Der schwarze Spiegel - Maya Shepherd - E-Book

Der schwarze Spiegel E-Book

Maya Shepherd

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Beschreibung

Wer oder was ist böse? Die Antwort liefert die zehnte Folge der ›Grimm-Chroniken‹ und enthüllt dabei eines der größten Geheimnisse der kompletten Serie. Dieser Spiegel war anders als alle, die ich bisher erblickt hatte. Ein verschnörkelter Rahmen aus Ebenholz rahmte das schwarze Glas in seiner Mitte ein. Er zeigte mich nicht als die gebrechliche Frau, die ich heute war, sondern als jene Apfelprinzessin, die voller Zuversicht und Träume in ihre Zukunft geblickt hatte. »Ist es nicht erstaunlich, dass das eigene Spiegelbild einem ganz anders erscheint als das, was andere Menschen von einem wahrnehmen? Niemand ist in der Lage, sich selbst so zu sehen, wie er ist. Wenn ich meine eigene Dunkelheit nicht erfassen kann, ist es dann möglich, dass das Böse längst Besitz von mir ergriffen hat?« Band 1: Die Apfelprinzessin Band 2: Asche, Schnee und Blut Band 3: Der Schlafende Tod Band 4: Der Gesang der Sirenen Band 5: Der goldene Apfel Band 6: Der Tanz der verlorenen Seelen Band 7: Das Aschemädchen Band 8: Dornen, Rosen und Federn Band 9: Die verbotene Farbe Band 10: Der schwarze Spiegel

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Inhaltsverzeichnis

Was zuvor geschah

Das silberne Medaillon

Ein Tod für ein Leben

Das versprochene Herz

Der Zauber des geteilten Herzens

Scherbenaugen

Die Spiegeljagd

Der Glassarg

Die Frau im Spiegel

Eine unverzeihliche Tat

Das Gleichgewicht der Welt

Der schwarze Spiegel

Die Gemahlin des Teufels

Schlussworte der Autorin

Danksagung

Maya Shepherd

Die Grimm Chroniken 10

„Der schwarze Spiegel“

Copyright © 2019 Maya Shepherd

Coverdesign: Jaqueline Kropmanns

Lektorat: Sternensand Verlag /Martina König

Korrektorat: Jennifer Papendick

Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder teilweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Facebook: www.facebook.de/MayaShepherdAutor

E-Mail: [email protected]

Für mein Sternenkind

Niemals könnte ich dich vergessen.

Was zuvor geschah

1801 – 1803

Mary erfährt, dass Maries Mann im Krieg an der Dornenhecke gefallen ist. Sie macht sich gegen den Rat von Jacob zu ihrer einstigen Freundin auf, um ihr die traurige Nachricht selbst zu überbringen. Marie ist darüber am Boden zerstört und macht sich große Sorgen um ihre Zukunft, da sie nun allein für zwei kleine Kinder verantwortlich ist. Mary bietet ihr an, zusammen mit Hänsel und Gretel ins Schloss zu ziehen und als Kindermädchen für Margery zu arbeiten. Marie steht dem Vorschlag eher kritisch gegenüber, da sie sich davor fürchtet, was Margery ist. Sie willigt jedoch ein, es zumindest zu versuchen.

Zuerst scheint Marie sich gut einzuleben und sie kann ihre Bedenken der Prinzessin gegenüber ablegen. Eines Nachmittags erlaubt sie sogar ihren Kindern, die Prinzessin kennenzulernen. Noch am selben Tag kommt es jedoch zu einem schrecklichen Unglück. Margery beißt Marie und verliert derart die Kontrolle über sich, dass sie ihr die Kehle aufreißt. Hänsel und Gretel müssen mit ansehen, wie ihre Mutter im Schnee verblutet.

Mary ist über diese Entwicklung furchtbar schockiert, da sie Margery niemals so viel Grausamkeit zugetraut hätte. Zudem fühlt sie sich mitschuldig an dem Tod ihrer Freundin. Sie erträgt es nicht, ihre Kinder bei sich zu behalten, und hat Angst, dass Margery auch ihnen etwas antun könnte. Deshalb bittet sie Jacob, Hänsel und Gretel zu einer guten Familie zu bringen. Mary wird für ihren Unterhalt bezahlen.

Zwei Jahre später berichtet Jacob Mary von einem Gerücht über einen Glassarg, der an der Küste von Engelland gesichtet wurde. Mary muss bei der Erwähnung sogleich an den Sarg denken, den Vlad Dracul vor Jahren auf seinem Schiff bewachen ließ. Darin lag die namenlose Hexe, die sie noch vor ihrer Geburt verflucht hatte. Sie erzählt Jacob von dem Fluch, der auf ihr liegt. Er reagiert schockiert darüber, dass sie noch nie ihr eigenes Spiegelbild gesehen hat.

Einen Tag später bringt er ihr einen Handspiegel mit und fordert sie auf, sich darin zu betrachten. Jacob glaubt nicht an Flüche. Er ist der Überzeugung, dass sie nur an Macht gewinnen, wenn man sich ihnen beugt. Mary weigert sich zuerst, in den Spiegel zu schauen, zu groß ist das Risiko. Wenn sich der Fluch bewahrheitet, wird großes Unheil über ihre Familie kommen. Jacob kann ihr jedoch insoweit zureden, dass sie schließlich doch nachgibt und einen Blick riskiert. Zum ersten Mal sieht sie sich selbst, aber ihr Anblick führt ihr vor Augen, dass ihr körperlicher Zerfall bereits begonnen hat. Ihr Spiegelbild beraubt sie jeder Hoffnung.

1812

Margery tauscht mit Ember die Kleider und Rollen. Während sich Ember in ihr Bett im Nordturm legt, schlüpft Margery in die unsichtbar machenden Glasschuhe und schleicht sich unbemerkt durchs Schloss, bis zu dem Gemach ihrer Mutter. Dort sucht sie nach Wilhelms Medaillon, um ihn aus der Kontrolle der Königin zu befreien. Es gelingt ihr schnell, das Schmuckstück zu finden. Bevor sie jedoch zu ihrem Zimmer zurückkehrt, wird sie auf einen versteckten Gegenstand aufmerksam. Es ist der große Spiegel ihrer Mutter, welcher aus schwarzem Glas besteht. Sie erinnert sich daran, dass sie als Kind ihre Mutter damit sprechen sah.

