Der Schwur der Sünderin - Deana Zinßmeister - E-Book

Der Schwur der Sünderin E-Book

Deana Zinßmeister

4,8
8,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Das Schicksal einer jungen Frau, die in einer Welt aus Angst und Aberglauben um ihre große Liebe kämpfen muss

Als die junge Anna Maria nach einer gefahrvollen Reise in ihr Heimatdorf Mehlbach zurückkehrt, wird ihr ein kühler Empfang bereitet. Denn mit Veit befindet sich ein geheimnisvoller Fremder an der Seite der jungen Frau, den die Mehlbacher misstrauisch beäugen. Als Veit kurz darauf mit Wölfen im Wald gesehen wird, hängt ihm bald der Ruf an, selbst ein Wolf zu sein. So schlägt das Misstrauen im Dorf in Angst um, und Anna Maria, die nun für alle die „Wolfsbraut“ ist, setzt alles daran, den Mann, den sie liebt, vor einem grausamen Schicksal zu retten …

Die Fortsetzung des Erfolgromans "Die Gabe der Jungfrau".

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 630

Bewertungen
4,8 (18 Bewertungen)
14
4
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Buch

Die Kurpfalz um 1525. Anna Maria Hofmeister kehrt von der gefahrvollen Suche nach ihren beiden Brüdern Peter und Matthias, die während der Bauernaufstände für die Rechte der unterdrückten Bauern kämpften, in ihr Heimatdorf Mehlbach zurück. An ihrer Seite befindet sich Veit, der »Wolfsbanner«, der ihr unterwegs das Leben gerettet hat. Anna Maria und Veit lieben sich, und gemeinsam wollen sie ein neues Leben beginnen. Sie beschließen, in Mehlbach sesshaft zu werden und zu heiraten. Doch schon bald ändert sich das Verhalten der Mehlbacher. Obwohl Veit versucht, sich in die Dorfgemeinschaft einzufügen, fühlt er sich als Fremder. Auch Anna Maria spürt, dass immer öfter hinter ihrem Rücken getuschelt wird. Aber zunächst misst die junge Frau diesem Verhalten keine besondere Bedeutung bei, erntete ihre Familie doch auch früher schon neidvolle Blicke. Und da Anna Marias Vater sich derzeit bereits zum wiederholten Male auf Wallfahrt befindet, glaubt sie, dass dies der wahre Grund für das Gerede im Dorf ist. Doch sie täuscht sich …

Als Veit kurz darauf beobachtet wird, wie er im Wald Wolfswelpen füttert, hetzen die feindlich gestimmten Bauern gegen ihn und versuchen, die restlichen Dorfbewohner davon zu überzeugen, dass er Unheil über das Dorf bringen wird. Veit hängt fortan der Ruf an, selbst ein Wolf zu sein, und der Argwohn der Mehlbacher schlägt in Furcht um.

Am Tag von Anna Marias und Veits Hochzeit wird Veit gefangen genommen und angeklagt, ein Werwolf zu sein. Anna Maria, die für alle nur noch die »Wolfsbraut« ist, spürt, dass diese Anklage Veits Tod bedeuten wird, und setzt alles daran, ihn zu retten. Und sie weiß, dass nur ihr Vater Daniel Hofmeister, der ein geheimnisvolles Doppelleben führt, ihr dabei helfen kann …

Autorin

Deana Zinßmeister widmet sich seit einigen Jahren ganz dem Schreiben historischer Romane. Bei ihren Recherchen wird sie von führenden Fachleuten unterstützt, und für ihren Bestseller »Das Hexenmal« ist sie sogar den Fluchtweg ihrer Protagonisten selbst abgewandert. »Der Schwur der Sünderin« ist Deana Zinßmeisters vierter Roman bei Goldmann. Die Autorin lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern im Saarland.

Außerdem von Deana Zinßmeister bei Goldmann lieferbar: Das Hexenmal. Roman · Der Hexenturm. Roman Die Gabe der Jungfrau. Roman

Inhaltsverzeichnis

BuchÜber den AutorWidmungPersonenregisterPrologKapitel 1Kapitel 2Copyright

Für meine Geschwister Manuela und Marko

Personenregister

Hofmeister-Hof

Anna Maria Hofmeister

Daniel Hofmeister (Joß Fritz*)  – Vater

Elisabeth Hofmeister  – Mutter (verstorben)

Jakob Hofmeister  – ältester Bruder

Sarah Hofmeister  – Jakobs Frau

Christel Hofmeister  – Tochter von Jakob und Sarah

Peter Hofmeister  – zweitältester Bruder

Matthias Hofmeister  – mittlerer Bruder (verstorben)

Nikolaus Hofmeister  – jüngster Bruder

Veit von Razdorf  – Anna Marias Geliebter

Johann von Razdorf  – Veits Bruder

Gerhild von Razdorf  – Johanns Frau

Friedrich  – Freund von Peter

Lena  – Magd

Mathis  – Knecht

Joß Fritz* (Daniel Hofmeister)  – Anstifter der Bundschuh- Bewegungen

Else Schmid*  – Ehefrau von Joß

Kilian Meiger*  – Kampfgefährte von Joß

Ulrich von Württemberg*  – Herzog von Württemberg

Georg III. Truchseß von Waldburg-Zeil*  – deutscher Heerführer

Jäcklein Rohrbach*  – Anführer der Bauern

Thomas Müntzer*  – evangelischer Theologe und Revolutionär

Heinrich Pfeiffer*  – Mitstreiter Thomas Müntzers

Margarethe Renner/Schwarze Hofmännin*  – Mitstreiterin von Jäcklein Rohrbach

Melchior Spindler  – Kampfgefährte von Joß, Kilian und dem Wirt

Mühlhausen

Gabriel  – Bader und einstiger Kampfgefährte von Joß Fritz

Annabelle  – Gabriels Tochter

Fritz  – Gabriels Sohn

Jacob Hauser*  – Freund des Baders und Fähnrich bei Joß Fritz

Florian Hauser  – Jacobs Sohn

Katzweiler

Karl Nehmenich  – Bauer

Hanna Nehmenich  – seine Frau

Susanna Nehmenich  – seine Tochter

Johannes Nehmenich  – sein Sohn

Stefan  – Förster

Ullein  – Sohn des Försters

Agnes  – Tochter des Försters

Adam Fleischhauer  – ehemaliger Arzt (Quacksalber)

Rauscher-Mühle

Willi  – Bauer

Ruth  – Anna Marias Freundin

Jäcklein  – Ruths Sohn

Kasper  – Ruths Sohn

Die mit einem * gekennzeichneten Personen haben tatsächlich gelebt.

»Lupus et agnus pascentur simul, et leo sicut bos comedent paleas, et serpenti pulvis panis eius. Non nocebunt neque occident in omni monte sancto meo«, dicit Dominus.

»Wolf und Lamm sollen weiden zugleich, der Löwe wird Stroh essen wie ein Rind, und die Schlange soll Erde essen. Sie werden nicht schaden noch verderben auf meinem ganzen heiligen Berge«, spricht der HERR.

(Jesaja 65,25)

Prolog

In der Nähe des Ortes Mehlbach im November 1525

Der zehnjährige Johannes kickte mürrisch Steine zur Seite und wäre dabei beinahe auf dem glitschigen Boden ausgerutscht. Nach den tagelangen Regenfällen war die Erde aufgeweicht, und der Junge musste breite Pfützen überspringen. Lustlos schlenderte er den Weg vom Ausgang Mehlbachs in Richtung Wald. »Immer muss ich das Holz herbeischaffen!«, murrte er und sah zum Himmel. Dichte Wolken zogen darüber hinweg.

»Dabei ist das Weiberarbeit«, brummte er leise weiter. Als er ein Eichhörnchen am Waldesrand erspähte, rannte er ihm hinterher, doch rasch sprang das Tier einen Baumstamm hinauf. Johannes hieb mit der Faust gegen das Holz und blickte dem Eichhörnchen zornig hinterher. »Mistvieh!«, schimpfte er laut.

Anstatt zurück auf den Weg zu gehen, wollte der Junge seine Strecke abkürzen und marschierte quer durch den Wald. Es war ein gutes Stück zu gehen, bis er zu der Stelle kommen würde, wo die Holzarbeiter des Grundherrn die dünnen Äste aufgeschichtet hatten. Nur dieses Holz konnten die Familien aus Mehlbach mitnehmen, alles andere durften sie nicht anrühren. Damit nicht die dicken Holzscheite entwendet wurden, mussten Kinder das Holz sammeln. Das war die Anweisung des Försters des Grundherrn. Würde Johannes’ Vater am Sammelplatz angetroffen, würde man ihn sofort bestrafen  – selbst, wenn er kein Holz gestohlen hätte.

