Der Screener - Teil 1 - Yves Patak - E-Book

Der Screener - Teil 1 E-Book

Yves Patak

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Beschreibung

Der New Yorker Psychologe Desmond Parker überlebt knapp einen Tauchunfall in der Karibik. Bis auf eine unklare Veränderung in seiner Gehirnstruktur scheint er mit dem Schrecken davongekommen zu sein … bis er merkt, dass er eine neue, unheimliche 'Begabung' hat – eine Begabung, die wie ein Fluch auf ihm lastet und ihn von New York in die nächtlichen Dschungel Jamaikas führt, auf die Spur eines düsteren Mysteriums. Ein atemberaubender Thriller im Spannungsfeld zwischen Medizin und Okkultismus — ein Elixier aus dunklen Fantasien und Wissenschaft, das Herzklopfen und schlaflose Nächte garantiert.

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Yves Patak

 

Der Screener

Teil 1

 

Zweite, grundlegend überarbeitete Auflage - 2018©Yves Patak Alle Rechte beim Autor. Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm, elektronische oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Autors, reproduziert oder unter Verwendung elektronischer oder sonstiger Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Umschlaggestaltung: Miladinka Milic - www.milagraphicartist.com Lektorat: Thomas Hoffmann - publi4all.de e-book formatting by bookow.com

Was leuchten will, muss sich verbrennen lassen.

Viktor Frankl

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6NachwortGlossarÜber den Autor

Kapitel 1

Der Taucher

Hope Bay, Jamaika – Freitag, 14:22 Uhr

In vollkommener Einsamkeit schwebt der Taucher in einem zeitlosen Universum der Stille. Um ihn herum erstreckt sich die zwielichtige, von lautlosem Leben erfüllte Unendlichkeit des Karibischen Meeres.

Desmond wirft einen Blick auf den Tiefenmesser an seinem Handgelenk.

Zweiundvierzig Meter.

In der dämmrigen Tiefe hört er nichts außer seinem eigenen Atem, der in kleinen Luftblasen vor seiner Taucherbrille emporperlt. Für die Kreaturen dieser Welt ist Desmond so andersartig wie ein Außerirdischer. Die Fremdartigkeit des Unterwasserreichs ist ihm willkommen, eine Dimension der Stille, in der er es beinahe schafft, den Gedanken zu entfliehen, die ihn seit langem quälen.

Beinahe.

Mit ruhigen Flossenschlägen gleitet er durch das Reich des Schweigens. Schwerelos. Achtsam. Es ist, als hätte er das normale Leben auf dem Festland weit, weit hinter sich gelassen, und das ist gut. Seit der Scheidung vor knapp einem Jahr hat sich eine lähmende Trostlosigkeit in sein Leben geschlichen, und all sein professionelles Wissen als Psychologe hilft ihm nicht, den grauen Schleier von seinem Gemüt zu vertreiben. Die unendliche Weite des Meeres aber ist für ihn wie eine Droge, ein exotisches Schmerzmittel gegen das stetig zunehmende Gefühl der Sinnlosigkeit.

Ihm ist bewusst, dass es Irrsinn ist, den Tauchgang allein durchzuführen. Doch das Bedürfnis nach der völligen Abgeschiedenheit war einfach unwiderstehlich, eine Versuchung, ein Nervenkitzel, der ihn von seinem Trübsinn ablenken sollte.

Erstaunt bemerkt Desmond, dass er sich, ganz in Gedanken, weit von dem Korallenriff entfernt hat, das ihm als Wegweiser diente. Mit einem ruhigen Flossenschlag dreht er sich um, um zum Riff zurückzuschwimmen – und erstarrt. Wie ein plötzlicher Temperatursturz im Wasser kommt es über ihn ... das unheimliche Gefühl, beobachtet zu werden. Alarmiert schaut er sich um, jede ruckartige Bewegung vermeidend.

Ein Zackenbarsch schwimmt an ihm vorbei, die dicken Lippen missbilligend nach unten gezogen. Eine blasse, wahrscheinlich tote Qualle schwebt wenige Meter neben ihm – sonst nichts. Kein Lebewesen. Und doch schlägt sein Instinkt Alarm.

Etwas … etwas belauert mich!

Waagrecht schwebend verharrt Desmond, späht in das vom Plankton getrübte Wasser. Ganz langsam dreht er sich in eine aufrechte Position, um sich besser um die eigene Achse bewegen zu können. Aus dem Augenwinkel sieht er einen Schatten.

Einen riesigen Schatten.

Seine Muskeln spannen sich an. Seine Augen suchen die schemenhafte Gestalt, die sich wie absichtlich außerhalb seines Gesichtsfelds zu bewegen scheint. Während Sekunden ist da wieder nichts als das hohle Rauschen seines Atems, das diesige Zwielicht der Tiefe – und dann sieht er ihn.

Der Hammerhai ist ein Koloss.

Wie ein Dämon steigt das graue Tier aus dem Abgrund des Ozeans. Ein grotesker Kopf, ein stromlinienförmiger Riesenleib. Angst ergreift Desmond. Das harte Pochen in seiner Brust erfüllt die Stille um ihn herum.

Ruhig durchatmen. Das ist nicht dein erster Hai.

Er kennt sich mit den Kreaturen des Meeres gut genug aus, um zu wissen, dass dieser Hai von der Größe her ein harmloser Walhai sein müsste. Doch der hammerförmige Kopf lässt keinen Zweifel, dass es sich hier um alles andere als einen harmlosen Planktonfresser handelt.

Eine Mutation … Diese Bestie ist mindestens zwölf Meter lang!

Gleichgültig zieht der Riesenhai an Desmond vorbei. Nach wenigen Metern scheint er es sich jedoch anders zu überlegen, zieht eine geschmeidige Kurve und beginnt, den Taucher mit trügerischer Ruhe zu umkreisen. Desmond weiß, dass die Sensoren im hässlichen, seitlich ausladenden Kopf und im Seitenlinienorgan des Hais ihn so präzise erfassen wie ein Radarsystem. Die leblosen Augen des Hais beobachten ihn unablässig.

Desmond wird es kalt ums Herz. Langsam rotiert er um die eigene Achse, um den Hai im Auge zu behalten.

Er darf mich nicht im toten Winkel erwischen.

Trotz der Idee, diesmal alleine zu tauchen, ist Desmond ein erfahrener Taucher. Er weiß, dass Hammerhaie gelegentlich Menschen angreifen, wobei es sich dabei meistens um Verwechslungen handelt. Besorgniserregend ist nur, dass Hammerhaie im Gegensatz zu anderen Haien eine ziemlich hohe Quote an Verwechslungen verbuchen. Und dieses Monster könnte drei von meinem Kaliber zum Frühstück verzehren.

Erst jetzt wird ihm richtig bewusst, wie mutterseelenallein er ist. Allein mit dem Hai, wie im Showdown eines Westerns. Die beiden Jamaikaner, die für das kleine Tauchgeschäft Scuba Paradise arbeiten, haben ihn für ein bescheidenes Aufgeld zu dem abgelegenen, vom Tourismus weitgehend verschonten Korallenriff hinausgefahren. Irgendwo weit über ihm dümpeln sie wohl in ihrem Kutter vor sich hin und rauchen Ganja, um sich die Zeit zu vertreiben – nicht ahnend, in welcher Notlage sich ihr Kunde befindet.

Desmond lässt den Hai keine Sekunde aus den Augen. Er überlegt, ob er ein vorsichtiges Auftauchmanöver einleiten soll. Bei seinen früheren Tauchgängen ist er schon etliche Male Haien begegnet, die meisten davon eher kleine Exemplare – Ammenhaie, Engelhaie, Tigerhaie – die an ihm vorbeigezogen waren, ohne ihn zu beachten. Doch dieser hier ist ... anders. Der erste Hai, der ihm Angst einjagt. Es ist nicht nur die Größe. Der missförmige Kopf weckt Erinnerungen an die Albträume seiner Kindheit, in denen ihn schreckliche Monster jagten.

Und dieser Hammerhai hier ist sicherlich der größte der Karibik – wenn nicht der ganzen Welt.

Das gemächliche Tempo des Hais strahlt Überlegenheit und grenzenloses Selbstvertrauen aus. Diese Kreatur hat keine Feinde, und allem Anschein nach ist ihr dies vollends bewusst. Der kalte Instinkt des Raubfischs scheint gepaart mit einer beunruhigenden Intelligenz.

Unsinn, versucht Desmond sich selbst zu beschwichtigen. Dieser Moloch von einem Hai ist einfach ein Irrtum der Natur. Keine Spur von höherer Intelligenz!

Immer noch hofft er darauf, dass der Hai ihn aus reiner Neugier umkreist. Jede Sekunde würde der spitzzahnige Jäger das Interesse am reglos schwebenden Taucher verlieren und in der Unendlichkeit des Ozeans verschwinden. Doch die Umkreisungen des Hais werden enger. Zentimeter um Zentimeter. Beinahe unmerklich. Als wolle er sein Opfer einlullen. Obschon sich Desmond ermahnt, ruhig zu bleiben, werden seine Atemzüge schneller, sein Puls beschleunigt sich.

Was kann ich tun, falls dieses Ungeheuer tatsächlich angreift?

Nichts. Gar nichts.

Ein blaugelber Doktorfisch zieht gemächlich vorbei, als kümmerten ihn der Hai und der Taucher nicht im Mindesten. Das Meer um Desmond herum ist merkwürdig dunkel geworden, und er fragt sich flüchtig, ob über der Meeresoberfläche Wolken aufgezogen sind. Erst jetzt fällt ihm auf, dass er den Hai selbst nur noch verschwommen sieht – als verfügte dieser über eine unheimliche Macht, die Elemente für sich arbeiten zu lassen. Ein leiser Druck macht sich hinter Desmonds Stirn bemerkbar, und reflexartig führt er den Druckausgleich aus. Der Druck über den Augenbrauen bleibt unverändert. Die Luft aus der Sauerstoffflasche schmeckt kalt und metallisch.

Er fixiert den Hai.

Hau schon ab!