In dem Moment erklingen Schritte auf dem Korridor vor dem Gemach der Königin, sodass Margery der Fluchtweg versperrt ist. Die Königin bemerkt direkt, dass jemand sich unerlaubt Zutritt verschafft haben muss, da ihr Spiegel nicht mehr verhangen ist. Sie befiehlt Dracula, zum Nordturm zu gehen, um zu überprüfen, ob sich ihre Tochter dort befindet.

Kaum dass er das Zimmer verlassen hat, wendet sich die Königin ihrem Spiegel zu und spricht ihn mit den Worten an: Mary, Mary, Mary. Spieglein an der Wand, wer brach ein in mein Kämmerlein?

Ihr eigenes Spiegelbild antwortet ihr, dass es niemanden gesehen habe.

Margery ergreift unbemerkt die Flucht, dabei stolpert sie jedoch auf der Treppe und verliert einen der gläsernen Schuhe, sodass sie nicht mehr unsichtbar ist. Ihr bleibt nichts anderes übrig, als sich im nahe gelegenen Keller zu verstecken. Dieser wird kurze Zeit später von zwei Dienerinnen betreten, die das Bad für die Königin in der Folterkammer vorbereiten sollen. Margery fürchtet, dass Vlad Dracul Ember in ihrem Zimmer gefunden und die Königin nun beschlossen hat, diese zu töten und in ihrem Blut zu baden. Verzweifelt schlingt sie ihre Finger um Wilhelms Medaillon und fleht ihn in Gedanken an, ihr zu Hilfe zu eilen.

Das silberne Medaillon

Engelland, Schloss Drachenburg, Oktober 1812

Die panischen Schreie des Mädchens lagen Margery noch in den Ohren. Sie wiederholten sich wie in einer Endlosschleife. Am schlimmsten daran war der letzte gurgelnde Laut, der ihrer durchtrennten Kehle entwich, als das Leben aus ihrem Körper gefahren war. Ihr Blut hatte auf die mit blauen Ornamenten versehenen Fliesen gespritzt, bevor es sich in die goldene Badewanne ergoss, über der das Opfer mit dem Kopf voran von der Decke baumelte.

Die Königin hatte sich genüsslich das Blut von den Fingern geleckt, als wäre es flüssige Schokolade. Danach hatte sie ohne jede Hast dabei zugesehen, wie das Mädchen langsam ausblutete, bevor sie es mit einem Ruck zu Boden stürzen ließ. Völlig gleichgültig hatte sie sich vor dem Leichnam entkleidet und war mit einem wohligen Seufzen in das noch warme Blutbad gestiegen.

Margery hatte all das aus ihrem Versteck im Schrank mit ansehen müssen. Als das neuste Opfer der Königin in das Zimmer geführt worden war, hatte sie als Erstes voller Erleichterung gedacht: Es ist nicht Ember. Für diesen Gedanken hatte sie sich sogleich geschämt, war doch das Leben dieses armen Mädchens nicht weniger wert als das ihrer Freundin. Sie hatte mit sich gerungen, ob sie eingreifen sollte, aber was hätte sie schon tun können? Wie sollte sie jemand anderen retten, wenn sie nicht einmal sich selbst retten konnte? Womöglich hätte es ihrer Mutter nur noch größeres Vergnügen bereitet, vor ihren Augen zu morden.

Sie hatte in dem Schrank ausgeharrt und gehofft, dass alles schnell vorbei sein möge, und dabei Wilhelms Medaillon wie einen Talisman fest umschlossen gehalten. Der Geruch des Blutes, der sich ausgebreitet hatte, sorgte bei ihr nicht für Verlangen, sondern für Ekel.

Ihre Mutter war ein Mensch. Sie brauchte kein Blut, um ihren Durst zu stillen, aber sie genoss es, zu töten. Es ging ihr dabei nicht nur darum, ihre Schönheit und Jugend zu erhalten, sondern vor allem um die Qual, die sie ihren Opfern zufügte. In ihren Augen gab es keine Reue oder Mitgefühl. Obwohl sie atmete, war sie innerlich tot. Kein Funke Menschlichkeit war in ihrem kalten schwarzen Herzen übrig geblieben.

Margery würde versuchen, einen Weg aus dem Schloss zu finden, sobald die Königin das Bad verlassen hatte. So lange musste sie noch aushalten und durfte keinen Ton von sich geben.

Ihr Herzschlag stolperte, als es plötzlich gegen die Tür klopfte. Sie hielt den Atem an und lauschte in die Stille. Dabei entging ihr nicht, wie über die Lippen der Königin ein zufriedenes Lächeln glitt, als hätte sie den Besucher bereits erwartet.

»Herein«, rief sie jedoch in gespielter Ahnungslosigkeit.

Ein kühler Lufthauch zog in das erhitzte Zimmer und ließ die vielen Kerzenflammen flackern. Schritte von schweren Stiefeln erklangen auf dem Boden und eine Gestalt in einem schwarzen Umhang bewegte sich auf die Königin zu – ein seelenloser Jäger. Demütig verneigte er sich vor ihr und blieb in der gebückten Haltung, bis seine Herrin ihm erlaubte, sich aufzurichten.

»Wilhelm«, sprach die Königin ihn an und jagte dadurch einen Schauer über Margerys Haut.

Er war hier. Er war tatsächlich gekommen. Hatte er ihr Flehen vernommen? Hatte er durch die Macht des Medaillons gespürt, dass sie ihn brauchte?

»Was ist derart dringlich, dass es nicht bis nach meinem Bad warten kann?«

»Verzeiht die Störung, meine Königin«, erwiderte er unterwürfig, wobei er aber nicht sie ansah, sondern seine Augen durch den Raum wandern ließ, als würde er nach etwas oder jemandem suchen. »Ich wollte mich nur nach Eurem Befinden erkundigen.«

Der Königin entfuhr ein glockengleiches Lachen, als sie sich aus der Badewanne erhob und nackt vor ihrem Jäger stand. Blut lief wie Wasser über ihre Haut. Sie hatte den Körper einer jungen Frau, nur wenig älter als Wilhelm, der beschämt zu Boden sah. »Mein Junge, du machst mir einen verwirrten Eindruck«, zog sie ihn amüsiert auf. »Sei so gut und hol mir ein Handtuch.« Sie deutete mit ihrem ausgestreckten Arm auf ein Regal neben dem Schrank, in dem sich Margery verbarg.