Johannes hätte an diesem Tag lieber mit seinem Freund gespielt. Durch den heftigen Regen der letzten Tage würde der Mehlbach schneller als sonst durch sein Bett fließen. Das wollten die beiden Burschen ausnutzen, und deshalb hatten sie sich dort verabredet. Sie wollten sich aus Holzstücken Boote bauen und Wettrennen veranstalten. Doch jetzt würde der Freund vergeblich auf Johannes warten.

Johannes blieb stehen und schaute sich um. Er war so in Gedanken vertieft gewesen, dass er nicht mehr auf den Weg geachtet hatte. Wo war er? Der Junge drehte sich im Kreis, doch nichts kam ihm bekannt vor. Wenn er den Platz nicht finden und ohne Holz zurückkommen würde, gäbe es eine Tracht Prügel vom Vater. Verzweifelt blickte Johannes sich um. Jeder Baum sah gleich aus, und die Kronen standen dicht zusammen, sodass das Licht im Wald düster wirkte, obwohl gerade die Mittagszeit vorbei war.

»Verdammt!«, schimpfte Johannes und fragte sich leise: »Aus welcher Richtung bin ich gekommen?« Doch er wusste es nicht mehr. Einen umgestürzten Baumstamm, der den Weg versperrte, übersprang der Junge mit Leichtigkeit. Dabei hörte er plötzlich ein Geräusch, das ihn zusammenzucken ließ. Als er ein zweites Mal den ungewohnten Laut vernahm, beschleunigte sich sein Herzschlag, und sein Atem ging keuchend. Johannes duckte sich und suchte Schutz hinter dem Baumstamm, dessen Rinde an einer Seite dick mit Moos bewachsen war.

Johannes wartete einige Atemzüge, und als es im Wald still blieb und sich sein Herzschlag wieder beruhigt hatte, kam er aus der Hocke hoch. Vorsichtig blickte er sich nach allen Seiten um – und erstarrte.

Von einem Augenblick zum anderen sah er sie plötzlich vor sich. Wie gebannt schaute Johannes in die Augen mehrerer Wölfe, die ihn ebenfalls starr anblickten. Er war unfähig, sich zu rühren, obwohl er weglaufen wollte. Zähnefletschend zogen sie ihre Lefzen hoch und kamen Schritt für Schritt näher. Gerade als sie über Johannes herzufallen und ihn zu zerreißen drohten, ertönte ein Pfiff, und sofort spitzten die Wölfe ihre Ohren. Als ein zweiter Pfiff zu hören war, wandte sich das Rudel winselnd von Johannes ab und verschwand zwischen den Bäumen.

Johannes, aus seiner Erstarrung erwachend, wagte nicht, sich zu bewegen. Er hatte Angst, dass das Rudel zurückkommen würde. Voller Furcht schaute er den Tieren nach, als er ihn vor sich sah.

Auf einem nahen Erdwall erkannte Johannes einen Wolf, der größer war als jeder andere Wolf, den der Junge in seinem ganzen bisherigen Leben gesehen hatte. Wie ein Mensch stand dieser Wolf aufrecht auf zwei Beinen auf der Anhöhe und blickte Johannes aus tiefblauen Augen an. Als der Riesenwolf eine Pfote zu heben schien, lief der Junge schreiend fort und merkte nicht, wie er sich in die Hose nässte.

Kapitel 1

Mehlbach, ein Dorf in der Kurpfalz, im Sommer 1525

Jakob Hofmeister lag in seinem Bett und starrte mit weit aufgerissenen Augen in die Dunkelheit der Schlafstube. »Woher kam das Geräusch?«, murmelte er beunruhigt und lauschte angestrengt. Da es im Haus aber ruhig blieb, schloss er müde die brennenden Augen.

Hofmeister war kaum eingeschlafen, als ein erneuter Laut ihn aufscheuchte und sein Herz schneller klopfen ließ. Hastig setzte er sich hoch und stupste vorsichtig seine neben ihm schlafende Frau an. Sarahs Nachtruhe schien das nicht zu stören, denn sie atmete leise schnarchend ein und aus. Jetzt glaubte Hofmeister sogar verhaltene Stimmen aus dem Stockwerk unter seiner Schlafstube zu hören.

»Sarah!«, flüsterte Jakob aufgeregt und stieß sein Weib an, sodass sie erwachte. »Da ist jemand in der Küche!«

»Das wird die Katze sein, die sich ins Haus geschlichen hat. Schlaf weiter, Jakob«, nuschelte sie und drehte ihm den Rücken zu.

»Das ist nicht die Katze. Ich kann Stimmen unter uns in der Küche hören.«

Ungehalten setzte sich Sarah nun auf und horchte ebenfalls. »Nein, das wird dieser unsägliche Knecht Mathis sein, der sich über das restliche Abendessen hermacht!«, schimpfte sie leise.

»Unfug!«, grummelte Jakob. »Warum sollte Mathis dabei lärmen? Da unten sind mehrere Personen. Ich sag dir, Sarah: Wir haben Einbrecher im Haus!«

Erschrocken zog die Frau die Bettdecke hoch bis zum Kinn, während ihr Mann beherzt das Bett verließ. Jakob griff nach dem Knüppel, der für solch einen Fall in der Ecke neben der Wäschetruhe stand, und öffnete leise die Tür. Vorsichtig streckte er die Nasenspitze durch den Türschlitz. Als er nichts hören konnte, schob er die Tür mit dem blanken Fuß weiter auf, den Prügel mit beiden Händen hoch über den Kopf haltend.

»Was siehst du?«, flüsterte seine Frau.

»Schscht! Sei still!«, wies er sie unwirsch zurecht.

Jakob Hofmeister verließ die Kammer und trat auf den dunklen Flur hinaus. Als die Dielenbretter unter seinen nackten Füßen knarrten, zuckte er zusammen, und als Sarah dicht hinter ihm flüsterte: »Sei vorsichtig!«, hätte er vor Schreck beinahe den Holzknüppel fallen gelassen.

»Geh zurück ins Bett!«, zischte er seiner Frau zu.

»Bist du des Wahnsinns? Ich bleibe nicht allein in der Schlafstube!« , antwortete sie und zog das dünne Betttuch, das sie sich um die Schultern gelegt hatte, fester um sich. Schritt für Schritt pirschten beide zur Treppe und verharrten vor der obersten Stufe. Alles im Haus schien ruhig zu sein. Achselzuckend wollte Jakob zurückgehen, als Topfklappern aus der Küche drang.

»Jetzt reicht es! Dem Knecht werde ich die Ohren langziehen. Sich nachts in die Küche zu schleichen und die Vorräte zu essen. Wo gibt es denn so was?«, brummte Sarah und wollte an Jakob vorbeistürmen, doch er hielt sie am Arm fest.

»Ich glaube nicht, dass es Mathis ist. Lass uns vorsichtig an der Türe lauschen, um sicherzugehen«, hielt Jakob seine Frau zurück und stieg die Treppe nach unten.

Vor der Küchentür ließ Jakob den Knüppel entkräftet zu Boden sinken. Sein kranker Arm schmerzte. Er rieb sich den Unterarm und gab Sarah ein Zeichen, ihr Ohr gegen die Tür zu pressen. Mit angehaltenem Atem lauschte seine Frau und wich dann erschrocken zurück. Verängstigt flüsterte sie: »Du hast Recht, Jakob! Es sind tatsächlich Einbrecher in der Küche! Lass uns die Knechte wecken.«

Jakob stimmte nickend zu und wies sie mit einer Kopfbewegung an, sich leise davonzuschleichen, als die Tür geöffnet wurde. Erschrocken hob Jakob den Knüppel in die Höhe. Im Lichtschein, der aus der Küche auf den dunklen Gang fiel, erkannte Jakob, wer vor ihm stand. »Jesus und Maria!«, rief er und ließ den Prügel fallen, sodass der hart auf den Boden aufschlug. Sarah hielt sich die Hand vor den Mund, um nicht laut aufzuschreien.

»Jesus und Maria!«, flüsterte Jakob erneut und umarmte seinen Bruder Peter. Zaghaft lächelnd musterte er ihn. »Gott sei gedankt. Ihr seid wohlbehalten zurückgekommen.«

»Du wolltest uns wohl mit einer Tracht Prügel willkommen heißen?«, lachte Peter und zeigte auf den Schlagstock.

