor einem wahren Gebirge noch ungeöffneten Reisegepäcks standen, meine Aufmerksamkeit auf sich. Wie deutlich ich sie heute noch so vor mir stehen sehe und wie wenig ich damals ahnte – aber die Wendung stammt entschieden aus einem Roman, den ich irgend einmal gelesen haben muss, und ich habe mir geschworen, jeden Anlauf zur Schönschreiberei zu unterlassen, denn wozu soll ich einen Gaul besteigen, von dem ich im voraus weiß, dass ich ihn nicht reiten kann?

Richtig ist übrigens, dass diese beiden Damen eine wichtige, wenn auch nicht die Hauptrolle in der Tragödie spielen sollten, deren erster Aufzug für mich wenigstens hier zur Aufführung kam. Die eine von ihnen war, wie schon gesagt, ältlich, mindestens fünfzig, wenn nicht mehr, wohlbeleibt, blond und lebhaft, rot im Gesicht, aufgeregten Wesens und mit einer schrillen Stimme behaftet. Der Zollzwang war ihr offenbar wie so vielen lästig, und statt sich ruhig ins Unvermeidliche zu finden, stieß sie unaufhörlich Klagen und Seufzer aus, zankte mit der Jungfer und wandte sich in ziemlich komischer Weise immer wieder an den gelassen dreinschauenden Beamten in seinem grünen Rock. Die Tochter, ein hochgewachsenes, bedeutend aussehendes Mädchen, deren dunkle Augen bei aller Ruhe viel Feuer hatten, billigte offenbar der Mutter auffallendes Betragen nicht.

»Sei doch ruhig, Mama!« hörte ich sie zu verschiedenen Malen ihr zuflüstern. »Gleich wird die Reihe an uns kommen, und du kannst dich darauf verlassen, dass alles gut abläuft.«

»Aber hoffentlich werden sie doch deinen schwarzen Koffer ungeschoren lassen, Edith,« versetzte die Mutter aufgeregt, »du weißt ja, was der für Mühe macht.«

»Wenn sie danach fragen,« gab die Tochter unbefangen zurück, »so werde ich einfach sagen, dass er einen photographischen Apparat enthält.«

Während sie noch sprach, ließ sich ein Beamter, der unbeschäftigt und mit hochmütiger Gleichgültigkeit gegen die von allen Seiten ertönenden Bitten dagestanden hatte, plötzlich herab, sich nach den Damen umzuwenden, und der Dienstmann in blauer Bluse, der sich zum Beschützer der Engländerinnen und ihres umfangreichen Gepäcks aufgeworfen hatte, rief ihn sofort an.

»Haben Sie Zollpflichtiges?« fragte der Beamte auf französisch.

»Nein,« begann die alte Dame, die den Inhalt ihrer Reisetasche auf dem Tisch ausgebreitet hatte, redselig, »oder eigentlich, ja. Da ist eine Flasche kölnischen Wassers, die nur eben geöffnet wurde, und in dem Reiseetui ist ein wenig irischer Branntwein, auch habe ich anderthalb Pfund Tee bei mir, Souchongtee, zu viereinhalb Schilling das Pfund, Ladenpreis.«

Der Beamte, ein mürrisch aussehender Franzose mit gelblichem Gesicht und rötlichem Schnurrbart, hörte ihr aufmerksam zu und ließ dabei seine Blicke über die ansehnliche Sammlung von hübschen Koffern und Körben schweifen.

»Öffnen Sie diesen,« sagte er, auf einen großen Koffer mit Metallbeschläg deutend, »und diesen,« setzt er hinzu und legte dabei die Hand auf ein längliches Gepäckstück.

»Ach, nur diesen nicht, mein Herr,« rief die alte Dame ganz außer sich, »es ist so mühsam, den Strick aufzuknüpfen, und wir mussten ihn zuschnüren lassen, weil das Schloss nicht stark genug ist.«

Der Zollbeamte gab keine Antwort, und einer von den kleinen blauröckigen Trägern machte sich sofort daran, den auf dem Deckel befindlichen Knoten des kreuzweise herumgeschlungenen dicken Stricks zu lösen. Zufällig fasste ich diesen Knoten ins Auge, während er daran zerrte.

Die junge Dame beugte sich leicht über die Schranke.

»Wir wären Ihnen sehr dankbar,« sagte sie ernst und leise in gutem, wenn auch nicht besonders elegantem Französisch, »wenn Sie einen der andern Koffer öffnen ließen – dieser macht gar so viel Mühe.«

Der Beamte verbeugte sich.