Dankbar, sie nicht länger ansehen zu müssen, drehte Wilhelm sich um, dabei fiel sein Blick auf das Versteck der Prinzessin. Es war unmöglich, dass er sie durch den Schlitz sehen konnte, dennoch wirkte er erschrocken. Seine Augen weiteten sich. Beinahe, als würde er sie spüren. Er wankte leicht, als er einen Fuß vor den anderen setzte. Seine Hand zitterte, als sie den Stoff ergriff und er damit zurück zur Königin ging. Er übergab ihr das Tuch, ohne sie anzusehen. Sie wickelte es sich um den schlanken, wohlgeformten Körper. Das weiße Gewebe färbte sich rot.

»Willst du deiner Königin nicht aus der Wanne helfen?«, säuselte sie weiter.

Ihre Stimme war lieblich, aber Margery hörte deutlich die Gefahr aus ihr heraus. Je süßer die Tonlage der Königin erschien, umso grausamer war ihr Vorhaben. Eine Gänsehaut breitete sich auf ihren Armen aus.

Gehorsam reichte der Jäger der Herrin seine Hand, damit sie auf dem blutbespritzten Boden nicht ausrutschte. Sie stieg über den Wannenrand und blieb dicht vor ihm stehen. Er musste ihren Atem auf seinen Wangen spüren, so nah war sie ihm. Sie löste ihre Hand aus seiner und streichelte ihm spielerisch über die Brust, dabei legte sie leicht den Kopf schief.

»Wilhelm«, seufzte sie. »Weißt du eigentlich, dass du mir immer der liebste meiner Jäger warst?«

Margery hielt es vor Angst kaum in ihrem Versteck aus. Sie fürchtete nicht um sich, sondern um ihren Freund. Das war schlimmer als alles andere. Er war nur ihretwegen hier. Er war hier, weil sie ihn gerufen hatte. Wenn ihm etwas geschehen sollte, wäre es ihre Schuld.

Wilhelm hob seinen Blick und sah in die Augen der Königin, welche einst dieselbe Farbe gehabt hatten wie die ihrer Tochter und dennoch nicht unterschiedlicher hätten sein können. Das helle Blau ihrer Iriden war nun jedoch einem feurigen Rot gewichen.

Er schaffte es nicht, die Gefühlskälte der Jäger vor ihr aufrechtzuerhalten. Es war nur ein winziges Zucken, das ihn verriet, aber es genügte, um sie bemerken zu lassen, dass der Spiegelsplitter in einem seiner Augen fehlte. Sie wusste nun, dass sie ihre Macht über ihn verloren hatte. Vielleicht hatte sie es auch schon längst gewusst.

»Du hast mich verraten«, warf sie ihm vor. Nun war ihre Stimme nicht länger zärtlich, sondern schneidend wie Glas.

Er schüttelte benommen den Kopf und wusste nicht, was er sagen sollte. Er hatte nichts getan, um ihr zu schaden, aber die bloße Tatsache, dass sein Herz für eine andere oder überhaupt für irgendjemanden schlug, war bereits ein Vergehen. Ein Jäger durfte nicht fühlen. Er musste vollkommen den Befehlen seiner Königin ergeben sein.

Ihre Hände lagen immer noch auf seiner Brust. Diese ließ sie nun höher wandern, bis sie seinen Hals erreichten. »Ich habe dir ein zweites Leben geschenkt und du willst meinen Tod.«

»Nein«, stieß Wilhelm aus. »Ich würde nicht …«

Seine Stimme versagte, als die Königin mit ganzer Kraft zudrückte und ihm die Luft abschnitt. Er keuchte, aber unternahm nichts, um sich von ihr zu befreien. Vielleicht konnte er es nicht. Vielleicht hatte die Königin ihn verzaubert. Sie besaß die Macht dazu.

Margery konnte nicht länger mit ansehen, wie der einzige Freund ihrer Kindheitstage litt. Sie würde nicht zulassen, dass er sein Leben für sie ließ. Denn wofür sollte sie noch kämpfen, wenn es auf dieser Welt niemanden mehr gab, den sie liebte?

Mit einem Ruck verließ sie den Schrank und stürzte auf ihre Mutter und den Jäger zu. »Lass ihn los«, schrie sie voller Verzweiflung und zu ihrem Erstaunen lockerte ihre Mutter tatsächlich ihren Griff. Das plötzliche Erscheinen ihrer Tochter schien sie jedoch nicht im Geringsten zu überraschen.

Ein süffisantes Lächeln glitt über ihre Lippen. »Sieh an, wer sich endlich aus seinem Versteck gewagt hat«, gurrte sie und versetzte Margery damit eine imaginäre Ohrfeige.

Sie hatte es gewusst – die ganze Zeit. Sie hatte es genossen, zu wissen, dass ihre eigene Tochter in dem Schrank kauerte und sich damit quälte, weil sie den Tod des Mädchens nicht verhindert hatte. Es gab kein Wort, das beschreiben konnte, wie entsetzlich grausam die Königin war. Monster traf es vermutlich am ehesten.

»Was willst du nun tun?«, fragte sie die Prinzessin herausfordernd. »Glaubst du etwa, ich würde ihn verschonen, nur weil du mich darum bittest?«

Margery schüttelte den Kopf und kämpfte gegen ihre Tränen an. Sie fühlte sich hilflos und wusste, dass es nichts gab, was sie tun konnte. Ihre Mutter würde Wilhelm töten, ganz gleich, ob sie aus einem Schrank dabei zusah oder es direkt vor ihr tat. Im Grunde hatte sie ihr nur einen Gefallen getan, als sie ihr Versteck verlassen hatte. Es war genau das, was die Königin von ihr erwartet hatte. Sie ahnte jeden ihrer Schritte voraus und durchschaute sie.

Irgendwann einmal, vor sehr langer Zeit, war sie ein Mädchen wie sie gewesen. Vielleicht hatten sie sogar die gleichen Träume und Wünsche gehabt, bis Margery ihr sie alle mit ihrer Geburt entrissen hatte. Ihre Mutter konnte sich in sie hineinversetzen, während es Margery unmöglich war, zu erahnen, was diese dachte. Die Königin war ihr in jeder Hinsicht überlegen.