»Unfug! Wir dachten, dass Einbrecher im Haus wären«, erklärte Jakob verlegen und zog glücklich den Bruder erneut an sich. Über Peters Schulter hinweg blickte Jakob in die Küche und erkannte seine Schwester sowie zwei fremde Männer, die abseits standen. Jakob löste sich von seinem Bruder und ging auf Anna Maria zu, um sie voller Freude an sich zu ziehen. »Gott hat dich zu ihnen geleitet, sodass du sie nach Hause bringen konntest.«

Anna Maria konnte nur mit Mühe die Tränen zurückhalten. Fest presste sie ihr Gesicht gegen die Brust des ältesten Bruders, sodass der lachend rief: »Lass nach, Schwesterherz! Ich bekomme kaum noch Luft.« Jakob umfasste mit beiden Händen ihr Gesicht, und mit einem verräterischen Schimmer in den Augen flüsterte er: »Vater wäre stolz auf dich!«

Anna Marias Stirn kräuselte sich. »Was heißt ›wäre‹? Ist Vater etwas zugestoßen?«, fragte sie bestürzt. Doch im gleichen Augenblick wurde ihr bewusst, dass es ihrem Vater gutgehen musste. Er hat sich nicht von mir im Traum verabschiedet, also lebt er, dachte sie.

»Ich hoffe, dass Vater noch lebt, obwohl ich nichts von ihm gehört habe, seit er vor geraumer Zeit aufgebrochen ist, um erneut zu pilgern.«

»Als ich damals losmarschierte, um unsere Brüder zu finden, hatte er aber doch mich an seiner Stelle losgeschickt …«, sagte Anna Maria nachdenklich. Dann wurde ihr Ton ärgerlich. »Wie kann er unbesorgt wallfahren, wenn drei seiner Kinder in die Fremde gezogen sind?«

»Auch für uns kam Vaters Entscheidung, auf Pilgerreise zu gehen, unerwartet. Zuerst habe ich ihn nicht verstanden. Dann kam mir der Gedanke, dass Vater diese Reise auf sich genommen hat, um Gott zu bitten, es möge euch unterwegs nichts geschehen. Ich vermute, dass der fremde Besucher ihm dazu geraten hat.«

»Welcher Fremde?«

Jakob zuckte mit den Schultern. »Es ist schon einige Monate her. Vater hatte im Hof mit unserem kleinen Bruder Nikolaus geschimpft, weil er sich eine nicht gedeckte Sau von Bauer Glöckner hatte andrehen lassen. Aufgescheucht durch den Lärm trat ich ans Fenster und sah einen fremden Mann auf Vater zugehen. Zuerst dachte ich, dass der Fremde Böses wollte, doch Vater schien ihn zu kennen. Ich konnte nicht verstehen, was sie miteinander sprachen. Beide verschwanden für einige Zeit in der guten Stube. Es war bereits Melkzeit, als der Fremde von dannen zog. Vater hat ihn noch ein Stück des Weges begleitet. Als sie am Stall vorbeikamen, konnte ich hören, wie Vater den Mann Kilian nannte.«

Erschrocken weiteten sich Anna Marias Augen, doch sie sagte kein Wort. Sarah war inzwischen in die Küche getreten, um Schwager und Schwägerin willkommen zu heißen. Neugierig sah die Bäuerin die zwei fremden Männer an, die ihr stumm grüßend zunickten.

»Wo ist Matthias?«, fragte Sarah.

Jetzt schweifte auch Jakobs Blick suchend umher. »Ja, wo ist Matthias? Hat er sich schlafen gelegt, ohne uns zu begrüßen?«, fragte er lachend.

Plötzlich wurde es still in der Küche. Immer noch lächelnd sah Jakob seine Geschwister an. Als sie ihre Lider niederschlugen, um seinem Blick auszuweichen, wusste er von einem Herzschlag zum nächsten, dass sein jüngerer Bruder nicht mehr lebte. Jakobs Beine zitterten, und er musste sich setzen.

Sarah sah das bleiche Gesicht ihres Mannes, und da ahnte auch sie, dass ihr Schwager Matthias nicht wiederkommen würde. Fassungslos setzte sie sich neben Jakob und drückte seine Hand, die er ihr entzog. Jakob sah zuerst Anna Maria, dann Peter an. »Was ist passiert?«, fragte er.

Anna Maria und Peter setzten sich schweigend auf die Bank hinter dem blankgescheuerten Holztisch. Keiner wagte den anderen anzuschauen. Für einen Augenblick vergrub Peter sein Gesicht in beiden Händen und sagte dann mit leiser Stimme: »Das ist eine lange Geschichte!«

»Wir haben Zeit. Erzähl!«, forderte Jakob ihn auf.

Peter blickte Anna Maria an, die ihm stumm zunickte. Er begann zu berichten: »Damals, als Matthias und ich unseren Heimatort Mehlbach verließen, um in der Fremde für die Rechte der Bauern zu kämpfen, ahnten wir nicht, was uns erwarten würde. Wir sind blind und unerfahren in eine Welt marschiert, von der wir kaum etwas wussten.«

»Euer Vater hätte euch nicht ziehen lassen dürfen!«, presste Sarah bitter hervor.

Doch Peter schüttelte den Kopf. »Uns hätte nichts und niemand aufhalten können, Schwägerin! Wir waren überzeugt, diesen Krieg gewinnen zu können.«

»Krieg?«, fragte Jakob irritiert. »Es war doch nur ein Aufstand, der dem Adel und dem Klerus bedeuten sollte, dass die Zeiten der Unterdrückung der Bauern vorbei sind.«

»Das glaubten wir zuerst auch«, sagte Peter und schüttelte leicht den Kopf. »Wir sind frohen Mutes losgezogen. Selbst als wir erkannten, dass die Anführer der Bauernaufstände ihre Ziele mit dem Schwert erreichen wollten, konnte uns nichts aufhalten. Als Matthias und ich einige Tage unterwegs waren, trafen wir auf andere Burschen, denen wir uns anschlossen. Im Laufe des gemeinsamen Marschierens verließen uns manche von ihnen, um ihre eigenen Ziele zu verfolgen. Andere kamen hinzu, sodass es nie langweilig wurde und wir Mehlbach und unsere Familie nicht vermissten. Irgendwann waren wir noch zu fünft. Matthias und ich, Michael, Johannes und Friedrich, der hier mit uns am Tisch sitzt.« Dabei zeigte er auf den jungen Mann. Jakob nickte ihm stumm zu. Sein Blick schweifte über den zweiten Fremden, jedoch sagte er nichts, sondern sah wieder seinen Bruder an.

»Kurz vor Mühlhausen gerieten wir in einen Hinterhalt von Banditen, die mir den Arm zertrümmerten.« Zum Beweis hielt Peter seinen versteiften Ellbogen in die Höhe.

»Jesus und Maria!«, flüsterte Jakob, der erst jetzt bemerkte, dass der Arm seines Bruders gekrümmt vom Körper abstand.

»Es hätte für mich schlimm enden können, doch zum Glück brachte Hauser mich in Mühlhausen zu einem Bader, der dank seiner medizinischen Kenntnisse den Arm erhalten konnte. Auf unserer Reise hörten wir dann von einem Mann namens Thomas Müntzer, dem die Bauern angeblich in Scharen nach Mühlhausen folgten. Wir wollten ihn kennenlernen und machten uns ebenfalls auf den Weg nach Thüringen. Dort begeisterte uns Müntzer mit seinen Reden und Ansichten, sodass wir ihm unsere Dienste anboten. Alles verlief ohne Schwierigkeiten, bis Ende April die Bürger der Stadt Frankenhausen Müntzers Hilfe erbaten, da sie sich gegen ihren Stadtrat erheben wollten.«

Peter verstummte, holte tief Luft und starrte auf die Tischplatte. Leiser Spott durchzog seine Stimme, als er weitersprach: »Diese Stadt Frankenhausen, die so beschaulich am Südhang des Kyffhäusergebirges im Norden Thüringens liegt, wurde unsere Hölle.« Seine Augen, um die dunkle Schatten lagen, blickten ins Leere.

»Ihr seid Müntzer dorthin gefolgt!«, schlussfolgerte Jakob.

Peter nickte. Als er in Jakobs Augen sah, zwang ihn dessen Blick weiterzuerzählen. Peter schluckte, dann sprach er mit leiser Stimme: »In Frankenhausen hörten wir, dass die Heere verschiedener Fürsten sich zu einer großen Armee vereinigt hätten. Zu unserem Schutz stellten wir vor der Stadtmauer von Frankenhausen zahlreiche Fuhrwerke in einem weitläufigen Kreis zusammen. Hinter dieser Wagenburg verschanzten sich hunderte von uns und beobachteten die Soldaten, die ihre Kanonen in Stellung brachten.«

»Jesus und Maria! Bauern gegen Kanonen!«, murmelte Jakob und schüttelte den Kopf. Peter schloss kurz die Augen. »Ich höre jede Nacht im Schlaf das Ratattatom der Landsknechttrommeln. Das gleichmäßige Schlagen der Trommeln war wie eine Folter und hat uns zermürbt. In den Gesichtern von Männern, die eben noch entschlossen als freie Bürger hatten kämpfen wollen, konnte man blanke Angst erkennen. Jeder verlor den Mut. Aber es gab kein Zurück, und das wusste jeder Einzelne von uns. Müntzer erkannte unsere Hoffnungslosigkeit und versuchte, mit einer Predigt unseren Kampfgeist wiederzuerwecken.«

»Damit hätte mich niemand zum Kampf mitreißen können!«, warf Jakob ein.