Sein Tauchermesser mit der knapp zwanzig Zentimeter langen Klinge würde wahrscheinlich an der silikonartigen Haut des Raubfischs abrutschen – falls er überhaupt zustechen könnte. Der Neoprenanzug hingegen, der ihn in dieser Tiefe vor übermäßiger Abkühlung bewahrt, ist für die messerscharfen Zähne des Ungetüms kein Hindernis …

Aber kampflos kriegst du mich nicht!

Desmond versucht, sich auf das Undenkbare einzustellen. Die Vorstellung eines Unterwasserkampfes mit diesem Untier ist absurd – und dennoch wird diese Aussicht mit jeder Sekunde realer. Er beißt die Zähne zusammen, während er sich im Takt mit dem Hai um die eigene Achse dreht.

Ganz ruhig … keine hastigen Bewegungen.

Ist das Wasser kälter als noch eine halbe Stunde zuvor? Obwohl Desmonds Muskeln kampfbereit angespannt sind, sträuben sich die Haare auf seinen nackten Unterarmen. Er könnte schwören, dass die Temperatur um mindestens zehn Grad gefallen ist.

Unmöglich. Das sind nur die Nerven.

Der Hai scheint nur auf den einen Augenblick der Unaufmerksamkeit zu warten, um anzugreifen. Die sichelförmige Schwanzflosse schwingt in majestätischer Gelassenheit hin und her, während der gewaltige Leib geschmeidig durch das Wasser gleitet. Die seelenlosen Augen in dem hammerförmigen Kopf fixieren den Taucher unverwandt.

Der Druck in Desmonds Stirn wird stärker, doch er unterdrückt den Impuls, sich an die schmerzende Stelle fassen. Der Hai ist nun nahe, sehr nahe, und jede Bewegung könnte ihn zum Angriff reizen. So sachte wie möglich bewegt Desmond die Schwimmflossen und Arme, dreht sich um die eigene Achse. Seine Hoffnungen lösen sich in Nichts auf. Der Hai wird angreifen. Im Zeitlupentempo lässt Desmond seine Hand zum rechten Unterschenkel gleiten, wo das Tauchermesser befestigt ist. Behutsam löst er die Gummilasche über dem Griff und zieht die Klinge aus der Scheide. Ihm ist klar, dass er diesem gigantischen Raubtier mit seinem Tauchermesser keinen Eindruck machen wird, aber er ist entschlossen, seine Haut bis zum Letzten zu verteidigen.

Sobald er in Reichweite ist, ramme ich ihm das Messer bis zum Anschlag ins Auge.

Der Hai zieht seine Kreise stetig enger, die Augen ausdruckslos. Desmonds angespannte Muskeln beginnen zu zittern. Er bemerkt, wie er immer flacher atmet.

Durchatmen. Langsam und regelmäßig durchatmen. Wie ein Schattenboxer streckt er die linke Hand behutsam nach vorne aus, während er in der rechten das Tauchermesser bereithält. Sobald der Hai sein spitzbezahntes Maul öffnet und nach ihm schnappt, wird er mit der Linken den hammerförmigen Kopf nach unten drücken und dem Tier mit der Rechten das Messer tief ins Auge stoßen – bis ins Hirn.

Enger und enger wird der Kreis des Hammerhais, und Desmond verharrt kampfbereit. Das Klopfen seines Herzens scheint in der Stille hier unten viel zu laut. Sein rechter Arm spannt sich, sein Atem fliegt. Plötzlich schießt der Riese von vorne auf ihn zu. Ohne nachzudenken stößt Desmond mit dem Messer zu – und trifft ins Leere. Der Hai hat wenige Zentimeter vor der Messerspitze angehalten. Bewegungslos schwebt er vor dem Taucher, ein Monster aus einer vergangenen Welt. Er fixiert Desmond, als wollte er sich sein Gesicht für alle Zeiten einprägen, die schwarzen Augen bohren sich tief in seine Seele ... und auf einmal explodiert der Schmerz in Desmonds Stirn, ein glühender Stahlnagel, der ihm direkt ins Gehirn gehämmert wird. Er stöhnt auf, und in der Tauchermaske hallt das Geräusch schaurig wider. Unwillkürlich fasst er sich an die Stirn, wobei ihm das Tauchermesser aus der Hand gleitet und in die undurchsichtige Tiefe hinabtrudelt. Tränen schießen ihm in die Augen. Wie durch einen Schleier sieht er, wie der Hai das Maul öffnet, als würde er zu ihm sprechen … dann senkt er den Kopf, der riesenhafte Leib gleitet hinab in die unergründliche Finsternis und verschwindet. Fassungslos blickt Desmond ihm nach. Der Schmerz verliert seine Schärfe.

Ich lebe! denkt er benommen. Er ist weg ... und ich lebe!

Trotz der unsagbaren Erleichterung behält er die Stelle, wo der Hai verschwunden ist, noch einige Sekunden im Auge, späht umher, um sicherzugehen, dass der unheimliche Koloss keinen Überraschungsangriff von hinten plant.

Unvermittelt beginnt Desmond am ganzen Körper zu zittern. Muss vom Adrenalin sein … Ihm wird schwindlig, als atme er Lachgas statt Sauerstoff. Reflexartig überprüft er seine Instrumente – und erstarrt. Der Zeiger des Barometers am Sauerstofftank steht auf Null! Hat er, während der Hai ihn umkreiste, hyperventiliert und dabei seinen gesamten Sauerstoffvorrat aufgebraucht? Mit aufkeimender Panik wird ihm klar, dass er aus vierzig Metern Tiefe einen Notaufstieg riskieren muss – ein selbstmörderisches Manöver! Die Caissonkrankheit hat unter Tauchern schon unzählige Opfer gefordert, und ihm schaudert beim Gedanken, was in den nächsten Sekunden in seinen Gefäßen, in seinem Gehirn passieren wird.

Aber er hat keine Wahl, er muss hinauf. Sofort. In wenigen Augenblicken würde er nur noch verzweifelt an einem Mundstück saugen, aus dem kein Sauerstoff mehr kommt. Auch die Notleine seiner Schwimmweste darf er nicht ziehen, um schneller hinaufzukommen, da diese aus der Sauerstoffflasche gespeist wird und ihm die letzten paar Atemzüge rauben würde. Er wird sich ganz auf seine Muskelkraft verlassen müssen. Desmond nimmt einen letzten, tiefen Atemzug. Die Luft aus der Flasche schmeckt abgestanden und tot. Mit zwei raschen Griffen befreit er sich aus der Tarierveste und dem Bleigürtel und sieht, wie seine Ausrüstung in die Tiefe sinkt. Ohne kostbare Sekunden zu verlieren stößt er sich mit der Kraft der Verzweiflung aufwärts. So gleichmäßig wie möglich lässt er dabei die in seinen Lungen gespeicherte Luft ausströmen, um eine tödliche Überdehnung des Lungengewebes zu vermeiden. Gleichzeitig weiß er, dass dies ihm nicht viel nützen wird. Das Gas, das in seinem Blut zirkuliert, wird sich beim Aufstieg ausdehnen, seine Gefäße zum Platzen bringen …

Mit kräftigen Flossenschlägen schießt er aufwärts. Das Wasser wird wärmer. Dünne Sonnenstrahlen lassen den Plankton aufblitzen.

Noch zwanzig Meter.

Seine Lungen schmerzen, verlangen nach Sauerstoff.

Es ist aussichtslos, flüstert eine innere Stimme. Du wirst die Oberfläche niemals lebend erreichen! Lass dich gehen. Es ist vorbei.

Vor seinen Augen tanzen weiße Funken.

Desmond beißt die Zähne zusammen, schwimmt schneller.

Ich kann es schaffen!

Durch die Wucht seiner Flossenschläge verbraucht Desmond das letzte Quäntchen Sauerstoff, und knappe zehn Meter unter der Oberfläche ist die Flasche leer. Seine Beine brennen wie Feuer, doch sie strampeln mechanisch weiter. Er weiß, dass er sich bereits eine gewaltige Sauerstoffschuld aufgeladen hatte, eine Schuld, die er wahrscheinlich nicht zurückzahlen kann. Alles Denken hört auf. Sein Körper ist ein Pfeil, der nur ein Ziel kennt. Hinauf. Ans Licht.

Über ihm, so nah und doch so fern, sieht er die unter der tropischen Sonne glitzernde Meeresoberfläche, ein hauchzarter Teppich aus glitzernden Brillanten. Ein Funkeln, das Leben bedeutet. Seine brennende Lunge ist leer, schreit nach Luft, nach Sauerstoff.

Schlagartig sind die Schmerzen da. Statt Blut scheint Salzsäure durch seine Adern zu pulsieren. Die Qualen sind unerträglich. Vor seinem inneren Auge erscheinen Bilder, wie kleine Bläschen von Stickstoff, Sauerstoff und Kohlendioxyd in seinen Kapillaren anschwellen, seine Blutbahnen verstopfen, wie Millionen von Körper– und Hirnzellen abzusterben beginnen.

Noch zwei Meter.

Desmonds Beine zittern unkontrolliert, gehorchen seinen verzweifelten Anstrengungen nicht mehr. Sein Körper gleitet nur noch durch den Antrieb seines bisherigen Tempos empor, wird langsamer.

Noch einen Meter ...

Sein Kopf stößt durch die Meeresoberfläche. Er reißt den Mund auf, schnappt nach Luft. Der erste Atemzug ist ein flammendes Schwert in seiner Brust. Sein Kopf scheint zu platzen. Die grelle Tropensonne brennt sich in seine Netzhaut, und die Welt explodiert in einem Feuerball von Schmerzen. Das Letzte, was er wahrnimmt, ist ein Schrei. Dann lassen die Schmerzen nach und er sinkt in eine alles betäubende Finsternis.

Strudel

Greenwich Village, Manhattan – Samstag, 2:17 Uhr

Stöhnend erwacht Jean Madley aus ihrem Traum und kämpft sich in eine sitzende Stellung, ringt nach Luft. Ihr blondes Haar ist schweißnass, der Raum um sie stockdunkel.

Ich ersticke!