Sie sah von ihrer Tochter zu Wilhelm, der immer noch wie erstarrt vor ihr stand. Ihre Hände lagen besitzergreifend auf seinen Schultern. Sie ließ die Rechte erneut über seine Brust wandern und hielt auf der linken Seite inne. Etwas schien sie zu irritieren und sie legte ihre flache Hand über sein pochendes Herz. Sie spürte das kräftige Schlagen unter ihrer Haut und lauschte seinem Klang wie einer längst vergessenen Melodie.

»Wessen Herz schlägt in deiner Brust?«, murmelte sie gedankenverloren. So als müsste sie es wissen und könnte sich nicht mehr daran erinnern. Von dieser Frage schien viel für sie abzuhängen.

Weder Margery noch Wilhelm kannten die Antwort darauf.

Wie aus dem Nichts rauschte eine vierte Person in das blutige Badezimmer und schleuderte die Königin von dem jungen Jäger. Sie fiel zu Boden und blickte zornerfüllt zu dem unbekannten Angreifer auf, der in diesem Augenblick eine Pfeife aus seinem Mantel zog und in diese hineinblies. Sogleich wurde der gesamte Raum in einen dichten grünen Nebel gehüllt, der es unmöglich machte, irgendetwas zu erkennen. Sämtliche Geräusche wurden verschluckt.

Eine Hand schloss sich um Margerys und zerrte sie mit sich. Sie hatte so etwas schon einmal erlebt. In Spiegeltal, als die Jäger sie beinahe unter den Dorfbewohnern entdeckt hätten. Ein grüner Nebel hatte sie gerettet und vor den Schlossmauern abgesetzt. Es war Jacob gewesen.

Auch als der Dunst sich dieses Mal lichtete, sah sie sich ihrem alten Freund gegenüber, den sie immer liebevoll Onkel genannt hatte. Zusammen mit Wilhelm standen sie vor den königlichen Ställen. Hinter ihnen erhob sich das düstere Gemäuer von Schloss Drachenburg. Dicke graue Wolken verdunkelten den Himmel und kündigten den nächsten Regenschauer an. In der Ferne wütete ein Gewitter, das bald auch sie erreichen würde.

Wilhelm schien das plötzliche Auftauchen seines Bruders aus der Starre zu reißen. Vehement schüttelte er den Kopf. »Irgendetwas stimmt hier nicht«, sagte er entschieden. »So war es nicht!«

Margery verstand nicht, wovon er sprach, während Jacob gar nicht darauf einging. »Schnell«, drängte er sie und rannte in den Stall. »Wir müssen weg von hier.«

Sie ergriff Wilhelms Hand und gemeinsam folgten sie dem Älteren.

Der Geruch von Stroh hüllte sie sogleich ein. Die Pferde begannen bei ihrem Eintreten zu schnauben und unruhig von einem Huf auf den anderen zu treten. Sie spürten, dass irgendetwas vor sich ging. Nur die schwarzen Einhörner der Jäger blieben ruhig. Ihre Augen richteten sich auf Wilhelm, als würde jedes von ihnen nur darauf warten, von ihm für einen Ritt auserwählt zu werden. Die Jäger und die Einhörner waren miteinander verbunden – es hieß, dass sie beide ihre Seelen an die Königin verloren hätten.

Zu ihrer Rechten befand sich die goldene Kutsche der Königin, die Margery seit jeher an einen übergroßen Kürbis erinnerte.

Das Heulen eines Wolfes zerriss das Grollen des Himmels und versetzte die Pferde in Panik. Sie wieherten und bäumten sich teilweise auf.

Die wölfische Leibgarde der Königin würde ihre Witterung aufnehmen. Sie mussten sich beeilen.

Während Jacob einem der Pferde ein Zaumzeug überstreifte, führte Wilhelm Margery zu einem Einhorn. Es war ein großes und stolzes Tier mit glänzendem Fell und einer gewellten Mähne. Seine Augen waren so dunkel, dass sie wie schwarze Löcher wirkten, in denen man sich verlieren konnte.

»Reite mit mir«, bat Wilhelm sie. »Wenn sie uns schnappen, dann nur zusammen.«

Margery war gerührt von seinem Vorschlag und glaubte, wieder ganz ihren Freund vor sich zu haben, wenn auch in der Kluft der Jäger.

Er schwang sich auf den Rücken des Tieres und hielt sich in dessen weichem Haar fest, ehe er ihr seine Hand reichte und sie zu sich nach oben zog. Sie schlang ihre Arme um seine Taille und schmiegte ihr Gesicht an ihn. Er schnalzte mit der Zunge und drückte seine Waden in die Flanken des Einhorns, das sich sogleich in Bewegung setzte. Gerade rechtzeitig, denn in dem Moment tauchte ein gewaltiger Wolf in der Stalltür auf und stieß ein grelles Heulen aus, als er die Flüchtigen erblickte.

Jacob brauchte sein Pferd gar nicht anzutreiben. Der bloße Anblick des Wolfes genügte, um das Tier in Panik zu versetzen, sodass es haltlos ins Freie galoppierte. Wilhelm und Margery folgten ihm dichtauf.

Der Weg führte sie direkt in den Finsterwald, der seinem Namen alle Ehre machte und nur aus Schatten zu bestehen schien. Sie jagten an Bäumen vorbei und duckten sich vor tief hängenden Ästen. Margery war froh, sich an Wilhelm festhalten zu können, denn sonst hätte sie befürchtet, zu Boden zu stürzen. Sie wagte nicht, sich nach ihren Verfolgern umzudrehen, aber das Heulen der Wölfe verriet ihr, dass sie ganz nah sein mussten.

Auch wenn das Einhorn schneller war als das Pferd von Jacob, ließen sie diesem den Vortritt. Er musste einen Plan haben, denn sonst wäre diese ganze Flucht sinnlos. Er musste wissen, wohin sie reiten konnten, um sich vor der Königin zu verstecken. Er musste ein Ziel haben. Er musste einfach.

Die Minuten verstrichen, während sich das Gewitter über ihnen zusammenbraute. Wind peitschte ihnen entgegen, ebenso wie kleine Zweige und Blätter. Ein Blitz erhellte den Himmel und schlug in ihrer unmittelbaren Nähe in einen Baum ein, der lichterloh in Flammen aufging. Die plötzliche Helligkeit reichte aus, um ihnen die Schlucht zu offenbaren, auf die sie geradewegs zuritten.