»Bedaure unendlich, mein Fräulein,« sagte er, »aber ich habe den schwarzen einmal bezeichnet und kann das nicht zurücknehmen,« worauf er sich einer andern Gruppe zuwandte.

Ärgerlich und beleidigt zog sich das Mädchen zurück, und mit einer Hoheit, die mir sehr überflüssig vorkam, sagte sie zu der Mutter: »Ich habe dir's ja gesagt, du warst es, die in London diesen Strick herumschnüren ließ, als ob das nicht das beste Mittel wäre, Verdacht zu erregen.«

»Du weißt wohl, wer uns den Rat gab,« versetzte die Frau in hilflosem Ton.

Übrigens schien sie jetzt für ihren Jammer keine Worte mehr zu finden und tat nur ihr Möglichstes, um die schmutzigen Finger des Dienstmannes dem schneeigen Weißzeug in ihrem eignen Koffer möglichst fernzuhalten, wobei sie ihm zu wiederholten Malen sehr ärgerlich befahl, den Herrn wieder herbeizurufen.

Die kleine Gruppe war mir ergötzlich, und da ich von hier aus mein Turteltaubenpaar und seine Beschäftigung mit dem funkelnagelneuen Reisegepäck beobachten konnte, blieb ich stehen – wenn sie den Ausgang erreichen wollten, mussten sie an mir vorübergehen.

Ich wandte mich wieder zu den Damen und stand nun unmittelbar hinter ihnen. Der gelbliche Zöllner war zurückgekehrt, hatte die Kleider in dem großen Koffer durchstöbert und durcheinander geworfen und die Sache dann mit einer huldvollen, Gnade verkündenden Handbewegung abgemacht. Nun trat er zu dem schwarzen Koffer, dessen Umschnürung endlich gelöst war.

»Die Schlüssel!« sagte der Träger. »Geben Sie mir die Schlüssel.«

Die junge Dame zog aus einem Bund einen einzelnen hervor, dessen Form nichts Auffallendes hatte.

»Das ist er,« sagte sie.

Der Mann steckte ihn ins Schloss und versuchte zu drehen – es ging nicht.

»Das ist der rechte nicht,« sagte er.

Ein andrer probierte und zerrte an dem Schloss herum, man zog den Schlüssel heraus, beugte sich herunter, und einer wollte es mit einem andern an dem Bund befestigten versuchen, allein das Mädchen gebot ihm mit einer raschen Bewegung Einhalt.

»Der und kein andrer ist der richtige,« sagte sie. »Das Schloss brauchen Sie mir nicht zu verderben.«

Erneute Versuche.

»Brechen Sie den Koffer auf,« befahl der Zollbeamte mit gedämpfter Stimme. »Das ist der Schlüssel nicht.«

Aufbrechen. Der Befehl wurde erbarmungslos vollzogen, trotzdem die alte Dame bald entrüsteten Widerspruch erhob, bald um Schonung flehte. Die junge sagte kein Wort; seit ihre erste Bitte nichts gefruchtet hatte, stand sie in trotzigem Schweigen dabei.

Das Schloß wurde gesprengt und der Deckel zurückgeschlagen. Der Inhalt des Koffers war sehr ungleich gepackt, so dass kleine Hügel und Höhlen sichtbar waren; über das ganze lag ein weißes Tuch gebreitet, das sehr in die Augen fallend den mit rotem Garn eingestickten Namenszug E. R. trug.

Einer der Männer nahm das Tuch weg, und aus bloßer Neugierde trat ich näher, um zu sehen, was dieser geheimnisvolle Koffer, den zu öffnen so viel Schwierigkeit gekostet hatte, wohl enthalten mochte. Ein wunderlich zusammengelegtes Etwas ward sichtbar – offenbar ein Paket, das in schwarzen Stoff oder einen Schal eingehüllt war – schwer musste es jedenfalls sein – ein – barmherziger Gott – nein – ein menschlicher Körper – die Leiche einer alten schwarzgekleideten Frau!

Nie werde ich diesen Augenblick vergessen. Selbst heute, nach Jahren, zittert mir unwillkürlich die Hand, mit der ich dies niederschreibe.