Sie wirft den Kopf in den Nacken und drückt die Brust weit nach vorne. Ihre Hand tastet nach dem Schalter der Nachttischlampe, knipst das Licht an. Geblendet und verwirrt schaut Jean sich um. Sie ist in ihrem Bett, in ihrem Schlafzimmer. Ihre Brust hebt und senkt sich viel zu schnell, der Atem fliegt. Gedämpft dringt der nächtliche Verkehrslärm durch das offene Fenster in ihre Wohnung.

Hab ich im Schlaf die Luft angehalten? denkt sie verstört. Hab ich geträumt?

Ja, da war etwas ... doch die Bilder verstecken sich im blinden Winkel ihres Bewusstseins.

Strudel, sinnt sie schlaftrunken. Sie fährt sich mit den Händen durch das wellige Haar. Ein schwarzer Strudel …

Sie zieht die Beine hoch, legt das Kinn auf die Knie und denkt nach. Ihr Kopf fühlt sich flau an, sie hat Mühe, sich zu konzentrieren. Sie versucht, sich zu erinnern, doch der Traum zerrinnt wie Sand zwischen Fingern, bevor sie ihn greifen kann. Sie schaut auf das Waterhouse–Gemälde an der Wand, auf dem eine anmutige Meerjungfrau sich das lange, braune Haar kämmt.

War da eine Wüste …?

Jean versucht krampfhaft, sich zu erinnern, doch der Traum ist weg. Matt sinkt sie auf das Kissen zurück.

Ja ... eine Wüste ...

Allmählich gleitet sie wieder in einen unruhigen Halbschlaf, und der Traum kehrt zurück.

Des!

Ja … von Desmond hat sie geträumt! Der Traum beginnt von Neuem, als hätte jemand eine Videokassette zurückgespult. Im Traum wandert Jean durch eine schwarze Wüste. Eine fahle, erlöschende Sonne schwebt über dem Horizont. In der Ferne erblickt sie eine hochgewachsene, einsame Gestalt, und trotz der Entfernung ist da kein Zweifel, um wen es sich handelt.

Des!

Die Bilder sind von unheimlicher Klarheit, die Stimmung unheilschwanger. Desmonds dunkles Haar weht in der Brise. Er trägt verblichene Jeans, die Hosenbeine bis unter die Knie aufgerollt, dazu das inzwischen ziemlich verschlissene Leinenhemd, das sie ihm zum vierzigsten Geburtstag geschenkt hatte. Ein Hauch von Wehmut überfällt sie. Immer noch sein Lieblingshemd, auch wenn es an den Nähten schon fast auseinanderfällt.

Eine düstere Vorahnung schnürt ihr das Herz ein.

Ich muss ihn warnen! Aber vor was?

Sie möchte schneller gehen, möchte zu ihm, doch im nachgiebigen Sand sinken ihre Füße ein wie in einem Sumpf. So sehr sie sich anstrengt, sie kommt kaum vom Fleck. Sie hat die Sehschärfe eines Adlers, kann trotz der Entfernung alles mit unerbittlicher Deutlichkeit sehen.

Da ... da drüben ist etwas!

Hilflos muss sie zusehen, wie Desmond sich auf den Rand eines schwarzen Strudels von riesigem Ausmaß zubewegt. Aus der Ferne wirkt es, als bestünde der Wirbel aus verflüssigtem Wüstensand. Desmonds Gesichtszüge sind trotz des fahlen Lichts der Wüstensonne überdeutlich zu erkennen. Er sieht müde aus. Müde und verstört. Die dichten Augenbrauen über den stets grüblerischen Augen sind in höchster Konzentration zusammengezogen, die Nase von der Sonne leicht gerötet. Dunkle Augenringe und die graumelierten Bartstoppeln sprechen von zahllosen schlaflosen Nächten.

Gedankenverloren bleibt Desmond vor dem Strudel stehen, als wüsste er nicht weiter, und – schlimmer noch – als könnte er den Abgrund zu seinen Füßen gar nicht sehen.

Bleib stehen! ruft Jean, doch die Wüstenluft scheint ihre Stimme zu schlucken. Panik überfällt sie. Sie muss ihn warnen, irgendwie! Wie im Gebet hebt Desmond die Hände vor die Brust und beginnt, die Handflächen langsam aneinander zu reiben. Falls Jean noch den leisesten Zweifel hegte, dass sie diese beklemmende Szene tatsächlich erlebt und es Desmond ist, der nur einen Schritt entfernt vor dem schwarzen Schlund steht, so lösen sich diese jetzt in Luft auf: Das Händereiben ist seine Geste! Die Geste, die ihn kennzeichnet, wenn er in Gedanken versunken ist.

Jeans Augen wandern über den rotierenden Wirbel, und ihr Atem stockt. Ein gigantischer, dunkelhäutiger Arm schiebt sich aus dem Strudel!

Des! schreit Jean erneut, doch auch dieses Wort bleibt unhörbar.

Desmond sieht den Arm nicht, der auf ihn zu kriecht. Mit gefurchter Stirn blickt er über den Krater hinweg zum Horizont, als suchte er dort die Lösung für ein ihn quälendes Problem. Einer schwarzen Spinne ähnlich krabbelt die Hand die steile Wand des Strudels empor … und schießt dann plötzlich nach oben, packt Desmonds Bein. Erschrocken versucht er, sich loszureißen, sich vom Strudel abzuwenden – und seine Augen finden Jean.

Erstaunt blickt er zu ihr, seine Lippen formen ihren Namen.

Er kann mich sehen, denkt Jean freudig und verzweifelt zugleich. Sie verdoppelt ihre Anstrengung, versucht, zu ihm zu rennen, aber mit jedem Schritt versinken ihre Beine tiefer im Sand. Hilflos muss sie mit ansehen, wie die Riesenhand Desmond in die unergründliche Tiefe reißt.

Des!

In stummer Verzweiflung sieht sie ihn im Strudel verschwinden ... dann öffnet sich der Sand unter ihren Füßen. Gierige, sandige Hände packen sie an den Fesseln, reißen auch sie in eine lichtlose Unterwelt.

Wie eine rasende Kette von umstürzenden Dominosteinen jagt der Traum durch die Synapsen ihres Gehirns – und geht verloren.

Als Jean Madley am nächsten Morgen erwacht, kann sie sich nicht erinnern, geträumt zu haben. Wenig später geht sie mit einem Glas Orangensaft in ihr Atelier hinüber, setzt sich vor die Staffelei und überlegt, was sie malen soll.

Sie denkt an das Meer.

Zweites Leben

UWI Hospital, Jamaika – Montag, 9:57 Uhr

„Kein Witz, Doctor Branday. Ich wollte gerade den Infusionsbeutel wechseln, und plötzlich fängt das EEG an wie wild auszuschlagen.“

Wie eine sanfte Berührung dringt die rauchige Frauenstimme in Desmonds Bewusstsein. Er öffnet die Augen einen winzigen Spalt – und schließt sie stöhnend wieder. Die Welt ist unerträglich grell. In der halben Sekunde glaubte er, zwei schemenhafte Gestalten zu sehen, die sich über ihn beugten. Sein Körper fühlt sich an, als wäre ein Panzer darübergefahren und hätte jeden Knochen zermalmt. Sein Kopf pocht wie ein Pressluftbohrer. Zähneknirschend versucht er, in das erlösende Reich der Ohnmacht zurückzugleiten, doch der hämmernde, kochende Schmerz will es nicht zulassen. Jemand fasst sein Handgelenk und tastet nach seinem Puls.

„Können Sie mich hören?“

Wie durch Watte dringt die sonore Männerstimme an Desmonds Ohr. Die Stimme ist angenehm. Warm.

Dieser Akzent … Jamaikanisch? Das Denken fällt ihm unendlich schwer, als wären seine Gehirnwindungen mit Melasse verklebt. Er versucht zu sprechen, doch statt ‚wo bin ich?‘ hört er ein unverständliches „Bnnn…“

Seine Stimmbänder fühlen sich verätzt an. Er räuspert sich und versucht es erneut.

„Bin … bin ich in einem Krankenhaus?“

„Yeah–maan! Ein Punkt für unseren jungen Kandidaten! Und es kommt noch besser: Sie sind am Leben!“ Die vertrauenserweckende Stimme mit dem jamaikanischen Akzent klingt ehrlich erfreut. „Ich bin Dr. Charles Branday. Leitender Arzt Chirurgie und Intensivstation. Ich war in den letzten drei Tagen für Sie zuständig. Ehrlich gesagt habe ich nicht erwartet, Sie jemals bei Bewusstsein zu erleben.“

„Was ... was is‘ passiert? Ich kann meine Augen kaum öffnen … alles ist so hell.“

„Keine Sorge, Mann! Ihre Augen sind in Ordnung. Eine gewisse Lichtempfindlichkeit ist ganz normal, wenn man der Netzhaut drei Tage lang kein Futter gibt. Ich mach mir eher Sorgen um Ihren Kopf. Wie fühlen Sie sich?“

„Ganz gut … bis auf die rasenden Schmerzen.“

„Ihr Humor ist bei Ihrer Schatzsuche offenbar nicht verloren gegangen! Gefällt mir!“ Das Lachen des Jamaikaners klingt jugendlich, beinahe jungenhaft.

„Schatzsuche?“ fragt Desmond verwirrt.

Branday geht nicht auf die Frage ein.

„Was meinen Sie, Sportsfreund – sind Sie stabil genug, um Tacheles zu reden, oder möchten Sie Ihrem ramponierten Körper noch etwas Ruhe gönnen?“

„Erzählen Sie, Doc.“ Desmond verzieht das Gesicht. „Lenken Sie mich mit Ihrer Hiobsbotschaft von diesen Höllenschmerzen ab.“

Wieder erklingt das ansteckende Lachen des Jamaikaners. Desmond hörte es gerne. Es lässt ihn beinahe vergessen, dass er sich in einem Krankenbett befindet – und keine Ahnung hat, wie es um ihn steht.