Das Pferd scheute und bäumte sich wiehernd auf, die Augen vor Panik weit aufgerissen. Jacob konnte sich nicht länger halten und stürzte zu Boden, woraufhin das Tier die Flucht ergriff und zurück in die Richtung jagte, aus der sie gekommen waren

Wilhelm gelang es gerade noch, das Einhorn zum Stehen zu bringen, um nicht über seinen Bruder zu donnern. Entsetzt blickte er sich um und erkannte, dass sie hier nicht weiterkamen. Hinter ihnen befanden sich ihre Verfolger und vor ihnen erstreckte sich eine metertiefe Schlucht, deren Ende mit spitzen Dornenhecken bewachsen war. Wenn der Sturz aus dieser Höhe sie nicht töten würde, dann würden die Dornen ihnen die Haut zerreißen und die Augen ausstechen. Sie kamen nicht mehr weiter.

Verzweifelt wandte er sich Jacob zu, der sich keuchend vom Boden aufrappelte. Anscheinend hatte er sich nicht verletzt. »Wohin sollen wir jetzt?«, brüllte er gegen den Sturm an. In seiner Stimme schwang ein leiser Vorwurf mit. Er hatte sich genau wie Margery auf den Älteren verlassen und geglaubt, dass er wüsste, wohin er ritt. Aber er war genauso ahnungslos wie sie gewesen.

Jacob machte einen hilflosen Eindruck und blickte auf den Weg zurück. Zwischen den dunklen Schatten war ein schwaches Funkeln zu erkennen – die goldene Kutsche der Königin. Sie würde sie schon bald erreicht haben.

»Wir könnten versuchen, uns zu verstecken«, schlug Margery vor. Sie deutete in das dichte Unterholz.

»Die Wölfe würden uns riechen«, widersprach Wilhelm ihr.

»Es sei denn, es würde sich jemand ihnen in den Weg stellen«, meinte Jacob mit entschlossenem Gesichtsausdruck und zog erneut seine magische Pfeife unter seinem Mantel hervor. Er wollte sich allein der Königin und ihren Verfolgern in den Weg stellen, um der Prinzessin und Wilhelm einen Vorsprung zu verschaffen.

»Nein!« Wilhelm schüttelte den Kopf, ging auf seinen Bruder zu und legte seine Hände fest um dessen Schultern. »Wir haben uns schon einmal so entschieden und es brachte uns an diesen Punkt. Dieses Mal machen wir es anders.«

Margery verstand nicht, was er damit sagen wollte. Auch nach dem Nebel hatte er gesagt, dass es anders gewesen sei. Er sprach, als hätte er das alles schon einmal erlebt. Aber wie konnte das sein?

»Vielleicht gelangen wir immer wieder an diese Stelle, weil es hier enden soll«, redete Jacob auf ihn ein. »Lass mich beenden, was ich begonnen habe.«

»Aber es ist dieses Mal anders«, konterte Wilhelm unnachgiebig und schaute zu Margery, die immer noch auf dem Rücken des Einhorns saß und sich in dessen Mähne festhielt. »Sie ist bei uns.«

»Die Träume verändern unsere Erinnerungen«, murmelte Jacob gedankenverloren. »Oder ist es die Vergangenheit, die sich verändert?«

»Wenn wir die Vergangenheit verändern können, haben wir eine Chance, dieses Mal alles anders zu machen. Die Geschichte muss nicht so enden.«

Wilhelms Worte waren flehend. In ihnen ruhte der Wunsch, seinen Bruder nicht zu verlieren. Er hatte ihn schon so oft verloren.

Auch wenn Margery nicht verstand, wovon sie sprachen, hatte sie das Gefühl, dass es mit dem Medaillon zusammenhing, das sie an sich genommen hatte. Sie ließ sich von dem Tier gleiten und zog das silberne Schmuckstück unter ihrem Kleid hervor. Das Licht des brennenden Baumes ließ die verzierte Oberfläche funkeln, sodass es die Aufmerksamkeit der Brüder auf sich lenkte.

»Hilft euch das vielleicht weiter?«, erkundigte Margery sich mit klopfendem Herzen, als sie sah, wie Wilhelms Augen sich bei dessen Anblick weiteten.

Er war mit einem Satz bei ihr. »Du hast es«, stammelte er ungläubig, ohne seine Hand zu heben, um es entgegenzunehmen. Dabei konnte sie in seinem Blick erkennen, dass ihm viel an dem Anhänger lag.

»Das erklärt alles«, behauptete Jacob plötzlich aufgeregt. »Nur deshalb konntest du in ihre Träume gelangen.«

»Was für Träume?«, entfuhr es Margery aufgebracht. Es ärgerte sie langsam, dass die beiden miteinander redeten, als wäre sie gar nicht da. Wilhelm hatte ihr gegenüber schon einmal behauptet, dass alles nur ein Traum sei. Aber der Kuss, den sie ihm gegeben hatte, um ihm das Gegenteil zu beweisen, hatte sich sehr real angefühlt.

Wilhelm warf ihr einen entschuldigenden Blick zu, ehe er sich wieder Jacob zuwandte. »Aber wenn Margery nun das Medaillon hat, bedeutet das, dass die Königin keine Macht mehr über mich hat?« Seine Stimme überschlug sich beinahe vor Aufregung. »Müssten wir jetzt nicht wieder aufwachen?«

Das Knurren eines Wolfes ließ sie erschaudern. Während sie vor der Schlucht standen und über Träume und Erinnerungen diskutierten, hatten ihre Verfolger sie eingeholt und kreisten sie nun ein. Die großen Wölfe fletschten ihre Zähne, die so groß waren wie die Hand eines Mannes. Sie schnappten geifernd in ihre Richtung.

Hinter ihnen bauten sich die seelenlosen Jäger auf ihren Einhörnern auf. Sie trugen Kutten, die ihre Gesichter verbargen. Einer glich dem anderen und alle richteten ihre Armbrust auf sie, jeder bereit, einen tödlichen Bolzen abzuschießen.

