Der Seelendoktor - M.K. Johnson - E-Book

Der Seelendoktor E-Book

M.K. Johnson

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Beschreibung

Der Seelendoktor ist eine mörderische Kriminalgeschichte. Dr. Smith lernt durch seine Arbeit als Psychologe Herrn Knoll, Anton Schreiber und Sally Baumann kennen. Diese Klienten werden seinen beruflichen Neuanfang in eine Bahn lenken, die er sich in seinen kühnsten Träumen nicht hätte vorstellen können.

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Seitenzahl: 427

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Die Handlungen und Figuren dieses Romans sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorben-en Personen sind nicht beabsichtigt und wären rein zufällig.

M.h. gohnson

Der Seelendoktor

© 2017 M.K. Johnson

Umschlag: Stephan Hagel

Lektorat, Korrektorat: Stephan Hagel, Meike Hagel

Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44 22359 Hamburg

ISBN

Paperback

978-3-7439-0880-2

Hardcover

978-3-7439-0881-9

E-Book

978-3-7439-0882-6

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrecht-lich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt ins-besondere für die elektronische oder sonstige Verviel-fältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung

1.

Anton schreckte schweißgebadet aus einem Albtraum auf. Er sah auf die Uhr, es war gerade kurz vor Zwei. Was ist bloß los mit mir, was passiert mit mir, dachte er. Er drehte sich um zu Lisa, die seelenruhig neben ihm schlief. Seit mehreren Monaten plagten ihn immer wieder Angstträume.

Er sieht sich, wie er im Park eine Frau verfolgt. Sie merkt es und wird schneller. Auch er verschärft sein Tempo. Sie beginnt zu rennen. Er tut es ihr nach. Schließlich holt er sie ein und ergreift ihren Arm. Sie fängt an zu schreien und tritt nach ihm. Nun packt er sie kräftig an und druckt sie fest gegen sich. Er schaut in ihre verängstigen Augen und fühlt so eine Stärke in sich, dass er gar nicht weiß wohin mit seinem Glücksgefühl. Er setzt ihr sein Messer an den Hals und sie wimmert nur noch leise. Er sieht die Todesangst in ihrem Gesicht und spürt die Macht in sich. Er ganz alleine entscheidet, ob er sie leben lässt oder ihr die Kehle durchschneidet.

Doch bevor Anton sich entscheidet, wacht er jedes Mal auf. Er begreift das alles nicht. Sollte ihm seine Arbeit als Rechtsanwalt so zu schaffen machen? Er steht auf und marschiert ins Bad. Als er in den Spiegel schaut, denkt er: Was bist du bloß für ein Mensch geworden? Jeden Tag hast du mit Mördern, Schwerverbrechern und Pädophilen zu tun. Entwickelst du dich etwa zu einem von denen? Nein! Das kann nicht sein. Seit über fünfzehn Jahren ist er nun ein angesehener Strafverteidiger. Er ist ein liebevoller Ehemann. Er könnte niemals irgendjemandem etwas Böses antun. Doch trotz alledem, warum hatte er nur immer wieder diese Albträume?

Er spülte sich das schweißnasse Gesicht mit Wasser ab. Nachdem er es sich mit dem Handtuch trocken gewischt hatte, ging er in die Küche, um einen Schluck kalte Milch zu trinken. Just, als er sich ein Glas einschenkte, stand seine Frau Lisa in der Tür.

„Anton, was ist los?“, fragte sie besorgt.

„Oh Schatz! Habe ich dich etwa geweckt? Das tut mir leid. Das wollte ich nicht.“

„Ist schon gut“, erwiderte sie. „Aber was ist los, warum kannst du nicht schlafen?“.

Wie sollte er ihr das erklären. Er konnte sich ihr nicht anvertrauen. Was würde sie von ihm denken. Mit was für einem Monster war sie denn verheiratet. Nein, er wollte ihr das nicht offenbaren. Also log er sie an.

„Mich beschäftigt gerade ein schwieriger Fall.“

Sie ging zu ihm und nahm ihn in den Arm und sagte: „Es ist gar nicht gut, dass du die Arbeit mit nachhause nimmst, aber wenn du darüber reden möchtest, höre ich dir gerne zu.“

„Nein“, blockte er ab: „Du weißt, dass ich nichts über meine Arbeit erzählen darf. Ich unterliege der Schweigepflicht.“

„Ich weiß“, lächelte sie: „Doch, wenn es dich so bedrückt, könntest du dir das doch mal von der Seele reden. Es bekommt doch keiner mit, oder werden wir etwa abgehört?“.

Er lächelte zurück und beruhigte sie: „Ist schon gut Liebling. Ich komme klar.“

„Das ist wieder mal typisch Mann. Immer wollt ihr alle Probleme alleine lösen, bloß nicht helfen lassen.“

Er wusste, dass sie Recht hatte, aber er war noch nicht bereit mit ihr über die Albträume zu reden. Er löste sich aus ihrer Umarmung und sagte: „Komm, lass uns wieder ins Bett gehen.“

2.