„Sie sind gut, Mann! Ich mag Leute, denen das Lachen auch dann nicht vergeht, wenn Sie sich in den Klauen der Ärzte befinden! Irie maan!“

„Sie sind … Jamaikaner?“

„Mit Herz und Seele.“

Desmond versucht zu verstehen. Ein Jamaikaner? Wo um Himmels willen ist er bloß? Er kann sich nicht erinnern, nach Jamaika geflogen zu sein.

„Schießen Sie los, Doc. Was ist mit mir passiert?“

Die kurze Pause, die entsteht, ist alles andere als beruhigend. Schlimmer, als ich dachte …?

„Sie hatten einen Tauchunfall.“ Branday klingt auf einmal sachlich, seine fröhliche Art wie weggeblasen. Er spricht mit der beruhigenden Stimme eines Mannes, der es gewohnt ist schlechte Nachrichten zu überbringen und das Beste daraus zu machen.

„Sie waren einige Minuten lang hirntot, Desmond. Danach lagen Sie drei Tage im Koma. Ehrlich gesagt ist es erstaunlich, dass Sie aus diesem Koma wieder erwacht sind. Und ein medizinisches Wunder, dass Sie überhaupt noch denken und sprechen können.“

Desmond strengt sich an, die Worte des Arztes zu verarbeiten. Durch den Panzer seiner Kopfschmerzen ist das Denken ermüdender als jede körperliche Anstrengung.

Tauchunfall? Hirntot? Koma?

Er versucht, seine wirren Gedanken zu ordnen. Ich kann mich an nichts erinnern. An gar nichts! Obwohl er nichts sehen kann, weiß er mit Sicherheit, dass dies kein Traum ist. Dafür sind allein die Schmerzen zu intensiv.

Er beißt auf die Zähne, versucht nochmals, die Augen zu öffnen – nur einen Schlitz weit. Das grelle Licht ist brutal, brennt sich in sein Gehirn ein. Ganz allmählich passen sich seine Pupillen der Helligkeit an und verengen sich. Schemenhaft kann er einen Mann neben seinem Bett erkennen. Vorsichtig blinzelt Desmond zu ihm hinauf. Ein kräftig gebauter Mulatte in einem weißen Bush–Jacket. Etwa fünfzig, kaffeebraune Augen, kurz geschnittenes, krauses Haar, an den Schläfen ergrauend. Ein gepflegter Kinnbart.

Desmond will sich die schmerzenden Augen reiben und bemerkt, dass eine Kanüle in seinem Handrücken steckt. Verwirrt schaut er auf den Infusionsschlauch und lässt die Hand langsam wieder sinken. Vorsichtig bewegt er seine Finger. Erleichtert bemerkt er, dass sie ihm gehorchen.

„Erlauben Sie?“

Ohne auf eine Antwort zu warten setzt sich Dr. Branday neben ihn an den Bettrand. Eine hübsche, dunkelhäutige Krankenschwester steht auf der anderen Seite und überprüft den Pegel der Kochsalzlösung, die in Desmonds Vene tropft. Der Arzt schaut zu der jungen Frau.

„Tabetha, lassen Sie bitte Elektrolyte, CK und das Kreatinin nochmals überprüfen. Wenn alles normal ist, können wir die Infusion heute Nachmittag entfernen.“ Er wendet sich wieder Desmond zu. „Ihre Tauchkollegen von Scuba Paradise haben Sie aus dem Wasser gefischt – gerade noch rechtzeitig bevor Sie über den Jordan gehen konnten. Offenbar haben Sie aus irgendeinem Grund einen Notaufstieg durchgeführt. Laut Ihrem Tauchmonitor aus zweiundvierzig Metern Tiefe. Allein.“ Branday fixiert Desmond mit vorwurfsvollem Blick. „Warum zum Henker gehen Sie alleine tauchen? Ich selbst bin zwar kein Taucher, aber ich wage zu behaupten, dass man lebensmüde sein muss, um alleine zu tauchen.“

Instinktiv setzt Desmond zu einer Erklärung an, öffnet den Mund – und schließt ihn wieder. Fassungslos stellt er fest, dass er keinen Zugriff auf irgendwelche Erinnerungen hat. Als hätte jemand die Festplatte aus seinem Kopf entfernt. Nur sein Sprachzentrum scheint noch zu funktionieren. Er tappt im Dunklen einer erloschenen Lebensgeschichte, und der leere Raum des Vergessens wird mit jeder Sekunde unerträglicher.

„Doc, ich … ich kann mich an nichts erinnern. Ich weiß nicht einmal, wie ich heiße!“

Noch während Desmond spricht, wird ihm die Tragweite seiner Worte bewusst. Alles ist weg. Sein Name, sein Beruf … seine Existenz! Er erkennt, dass er mit Dr. Branday Englisch spricht, doch er hört an seinem eigenen Akzent, dass er nicht aus der gleichen Gegend kommt wie der Arzt. Er sieht auf seine Arme herunter. Er ist ein Weißer, was trotz seiner sonnengebräunten Haut nicht zu leugnen ist. Die Verzweiflung schmeckt wie bittere Galle.

„Ich habe alles vergessen! Verdammte Scheiße, ich ... ich weiß nichts mehr!“

Ruckartig versucht Desmond, sich im Bett aufzusetzen. Der Schmerz explodiert mit mörderischer Wucht in seinem Kopf, und er lässt sich ächzend auf das Kissen zurückfallen.

„Easy maan! Ganz ruhig.“ Branday legt ihm eine beruhigende Hand auf die Schulter.

„Soll ich ihm ein Beruhigungsmittel spritzen, Doctor?“ fragt die Krankenschwester.

„Ja, Tabetha, das wäre gut.“

„Nein!“ Noch einmal hebt Desmond seinen Kopf und lässt ihn wieder fallen. „Ich muss wissen, wer ich bin!“

In seiner Brust ballt sich eine stählerne Faust, die ihn zu ersticken droht. Er sieht, wie die Krankenschwester eine klare Flüssigkeit durch ein Ventil im Infusionsschlauch spritzt, und sogleich wogt eine alles benebelnde Gleichgültigkeit über Desmond hinweg. Widerstandslos gleitet er zurück in das dunkle Reich, das er eben erst verlassen hatte ...

Mama Watta

Manhattan

Ein kalter Wintertag in Soho. Aus dem bleiernen Himmel über Manhattan schweben dicke Schneeflocken auf die seltsam lautlose Stadt herunter. Desmond betrachtet das geschnitzte Holzschild über der mit Schilfmatte bezogenen Türe.

Zulu Art Gallery

Er stößt die Tür auf. Das Scheppern von Kupferglöckchen erfüllt den Raum. Ein Duft von tropischem Holz und Räucherstäbchen weht ihm entgegen. In dem langgezogenen Raum herrscht das reinste Chaos. Mehrere eng nebeneinander stehende Regale präsentieren ein schwindelerregendes Kunterbunt von afrikanischen Puppen, Ritual–Trommeln, Halsketten, Götzenstatuen, Holzschalen und tausend anderen Gegenständen.

Desmond sucht nach etwas Hübschem aus dem Meer. Jean freut sich stets wie ein Kind über alles, was man am Strand oder im Meer finden kann. Vor allem bunte Muscheln haben es ihr angetan. Doch unter den anscheinend planlos ausgestellten Objekten auf den Regalen findet sich nichts dergleichen.

Kitsch und Plunder … kaum der Ort, wo ich für Jean was finde.

Hinter einem Holztisch sitzt eine massige, schwarze Frau mit Lockenwicklern im ergrauenden Haar. Neben ihren geschwollenen Füßen surrt ein billiger Plastikventilator, dessen Luftzug ihren Rocksaum flattern lässt. Sie schaut kurz von ihrem Hochglanzmagazin hoch, wirft Desmond einen gleichgültigen Blick zu und vertieft sich wieder in ihre Lektüre.

Tolle Kundenbetreuung, denkt Desmond missmutig. Versetzt einen nicht gerade in Kaufrausch.

Vorsichtig bewegt er sich zwischen zwei hohen Regalen hindurch. Er will eine kurze Runde durch den Ramschladen machen, einen flüchtigen Blick auf das Angebot werfen – man weiß ja nie, ob nicht doch etwas Interessantes dabei ist – und dann nach Hause fahren. Zu Jean.

Gerade als er das Ende des engen Korridors erreicht, streift sein Ellbogen etwas im Regal. Hinter sich hört er das Klirren eines zerbrechenden Objektes und zuckt zusammen. Er dreht sich um und betrachtet den schwarzbraunen Scherbenhaufen. Altehrwürdige Tonvase? Antike Terrakotta–Figur? Schnell wirft er durch die Regale hindurch einen Blick zu der Verkäuferin – oder ist es die Inhaberin? – hinüber. Von seinem Standpunkt aus kann er sie nicht sehen, aber er ist sich gewiss, dass sie den Lärm gehört hat. Innerlich wappnet er sich gegen die drohende Schimpf– und Jammertirade der Frau. Vermutlich wird sie darauf bestehen, dass das Kunstwerk eine Rarität aus Schwarzafrika war, ein unersetzliches Unikat, oder ihr ‚Lieblingsstück‘.

Schicksalsergeben bückt sich Desmond zu dem zerbrochenen Objekt. Die schwarz bemalte Tonfigur liegt in drei Teile zerbrochen auf dem staubigen Holzboden. Er streckt die Hand aus, um sie aufzuheben – und hält abrupt inne. Ein unerklärlicher Instinkt heißt ihn, die Bruchstücke nicht zu berühren.

„Mama Watta!“

Desmond fährt herum. Hinter ihm steht die Schwarze mit den Lockenwicklern und starrt auf die zerbrochene Figur. In ihrem Gesicht ist keine Spur von Gleichgültigkeit mehr zu sehen, vielmehr spiegelt sich blankes Entsetzen darin.

„Tut mir schrecklich leid“, murmelt Desmond während er aufsteht. Die Sache ist ihm peinlich, und er wünscht sich nichts sehnlicher, als den vermaledeiten Laden so schnell wie möglich zu verlassen. Selbst wenn er sich dafür freikaufen muss.