Wilhelm war einer von ihnen, nur dass er sich seine Seele zurückgeholt hatte, als eine Träne den Spiegelsplitter aus seinem Auge gespült hatte.

Die Menge teilte sich für die goldene Kürbiskutsche der Königin, die dieser nun mit triumphierendem Lächeln entstieg. Sie hatte sich das Blut ihres Opfers abgewaschen und ihren Körper in ein prächtiges schwarzes Kleid gehüllt, das im Schein des lodernden Baums wie geschliffener Onyx funkelte. Auf ihrem Kopf trug sie ihre Krone.

Schneewittchen war die Flucht nicht gelungen und die Königin hatte gewonnen – wieder einmal.

»Es ist lange her, dass ich die Brüder vereint gesehen habe«, sagte sie, als sie ihnen entgegenging. »Einen besseren Zeitpunkt zum Sterben könnte es wohl kaum geben.«

»Gib mir das Medaillon«, zischte Wilhelm Margery zu, ohne die Augen von der Königin zu lassen. Er hielt ihr seine offene Handfläche hin.

Sie hatte ihre Finger um den silbernen Anhänger geschlossen, um ihn vor ihrer Mutter zu verbergen. Nun legte sie ihre Faust in die Hand von Wilhelm, ehe sie diese öffnete und das Schmuckstück auf seine Haut legte. Sie spürte, wie die Kette durch ihre Finger glitt.

Sie wartete darauf, dass irgendetwas passieren würde.

Irgendetwas.

Aber es geschah nichts.

Nichts.

Die Königin sah lauernd von einem zum anderen. Es irritierte sie, dass sie nicht versuchten, mit ihr zu diskutieren, um ihre erbärmlichen Leben feilschten oder einer sich schützend vor den anderen stellte.

Wilhelm ließ das nutzlose Medaillon los, in das er seine ganze Hoffnung gesetzt hatte. Er hatte geglaubt, dass alles enden würde, wenn er erst wieder Herr seiner Sinne wäre. Sie hätten aus diesem Albtraum erwachen sollen. Stattdessen war nun alles verloren.

Margery fing es auf, ehe es den Boden berühren konnte, und nahm es wieder an sich. Sie hatte gesehen, dass es Wilhelm etwas bedeutete, auch wenn es ihnen nicht zur Rettung verholfen hatte.

Als Jacob erkannte, dass es für sie keine Rettung gab, hielt er sich seine Pfeife vor die Lippen, bereit, sie zum Einsatz zu bringen. »Du gegen mich«, forderte er die Königin tollkühn heraus.

Diese bedachte ihn mit einem herablassenden Blick. »Schau dich nur an, Jacob. Du bist alt geworden. Was hast du in den letzten Jahren gemacht? Dich wie eine Maus vor mir in einem Loch verkrochen?«

Jacob ließ sich nicht von ihr provozieren. Es war ihm einerlei, was sie von ihm dachte. »Wenn du nicht das Blut von Unschuldigen vergießen würdest, wärst du mittlerweile so alt, dass du dich nicht einmal mehr bewegen könntest. Was ist nur aus dir geworden, Mary? Du warst einmal der gütigste Mensch, den ich kenne. Du hättest dir lieber selbst ein Messer ins Herz gerammt, als zuzulassen, dass deiner Tochter etwas geschieht.«

Seine Worte waren erfüllt von einer tiefen Traurigkeit. Vor ihm stand die Hülle der Frau, die er einmal verehrt und bewundert hatte.

Die Königin ließen seine Worte vollkommen kalt. »Warst du es nicht, der mir sagte, dass ich mich nicht mit meinem Schicksal abfinden solle, sondern versuchen müsse, dagegen anzukämpfen? Etwas anderes habe ich nicht getan«, rechtfertigte sie sich.

»Aber doch nicht so«, klagte Jacob.

Er war nicht bereit, die Schuld für ihre Taten auf sich zu nehmen, nur weil er ihr vor Jahren einen gut gemeinten Rat gegeben hatte. Alles, was sie danach angerichtet hatte, war ihre eigene Entscheidung gewesen. Sie hatte aufgehört, nach seiner Meinung zu fragen, und ohnehin nicht mehr auf ihn gehört. Seine ständige Einmischung hatte sie sogar so weit gebracht, dass sie ihm den Kopf hätte abschlagen lassen, wenn er nicht rechtzeitig geflohen wäre. Es war zu spät, um noch einen friedlichen Ausgang zu finden.

»Lass es uns in einem fairen Kampf beenden«, bat er sie und schwenkte erneut seine Pfeife.

»Wir waren noch nie große Kämpfer, Jacob«, entgegnete die Königin.

»Dann sollte es zumindest ein fairer Kampf werden.«

»Fair?«, wiederholte sie höhnisch. »Wenn du um dich blickst, wirst du sehen, dass ihr von meinen Wölfen und Jägern eingekreist seid. Warum sollte ich mich auf einen Kampf einlassen, wenn ich doch längst gewonnen habe?«

Sie lachte ihn aus, ehe sie ihrem Gefolge befahl, sie zu ergreifen. Dieses stürmte auf die drei Geflohenen zu und Jacob wusste sich nicht anders zu helfen, als erneut in seine Pfeife zu pusten. Sogleich breitete sich der grüne Nebel über ihnen aus. Er vermochte sowohl ihren Angreifern als auch ihnen selbst die Sicht zu rauben, aber er konnte sie nicht an einen anderen Ort zaubern.

Nicht alle.

Die Geräusche verstummten und Margery taumelte orientierungslos in das Nichts. Es war ein Gefühl, wie durch einen Raum ohne Anfang und Ende zu laufen, bei dem sich nicht sagen ließ, wo oben oder unten war. Sie setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen, unwissend, ob sie sich auf ihre Feinde zu- oder von ihnen wegbewegte. Die Schlucht war nahe und wenn sie nicht aufpasste, würde nur ein falscher Schritt sie in den Abgrund befördern.

Langsam lichtete sich der Dunst und der Lärm schlug ihr entgegen wie Wellen an einem Strand. Erst waren da Schreie und das Knurren von Wölfen, dann ebbte es wieder ab.

Sie stieß gegen eine andere Person. Eine Hand schnellte vor und schloss sich wie eine Fessel um ihr Handgelenk. Sie hob den Kopf und Gesichtszüge zeichneten sich vor ihr ab, die sie lähmten.