Nichts befand sich in dem Koffer außer dem Handtuch und dem Körper, der hineingezwängt und -gestampft worden war. Den Kopf fest gegen den Magen gepreßt, die Beine aufgeschlagen und herumgelegt, so war der Leichnam in diesen improvisierten Sarg eingeklemmt worden, war in dieser Stellung erstarrt und konnte nun nur mit größter Mühe herausgezerrt werden.

Meine Aufmerksamkeit war bisher viel zu ausschließlich mit dem Inhalt des Koffers beschäftigt gewesen, als dass ich mich um andres hätte kümmern können. Nun sah ich mich um und gewahrte, dass die alte Dame in Ohnmacht gefallen war und an der Erde lag, ohne dass jemand ihr zu Hilfe gekommen wäre, während die junge wie versteinert mit entfärbten Lippen, stieren Blicks den Leichnam anstarrte, den die Leute nun auf den Tisch niedergelegt hatten. Die Reisenden, die den Saal nicht schon früher verlassen hatten, unter ihnen auch meine ahnungslosen Opfer, standen dicht gedrängt um uns her, und Rufe des Entsetzens und der Verwunderung wurden laut.

»Die Sache muss ein Ende haben,« sagte ein Beamter, der eine breite Silberborte um die Mütze trug, indem er sich aus seiner eignen Bestürzung aufraffte. Von den Schutzmännern, die immer am Ausgang des Zollgebäudes aufgestellt sind, waren einige heraufgekommen, man hieß das Publikum sich entfernen, die Leiche wurde hinausgetragen und die Damen unter Bedeckung hinausgeführt, oder vielmehr die Mutter ward, immer noch vollständig leblos, hinweggeschafft, während die Tochter kreideweiß, aber hoch aufgerichtet, zwischen zwei Schutzmännern an mir vorüber schritt. Durch eine Seitentür brachte man sie in einen andern Teil des Gebäudes, während ich mit den übrigen in den großen Hof hinausgedrängt wurde, wo ich mein Liebespaar in einen der bequemen kleinen Bahnhofomnibusse steigen sah und hörte, wie sie dem Kutscher den Befehl gaben, nach dem Grand Hotel zu fahren.

Ich habe schon erwähnt, dass ich den Knoten der Kofferumschnürung ins Auge gefasst hatte: im Hinaustreten kam mir dieser Gegenstand wieder deutlich in Sinn – er war von einer linkshändigen Person geknüpft gewesen.

 

Drittes Kapitel. Wer ist der Täter?

 

Nachdem ich mich überzeugt hatte, dass meine Flüchtlinge sicher in ihrem Hotel untergebracht waren, und an den Vater der jungen Dame, in dessen Auftrag ich arbeitete, telegraphiert hatte, schlenderte ich gleichmütig den Boulevard entlang, und dabei lag mir der seltsame Auftritt, dessen Zeuge ich zufällig geworden war, immer im Sinn. Ehrlich gestanden, waren mir die beiden Damen, die ich so unerwartet hatte in Haft nehmen sehen, weit interessanter, als das zärtliche Paar, das mir vom Büro auf die Seele gebunden war. Der Fall war entschieden weder verwickelt, noch fesselnd; der junge Mann war der Sohn eines reich begüterten Adeligen und die Familie des Mädchens sah es gar nicht ungern, dass die Dinge weit genug gediehen waren, um ein Zurückziehen seinerseits unmöglich zu machen. Es handelte sich deshalb gar nicht darum, diese Entführung geheim zu halten; ich hatte ihnen in der Eigenschaft eines Spions, der gelegentlich auch als Zeuge verwertet werden konnte, zu folgen. In einem Beruf wie dem meinigen muss man die Aufträge eben übernehmen, wie sie sich finden.

Das Wesentliche war für mich die Gewissheit, mich mindestens noch ein paar Tage in Paris aufhalten zu müssen und hinreichend freie Zeit zur Verfügung zu haben. Das war die Hauptsache und ich stürzte mich mit Feuereifer in die Verfolgung dieses Geheimnisses, das mir zufällig ins Garn gelaufen war.

Zwei ganz harmlos aussehende Engländerinnen, die sich in nichts von Alltagsmenschen unterscheiden, reisen von London nach Paris mit einer Anzahl nicht minder harmlos aussehender Koffer und Reisekörbe, und einer dieser Koffer enthält einen Leichnam. Dieser letzte Umstand ist wenigstens nicht unter die alltäglichen Vorkommnisse zu rechnen und was hat er zu bedeuten?