„Mama Watta!“ jammert die fettleibige Frau erneut und klatscht sich mit einer theatralischen Geste die Hände auf die Wangen. Dann geht sie ächzend in die Hocke um sich den Schaden aus der Nähe zu betrachten. Etwas ratlos steht Desmond neben ihr und blickt auf die Scherben hinunter. Erst jetzt erkennt er, dass es sich bei der Figur um das Abbild einer Frau handelt. In seinem Kopf fügt er die Teile so gut es geht zusammen.

Eine dunkelhäutige Frau mit einem Fischschwanz. Ein unangenehmes Déjà–vu befällt ihn. Eine schwarze Meerjungfrau … warum kommt mir die Figur bloß so bekannt vor?

Er wendet sich besänftigend an die Frau.

„Mama Watta?“

Er hat keine Ahnung, was diese Worte bedeuten. Mit leicht zitternden Hände hebt die Frau die Bruchstücke auf. In ihren Augen glänzt abergläubische Furcht.

„Du machen kaputt Statue von Mama Watta.“ Die Frau hat einen kreolischen Akzent. Ihr Tonfall gibt deutlich zu verstehen, dass Desmond ein kaum zu sühnendes Sakrileg begangen hat.

„Statue von Yemaya!“ schimpft die Frau. „Kaputt! Großes Unglück!“

Als trüge sie die Leiche eines Kindes zu Grabe, bringt sie die Scherben zu ihrem improvisierten Schreibtisch und legt die Bruchstücke behutsam auf die Holzfläche. Desmond folgt ihr.

„Tut mir wirklich leid.“

Er versucht, die offensichtlich verletzten Gefühle der Frau zu respektieren, obwohl ihm ihre Reaktion übertrieben dramatisch erscheint. Trotzdem sagt ihm sein Bauchgefühl, dass ihr Verhalten keine Mache ist, kein Schauspiel mit dem einzigen Zweck, den Preis der zerbrochenen Statue in die Höhe zu treiben.

Erschöpft lässt sich die Frau auf den Stuhl fallen und faltet die Hände vor den tönernen Fragmenten.

„Vanyan Yemaya, mwen mande padon!“ murmelt sie, während sie mit dem Oberkörper vor– und zurückschaukelt. Tränen rinnen ihr über die Wangen. Betreten schaut Desmond dem Ritual zu.

Unvermittelt hebt die Frau den Kopf, die Augen feindselig auf Desmond gerichtet.

„Geh!“ zischt sie. „Raus!“

Perplex schaut er sie an. „Ma’am, ich möchte Sie gerne entschädigen. Was kostet die – “

„Non!“ Das Schnauben eines wütenden Nilpferdes. „Raus! Raus! Ale!“

Sie erhebt sich mit beachtlicher Geschwindigkeit und macht einen bedrohlichen Schritt auf Desmond zu.

„Ale vou zan!“ faucht sie.

„Okay, okay!“ Er hebt beschwichtigend die Hände. „Ich geh’ ja schon!“

Eilig verlässt er die Zulu Art Gallery, das blecherne Scheppern der Glocken im Ohr – und bleibt wie vom Donner gerührt stehen.

Was zum Teufel ...?

Die Stadt um ihn herum ist ein Trümmerfeld. Wie verkohlte Finger ragen die Hochhäuser Sohos über menschenleere Straßen.

Das Ende der Welt, schießt es Desmond durch den Kopf. Armageddon!

Auf tauben Beinen geht er über die rissige Straße. Kälte umfängt ihn. Das Echo seiner Schritte klingt hohl und fern, als wäre die Luft nicht mehr imstande, den Schall zu tragen. Ein rasch anschwellendes Rauschen lässt ihn herumfahren. Seine Augen weiten sich. Das Geräusch schwillt zu einem Dröhnen an, einem wütenden Tosen, das den Asphalt unter seinen Füßen erzittern lässt. Zwischen den Stahlgerippen zweier Wolkenkratzer türmt sich eine gigantische Wassermauer auf, eine alles vernichtende Springflut, die mit rasender Geschwindigkeit auf ihn zustürmt. Er schreit, doch sein Schrei geht im Getöse der Killerwelle unter. Gerade als die Welle sich todbringend vor ihm aufbäumt, sieht er hinter der spritzenden Gischt das gewaltige Gesicht einer schwarzen Frau, und das Gesicht ist schlimmer, so unendlich schlimmer als der nahende Tod. Er schreit, schreit wie er noch nie geschrien hat …

Erinnerung

UWI Hospital, Kingston – Montag, 15:12 Uhr

„ … Nein… nein!“

Die Arme schützend vor den Kopf geschlagen erwacht Desmond. Langsam lässt er die Arme sinken und schaut sich verstört um. An der Decke kreisen träge die Propeller eines altertümlichen Ventilators.

Mit einem Schauern schüttelt Desmond den Albtraum von sich ab. Von draußen erklingt das Tirilieren eines Vogels. Eine leichte Brise weht durch das geöffnete Fenster und trägt einen Hauch von sonnengewärmtem Baumharz in das Zimmer.

Einen langen Moment lang starrt Desmond gedankenverloren zu dem Ventilator über ihm. Der Traum hinterließ einen bitteren Nachgeschmack, Beklemmung und Angst ... doch gleichzeitig scheint sich der graue Vorhang des Vergessens ein Stück weit zu lichten. Einzelne Bruchstücke fügen sich nach und nach zu einem Bild, das allmählich klarer wird.

Jean.

Er erinnert sich, wie er wenige Monate vor der Trennung vor dem Laden stand, den er eben im Traum gesehen hat. Zulu Art Gallery. Er sieht das Schild noch genau vor sich, doch er kann sich beim besten Willen nicht entsinnen, ob er damals eingetreten war und eine tönerne Götzenstatue vom Regal gefegt hatte, oder ob dies nur im Traum geschehen ist. Zu jener Zeit hatte er nicht geahnt, dass er zum letzten Mal als Jeans Ehemann nach einem Geburtstagsgeschenk für sie Ausschau halten würde. Sie war nicht mehr Teil seiner Welt, obschon sie sich weiterhin regelmäßig sahen.

Als Freunde.

Ein leises Pulsieren erfüllt Desmonds Kopf, während die Erinnerungen aus dem zähen Sumpf des Vergessens auftauchen. Einige davon schaffen es beinahe bis zur Oberfläche des Bewusstseins, nur um kurz davor wieder in der Tiefe zu versinken.

Wie lange sind wir schon getrennt ...?

Der Ventilator dreht sich mit gleichgültiger Regelmäßigkeit.

Desmond hebt den Kopf und blickt auf seine braungebrannten Beine. Er ist nackt bis auf ein Paar Boxershorts und ein ärmelloses T–Shirt. Anscheinend hat er im Schlaf die leichte Decke von seinem Körper gerissen. Seufzend lässt er seinen Kopf auf das Kissen zurücksinken. Seine Muskeln schmerzen auch jetzt noch, und er hat Mühe, sich zu konzentrieren.

Wann hat Jean unsere gemeinsame Wohnung verlassen? Vor einem halben Jahr?Einem Jahr?

Irgendwie scheint ihm die Frage von eminenter Wichtigkeit zu sein. Aber da ist nach wie vor eine gähnende Erinnerungslücke. Seine Augen wandern zum träge rotierenden Ventilator.

Er schaut sich um. Das Zimmer ist nüchtern. Zwei Krankenbetten, wovon eines frisch bezogen ist. Zwei rostige Rohrstühle. Keine Bilder an der Wand. Die Zimmertür steht weit offen und gibt die Sicht auf einen grün gestrichenen Korridor frei. Ein schwacher Karbolgeruch liegt in der Luft. Unvermittelt denkt Desmond an Dr. Brandays Worte. ‚Sie waren einige Minuten lang hirntot. Danach lagen Sie drei Tage im Koma.‘

Er betrachtet die Infusionskanüle, die in seinen Handrücken mündet. Alle drei Sekunden fällt ein Tropfen aus dem Infusionsbeutel und rinnt in seine Vene. Eine wachsende Unruhe ergreift von ihm Besitz. Ich kann nicht den ganzen Tag hier liegen bleiben!

Trotz der offenen Tür ist es im Zimmer drückend heiß. Immerhin hat der Druck in seinem Kopf nachgelassen, ist erträglich geworden. Er schaut in den Korridor hinaus.

„Hallo? Schwester!“

Leichtfüßige Schritte nähern sich. Mit einem fragenden Blick erscheint die junge Krankenschwester, deren rauchige Stimme er bei seinem Aufwachen gehört hatte. Sie ist hochgewachsen und ausgesprochen hübsch, ihre Augen wie dunkler Kakao. Als sie sieht, dass Desmond wach ist, breitet sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus. Mit ihren hohen Wangenknochen und vollen Lippen ist sie eine dunkelhäutige Schönheit.

„Guten Morgen Mr. Parker“, ruft sie fröhlich, „ich bin Tabetha. Wie fühlen– “

„Schnell, holen Sie Dr. Branday!“ unterbricht er sie. „Ich glaube, ich kann mich wieder erinnern!“

Bilder von trübem Wasser und einem monströsen Hai huschen vor seinem inneren Auge vorbei.

„Ja, sicher, Mr. Parker! Sofort.“

Desmond schaut ihr hinterher, während sie davoneilt. Die Schmerzen in seinen Muskeln lassen mit jeder Minute nach, sind nur noch eine gedämpfte Hintergrundkulisse. Kurz darauf erklingen draußen im Korridor energische Schritte.

„Whabb’n maan! Wie geht’s unserem tollkühnen Taucher?“ Dr. Branday tritt mit einem breiten Grinsen ein, gefolgt von Tabetha. „Jesum peace, Ihr Schlafbedürfnis ist ja größer als das eines narkoleptischen Faultiers! Da hatten Sie wohl einiges nachzuholen.“

Desmond winkt den Arzt ungeduldig ans Bett.