Es war ihre Mutter, die sie mit kalter Genugtuung betrachtete.

Immer mehr Umrisse ließen sich erkennen. Sie befanden sich über dem Abgrund. Margery konnte nicht sagen, ob vielleicht Wölfe oder Jäger hinabgestürzt waren.

Ihr Blick wurde auf den Körper gelenkt, der nicht weit von ihr am Boden lag.

Wilhelm.

Der Griff eines Jagdmessers ragte aus seiner Brust und Blut tränkte den Stoff seines Hemdes. Sein Gesicht war ganz bleich und sein Atem ging stoßweise.

Er starb.

Die Erkenntnis traf Margery mitten ins Herz. Es war ein Schmerz, der jeden anderen Gedanken auslöschte. Ein Laut, der dem eines verletzten Tieres glich, entwich ihrer Kehle, als sie versuchte, sich von ihrer Mutter loszureißen, um zu ihrem Freund zu stürzen. Diese verstärkte jedoch unbarmherzig ihren Griff.

»Lass mich los!«, brüllte Margery unter Tränen. »Ich muss zu ihm.«

Sie konnte nichts für ihn tun, aber sie wollte sein Gesicht mit ihren Händen umschließen und bei ihm sein, wenn er seinen letzten Atemzug nahm. Er sollte nicht umgeben von Feinden sterben, sondern in die Augen einer Person blicken können, die ihn liebte.

Erst da bemerkte sie, dass Jacob verschwunden war. Er war durch den Nebel geflohen und hatte sie zurückgelassen. Vermutlich war es das Klügste, was er hatte tun können, dennoch fühlte sich sein Weggang wie ein Verrat an und enttäuschte sie zutiefst. Das hätte sie nie von ihm erwartet.

Ihre Mutter genoss ihre Verzweiflung. Sie nickte mit dem Kopf zu dem schwer verletzten Wilhelm. »Er stirbt deinetwegen«, zischte sie ihr ins Ohr. »Sein Blut klebt an deinen Händen.«

»Nein!«, kreischte Margery aufgebracht. »Du hast das getan! Es waren deine Jäger, die ihn erstochen haben.«

Sie dachte an die schwarze Magie, die ihre Mutter besaß, und so unwahrscheinlich der Gedanke auch war, musste sie ihn aussprechen.

»Rette ihn«, flehte sie die Frau an, die ihr das Leben geschenkt hatte, nur um es ihr in weniger als zwei Wochen wieder zu entreißen. »Du besitzt die Macht dazu. Rette sein Leben und mach ihn wieder zu einem der deinen. Lass ihn leben! Bitte!«

Ihre Mutter genoss Margerys Leid. Sie hatte sie nun an dem Punkt, an dem sie wimmerte und um ein Leben flehte, auch wenn es nicht ihr eigenes war. So viel Hass brannte in der Königin, war doch ihre Tochter für jedes Unglück verantwortlich, das ihr zugestoßen war.

»Wilhelm wird seinen Verrat an mir mit seinem Leben bezahlen«, erwiderte sie voller Grausamkeit.

Margery versuchte erneut, sich loszureißen. Als ihr dies nicht gelang, wollte sie auf ihre Mutter losgehen. Doch zwei Jäger hinderten sie daran, indem sie sie festnahmen.

»Bringt sie in die Kutsche und fahrt mit ihr zum dunklen Turm«, befahl die Königin ihnen.

Die Prinzessin wehrte sich nach Leibeskräften. Sie bäumte sich gegen den Griff der Jäger auf und hämmerte gegen die Fenster der Kutsche, nachdem sie in diese geworfen worden war. Sie versuchte, das Glas mit ihrer bloßen Faust zu zerbrechen, und rammte ihre Schulter gegen die Tür. Es war erfolglos.

Sie schrie den Schmerz ihres Herzens heraus, als der Kürbis sich in Bewegung setzte und sie dabei zusehen musste, wie der sterbende Wilhelm umringt von Wölfen, seelenlosen Jägern und der Königin hinter ihr zurückblieb.

Ihr eigenes Schicksal war ihr für den Moment gleichgültig, auch wenn ihr nicht entgangen war, dass ihre Mutter sie nicht zurück zum Schloss bringen ließ, sondern in den geheimnisumwobenen Turm mitten im Finsterwald. Gerüchte besagten, dass die Königin dort eine schreckliche Bestie versteckt hielt. Ein Ungeheuer, das so entsetzlich sei, dass selbst die Königin sich vor ihm fürchtete. Aber Margery bezweifelte, dass es irgendetwas oder jemanden geben könnte, der herzloser war als ihre Mutter.

Ein Tod für ein Leben

Engelland, Schloss Drachenburg, Oktober 1803

Drei Namen standen auf einem Blatt Papier, das ich von dem Hauptmann meiner königlichen Wache überreicht bekommen hatte. Es waren die Namen von drei Männern. Einer von ihnen würde auf meinen Befehl hin sterben. Sie waren alle drei Verbrecher und befanden sich in dem Gefängnis von Engelland. Es lag an mir, herauszufinden, welcher von ihnen der schlimmste war und den Tod verdient hatte.

Solch eine schwerwiegende Entscheidung konnte ich jedoch unmöglich anhand eines Namens treffen. Ich wollte diesen Männern zwar nicht persönlich gegenübertreten, dennoch musste ich wissen, wer sie waren und was sie getan hatten.

Ich nannte dem Hauptmann den ersten Namen von der Liste und fragte ihn: »Was hat dieser Mann verbrochen?«

»Emil Fletcher ist der Anführer einer Räuberbande. Sie haben verschiedene Schenken überfallen und den gesamten Biervorrat der Wirte gestohlen«, antwortete er mir.

Er wusste nicht, weshalb ich ihn diese Liste hatte anfertigen lassen oder was den Männern, deren Namen darauf notiert waren, bevorstand. Vermutlich glaubte er, dass ich ein Exempel statuieren wollte, um meine Macht zu demonstrieren. So war es aber nicht.

»Wurde dabei jemand verletzt oder gar getötet?«, hakte ich nach.