Peter wischte sich mit der rechten Hand erschöpft über die Augen, die jeden Glanz verloren hatten. Leise berichtete er weiter: »Friedrich, Michael, Johannes, Matthias und ich ahnten, dass es an diesem Tag zu Kämpfen kommen würde, und versprachen uns deshalb gegenseitig, dass jeder auf den anderen aufpassen würde. Doch wir versagten kläglich«, flüsterte Peter, unfähig weiterzusprechen. Hilfe suchend blickte er zu Friedrich, der mit leiser Stimme fortfuhr zu berichten:

»Die Artillerie feuerte ihre Kanonenkugeln ab und tötete viele Menschen, so auch unseren Freund Johannes. Als die Kanonen schwiegen, schickte der Fürst seine Kavallerie in die Wagenburg. Die Reiter auf ihren mächtigen Rössern ritten alles nieder, was sich ihnen in den Weg stellte. Danach kamen die Söldner und töteten die Männer, die sich nicht schnell genug in Sicherheit brachten. Sogar die, die verletzt auf dem Boden lagen.«

»Sei still!«, schrie Sarah auf und verließ weinend die Küche.

»Soll ich Sarah nachgehen?«, fragte Anna Maria ihren Bruder.

»Nein! Sie will sicherlich allein sein.« Mit scharfem Blick wandte Jakob sich Peter zu. »Ich will den Rest hören.«

Sein Bruder nickte und erzählte nun selbst. »Kurz darauf wurde unser Freund Michael von einem Söldner geköpft. Matthias hatte wie wir die Hinrichtung hilflos mit ansehen müssen und schrie verzweifelt auf. Als er unverhofft seine Deckung aufgab und hinaus aufs Schlachtfeld rannte, haben wir alles versucht, um ihn wieder in Sicherheit zu bringen  – aber vergebens«, erklärte Peter unglücklich.

Anna Maria schlug bei dieser Beschreibung die Hände vors Gesicht und schluchzte laut auf.

Stumm blickte Jakob in die Gesichter der Männer und las schieres Entsetzen in ihren Zügen. Friedrich kämpfte mit den Tränen, während der Fremde mit dem Zeigefinger auf der Tischplatte herumkratzte. Peter strich seiner Schwester beruhigend über den Arm.

»Was geschah mit unserem Bruder?«, fragte Jakob mit dumpfer Stimme.

Nur mit Mühe konnte Peter weitersprechen: »Matthias wollte Michael rächen und den Landsknecht töten. Doch unser Bruder hätte niemals Aussicht gehabt, diesen ungleichen Kampf zu gewinnen. Deshalb lief ich dem Söldner entgegen und bettelte um Gnade für unseren Bruder. Der Mann wollte mich aber nicht hören und rammte Matthias das Schwert in den Leib. Kurz darauf schloss unser Bruder für immer seine Augen.«

»Du dummer Mensch!«, schrie Jakob auf. »Wie wolltest du einen Krieger aufhalten?«, brüllte er und stieß mit einem Ruck den Schemel beiseite. Im Hinausgehen sagte er: »Ihr Narren hättet gar nicht dort sein dürfen!«

Anna Maria schaute mit tränennassem Gesicht zu ihrem Bruder Peter auf und erstarrte vor der Kälte in seinem Blick.

Erschöpft und übermüdet saßen vier Menschen an einem Tisch, unfähig, sich zu erheben, um endlich schlafen zu gehen. Während sie stumm dasaßen, verkündete der erste Hahnenschrei den anbrechenden Morgen, und mit der Stille war es vorbei. Türen knallten, Stimmen wurden laut, und Fußgetrampel ließ die Dielenbretter knarren. Plötzlich wurde die Küchentür aufgerissen, und die Magd kam herein. Erschrocken hielt Lena inne. Als sie die Gesichter erkannte, lachte sie auf.

»Wie schön! Wie schön!«, rief sie begeistert. »Ihr seid wohlbehalten zurück.« Ohne auf die ernsten Gesichter der Hofmeister-Kinder einzugehen, umarmte sie jeden, auch die beiden Fremden. Suchend sah sich Lena um. »Wo ist Matthias?«

Erneut öffnete sich die Küchentür. Jakob und Sarah kamen herein. Dem Bauern war anzusehen, dass seine Lippen verräterisch zitterten, während seine Frau leise weinte.

»O nein!«, rief Lena und presste sich den Zipfel der Schürze vor den Mund. Ungläubig blickte sie in die Runde und begann zu ahnen, was geschehen war. Wankend setzte sie sich nieder und betete leise das Vaterunser.

Jakob ging auf seinen Bruder zu, packte ihn an den Oberarmen, zog ihn hoch und presste ihn an sich. »Verzeih mir, Peter! Verzeih mir! Du trägst keine Schuld an Matthias’ Tod. Und auch du, Anna Maria, verzeih meinen Zorn.«

Ohne den Bruder loszulassen, griff er nach seiner Schwester und drückte auch sie an seine Brust. »Ich bin froh und unserem Herrgott dankbar, dass wenigstens ihr beide wohlbehalten zurückgekommen seid.«

Anna Maria lag in ihrem Bett und drehte sich von einer Seite auf die andere. Obwohl sie erschöpft und müde war, konnte sie nicht einschlafen. Gedanken schwirrten ihr durch den Kopf, und auch die Sehnsucht nach Veit hielt sie wach.

Während ihrer Rückreise von Mühlhausen nach Mehlbach hatte Anna Maria nachgedacht, wie sie den Liebsten ihrem Bruder und ihrer Schwägerin vorstellen würde. Sie wusste, dass dies nicht einfach sein würde und die Worte wohlüberlegt sein mussten. Doch wie sollte sie erklären, dass sie, die wohlbehütete Tochter, mit einem Mann, der nicht ihr Ehemann war, wochenlang durch die Wildnis gezogen war und mit ihm unter freiem Himmel genächtigt hatte? Wer würde ihr Glauben schenken, dass sie noch unberührt war? Dass Veit sie bei der Suche nach ihren Brüdern unterstützt, beschützt und begleitet hatte, wollte sie zu seinen Gunsten vortragen.

Gegen Ende der Reise glaubte sie die richtigen Worte gefunden zu haben, mit denen sie hoffte ihren Bruder Jakob überzeugen zu können, dass Veit und sie für immer zusammengehörten.

Doch es war anders gekommen. Die Nachricht von Matthias’ Tod hatte alles andere zur Nebensache werden lassen. Anna Maria waren zwar die Blicke nicht entgangen, die ihr Bruder und ihre Schwägerin Friedrich und Veit zugeworfen hatten, doch die Schilderung, wie Matthias starb, verhinderte, dass die beiden fremden Männer beachtet wurden. Erst jetzt, nachdem sich Jakob bei seinen beiden Geschwistern entschuldigt hatte, blieb sein Blick an dem unbekannten Mann haften, der bis dahin still unter ihnen gesessen hatte.

»Wer bist du?«, fragte Jakob und ließ Peter und Anna Maria los, um sich mit dem Ärmel über das Gesicht zu wischen. »Bist du ein Söldner?«, fragte er und blickte Veit forschend an.

»Nein!«, antwortete Anna Maria hastig, wobei sich ihr Gesicht mit einer tiefen Röte überzog. Jakob legte den Kopf leicht zur Seite, und seine Augen verengten sich, während Anna Maria Hilfe suchend zu Peter schaute.

Der Bruder verstand ihren flehenden Blick, räusperte sich und erklärte: »Das ist Veit! Ein …« Er stutzte kurz, dann sagte er: »Anna Marias Begleiter. Veit hat unserer Schwester bei der Suche nach uns geholfen. Ohne ihn hätten wir uns sicherlich nicht wiedergefunden.«

Jakobs strenge Miene hellte sich auf, und er streckte Veit seine Hand entgegen. »Ich danke dir für deine Hilfe. Sei auf unserem Hof willkommen!«

Veit nickte dem Bauern wortlos zu und erwiderte den Händedruck.

»Ihr seid sicherlich hungrig?«, fragte Sarah und schniefte mit verquollenen Augen in ein Taschentuch. Dann gab sie der Magd Anweisung, ein kräftiges Frühstück zuzubereiten. Lena schlug eifrig Eier in eine große Pfanne, schnitt Brot auf und brachte verdünntes Bier an den Tisch.

Bald lockte der Duft von gebratenem Speck einen der Knechte in die Küche, der freudig die Hofmeister-Kinder begrüßte. Bevor er merken konnte, dass Matthias fehlte, befahl ihm Jakob, das Gesinde zusammenzurufen.