„Ich erinnere mich, Doc! Mein Name ist Desmond Parker!“ Aufgeregt fährt er sich mit der Hand über den Stoppelbart. „Ich wohne in Manhattan, New York.“

„Na prima! Jetzt sind wir schon zwei, die dieses Wissen teilen. Sie haben Ihren Vertrag im Tauchgeschäft mit Desmond Parker unterschrieben, und Ihr Pass bestätigt, dass Sie vom Big Apple kommen.“

Der Arzt zieht den Rohrstuhl vor das Bett und setzt sich, während Tabetha die Infusionsnadel aus Desmonds Handrücken zieht. Dann verlässt sie diskret das Zimmer. Branday stützt erwartungsvoll die Hände auf die Knie.

„Verraten Sie mir etwas, was ich noch nicht weiß, bevor ich meine Freizeit der Internet–Recherche opfern muss.“

„Ich wurde von einem Hai angegriffen.“

„Was Sie nicht sagen!“ Branday hebt eine Augenbraue.

„Nun ja, nicht direkt angegriffen.“ Desmond nagt an seiner Unterlippe. „Ich dachte, er würde angreifen. Ein riesiger Hammerhai. Mindestens zwölf Meter lang.“

„Zwölf?“

„Ja! Ich weiß, dass das unmöglich klingt, aber er war mehr als doppelt so groß wie ein gewöhnlicher Hammerhai. Hat mich pausenlos umkreist, und irgendwie habe ich dabei meinen ganzen Sauerstoff verbraucht. Als er endlich abhaute, ging mir die Luft aus, und ich musste einen Notaufstieg durchführen. Danach … tja, danach weiß ich nichts mehr.“

„Ein Hammerhai. Hmm.“ Branday legt nachdenklich die Fingerspitzen aneinander. „Nun, dann hätten wir wenigstens einen plausiblen Grund für den Notaufstieg. Aber immer noch nicht für Ihren erfreulich guten Allgemeinzustand.“

Desmond runzelt die Stirn. „Ist es nicht positiv, dass es mir schon viel besser geht?“

Brandays Ausdruck wird ernst. „Natürlich ist es positiv. Es ist nur … nun, wie gesagt, Sie sind ein medizinisches Wunder. Sie hatten schreckliche Krämpfe, das Vollbild der Caisson–Krankheit. Sie sind hier im UWI, im University of the West Indies Hospital in Kingston, und obwohl wir das medizinische Zentrum der Insel sind, verfügen wir nicht einmal über eine Dekompressionskammer. Wir haben versucht, Sie auf der Intensivstation zu stabilisieren, aber …“

Desmond fühlt eine erneute Bangigkeit. „Aber was?“

„Etwa eine halbe Stunde nach Ihrer Einweisung gab Ihr Körper den Kampf auf und… Sie starben.“

Desmond starrt den Arzt an. „Was?“

Branday nickt. „Für drei volle Minuten waren Sie hirntot. Null–Linie im Elektroenzephalogramm. Asystolie, also Pulslosigkeit, für die gleiche Zeitspanne im EKG. Wir haben Sie drei Minuten lang mit so viel Strom traktiert, dass wir damit Uptown Kingston für eine Woche hätten beleuchten können. Ich wollte bereits die Decke über Ihren Kopf ziehen und Sie als das achte Tauchopfer dieses Jahres aufbahren lassen, als Sie wieder zu atmen begannen. Einfach so.“ Er schüttelte den Kopf. „Und nun sitzen wir hier und plaudern darüber, dass Sie wie Lazarus wiederauferstanden sind. Offen gestanden habe ich sowas noch nie erlebt.“

Ein unbehagliches Schweigen folgt. Desmond bringt seine nächste Frage kaum über die Lippen.

„Doc, habe ich einen Hirnschaden?“

Der Arzt schaut ihn prüfend an. „Das möchte ich gerne herausfinden. Ich werde mit Ihnen einige Tests durchführen, und dann sehen wir weiter.“

Branday steht auf, und Desmond hält ihn am Handgelenk fest.

„Doc, sind drei Minuten ohne Sauerstoff für das Hirn nicht eine sehr lange Zeit?“

Besorgt erforscht er die Augen des Arztes.

Branday seufzt.

„Desmond – drei Minuten ohne Sauerstoff sind für das Gehirn eine verdammt lange Zeit …“

***

Das Diagnosezimmer der Radiologie ist dunkel, das milchige Neonlicht hinter den Röntgenbildern kühl. Ratlos blickt Desmond auf die unzähligen Computertomographien, die in langgezogene Leuchtmonitore eingespannt an der Wand hängen. Dr. Sangster, der hagere Chefarzt der Radiologie, schaut auf eines der Schnittbilder. Im Licht der Monitore leuchten seine Brillengläser.

„Das, Mr. Parker, ist Ihr Schädel, in dünne Scheiben geschnitten. Es sind viele Bilder, weil ich veranlasst habe, die Serie ein zweites Mal durchführen zu lassen.“

Desmond runzelt die Stirn. „Warum – ist was nicht in Ordnung?“

„Nun ja … zuerst dachte ich, dass die Aufnahmen fehlerhaft sind. Sehen Sie mal hier.“

Der Radiologe zeigt mit einem Kugelschreiber auf eine helle Struktur mitten in einem der Bilder.

„Das hier ist Ihr Hippocampus. Das ‚Seepferdchen‘ in Ihrem Hirn. Diese Formation ist ein Teil des limbischen Systems, das viele Aspekte unseres Verhaltens steuert … unter anderem die Speicherung und den Abruf von Erinnerungen. Die Neurologieforscher sind noch immer daran, weitere Funktionen zu entschlüsseln. Das Problem ist, dass Ihr Hippocampus deutlich zu hell erscheint. Und ich habe keine Ahnung, was das zu bedeuten hat.“

„Zu ... hell?“

„Genau. Alle Strukturen auf einer CT–Aufnahme haben definierte Konturen, Formen, Schattierungen und Helligkeiten. Daraus können wir pathologische Prozesse erkennen. Nun haben Sie ein Seepferdchen, das strahlend hell ist, und in der ganzen Röntgenliteratur gibt es keinen ähnlichen Fall. Ich kann Ihnen nicht mal sagen, ob es sich um eine Banalität, eine Normvariante oder um etwas Krankhaftes handelt. Hatten Sie jemals ein CT oder MRI? Dann könnten wir die Bilder vergleichen. Herausfinden, ob diese Veränderung gar angeboren ist. “

Desmond schüttelt den Kopf. „Nein, noch nie. Und was sollen wir tun?“

Dr. Sangster putzt sich nachdenklich die Brillengläser an seinem Bush–Jacket und blinzelt Desmond kurzsichtig an.

„Ich an Ihrer Stelle würde darauf hoffen, dass es eine Bagatelle ist.“

Diagnostik

Kingston, Jamaika – Mittwoch, 08:45 Uhr

Desmond liegt im Bett, die Hände hinter dem Nacken verschränkt, und starrt zu dem träge rotierenden Ventilator hinauf. Nach drei Tagen im UWI – sechs, wenn man die Tage im Koma mit einberechnet – scheint die Zeit stillzustehen.

Von seinem Kopf wurden inzwischen so viele Aufnahmen gemacht wie von kaum einem Schädel zuvor. Diverse Blutanalysen und eine ganze Batterie von psychologischen Tests zeigen stets nur das Eine: unauffällige Resultate. Bis auf den strahlenden Hippocampus ist er der normalste Mensch der Welt– und dennoch wird mit jeder Untersuchung Desmonds unterschwellige Befürchtung, dass etwas mit ihm nicht stimmt, stärker. Regelmäßig ertappt er sich dabei, wie er sich unbewusst an die Stirn fasst.

Da sich weder Krankheiten noch Verletzungen finden, könnte Desmond das Krankenhaus jederzeit verlassen. Doch Dr. Branday hatte sich so rührend um ihn gekümmert, dass er ihm Gelegenheit geben will, alle aus seiner Sicht notwendigen Untersuchungen durchzuführen, bevor der Arzt ihn als offiziell gesund entlässt. Das Abschlussgespräch ist auf neun Uhr morgens vereinbart.

Während Desmond ungeduldig darauf wartet, dass der zermürbend langsame Minutenzeiger seiner Uhr vorwärts wandert, entdeckt er bei sich eine eigenartige Empfindung. Ja, da ist ein Anflug von Heimweh … doch die Sehnsucht betrifft nur zur Hälfte seine Heimat, seine Wohnung.

Jean.

Das Bedürfnis, sie anzurufen, ist mit überwältigender Stärke gekommen. Seit dem Traum mit der zerbrochenen Statue ( – ‚Statue von Yemaya! Kaputt! Großes Unglück!‘ – ) kehren seine Gedanken mit der Beharrlichkeit eines hungrigen Steppenwolfes immer wieder zu Jean zurück. Anfangs versuchte er sich dem Impuls mit eigensinnigem Stolz zu widersetzen. Sie ist nicht mehr meine Frau … und ich werde mich nicht an sie klammern wie ein verdammtes Weichei.

Sein Kopf ist wieder klar – beinahe zu klar – und er erinnert sich an alle Einzelheiten seines Lebens. An die Zeit mit ihr. Mit Jean.

Die Zeit vor der Trennung.

Desmond seufzt tief. Ein schwerer Stein liegt ihm auf der Brust. Es ist ein bittersüßes Geschenk, dass nach der Trennung eine tiefe Freundschaft zwischen ihm und Jean entstehen durfte, und er will diese Verbundenheit nicht strapazieren, indem er ihr durch seinen selbstverschuldeten Tauchunfall Sorgen bereitet. Jean weiß nichts davon, dass er seine Ferien alleine in Jamaika verbringt – und dies während des Gipfels der Orkansaison. Doch das Verlangen, ihre Stimme zu hören, ist überwältigend.

Nach ihrem letzten Treffen rutschte Desmond, nicht zum ersten Mal, in ein selbstquälerisches Tief. Das Wissen, dass es sich dabei mindestens zum Teil um die alten Verlustängste seiner Kindheit handelte, nützte ihm nichts. Überhaupt nichts. Wie ein glühendes Stück Kohle schwelte der Schmerz darüber, dass diese wundervolle Frau nicht mehr zu ihm, zu seinem Leben gehörte, und in der pessimistischen Überzeugung, eine einzigartige Chance endgültig verpatzt zu haben, kaufte er sich kurzentschlossen ein Last Minute Ticket nach Kingston – in der halbherzigen Hoffnung, dass die geographische Distanz seinen Seelenschmerz lindern könnte.