»Die Wirte wurden niedergeschlagen und erlitten durch den Verlust ihrer Waren hohe finanzielle Einbußen, aber keiner von ihnen hat gesundheitliche Schäden davongetragen.«

»Gab es weniger Überfälle, seitdem Emil Fletcher festgenommen wurde?«

Der Hauptmann zeigte sich beschämt, als er den Kopf schüttelte. »Nein, meine Königin. Die Überfälle setzen sich fort.«

Meine Wachen mochten der Schlange den Kopf abgeschlagen haben, als sie den Anführer der Bande eingekerkert hatten, doch sogleich kamen ihm andere Männer nach, welche nun die Führung übernahmen. So würde es immer weitergehen. Der mittlerweile beinahe sieben Jahre überdauernde Winter sorgte für eine große Armut und Hungersnot auf der gesamten Insel. Diebstähle lagen an der Tagesordnung und ich würde meinem Land keinen Gefallen tun, wenn ich einen der vielen Täter hinrichten ließe. Emil Fletcher sollte sein Leben behalten.

Ich ging weiter zu dem nächsten Namen auf der Liste. »Wotan Reider – weshalb sitzt dieser Mann im Kerker?«

»Er hat seinen Nachbarn getötet, meine Königin«, offenbarte mir der Hauptmann.

Ein Mörder – das war genau das, wonach ich gesucht hatte. Mein Herzschlag beschleunigte sich vor Aufregung.

»Ist bekannt, warum er das getan hat?«

»Er sagte aus, dass der Nachbar sich an seiner Tochter vergangen habe«, berichtete er mir.

Ein schrecklicher Vorwurf!

»Wurde die Tochter dazu befragt?«

Wieder reagierte der Hauptmann betrübt. »Das war nicht möglich, meine Königin. Das Mädchen erhängte sich in der Stube seines Elternhauses, kurz nachdem es seiner Mutter anvertraut hatte, was ihm angetan worden war. Als die Eltern ihr Kind fanden, erfuhr der Vater von der Tat seines Nachbarn und prügelte ihn tot.«

Entsetzt wandte ich den Blick ab. Das war furchtbar – ein Albtraum! Diese schlimmen Zeiten verleiteten die Menschen nicht nur zu Diebstählen, sondern noch zu viel größeren Grausamkeiten.

Ich konnte dem Vater keinen Vorwurf machen. Ich an seiner Stelle hätte vermutlich genauso reagiert. Seine arme Frau, die nicht nur ihre Tochter, sondern nun auch noch ihren Mann verloren hatte. Wotan Reider durfte nicht zum Tode verurteilt werden – ganz im Gegenteil, ich hätte ihn nie einsperren lassen dürfen.

»Wie lange befindet sich Wotan Reider bereits im Verlies?«, erkundigte ich mich mit belegter Stimme.

»Drei Jahre, meine Königin.«

»Lasst ihn frei«, befahl ich, was der Hauptmann mit einem Nicken bestätigte.

Mir blieb nur noch ein Name auf der Liste. Ich hoffte, dass es ein furchtbarer Mensch war.

»Almar Häfner«, las ich laut vor. »Was hat er verbrochen?«

»Er zündete eine Scheune an und verbrannte dadurch den gesamten Kornvorrat eines Dorfes.«

»Warum hat er das getan?«, entfuhr es mir verständnislos. Gerade in solch einer Not, wo Nahrung mehr wert war als Gold, kam solch eine Tat beinahe einem Massenmord gleich. Seinetwegen hatten viele Menschen nichts zu essen gehabt und mussten Hunger leiden. Manch einer war dadurch vielleicht sogar gestorben. Der Hass auf diesen Mann musste groß sein.

»Er zog sich betrunken in die Scheune zurück, um dort seinen Rausch auszuschlafen. Jedoch wollte er sich zuvor seine Pfeife anzünden. Während des Rauchens schlief er ein und die Pfeife fiel ins Stroh. Dabei entzündete sich ein Feuer. Als Almar Häfner erwachte und erkannte, was er angerichtet hatte, schlug er keinen Alarm, sondern floh, sodass die Flammen erst bemerkt wurden, als nichts mehr zu retten war.«

Dieser Mann hatte nicht einmal zu seiner Tat gestanden, sondern alles noch schlimmer gemacht, indem er wie ein Feigling davongelaufen war. Zwar hatte er nicht in böser Absicht gehandelt, dennoch trug er Schuld an dem Leid vieler unschuldiger Menschen. Sicher waren auch Neugeborene darunter, die seinetwegen vielleicht nicht einmal ihr erstes Jahr erlebt hatten. Die Kindersterblichkeit in Engelland war durch den harten Winter sehr hoch.

Almar Häfner war kein kaltblütiger Mörder, kein Kinderschänder und auch kein brutaler Schläger. Vermutlich war er nur ein nichtsnutziger Trunkenbold, aber jemanden wie ihn würde Engelland nicht vermissen. Er war das Opfer, welches ich bringen musste, um meine Schuld begleichen zu können.

Um keine voreilige Entscheidung zu fällen, stellte ich eine Frage, von der ich mir später wünschte, dass ich sie lieber unbeantwortet gelassen hätte. »Gibt es Angehörige?«

»Almar Häfner hat eine Frau und drei Kinder«, lautete die Antwort meines Hauptmanns, die all meine Pläne zunichtemachte.

»Wie alt sind seine Kinder?«, hakte ich dennoch nach, in der Hoffnung, dass sie alt genug wären, um für sich selbst zu sorgen.

»Das jüngste wurde geboren, als sich der Vater bereits in Haft befand. Das ist nun vier Jahre her. Die älteren Kinder sind sechs und sieben Jahre alt. Alles Mädchen.«

Sicher war Almar Häfner alles andere als ein guter Ehemann oder Vater, dennoch tat mir seine Frau unendlich leid, die bereits seit Jahren mit drei kleinen Kindern auf sich allein gestellt war. Sicher hatten die Dorfbewohner auch sie für die Tat ihres Mannes verurteilt. Ich konnte sie nicht zusätzlich bestrafen, indem ich ihren Mann hinrichten ließ.

Bisher hatte es in Engelland keine Todesstrafe gegeben, sodass Almar Häfner der Erste gewesen wäre. Auch wenn ich ihn oder seine Familie nicht kannte, konnte ich ihnen das nicht antun.

Deprimiert schickte ich den Hauptmann zurück an seine Arbeit, ohne bei der Lösung meines Problems Fortschritte gemacht zu haben.

---ENDE DER LESEPROBE---