Zweifellos Mord. Dessen darf man von vornherein gewiss sein; hier liegt ein auf die wunderlichste Weise entdeckter Mord vor.

Mord? Ein Polizeiagent fragt sofort: »Wer ist der Täter?« Das ist die erste, selbstverständliche Frage, die sich unsereinem aufdrängt und sogar die nach der Person des Opfers in den Hintergrund stellt. Über die Getötete wird man morgen sicher Aufklärung erhalten; ob der Mörder festgenommen werden kann, ist zweifelhaft. »Wie heißt er?« »Wer ist er?« Beides fragt man sich. »Wer ist der Täter?« Der Gedanke erfüllt den Fahnder ausschließlich.

Bis jetzt hatte ich weder Veranlassung noch Gelegenheit, eine dieser Fragen zu beantworten, aber trotzdem musste ich mir sie unaufhörlich vorlegen. Zwei Damen und ihre Jungfer – diese kann aber vorderhand noch ganz aus dem Spiel bleiben – waren wegen des Besitzes eines Leichnams in Haft genommen worden. Was wusste ich von diesen Frauen?

So gut wie nichts, wird man sagen, und doch für einen Mann von meinem damaligen Beruf ziemlich viel.

Ich wusste, um das vorauszuschicken, erstens, wie sie hießen, oder wenigstens, wie sie sich nannten, Mrs. Orr-Simpkinson, von London nach Paris, hatte ich schon auf einer Kofferadresse gelesen. Orr-Simpkinson war also der Name der alten Dame, und ob sie ihn wirklich führte oder nicht, jedenfalls war sie unter diesem von London abgereist. Ferner wusste ich, woher sie kamen, zum mindesten, woher sie gerade jetzt kamen – beide Damen, der Koffer und der Leichnam waren heute Vormittag noch in London gewesen.

Des weiteren waren mir alle Einzelheiten der Entdeckung bekannt und ich ging sie in Gedanken aufs sorgfältigste wieder durch. Die Frage gestaltete sich für mich folgendermaßen: Es ist natürlich vorderhand ein Ding der Unmöglichkeit, den Mörder zu bezeichnen, ist es aber wohl der Mühe wert, eine dieser beiden Frauen vorzunehmen und sie sich zu einem möglichen »Fall« auszuarbeiten. Für den Augenblick stellte ich mir einmal die alte Dame in den Vordergrund. Ihr Verhalten während des Auftritts, ihre ganze Persönlichkeit schienen die Möglichkeit, dass sie einen Mord begangen habe, völlig auszuschließen.

Nur ein erschwerender Umstand lag gegen sie vor, und zwar war das nicht ihr Widerstreben, den Koffer zu öffnen – der stark verknotete Strick bot hinlänglich Grund dafür – sondern die Tatsache, dass ich mit eignen Ohren die Tochter halblaut hatte sagen hören: »ich habe dir's ja gesagt, aber du wolltest durchaus in London diesen Strick herumlegen lassen, als ob das nicht das beste Mittel wäre, Verdacht zu erregen.« Allein selbst diese Steigerung konnte in allgemeinem, harmlosem Sinn gemeint sein, und es schien höchst unwahrscheinlich, dass die Mutter, wenn überhaupt beteiligt, mehr als eine Hehlerin der Tat war.

Aber die Tochter? Ihr zu mistrauen, lag entschieden bedeutend mehr Grund vor. Sie war, wie ich schon erzählte, ein dunkeläugiges, bedeutend aussehendes Mädchen mit einem charaktervollen Gesicht und machte den Eindruck einer Person, die vor kleinen Hindernissen nicht zurückschreckt. Immerhin zeiht man eine harmlose junge Dame, die mit ihrer Mutter reist, nicht gern des entsetzlichsten aller Verbrechen, des Mords, freilich pflegen andrerseits auch junge Damen keine Leichen in ihrem Koffer mitzuführen.

Die Furcht vor dem Öffnen gerade dieses Koffers war bei dem jungen Mädchen ungemein deutlich zu Tage getreten, und wenn diese an sich auch ganz erklärlich gewesen wäre, so wurde sie doch unter diesen Umständen verdächtig. Noch ein andrer Umstand kam dazu und erschien mir von noch größerer Wichtigkeit – als man ihr den Schlüssel abverlangte, hatte sie den Gehorsam verweigert.