Als ob! Ruckartig dreht Desmond den Kopf zum Fenster. Selbst drei Minuten als Hirntoter haben an diesem Schmerz nicht das Geringste geändert.

Er steht vom Bett auf und prüft sein Handy. Die Batterie ist voll, aber das Handy zeigt weiterhin keine Verbindungsbalken. Er beschließt, Jean vom Empfang aus anzurufen. Ihr zu sagen, dass er kurzfristig ein Schnäppchenangebot nach Jamaika gebucht hat und dass es ihm gut geht. Vom Tauchunfall würde er nichts erwähnen. Er will bloß ihre Stimme hören.

Im Treppenhaus sieht er eine dicke Kakerlake über die Zementstufen huschen. Etwas weiter unten eine Zigarettenkippe. Nicht gerade wie in unseren Privatkliniken.

Unten angekommen notiert die Empfangsdame die Anfangszeit von Desmonds Anruf, während er Jeans Handy–Nummer wählt. Ihre Telefonnummer ist unauslöschlich in seinem Gedächtnis gespeichert. Angespannt wartet er darauf, ihre Stimme zu hören. Mit jedem Summton sinkt seine Hoffnung. Jean hat keinen Anrufbeantworter. Sie ist eine jener seltenen Personen, die nicht zu jeder Tages– und Nachtzeit erreichbar sein will. Als wahre Künstlerin braucht sie ihre Freiräume wie die Luft, die sie atmet. Es gibt Zeiten, in denen sie sich für mehrere Tage ganz zurückzieht, für niemanden verfügbar ist. In solchen Zeiten weiß niemand, wo sie sich aufhält, und kein Mensch, kein Telefon, kein Klingeln an der Tür kann sie aus ihrem Schlupfwinkel herauslocken.

Der Anklopfton bricht ab, und das ungeduldig pulsierende Besetztzeichen ertönt.

Verdammt!

Frustriert wirft Desmond den Hörer auf die Gabel. Etwas bestürzt stellt er fest, dass seine Enttäuschung alles andere als angemessen ist. Wie sehr er sich auch sträubt, es sich einzugestehen: Jean ist der einzige Mensch, dem er bedingungslos vertraut. Auch jetzt noch. In schwierigen Zeiten tut es jedesmal unglaublich gut, ihre Stimme zu hören – und an normalen Tagen genauso. Mit ihrer ungewöhnlichen Gefühlstiefe und ihrer erfrischenden Natürlichkeit schafft sie es immer wieder, ihm den Kopf zurechtzurücken. Selbst in seinen zähen, grüblerischen Phasen, die sich seit ihrer Scheidung deutlich gehäuft haben, vermag sie es, einen geheimen Leuchtregler in ihm zu betätigen und ihn auf beinahe magische Weise von innen her aufzuhellen. Es ist, als wüsste sie besser als er selbst, wie seine seelische Kommandozentrale tickt. Desmond lächelt, als er daran denkt. Und du Idiot wolltest sie ändern – wolltest, dass sie in allen Bereichen deinen Vorstellungen entspricht. Wolltest sie besitzen.

Mit Mühe reißt er sich zusammen, bevor er ins Selbstmitleid abdriften kann. Über diese Phase ist er hinweg. Zumindest beinahe.

„Ich versuch’s später nochmals“, lässt er die Dame am Empfang wissen. Sie nickt ihm abwesend zu.

Desmond atmet tief durch. Wirft einen letzten Blick in die Runde. In wenigen Minuten wird er den freundlichen Jamaikaner, der ihm das Leben gerettet hat, wohl zum letzten Mal sehen.

Dann wollen wir mal …

***

Dr. Brandays Büro ist klein, stickig und mit unzähligen Akten vollgestopft. Krankengeschichten, Röntgenbilder und ärztliche Fachzeitschriften türmen sich in jeder Ecke. Der Schreibtisch ist so überladen, dass von der Schreibfläche kaum etwas zu sehen ist.

In einem einfachen Bambusrahmen steht ein Foto von einem wesentlich jüngeren Branday auf dem Schreibtisch, Arm in Arm mit einer sympathischen, strahlend lächelnden Jamaikanerin. Neben dem Fotorahmen ein mit Wasser gefüllter Krug und zwei Gläser.

Desmond setzt sich auf einem Holzhocker gegenüber von Branday. Der Arzt hat die Fingerspitzen aneinandergelegt und betrachtet Desmond prüfend.

„Erzählen Sie mir nochmals alles. Aber diesmal im Schnellvorlauf. Ratz–fatz. Durch die Geschwindigkeit habe ich einen weiteren Parameter, um Ihre Hirnleistung zu beurteilen.“

Branday hat sich ein wenig Schreibfläche freigeschaufelt, um anhand von Desmonds Akte sämtliche Aussagen zu überprüfen. Desmond atmet tief ein und rattert hastig alles herunter, was ihm einfällt.

„Desmond Parker, zweiundvierzig Jahre alt, Wohnung Ecke Amsterdam/81st Street in Manhattan, New York. Klinischer Psychologe, seit zwei Jahren geschieden, keine Kinder. Vor fünf Tagen Haifischangriff – Korrektur, Scheinangriff. In der Folge Notaufstieg mit Barotrauma, danach drei Minuten hirntot und drei Tage Koma. Nun ist mein Hippodingsda, also mein Seepferdchen zu hell, keiner weiß, was das bedeutet, und wenn Sie mich fragen, bin ich eigentlich wieder ganz in Ordnung.“

„Was für ein Datum haben wir heute?“

„17. August 2016.“

„Wo sind wir hier?“

„In Ihrem Büro, im ersten Stock des UWI Hospital in Kingston, Jamaika, und so schnell zu reden macht mich verdammt durstig.“

Branday grinst und gießt ihm ein Glas Wasser ein.

„Okay ... wie heißt der aktuelle Präsident der USA?“

„Barack Obama, aber nicht mehr lange.“

„Welches ist der größte Bundesstaat?“

„Alaska.“

„Was gibt 25 mal 25?“

„Oh Gott, Mathe …“

„25 mal 25!“

Desmond rechnet fieberhaft. „625.“

„Vier Sekunden. Nicht schlecht.“ Dr. Branday wirft einen weiteren Blick in die Akte. „Wirklich erstaunlich. Alle neurologischen und neuropsychologischen Tests sind absolut unauffällig. Ihre exekutive Geschwindigkeit ist leicht über der Norm.“ Branday schürzt die Lippen. „Wissen Sie, Desmond, allmählich vermute ich tatsächlich, dass Ihr Hippocampus von Geburt auf hell ist. Wenn ich ehrlich bin, sehe ich keinen Grund, Sie noch länger im Krankenhaus zu behalten – außer vielleicht, um unsere vorsintflutlichen Röntgengeräte zu amortisieren.“

Desmond legt den Kopf schief. „Dann bin ich mit Verdacht entlassen?“

Branday erhebt sich lächelnd. „Mit Verdacht. Der kühne Haifischjäger darf nach Hause.“

***

Während Desmond seine wenigen Sachen im Krankenzimmer zusammenpackt, kommt Tabetha herein. Wie gewohnt strahlt sie eine stille Heiterkeit aus.

„Wie ich höre, verlassen Sie uns, Mr. Parker?“

„Ja, Tabetha. Dr. Branday hat mir den Gesundheitsstempel auf die Stirn gedrückt und mich mit seinem Segen entlassen.“

„Gut für Sie! Besuchen Sie uns, wenn Sie wieder mal auf unserer schönen Insel nach Haien jagen!“

„Versprochen. Aber vorläufig bin ich vom Solo–Tauchen kuriert. Zudem wird’s langsam Zeit, mich wieder um meine eigenen Patienten zu kümmern.“ Er lächelt ihr säuerlich zu. „Wie ich in den letzten Tagen feststellen konnte, bin ich viel lieber Therapeut als Patient.“

Tabetha lacht und zeigt ihre strahlend weißen Zähne.

„Dann bleiben Sie den Haien fern. Auch denen der Großstadt!“

Sie reicht ihm die Hand. Als Desmond sie ergreift und sich für die herzliche Betreuung bedanken will, gefriert ihm das Lächeln auf den Lippen.

Ihr Kopf … etwas stimmt nicht mit ihrem Kopf!

Wie betäubt starrt er auf ihre hübsch gerundete Stirn. Als könnte er durch diese hindurchsehen, erscheinen Bilder von teerigen schwarzen Klumpen vor seinem inneren Auge.

„Stimmt etwas nicht?“ fragt die Krankenschwester verunsichert.

„Ja … nein, ich … ich glaube, mein Blutdruck…“

In seinem Kopf pulsiert es, ein rasch anschwellender Schmerz mitten in der Stirn, als bohrte sich ein glühender Nagel in sein Gehirn. Das Zimmer um ihn beginnt zu verschwimmen. Kraftlos lehnt er sich gegen die Wand. Seine Beine wollen ihn nicht mehr tragen, scheinen sich in Gelatine zu verwandeln. Langsam rutscht er zu Boden. Mit einer geschmeidigen Bewegung geht Tabetha neben ihm in die Knie und umfasst ihn mit erstaunlich kräftigen Armen, so dass er sanft auf dem Boden landet. Dann greift sie nach seinem Handgelenk, tastet nach seinem Puls.

„Mr. Parker? Geht’s Ihnen nicht gut? Sprechen Sie mit mir!“

Er schaut in das dunkle, nun deutlich besorgte Gesicht. Weiterhin verfolgen ihn Bilder von düsteren Knollen, die wie groteske Pilze auf weißgrauem Hintergrund wuchern. Trotz der lähmenden Schwäche kann er den Blick nicht von Tabethas Stirn abwenden.