Kurz darauf fanden sich die Mägde und Knechte in der Küche ein. Mit leiser Stimme und wenigen Worten berichtete Jakob ihnen vom Tod seines Bruders. Die Freude, dass Anna Maria und Peter gesund zurückgekehrt waren, wich tiefer Bestürzung. Einige der Frauen weinten stumm, andere jammerten laut. Die Gesichter der Männer wirkten wie versteinert.

Schließlich sagte Jakob mit leiser Stimme: »Ich möchte euch bitten, mit niemandem im Dorf über den Tod meines Bruders zu reden. Erst wenn ich mit dem Pfarrer gesprochen habe, sollen es alle erfahren. Wir werden am Sonntag für Matthias eine Messe lesen lassen, doch jetzt geht an die Arbeit. Das Vieh muss gefüttert und die Kühe wollen gemolken werden.«

Gehorsam nickten die Männer und Frauen und gingen mit gesenkten Köpfen zurück in die Ställe.

Nachdem sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, stöhnte Jakob leise auf. »Wir müssen Nikolaus rufen!«

»Zum Glück ist unsere Christel noch zu klein, um zu verstehen, was passiert ist«, murmelte Sarah und blickte traurig zu ihrem Mann auf.

Anna Maria schloss die Augen. »Nikolaus!«, flüsterte sie. »Ich habe ihn vollkommen vergessen. Wo ist er? Schläft er noch?« Fragend blickte sie Lena an, als die Tür aufgerissen wurde und ihr jüngster Bruder mit seiner dreijährigen Nichte an der Hand, die sich verschlafen die Augen rieb, hereinstolperte. Sarah hob ihr Töchterchen hoch und drückte Christel zärtlich an sich. Als Nikolaus seine Geschwister sah, warf er sich lachend in Anna Marias Arme.

Anna Maria drehte sich auf der Strohmatratze so, dass sie ihren jüngsten Bruder Nikolaus, der neben ihr lag, betrachten konnte. Mit besorgtem Blick sah sie, wie er selbst im Schlaf noch schluchzte. Sie strich ihm zärtlich über die Wange und zog die Bettdecke fürsorglich bis zu seiner Schulter hinauf.

Behutsam hatten die Geschwister versucht, dem Elfjährigen den Tod des Bruders mitzuteilen. Doch welche Worte gab es, um das Schreckliche zu beschreiben? Erneut hatte Anna Maria feststellen müssen, dass in solchen Augenblicken ihre Mutter fehlte. Sie hätte die richtigen Worte gefunden. Nur die Umarmung der Mutter hätte den Schmerz des Jungen lindern können. Anna Marias Versuch, Nikolaus zu trösten, misslang kläglich. Weinend hatte sich der Junge an die Magd Lena geklammert und seine Geschwister abgewiesen.

Als keine Tränen mehr kamen, hatte sich die Trauer des Burschen in Wut verwandelt. Zornig war er auf Peter, Jakob und seine Schwester losgegangen, beschuldigte sie, dass sie die Schuld am Tod des geliebten Bruders tragen würden. Hilflos mussten Jakob, Sarah, Anna Maria und Peter zusehen, wie der Junge tobte. Alle schienen wie gelähmt zu sein. Sie saßen stumm in der Küche, unfähig, an diesem Tag einer Arbeit nachzugehen. Nur Nikolaus ließ seinen Gefühlen freien Lauf. Wut, Weinen und Jammern wechselten sich ab, und niemand konnte den Jungen beruhigen.

So ging es bis zum Nachmittag, als Nikolaus sich erschöpft auf die Küchenbank legte, sodass Anna Maria ihn in sein Bett brachte, wo der Knabe den Rest des Tages verschlief. Mitten in der Nacht weckte der Junge seine Schwester, kroch zu ihr ins Bett und schmiegte sich weinend in ihre Arme. Als Nikolaus wieder schluchzend eingeschlafen war, fand Anna Maria keine Ruhe. Sie dachte an Veit, ihren Liebsten, der sich in der Kammer über dem Stall das Lager mit den Knechten teilen musste.

Anna Maria seufzte leise. Es war das erste Mal seit Monaten, dass Veit und sie getrennt waren, und sie vermisste ihn schmerzlich.

»Es ist schon seltsam, wie sich alles gewandelt hat. Während unserer ersten Begegnung waren wir wie Feuer und Wasser gewesen. Und nun?«, murmelte sie. Als sie an ihre erste Begegnung dachte, lächelte sie still in sich hinein.

Veits grimmige Blicke und seine ruppige Art damals hätten andere Frauen abgeschreckt. Doch Anna Maria, als Mädchen unter vier Brüdern aufgewachsen, hatte sich nicht einschüchtern lassen.

Noch heute bekam sie feuchte Hände, wenn sie an die Gefahr dachte, in der sie sich damals befunden hatte. Ihre Gedanken schweiften zu dem Tag im Herbst des vergangenen Jahres zurück, als sie auf der langen und beschwerlichen Suche nach ihren Brüdern allein einen dunklen Wald durchqueren musste.

Anna Maria erinnerte sich noch an den Geruch des Waldes, der nach dem tagelangen Regen besonders durchdringend gewesen war. An den Duft der Tannennadeln und des nassen Laubs, aber auch an den bestialischen Gestank, den sie plötzlich in der Nase hatte und dem sie aus Neugierde gefolgt war.

Niemals würde sie den Schreck vergessen, der ihr durch die Glieder fuhr, als sie ein Rudel Wölfe erspähte, das sich an einer verwesenden Leiche sattfraß. Anna Maria hatte versucht, sich unbemerkt davonzustehlen, doch der größte Wolf im Rudel entdeckte sie und folgte ihr. Als sie bei ihrer Flucht unglücklich stürzte und nicht mehr hochkam, stand das Untier zähnefletschend über ihr. Anna Maria war in diesem Augenblick überzeugt gewesen, dass sie sterben müsste. Doch unvermittelt sackte der Wolf tot über ihr zusammen, und ihr schwanden die Sinne.

Als sie erwachte, lag sie in einer Höhle, die von einem wärmenden Lagerfeuer erhellt wurde. Das Erste, was sie erblicken konnte, war ein großer Wolf, der vor dem Feuer saß. Sie war wie gelähmt vor Entsetzen, als der Wolf zu sprechen begann und sie erkannte, dass das Untier ein Mensch war, der sich in einen Wolfspelz gehüllt hatte.

Der Fremde blickte sie grimmig an  – aber mit Augen, die so blau waren wie der Himmel.

Nicht nur seine Erscheinung war Furcht erregend gewesen, sondern auch, dass er mit drei Wolfswelpen in der Höhle hauste. Anna Maria wäre damals am liebsten fortgerannt, aber da sie sich beim Sturz den Kopf verletzt hatte, war sie gezwungen, zu bleiben und sich zu schonen.

Verängstigt lag Anna Maria auf einem Lager aus Pelzen und blinzelte die Wolfsjungen und den Fremden aus verkniffenen Augen an. Sie traute sich kaum zu schlafen, denn sie fürchtete sich vor den wilden Tieren und vor dem Mann, der offenbar selbst zum Wolf geworden war.

Wenn Anna Maria später nachdachte, hatte Veit ihr im Grunde nie einen Anlass gegeben, sich vor ihm zu fürchten. Zwar war er rüde und abweisend, und er hatte es ihr schwergemacht, ihm zu vertrauen. Auch war sie angewidert gewesen, als sie mit ansehen musste, dass er die Jungen wie eine Wölfin aus seinem Mund mit rohem Fleisch fütterte. Doch nachdem sie einige Tage in der Höhle verbracht und ihn beobachtet hatte, glaubte sie hinter seiner rauen Art einen besonderen Menschen zu erkennen.

Tage später waren lärmende Wolfsjäger ins Revier eingedrungen. Um die Welpen in Sicherheit zu bringen, forderte der Wolfsmann Anna Maria auf, mit ihm und den Jungtieren den Schutz der Höhle zu verlassen. Er brachte sie auf den rechten Pfad, damit Anna Maria ihre Suche nach den Brüdern fortsetzen konnte. Dann verschwand der Mann zwischen den Bäumen und ließ die junge Frau allein zurück. Noch in derselben Nacht wurde Anna Maria von den Wolfsjägern gefangen genommen und auf Burg Nanstein bei Landstuhl verschleppt. Hier in den Ruinen der ehemaligen Felsenfestung hatte sich ein Söldner names Johann mit seinen Leuten einquartiert, um den Winter zu überdauern. Die Wolfsjäger wussten, wie sie Gewinn aus der Gefangennahme der jungen Frau schlagen konnten, und erzählten dem Söldner, dass Anna Maria eine Seherin sei. Von diesem Augenblick an durfte sie die Burg für lange Zeit nicht mehr verlassen.