„Guten Morgen, es ist Zeit aufzustehen“, dröhnte es aus dem Radio.

Anton hörte im Halbschlaf den Moderator, sah mit zusammen gekniffenen Augen auf die Uhr und dachte, er hat Recht. Doch er drückte die Stimme weg, drehte sich nochmal um, weil er sich einen Augenblick an Lisa kuscheln wollte. Nur leider war seine Frau nicht da. Erst jetzt vernahm er das Rauschen der Brause.

Er blieb noch eine Weile liegen, während zum zweiten Mal die Stimme aus dem Radio dröhnte: „Es wird heiter bis wolkig. Die Temperaturen steigen heute bis auf 18 Grad Celsius.“ Wieder schlug Anton auf die Schlummertaste. Tausend kleine Männchen schienen gegen seine Schädeldecke zu hämmern. Mühsam erhob er seinen schlaffen Körper. Er setzte sich auf die Bettkante, den Kopf in die Hände gelegt und verharrte so eine Weile.

Als er hörte, dass Lisa unter der Dusche heraus kam, schlich er langsam zum Bad. Er wollte gerade die Tür öffnen, als Lisa diese aufriss und in seine Arme stolperte. Sie erschrak, fing sich aber schnell und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. „Schönen guten Morgen“, begrüßte sie ihn und huschte an ihm vorbei.

Er brachte ihr nur ein müdes Lächeln hinterher.

Als er vor dem Spiegel stand schockierte ihn sein Anblick. Wer war der Kerl, der ihm da so krank entgegen schaute? Nicht nur, dass ihm immer noch der Kopf pochte, sah er auch dicke Ringe unter den Augen. Er hatte das Gefühl, in den letzten Monaten um Jahre gealtert zu sein. Er fuhr sich mit den Händen über den Kopf und entdeckte das erste graue Haar. Er riss es sich sogleich aus. Das darf doch nicht wahr sein, dass er mit fünfundvierzig Jahren schon graue Haare bekommen sollte. Er suchte noch nach Weiteren, fand aber keins mehr. Er war sehr eitel, was sein Aussehen anging.

Anton nahm sich aus dem Spiegelschrank ein Aspirin und spülte es mit Wasser herunter. Anschließend hüpfte er unter die Dusche, um sich all die schmutzigen Gedanken der vergangenen Nacht wegzuspülen. Er wusste, dass dies nur für kurze Dauer anhalten würde.

In der Zwischenzeit bereitete Lisa das Frühstück vor. Sie machte sich Sorgen um Anton. Denn auch sie hatte in den letzten Monaten eine Veränderung an ihm wahrgenommen. Sie schlug zwei Eier in die Pfanne und legte das Brot in den Toaster. Sie wusste, dass er gerne mal zum Frühstück Spiegeleier mit Toast aß. Sie war gerade fertig mit der Zubereitung, als Anton frisch rasiert und angezogen aus dem Bad kam.

Er gesellte sich zu ihr an den Tisch. Frisch aufgebrühter Kaffeeduft stieg ihm in die Nase. Lisa sah ihn freudestrahlend an. Sie wollte ihn ein wenig aufmuntern. Was ihr aber nicht so richtig gelingen wollte, wie sie in Antons Gesicht erkannte.

„Schatz“, sagte sie, „wenn ich ehrlich bin, denke ich, dass du mal Dr. Franklin aufsuchen solltest. Du siehst furchtbar aus.“

Er wusste, dass ihm weder Dr. Franklin noch irgendein anderer Arzt helfen konnte. „Mir fehlt nur ein wenig Schlaf“, versuchte er seine Frau zu beruhigen.

Sie gab sich geschlagen. Lisa fühlte, dass sie ihn nicht überzeugen konnte doch mal den Arzt aufzusuchen. Sie stellte ihm den Teller mit den Spiegeleiern und dem Toast vor die Nase und wünschte ihm einen guten Appetit.

Er bemerkte die Verärgerung in ihrer Stimme. Er wusste, dass sie es nur gut mit ihm meinte. Dass sie ihm Spiegeleier zum Frühstück gemacht hatte, zeigte ihm, wie besorgt sie um ihn war. Eigentlich hatte er gar keinen Appetit, doch er wollte ihr nicht noch mehr Anlass zur Sorge geben. Also würgte er sein Frühstück herunter.

Sie überspielte ihren Ärger und fragte ihn, ob er heute Abend zeitig nachhause kommen würde.

Anton überlegte kurz und antwortete: „Wenn nicht irgendein dringender neuer Fall dazwischen kommt, bin ich gegen sechs Uhr abends zurück. Warum?“.

„Ich hatte mir überlegt, ob wir heute Abend mal ins Kino gehen. Einfach mal raus und abschalten von allen Sorgen“, schlug sie vor.

Er überlegte wieder kurz. „Mal sehen“, erwiderte er. Er stand auf, ging ins Büro und packte noch einige Unterlagen in seinen Aktenkoffer.