Ich hatte nicht den leisesten Zweifel, dass der Schlüssel, den sie hingereicht hatte, der falsche gewesen war, und demnach hatte sie den richtigen verweigert.

Dafür gab es keine andre Erklärung, als dass sie das Öffnen um jeden Preis hatte vermeiden wollen und darauf rechnete, die Beamten werden nachgeben und sich mit der Untersuchung eines andern Gepäckstücks begnügen. Sie hatte wiederholt versichert, dieser Schlüssel sei der richtige; er war es nicht – sie hatte also eine Lüge ausgesprochen.

Während meiner kurzen Tätigkeit als Fahnder habe ich die Beobachtung gemacht und Kollegen von weit mehr Erfahrung haben mir diese wiederholt bestätigt, dass bei einem Menschen, der bewusst und willig mit kühner Stirne in Worten oder Handlungen lügt, man immer die Möglichkeit – nicht mehr als die Möglichkeit natürlich – annehmen darf, dass er auch jeden andern Verbrechens fähig ist. Der Lügner kann alle Zeit zum Mörder werden.

Alles drängte zu der Annahme, dass die junge Dame – vermutlich Fräulein Simpkinson – von dem seltsamen Inhalt ihres Koffers Kenntnis hatte, und das war an sich schon merkwürdig genug. Auf Grund dieser Voraussetzung erschien alles Weitere glaublich.

Und trotzdem gelangte ich nicht zu der inneren Überzeugung, dass Fräulein Simpkinson tatsächlich die Mörderin sei. Zum guten Fahnder gehören unfehlbar Ahnungsvermögen und Instinkt – nur dass beides in richtiger Weise beherrscht und geleitet werden muss, da sitzt der Haken! Ich hatte unumstößlich das Gefühl, dass Fräulein Simpkinson wohl zu der Tat in Beziehung stehen müsse, sie aber nicht persönlich vollzogen haben könne. Welcher Art dieser Zusammenhang war, musste die Zeit lehren.

Das ganze Geheimnis, so wird ein jeder sagen, ging mich nichts an, und ich gebe das unbedingt zu. Ich hatte kein Recht, danach zu fragen, und sehr wenig Gelegenheit, darin einzubringen, aber trotzdem fühlte ich mich in unerklärlicher Weise dazu hingezogen und konnte mich von der Erinnerung an den Auftritt im Zollamt nicht losreißen. Aus allen Schaufenstern schien das schmale, alte Gesicht mit den starren Augen mir entgegenzublicken – wer war es, der die arme alte Frau getötet hatte, und weshalb hatte er es getan? Ob ich wollte oder nicht, ich musste mich mit der Sache beschäftigen, so viel empfand ich klar.

 

Viertes Kapitel. Die beiden Düberts

 

Ich sagte, dass ich nur sehr wenig Gelegenheit hatte, der Sache nachzuspüren, in Wirklichkeit bot sich mir dazu überhaupt nur ein Weg, und auch dieser nur, wenn der Zufall mir günstig sein wollte.

Vor einigen Monaten war ich in meiner geschäftlichen Tätigkeit mit einem Pariser Polizeikommissar in Berührung gekommen. Meine Auftraggeber teilten mir stets die Arbeit auf dem Kontinent zu, weil ich in meiner Jugend gründlich französisch gelernt hatte. Und so war ich in Sachen eines Vertrauensbruchs nach Paris geschickt worden, hatte dort mit einem französischen Polizisten, einem Herrn Dübert, zu tun gehabt und war im Verlauf der Dinge in die Lage gekommen, ihm einen unbedeutenden Dienst zu leisten. Seither hatte ich ihn nicht wiedergesehen, beschloss aber nun, ihn aufzusuchen; möglich war es ja, wenn auch nicht sehr wahrscheinlich, dass er mir in diesem Fall von Nutzen sein konnte.

Ich fand ihn in seinem kleinen Büro in der Nähe des Pantheons, das zu seinem Distrikt gehörte. Er war offenbar hocherfreut, mich zu sehen, und gab diesem Gefühl einen für englischen Geschmack etwas zu wortreichen Ausdruck. Von dem Vorfall am Nordbahnhof wusste er noch nichts, und ich sagte ihm offen, dass mir viel daran liege, die Sache zu verfolgen, setzte auch hinzu, dass die französische Regierung möglicherweise aus meiner zufälligen Anwesenheit in Paris Nutzen ziehen könnte.