Schaudernd erinnerte sich Anna Maria daran, wie viel Glück sie damals gehabt hatte. »Wie einfältig ich doch gewesen bin! Ich bin in eine Welt marschiert, von deren Gefahren ich nichts wusste«, murmelte sie und blickte auf ihren kleinen Bruder, der eng an sie gekuschelt tief und fest schlief.

Nach vielen Wochen in der Gefangenschaft des Söldners Johann auf der Burg Nanstein bekam Anna Maria erstmals eine Möglichkeit zur Flucht, da die Ankündigung eines Besuchers aus irgendeinem Grunde Tumult auslöste. Allerdings wurde sie von ihren Peinigern schnell wieder gefasst. Anna Maria war erneut Johanns Gefangene, als sie den Fremden auf der Burg zu Gesicht bekam und in zwei Augen blickte, die so blau wie der Himmel waren.

Wieder seufzte Anna Maria auf. In der Erinnerung sah sie sich und Veit, wie sie beide eines Nachts in der Küche der Burg Nanstein zusammengesessen und er sie plötzlich geküsst hatte.

»Gott, wie dumm ich doch gewesen bin!«, flüsterte Anna Maria und schlug vor Scham die Hände vors Gesicht. Unter den Handflächen konnte sie die innere Hitze spüren, die ihre Wangen zum Glühen brachte. Wie damals strömte ein Kribbeln durch ihren Körper, ein für sie seltsames, ihr fremdes Gefühl, das sie nicht zu deuten gewusst hatte.

Wie unerfahren ich gewesen bin!, dachte Anna Maria und schüttelte ungläubig den Kopf. Als sie gespürt hatte, wie Veit versuchte, ihre Lippen zu öffnen, hatte sie sich hastig aus seiner Umarmung gelöst. Sie wollte nicht, dass er merkte, dass sie noch nie geküsst worden war. Er hingegen fühlte sich zurückgewiesen und mied von da an jede weitere Berührung.

Anna Maria drehte sich auf die Seite und umfasste mit beiden Händen den Zipfel der Bettdecke, den sie sich kurz vor ihr erhitztes Gesicht presste.

Wären die jungen Wölfe ihm nicht gefolgt, wer weiß, ob alles so gekommen wäre, grübelte sie stumm. Während sie sich mit der Bettdecke erneut übers Gesicht fuhr, glaubte sie eine Tür knarren zu hören. Als diese leise ins Schloss fiel, ahnte sie, woher das Geräusch gekommen war.

Vorsichtig, damit Nikolaus nicht erwachte, krabbelte Anna Maria aus dem Bett und verließ lautlos die Kammer. Auf dem Gang traf sie mit ihrem Bruder Peter zusammen, der eine brennende Kerze trug.

»Ich kann nicht schlafen!«, flüsterte er.

»Ich auch nicht! Lass uns in der Küche eine warme Milch trinken!«, schlug Anna Maria vor.

»So wie früher!«, stimmte er zu. Er löschte die Kerze und legte sie neben dem Türrahmen auf den Boden, dann gingen beide nach unten.

Als sie die Küche betraten, saß Jakob am Küchentisch und blickte sie aus rotgeränderten Augen an.

Anna Maria setzte sich neben ihn und legte ihren Arm um ihn. Wie ein kleiner Junge presste er seine Stirn an ihre Schulter und weinte. Peter setzte sich auf die andere Seite des Küchentischs, ergriff zaghaft Jakobs Hand und drückte sie sachte.

Nach einigen Augenblicken hatte sich Jakob wieder in der Gewalt und wischte sich mit dem Hemdsärmel die Tränen fort. »Ich hätte Matthias noch so viel zu sagen gehabt!«, flüsterte er heiser. Müde starrte er auf die Tischplatte.

Anna Maria erhob sich und ging wortlos hinaus, um kurz darauf mit einem gefüllten Krug zurückzukommen. Sie goss die Milch in einen gusseisernen Topf, den sie in die noch glimmende Glut der offenen Feuerstelle stellte. Als die Milch zu dampfen begann, füllte sie drei Becher und ließ jeweils einen Löffel Honig hineinlaufen. Anna Maria schob den Brüdern ihre Becher zu und setzte sich dann wieder neben Jakob. Stumm tranken die Geschwister kleine Schlucke, als Peter zu grinsen anfing.

»Wisst ihr noch, wie Matthias den Bienenstock im Wald plündern wollte und der Stock dabei herunterfiel und die Bienen ihn angriffen? Er ist gerannt, als ob der leibhaftige Teufel hinter ihm her wäre, und hat sich kopfüber in den Teich gestürzt«, lachte Peter.

Jakob nickte, und Anna Maria fügte hinzu: »Er hatte rote Stiche überall im Gesicht und an den Armen. Mutter war außer sich gewesen, weil er hätte sterben können. Matthias hatte oft mehr Glück als Verstand!«

»Ja«, sagte Jakob nachdenklich, »Matthias tat oft unüberlegte Dinge. Vater nannte ihn einen Tunichtgut, wenn Matthias wieder einmal mit verschrammten Beinen nach Hause kam, weil er über den Zaun flüchten musste, da die Rinder ihn gejagt hatten. Ein Wunder, dass ihm nicht viel früher Schlimmes passiert ist.«

Jakob schloss für einige Augenblicke die Augen. Dann blickte er gequält lächelnd seine beiden Geschwister an. »Matthias hat für manche Aufregung in unserem Leben gesorgt. Doch nun haben wir nicht einmal ein Grab, an dem wir für ihn beten können! Er ist verscharrt in fremder Erde«, schniefte er in sein Taschentuch.

Anna Maria sah bestürzt ihren Bruder Peter an, der seine Ellenbogen auf der Tischplatte abstützte und das Gesicht in den Händen vergrub. Zweimal atmete er laut ein und aus, dann blickte er zu seiner Schwester, die ihm zunickte.

»Jakob«, begann Peter mit gedämpfter Stimme zu sprechen, »ich weiß nicht, ob es richtig war, ich weiß nicht, ob du es verstehen wirst  – aber wir haben Matthias nicht in der Fremde gelassen.«

»Was heißt das?«, fragte Jakob leise. Furcht war aus seiner Stimme zu hören.

»Wir haben Matthias nach Hause gebracht und neben Mutter beerdigt«, erklärte Peter und blickte seinem älteren Bruder fest in die Augen.

Jakobs Gesichtszüge wurden hart. »Was habt ihr getan?«, schrie er.

»Beruhige dich, Jakob! Was hätten wir machen sollen? Wir wollten unseren Bruder nicht zurücklassen. Sie haben Massengräber ausgehoben, um die vielen Toten zu bestatten. Hätten wir Matthias da ebenfalls verscharren sollen?«

»Nein, natürlich nicht! Ihr hättet ihm dort ein anständiges Begräbnis geben sollen!«, presste Jakob wütend hervor.

»Was ist los mit dir?«, fragte Anna Maria ihren ältesten Bruder. »Gerade hast du dich beklagt, dass Matthias in fremder Erde liegen würde, und jetzt machst du uns Vorwürfe, dass wir ihn zu Mutter ins Grab gelegt haben?« Erregt strich sie sich eine Haarsträhne hinter das Ohr. »Kannst du ermessen, wie schwer es war, unseren toten Bruder tagelang durch das Reich zu fahren? Weißt du überhaupt, in welche Gefahr wir uns gebracht haben?«

Jakob sah seine Schwester an, die erregt weitersprach: »Stell dir vor, was passiert wäre, wenn uns die Soldaten erwischt hätten. Zum Glück hat uns Veit geholfen …«

Weiter kam Anna Maria nicht. Anscheinend hatte Jakob nur darauf gewartet, einen Grund zu finden, um aufbrausen zu können. »Schon wieder Veit!«, brüllte er. »Wer ist dieser Veit? Hast du zugelassen, dass er dich entehrte? Damit ist nun Schluss! Ich dulde keine Sünde in diesem Haus.«

Ohne Vorwarnung schlug Anna Maria ihren Bruder ins Gesicht. Mit einer Stimme, die sich zu überschlagen drohte, schrie sie Jakob an: »Während du hier sicher auf dem Hof gesessen hast, haben wir uns in Gefahr begeben, um den letzten Wunsch unseres Bruders Matthias zu erfüllen. Veit hatte keinen Grund, uns zu helfen, doch er tat es. Wage nicht, über ihn zu urteilen!«

Tränen der Wut blitzten in ihren Augen, als sie den Raum verließ und die Tür krachend hinter sich zuschlug.