„Ihr … Ihr Kopf“, murmelt er benommen. „Irgendwas stimmt mit Ihrem Kopf nicht …“

„Mit meinem Kopf ist alles in Ordnung, Mr. Parker“, erwiderte sie bestimmt. „Bleiben Sie ganz ruhig, ich rufe Doctor Branday.“

„Ja … gerne. Danke, Tabetha.“

Sie eilt hinaus. Auf dem Linoleumboden sitzend lehnt sich Desmond mit geschlossenen Augen gegen die Wand und versucht, gegen die aufsteigende Übelkeit anzukämpfen.

Langsam und tief atmen ...

Sobald Tabetha das Zimmer verlassen hat, lässt der Druck in seiner Stirn allmählich nach.

***

Die beiden Männer stehen schwitzend vor dem Haupteingang des UWI Hospital. Selbst im Schatten des Vordachs liegt die Temperatur bei 35 Grad. Das Hygrometer neben dem hohen Holzportal zeigt eine Luftfeuchtigkeit von beinahe 100 Prozent. Ein paar Studenten schlurfen mit den matten Bewegungen von Spätsommerfliegen über den Campus. Ansonsten liegen die Gehwege verlassen unter der brütenden Mittagssonne. Der verlockende Duft von Jerk Chicken, Ackee und in Öl gebratenem Kabeljau schwebt in der Luft.

Branday zündet sich eine Zigarette an und nimmt einen tiefen Zug. Er hat Desmond vorgeschlagen, das Gespräch draußen zu führen, da sein Büro zur Mittagszeit einfach zu stickig ist. Dankbar hat Desmond eingewilligt.

„Sie glauben also, Tabetha habe ein Problem mit ihrem Kopf. Okay. Und an was für ein Problem genau denken Sie?“

Der Jamaikaner sieht Desmond durch die aufsteigenden Rauchspiralen ernst an.

„Keine Ahnung. Ich hatte urplötzlich eine … eine Art bedrohliche Vision.“ Desmonds Finger machen kreisende Bewegungen, als suchte er nach den richtigen Worten. „Nein, keine Vision. Es war wie ein Schattenbild, mal scharf, mal unscharf. Ein Bild von wuchernden Klumpen in Tabethas Kopf … als könnte ich ihr direkt in den Schädel sehen. Verdammt, das klingt sowas von hirnverbrannt!“

Nachdenklich bläst Branday eine bläuliche Rauchwolke aus.

„Nun, nichts klingt absurd, solange es uns weiterbringt. Nach einer klassischen Halluzination klingt das Ganze jedenfalls nicht. Der Schwächeanfall, die Kopfschmerzen … das passt einfach nicht dazu.“

„Das denke ich eben auch. Aber im Ernst, Doc – ist es möglich, dass ich alle Ihre neuropsychologischen und sonstigen Tests mühelos bestehe und trotzdem einen Hirnschaden habe?“ Desmond schaut dem Arzt forschend ins Gesicht. „Sie kennen doch sicher das Buch von Oliver Sacks, ‚Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte‘. Dort beschreibt der Autor Patienten mit sehr ... selektiven Ausfällen. Ausfälle, welche die Patienten selbst gar nicht bemerken.“

„Ich kenne das Buch.“ Branday nickt, ohne Stellung zu nehmen.

„Packen Sie mich bitte nicht in Watte, Doc. Ich kann mit der Wahrheit besser umgehen als mit der Ungewissheit.“

Brandays Schweigen bedeutet Desmond, dass diese schauderhafte Möglichkeit tatsächlich besteht. Der Arzt tritt die halb gerauchte Zigarette auf dem Boden aus und runzelt die Stirn.

„Wissen Sie, Desmond, es ist unmöglich zu sagen, ob Ihrem Gehirn etwas zugestoßen ist oder nicht. Wie gesagt, die meisten Menschen hätten nach einer so langen Zeit ohne Sauerstoff einen beträchtlichen Hirnschaden, wären im Koma oder tot. Sie hingegen scheinen gemäß den Tests gesund wie ein Fisch im Wasser. Diese Episode mit der jungen Krankenschwester – wie heißt sie gleich…“

Desmond erkennt die versteckte Prüfung.

„Tabetha.“

„Tabetha, genau – diese Geschichte gibt mir allerdings zu denken. Wir können davon ausgehen, dass Sie keinen ‚Röntgenblick‘ besitzen. Vielleicht sollten wir zur Sicherheit noch ein letztes Schädel–CT durchführen. Nachprüfen, ob sich seit Ihrer Ankunft im UWI Hospital etwas in Ihrem Gehirn verändert hat.“

Gedankenvoll beginnt Desmond, die Hände aneinander zu reiben.

„Doc, ich weiß, dass Sie mich für verrückt halten werden … aber wäre es möglich, dass wir statt von meinem von Tabethas Schädel eine CT–Aufnahme machen könnten? Natürlich bezahle ich dafür.“

„Jesum peace, Desmond! Ich glaube kaum – “

„Ich weiß“, unterbricht ihn Desmond. „Aber diese ... diese Bilder waren so überwältigend! Ich muss einfach wissen, ob das ... ja, sowas wie eine Vorahnung war oder ob ich den Verstand verliere! Könnten Sie sie fragen?“

Der Jamaikaner macht eine Miene, als hätte er in eine Zitrone gebissen.

„Desmond, Sie wollen mich offenbar in Teufels Küche bringen. Tabetha springt mir an den Hals, wenn ich ihr so einen Vorschlag mache, und zwar zu Recht. Ich glaube, bevor wir uns um die Gesundheit des Pflegepersonals kümmern, sollten wir unsere Aufmerksamkeit auf Sie richten, nicht wahr?“

“Doc – “

„Als Psychologe wissen Sie genau, dass diese ‚Vorahnung‘ eine pathologische Erscheinung sein könnte, eine Nachwirkung Ihres Tauchunfalls. Genau wie Déjà–Vu Phänomene. Ich glaube, wir lassen Tabetha da lieber mal raus. Es besteht kein Grund, sie unnötig zu ängstigen.“

„Ich möchte ja nur, dass Sie sie fragen, Doc. Bitte.“

Der Arzt seufzt resigniert. Er holte sich eine neue Zigarette aus der Brusttasche seines Bush–Jacket, betrachtet sie unschlüssig und steckt sie zurück.

„Okay. Ich werde sie fragen. Aber wenn sie wissen will, auf wessen Mist die Idee gewachsen ist, werde ich ihr reinen Wein einschenken, Desmond. Und ich werde sie ganz bestimmt nicht drängen. Zuerst kommen aber Sie dran. Wir zerlegen Ihr Gehirn ein letztes Mal in tausend ultradünne Scheiben. Wenn wir nichts finden, dürfen Sie nach Hause, in den Big Apple. Ich sag gleich Dr. Sangster Bescheid. Wir sehen uns dann nach dem Lunch wieder hier draußen, zur Abschlussbesprechung. Mein Büro ist leider bis zum späten Nachmittag eine wahre Folterkammer. Sagen wir, um zwei.“ Branday wirft einen Blick auf seine Uhr. „Raatid, die Zeit rennt! Muss gleich auf Visite! Bis nachher.“

***

Zehn Minuten nach der Visite steht Branday im Personalraum vor der jungen Krankenschwester. Tabetha Wilkinsons Blick ist schwarzes Feuer, ihre Nasenflügel beben wie die eines aufgebrachten Hengstes.

„Ich werde mich garantiert nicht in die verdammte Röhre legen, Doctor Branday! Ich lasse mir doch nicht den Schädel verstrahlen, nur weil einer Ihrer Patienten austickt!“

„Schon gut, schon gut.“ Der Arzt hebt beschwichtigend die Hände. „Ich habe ihm nur versprochen, dass ich Sie frage. Vergessen Sie‘s.“

Branday wendet sich zum Gehen, als Tabetha ihm hinterher ruft: „Was genau hat er denn ’gesehen‘?“

Er dreht sich um und sieht die Krankenschwester an. Hübsch ist sie, denkt er mit aufblitzender Besorgnis. Und noch so jung.

Für eine Sekunde überfallen ihn Zweifel, ob hinter ihrer fein gewölbten Stirn tatsächlich alles in bester Ordnung ist.

„Er macht sich Gedanken wegen Ihrem Kopf. So eine Art von ... na, sagen wir Intuition.“ Er senkt die Stimme. „Ich fürchte, dass er doch mehr unter dem Sauerstoffmangel gelitten hat, als ich vermutete. Machen Sie sich keine Gedanken. Bei Ihnen ist ganz bestimmt alles paletti!“

Als Branday den Personalraum verlässt, fühlt er ein beunruhigtes Augenpaar in seinem Rücken.

***

Zwei Stunden später reichen sich Desmond und Dr. Branday vor dem Eingang des UWI Hospital die Hand. Zu Desmonds Füßen liegt dessen alte, von vielen Reisen abgenutzte Ledertasche.

„Besten Dank, Doc. Für alles. Lebensrettung inklusive.“

„Nicht der Rede wert. Wenn ich das so sagen darf, Desmond – Sie sind ein verdammt interessanter Fall. Aber ich bin froh, dass auch die neusten CT–Bilder keine Hirnläsionen zeigen. Mit einem strahlenden Seepferdchen können Sie sicher leben.“

Desmond grinst. „Ja, ich schätze, mein Seepferdchen und ich werden uns schon irgendwie arrangieren.“

Branday zündet sich eine Zigarette an. “Es würde mich freuen, in so zwei, drei Wochen von Ihnen zu hören. Rufen Sie mich an, wenn Ihnen das verrückte Leben in Manhattan mal eine Verschnaufpause gönnt. Lassen Sie mich wissen, ob Sie wirklich mit einem blauen Auge davongekommen sind.“

„Aye aye, Doc!“ Desmond zögert. „Tut mir leid, dass Sie Tabetha meinetwegen in Bedrängnis gebracht haben. Bitte richten Sie ihr aus, dass ich mich für mein idiotisches Verhalten entschuldige.“

Der Jamaikaner nickt und bläst Rauchschwaden in die schwüle Luft. „In der Tat, sie war von Ihren Äußerungen nicht gerade begeistert. Aber ich werde es ihr ausrichten.“

Noch einmal reichen sie sich die Hand.

„Alles Gute, Doc. Ich halte Sie auf dem Laufenden.“

Kapitel 2