Und nun war mir das Glück günstig, oder vielleicht ist das etwas zu viel gesagt, denn in dem Umstand, dass Herr Dübert, obwohl er selbst gänzlich außerhalb der Sache stand, doch genau wusste, welche von seinen Kollegen beteiligt sein mussten, lag ja nichts Auffallendes. Der Zufall wollte nur, dass der Polizeikommissar, in dessen Bezirk der Fall gehörte, ein Verwandter von ihm war, ich weiß übrigens nicht, ob dieser wirklich für mich von großer Bedeutung gewesen. Ob er sein Bruder oder sein Vetter war, habe ich vergessen, ich glaube, er war ein Vetter, jedenfalls führten sie denselben Namen. Mein Herr Dübert hieß Léon, und der Kommissar des Bahnhofbezirks François.

Sofort erbot sich mein Freund, mich zu dem Vetter zu führen – angenommen, dass es ein Vetter war – nur hatte er noch eine halbe Stunde Dienst. Ich musste also während der Zeit meine Ungeduld bezähmen, so gut es gehen wollte, und es blieb mir unbenommen, mich über die zahllosen kleinen Förmlichkeiten und die übertriebene Pünktlichkeit des französischen Polizeidienstes zu belustigen. Dabei haben sie übrigens treffliche Polizisten, besonders unter den Schutzleuten und im Service de sûreté.

Die halbe Stunde ging zu Ende und Herr Dübert verschloss sein Pult. Wir nahmen eine Droschke und fuhren nach dem weit entfernten Norden der Stadt, wo wir Herrn François in einem ähnlichen kleinen Bureau antrafen.

Er wusste um die Entdeckung, und zwar genau! Den ganzen Abend hatte er von nichts andrem gehört, nichts andrem gesprochen, an nichts andres gedacht. Er war ein äußerst gesprächiger, erregbarer kleiner Mann, just nicht das Holz, aus dem man Polizeibeamte schnitzt, sollte ich denken, aber man irrt sich in solchen Dingen manchmal gründlich.

Bei diesem Anlass mag er wohl auch aufgeregter gewesen sein als sonst, denn die Bedeutung und Schwierigkeit des zur Hälfte im Ausland spielenden Falls war groß. Selbstverständlich sprach er nur französisch – in Frankreich wie in England sind die Beamten selten einer fremden Sprache mächtig – und da die in Haft genommenen Damen Ausländerinnen waren, der in Frage stehende Koffer vom Ausland kam, war die ganze Untersuchung erschwert. Sein Dolmetscher hatte sich, wie er mir klagte, ganz unfähig erwiesen, und er war daher umso mehr geneigt, nach dem Beistand zu greifen, den ich ihm leisten konnte. Es zeigte sich aber bald, dass ich weniger vermochte, als ich gehofft hatte.

Er fing damit an, uns genau zu berichten, wie die Dinge im Augenblick standen. Die ältere Dame hatte allem Anschein nach ihr klares Bewusstsein noch nicht wieder erlangt, sie redete irr und war auf Anraten des beim Polizeiamt angestellten Arztes ins Krankenhaus gebracht worden. Nach Ansicht des Kommissars war sie jedenfalls nicht tief in die Angelegenheit verwickelt.

Mit der jungen Dame und ihrer Jungfer hatte man ein vorläufiges Verhör angestellt. Die Dienerin wusste offenbar von der ganzen Sache nichts, das Fräulein wusste offenbar vieles.

Die Jungfer war nicht einmal im Stande gewesen, die Persönlichkeit der Verstorbenen festzustellen, denn sie versicherte nachdrücklich, dass sie die Dame nie im Leben gesehen habe. Trotzdem verschaffte uns ihre Aussage über zwei Punkte Klarheit.

Erstens: Die Verstorbene hatte sich in der Zeit unmittelbar vor dem Mord nicht in Gesellschaft von Frau Simpkinson und ihrer Tochter befunden, sonst würde die Jungfer sie gekannt haben.

Zweitens: Der schwarze Koffer war wirklich Fräulein Simpkinsons Eigentum; das Mädchen hatte ihn als solches wiedererkannt.

Das Verhör der jungen Dame selbst war natürlich ungleich interessanter gewesen, und Herr François Dübert gab mir in zuvorkommendster Weise das Protokoll zu lesen. Ob das gerade vorschriftsmäßig war, lasse ich unerörtert, der Mann war nun eben einmal erfreut, auf meine Hilfe rechnen zu dürfen.