Kapitel 2

Es war noch früher Morgen, als Jakob und Peter am Grab der Mutter standen und Anna Maria zuschauten, wie sie Blumenbüschel pflanzte. Um diese Zeit war außer ihnen nur ein altes Mütterlein auf dem Friedhof zugegen  – dort, wo sich die Kindergräber befanden. Nachdem die Alte ein Gebet gemurmelt hatte, wechselte sie ein Grab weiter und betete auch dort. Die Hofmeister-Geschwister wussten, dass sechs ihrer sieben Kinder hier beerdigt lagen und sie jeden Morgen die Gräber besuchte. Als die Frau zu ihnen aufblickte, nickten die beiden Brüder ihr stumm zu. Anna Maria, die auf dem Boden kniete, hob grüßend die Hand.

Kaum hatte Anna Maria ihre Arbeit beendet und mit einem Rechen den Grund gleichmäßig verteilt, schlurfte die alte Bauersfrau auf sie zu und sagte: »Ich habe die Tage einen Schreck bekommen, als ich das Grab eurer Mutter sah. Es schien, als ob jemand es aufgeschaufelt hätte.«

Jakob wurde bleich, doch Peter antwortete ruhig: »Ja, ich habe es auch gesehen, als ich nach unserer Heimkehr Mutter besuchte. Ich denke, ein Tier hat hier gewühlt. Deshalb hat Anna Maria die Distelbüschel eng zusammengepflanzt. Das wird die Viecher hoffentlich fernhalten.«

Die Frau nickte. »Die vielen Stachelpflanzen werden zudem das Böse fernhalten.« Ihre kleinen wachen Augen blickten Peter und Anna Maria an.

Ein aufkommender Windzug zupfte an den feinen Haaren der Alten und zog einzelne weiße Strähnen heraus. Es sah aus, als ob die Haare tanzten. Mit einer fahrigen Bewegung strich sie sie zurück und sagte mitfühlend: »Es ist gut, dass eure Mutter Matthias’ Tod nicht erlebt hat.«

Erschrocken blickten die drei jungen Hofmeisters die Frau an. Die Alte machte eine abweisende Handbewegung und sagte: »Wir alle wissen von Matthias’ Tod.« Die hellgrauen Augen der Frau bekamen einen feuchten Glanz. »Eure Mutter hätte es gegrämt, dass ihr Sohn in fremder Erde bestattet liegt. Wenn das euer Vater wüsste! Der gute Daniel hat sich aufgemacht und ist in die Ferne gezogen in der Hoffnung, dass seine Pilgerreise euch vor Unheil schützt. Für Matthias kam dieses Opfer zu spät. Wie sehr wird ihn sein Tod quälen. Aber wie sehr wird es ihn freuen, dass ihr wohlbehalten zurückgekehrt seid.« Die Alte legte zuerst Peter und dann Anna Maria ihre Hand auf die Stirn. »Der liebe Herrgott hat über euch beide gewacht. Das Gleiche wünsche ich nun eurem Vater. Ich werde für ihn beten und eine Kerze anzünden.«

Die Hofmeister-Brüder nickten der Alten zu, während Anna Maria sie umarmte. »Ich danke dir, Therese, für dein Mitgefühl!« , flüsterte das Mädchen.

Dann verließ die Bäuerin mit langsamen Schritten den eingezäunten Bereich des Friedhofs.

Als die Alte außer Hörweite war, sagte Peter: »So wie Therese denken sicherlich viele andere auch, Jakob. Keiner würde uns verurteilen, wenn er wüsste, dass wir unseren Bruder heimgeholt und ihn hier beerdigt haben. Wir haben seinen letzten Wunsch erfüllt.«

»Es ist trotzdem besser, wenn niemand davon erfährt!«, zischte Jakob. »Es ist nicht richtig, einen Toten durch das halbe Reich zu fahren, um ihn dann in seiner Heimat heimlich zu verscharren. Wer weiß, ob Matthias dafür nicht im Fegefeuer schmoren muss?«

»Wie kannst du so etwas sagen?«, widersprach Peter. »Warum sollte Matthias dafür büßen? Auch wurde er mit kirchlichem Beistand beerdigt und nicht verscharrt. Wie ich dir bereits sagte, hat Priesterbruder Stephan aus dem Zisterzienserkloster in Otterberg unseren Bruder mit kirchlichem Segen bestattet. Wenn einer in der Hölle brennen muss, dann ich, weil ich derjenige war, der das veranlasst hat.«

Jakobs Vorwürfe machten Peter schwer zu schaffen. Anna Maria konnte erkennen, wie sehr er mit seinen Gefühlen kämpfte.

»Matthias ist im Himmel, das weiß ich genau!«, mischte sie sich ein. »Warum sollte der Herrgott einen von uns strafen? Wir haben nichts Böses getan.«

»Das sehe ich anders!«, fauchte Jakob. »Ich will gar nicht wissen, wie ihr einen Leichnam über mehrere Tage über Land befördert habt, ohne dass es aufgefallen ist«, sagte er erregt.

In diesem Augenblick wurde der Wind stärker. Unbewusst schaute Anna Maria zu der Stelle des Friedhofs, an der sie während der Beerdigung geglaubt hatte Matthias stehen zu sehen. Erneut stellte sie sich vor, dass der jüngere Bruder dort stand und sie anlächelte. »Schaut!«, flüsterte Anna Maria. »Matthias ist uns wohlgesonnen und mit unserer Entscheidung zufrieden.«

Jakob und Peter blickten zu der Ecke, in die ihre Schwester zeigte, aber sie konnten nichts erkennen.

»Du bist nicht bei Sinnen«, schalt Jakob sie. »Da ist nichts, und bestimmt nicht Matthias.« Verärgert drehte er sich um und stapfte eiligen Schrittes nach Hause.

Peter nahm seine zitternde Schwester in den Arm. »Sei unbesorgt, Anna Maria! Wir haben nichts Falsches getan. Kümmere dich nicht um Jakobs Geschwätz. Er ist nur traurig und kann seine Gefühle nicht zeigen.«

Obwohl die Hofmeister-Familie gehofft hatte, dass das Gesinde Jakobs Wunsch achten würde, wussten die Mehlbacher, Schallodenbacher und Katzweiler Nachbarn bereits am nächsten Tag von Matthias’ Tod. Als der Pfarrer am darauf folgenden Sonntag für die Seele des gefallenen Burschen betete, stimmten sofort alle in die Gebete mit ein.

Nach der Messe standen Jakob, Peter und Anna Maria mit versteinerten Mienen am Kirchenportal und nahmen die Beileidsbekundungen der Kirchgänger entgegen. Jeder von ihnen sagte Nettes über den toten Bruder, sodass Anna Maria die Tränen kamen.

Veit, der abseits mit Friedrich gewartet hatte, eilte zu Anna Maria und legte den Arm um sie, was die Umstehenden veranlasste, die beiden anzugaffen.

Nicht nur die Kunde von Matthias’ Tod hatte sich rasch verbreitet. Auch dass zwei Fremde mitgekommen waren, war schnell bekannt geworden. Während die alten Weiber, die nun vor der Kirche zusammenstanden, tuschelnd ihre Köpfe zusammensteckten, konnten die jungen Frauen ihre Blicke nicht von Veit abwenden. Kichernd schwatzten sie hinter vorgehaltenen Händen über das schneidige Aussehen des fremden Mannes. Der jedoch schien nur Augen für das Hofmeister-Mädchen zu haben.

Veit sprach leise auf Anna Maria ein, die sich beruhigte und sehnsuchtsvoll zu ihm aufschaute. Liebevoll strich er ihr über die Wange und küsste ihre Stirn. Als sie ihn überrascht anschaute, zwinkerte er ihr zu. Manche der jungen Frauen seufzte leise und wünschte sich an Anna Marias Stelle.

Die Alten hingegen schüttelten empört die grauen Köpfe. Sie verurteilten solch unzüchtiges Verhalten in aller Öffentlichkeit und vor einem Gotteshaus, was in ihren Augen Sünde war.

Die Männer musterten Veit mit neugierigen Blicken. Seine Landsknechtstracht ließ sie an Abenteuer denken, von denen sie nur träumen konnten. Zwar war der Stoff des Waffenrocks schäbig und abgetragen, doch das bunte Gewebe sah nach Tatendrang, Verwegenheit und Abenteuer aus. Das Hemd mit den gepluderten Ärmeln, die in zerschnittenen Streifen herabhingen, wirkte ebenso fremd wie die grünen Pluderhosen, die bis zu Veits Schuhen reichten. Gerne hätten die Burschen ihn nach seinen Taten befragt. Doch er gab ihnen dazu keine Gelegenheit, denn er legte seinen Arm um Anna Marias Schulter und führte sie nach Hause.

Jakobs Frau Sarah sah den beiden nach. Dann wandte sie sich Nachbarn und Freunden zu, um sie für den folgenden Sonntag zum Mittagessen auf den Hofmeister-Hof einzuladen.

»Wir wollen Peters und Anna Marias Rückkehr feiern!«, erklärte sie und versuchte Freude in ihre traurige Stimme zu legen.

Alle versprachen zu kommen, nur der alte Nehmenich moserte: »Was ist mit dem Leichenschmaus?«

Bestürzt blickte Sarah ihn an und sah dann Hilfe suchend nach ihrem Mann.

»Es gibt keine Beerdigung«, erklärte Jakob, »und somit auch keinen Leichenschmaus. Jedoch laden wir dich ein, die Rückkehr meiner Geschwister zu feiern.« Als der Bauer ihn mit zusammengekniffenem Gesicht anstarrte, fragte Jakob unwirsch: »Wirst du kommen?«

Nehmenich wusste, dass alle Augen auf ihn gerichtet waren. Es war bekannt, dass er den alten Hofmeister nicht mochte und seit Jahren gegen den Bauern hetzte. Jetzt, da Daniel Hofmeister auf Wallfahrt war, wandte sich Nehmenichs Groll gegen dessen Kinder.

Zwar hatte es nie einen Streit zwischen den beiden Familien gegeben, doch Nehmenich hasste Hofmeister, weil der ein freier Bauer war und Sonderrechte genoss: Hofmeister war seinem Grundherrn nur zum Kriegsdienst verpflichtet und musste weder Abgaben noch Fron- oder Spanndienste leisten. Besonders ärgerte Nehmenich, dass Hofmeister zum wiederholten Male auf Pilgerreise zog, was sich kein anderer im Dorf leisten konnte. Mit einer Wallfahrt konnte der Pilger seine Sünden tilgen und Verwandte aus der Vorhölle befreien. Andere konnten nur Ablassbriefe kaufen, doch die waren teuer. Manch einer sparte ein Leben lang, um den Bruder, Oheim oder andere Angehörige aus dem Fegefeuer freizukaufen.

Das alles ging Karl Nehmenich durch den Kopf, als er Jakob mit seinem Blick zu durchbohren schien. Nur zu gern hätte er dem Hofmeister-Spross vor die Füße gespuckt. Aber Nehmenichs Lebenshunger war stärker, denn er wusste, was eine Einladung bei den Hofmeisters bedeutete. Seit Langem zum ersten Mal könnte er sich an einer reichlich gedeckten Tafel sattessen, sich mit allerlei Leckerbissen vollstopfen und dabei so viel Wein trinken, wie er schlucken konnte. Bei diesem Gedanken lief Nehmenich das Wasser im Mund zusammen. Dies konnte er sich nicht entgehen lassen, und so verkniff er sich seine Widerworte und nickte.

Bei mildem Sommerwetter saßen fünfzig gierige Mäuler an der gedeckten Tafel im Hofmeister-Hof und labten sich an den Speisen.

Jakob hatte sich nicht lumpen lassen und ein fettes Schwein geschlachtet. Auch einige Hühner waren im Suppentopf gelandet.

Anna Maria sah, wie die Mägde und ihre Schwägerin hin und her eilten, um die Gäste zufriedenzustellen, und selbst weder etwas aßen noch sich ausruhten. Sie ging zu Sarah und bat: »Lass mich euch helfen! Ich kann nicht ruhig sitzen und mich von euch bedienen lassen, während ihr schuftet.«

Mit ernster Miene blickte Sarah hoch. Sie hatte gerade Wein nachgeschenkt und sprach nun leise, sodass es außer Anna Maria niemand hörte: »Wegen dir und Peter veranstalten wir das Fest, da kannst du unmöglich mitarbeiten und die Gäste bedienen. Setz dich nieder und halte deine Finger ruhig. Außerdem tut mir die Arbeit gut, denn sie hindert mich am Grübeln!« Damit ging sie zu der Feuerstelle, über der das Schwein an einem Spieß hing. Achtsam übergoss sie den Braten mit wohlriechender Brühe, dass die Flammen zischten.

Dankbar schaute Anna Maria ihrer Schwägerin hinterher, als sie Veits Blick spürte. Lächelnd setzte sie sich zu ihm. Veit legte sogleich den Arm um sie, als ob er allen zeigen wollte, dass Anna Maria zu ihm gehörte. Sie sah, wie Jakobs Blick sie beide mürrisch streifte.

Anna Maria wollte ihn gerade etwas fragen, als ihr Oheim Willi zu ihr sagte: »Die Frau, die du uns geschickt hast, kam gerade zur rechten Zeit, mein Kind. Sie ist fleißig, kann gut kochen und …«

Sein Tischnachbar unterbrach ihn und fügte augenzwinkernd hinzu: »Und hält ihm sein Bettchen warm.«

Als die Männer in Gelächter ausbrachen, blickte Willi sie scharf an. Sogleich verstummte das Lachen, und sie tunkten ihre Brotstücke in die Fettsoße auf ihren Tellern.

Anna Maria überlegte und schüttelte den Kopf. »Ich habe niemanden zur Rauscher-Mühle geschickt! Wann soll das gewesen sein?« Doch dann erinnerte sie sich, und ein Leuchten erhellte ihr Gesicht: »Du meinst Ruth und ihre beiden Söhne? Ich habe sie vor etlichen Monaten bei der Suche nach meinen Brüdern kennengelernt.«

»Ja«, schmatzte der Oheim, während er sich die Finger ableckte. »Ruth meine ich. Als sie ankam, war sie so dünn, dass ich Angst hatte, sie würde jeden Augenblick auseinanderbrechen. Aber jetzt ist sie genau nach meinem Geschmack.«

»Wo ist sie? Warum hast du sie nicht mitgebracht?«

»Ihr Jüngster, der kleine Jäcklein, ist krank. Deshalb ist sie zuhause geblieben. Aber ich soll dich von ihr grüßen.«

»Wie ist sie zur Rauscher-Mühle gekommen? Ich hatte ihr gesagt, dass sie sich hier auf dem Hofmeister-Hof melden und Tante Kätsches Haus beziehen könne.«

»Wie du weißt, war das Haus schon zu Lebzeiten der Tante baufällig gewesen. Beim letzten Herbststurm ist es in sich zusammengefallen«, erklärte ihr Bruder Jakob, der den beiden zugehört hatte. »Als die Frau mit den Kindern vor mir stand, wusste ich nicht, wo ich sie unterbringen sollte. Ich wollte sie aber nicht fortschicken, da du sie uns anvertraut hast. Zum Glück fiel mir ein, dass auf der Rauscher-Mühle die Magd gestorben war, und deshalb habe ich Ruth sogleich dorthin gebracht. Wie es scheint, war dieser Einfall richtig gewesen  – für Ruth und für Willi.«

Erfreut sah Anna Maria, wie die Augen ihres Oheims glänzten. »Sag Ruth, dass ich sie bald besuchen werde«, versprach sie.

Zufrieden blickte sie Veit an, der dem Gespräch nicht zugehört zu haben schien. Dass Anna Maria sich ihm zuwandte, nahm er ebenfalls nicht wahr, denn schon seit einer Weile war seine Aufmerksamkeit auf zwei junge Burschen gelenkt. Die beiden, die Veit nicht älter als vierzehn Jahre schätzte, hatten schräg gegenüber von ihm Platz genommen und keinen Ton gesagt, sondern ihn nur angegrinst. Selbst als Veit ihren Blick grienend erwiderte, gaben sie keinen Laut von sich, nur dieses Grinsen blieb.

Nach einer Weile fragte Veit ungehalten: »Was ist?«

Darauf schienen die Burschen gewartet zu haben. Sogleich schoben sie ihre Teller zur Seite und rutschten näher an die Tischplatte heran.

»Dann stellt schon eure Frage«, forderte Veit sie auf.

Einer der Burschen räusperte sich und kratzte sich nervös am Hals, während der andere stotterte: »Hast du schon viele Menschen getötet?«

Veit hatte mit dieser Frage gerechnet. Er wusste um die Wirkung seiner Landsknechtstracht, und auch, was die Menschen damit verbanden. »Ja, ich habe schon hunderte Leben ausgelöscht«, sagte er mit einem besonderen Ton in der Stimme.

1. Auflage Originalausgabe Oktober 2011

Copyright © 2011 by Deana Zinßmeister

Copyright © dieser Ausgabe 2011 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München Umschlagmotiv: © akg images; © Städel Museum  – ARTOTHEK; © Woman with a Mask (oil on canvas), Lippi, Lorenzo (1606–65)/ Musée des Beaux-Arts, Angers, France/Giraudon/Bridgeman Berlin; © Christie’s Images Ltd  – ARTOTHEK Gestaltung der Umschlaginnenseiten: Network! Werbeagentur GmbH, München Redaktion: Eva Wagner AG · Herstellung: Str. Satz: omnisatz GmbH, Berlin

elSBN 978-3-641-09321-1

www.goldmann-verlag.de

www.randomhouse.de

Leseprobe