Lisa folgte ihm. „Was ist bloß los mit dir?“, fragte sie. „Nichts Schatz. Wie ich schon erwähnte, ich bin nur ein wenig überarbeitet“, versuchte er sie nochmals zu beruhigen. „Ich muss jetzt los. Wir sehen uns heute Abend“, nahm sein Jackett vom Haken und legte es sich über den Unterarm. Er drehte sich zu ihr um und sagte: „Lisa ich weiß, dass ich sehr müde aussehe, aber glaube mir, es geht mir gut. Also mach dir bitte keine Sorgen. Ich liebe dich.“ Er gab ihr einen langen Abschiedskuss.

Als er sich von ihr löste, schaute sie ihn an. „Ich liebe dich auch, deshalb mache ich mir Sorgen.“

„Ich weiß“, lächelte er, und verließ das Haus.

3.

Lisa begleitete Anton zur Tür und sah ihm noch eine Weile hinterher. Sie winkte ihm zum Abschied, doch er achtete nicht mehr auf sie.

Mit gesenktem Kopf ging sie ins Haus zurück und schloss die Tür hinter sich. Was ist bloß los mit Anton?, schoss es ihr wieder in den Kopf. Wieso will er mir nicht verraten, was ihn bedrückt. Sie verstand es einfach nicht. Bisher waren sie immer offen miteinander umgegangen. Was es auch war, sie würde es schon herausbekommen.

Lisa schlich in die Küche und räumte die Frühstücksteller in den Geschirrspüler. Sie schaltete das Gerät ein und sah, dass sie heute sehr spät dran war.

Lisa ermahnte sich. Es wird Zeit in die Galerie zu fahren. Frauke macht sich bestimmt schon Sorgen.

Sie wusste, wie fürsorglich sie war. Sie kannten sich schon seit der Kindergartenzeit. Frauke war wie eine große Schwester für sie. Während Lisa so in der Vergangenheit schwelgte, läutete plötzlich das Telefon.

Lisa kam aus ihrem Tagtraum heraus und nahm den Hörer ab. Da sie glaubte Frauke würde dran sein, sprach sie gleich drauflos: „Ich bin schon auf dem Weg.“

Doch am anderen Ende meldete sich eine unbekannte Stimme: „Guten Tag. Spreche ich mit Elisabeth Schreiber?“

Lisa wirkte ein wenig verwirrt, weil es nicht Frauke war. Unsicher bestätigte sie mit, „Ja.“

„Gut Frau Schreiber. Sie hatten vor einiger Zeit bei einem Preisausschreiben mitgemacht. Ich wollte Ihnen mitteilen, dass sie eine der glücklichen Gewinnerinnen sind.“

Lisa begriff überhaupt nicht, was die Person von ihr wollte. Sie beteiligte sich grundsätzlich nie an irgendwelchen Gewinnspielen. Bevor die nette Dame weiter sprechen konnte, schnitt Lisa ihr das Wort ab. „Entschuldigen Sie, aber ich habe noch nie an einem Preisausschreiben teilgenommen.“

Doch die Frau blieb hartnäckig. „Aber Sie sind doch

Elisabeth Schreiber aus Wannesthal.“

„Nee“, erwiderte Lisa, „dort wohne ich nicht.“ Daraufhin hörte Lisa ein Klacken in der Leitung und das Gespräch war unterbrochen. Blöde Kuh, dachte Lisa und legte den Hörer wieder auf. Sie eilte in den Flur, nahm ihre Handtasche von der Kommode und eine Strickjacke vom Kleiderhaken und verließ das Haus.

Als Lisa sich der Galerie näherte, ging ihr, ich brauche jetzt schnell einen Parkplatz, durch den Kopf. Von Weitem sah sie, dass gerade ein anderes Auto aus einer Parklücke fuhr. Wie passend. Sie trat aufs Gaspedal, damit ihr keiner diesen Platz vor der Nase wegnehmen konnte. Was für ein Glück sie doch hatte. Sie stand jetzt genau vor der Galerie.

Gerade als sie den Zündschlüssel abzog, klingelte ihr Handy. Lisa sah, dass es Fraukes Nummer war, und drückte sie weg. Sie sprang aus dem Auto, verriegelte die Tür und ging in die Galerie.

Frauke sah sie fragend an. „Wo bleibst du denn?“, überfiel sie Lisa gleich. „Hast du mal auf die Uhr geschaut? Ich hatte dich schon ein paarmal angerufen, doch vergebens wie du weißt. Ist irgendetwas passiert?“, beendete sie endlich ihre Fragerei.

Lisa wusste, dass Frauke es nur gut mit ihr meinte, deshalb erwiderte sie: „Ich erzähle dir gleich alles, aber lass mich erst einmal ankommen.“

Frauke ging in die Küche, um für beide einen Tee auf zu brühen. Nachdem Lisa ihren Mantel abgelegt und ihre Tasche abgestellt hatte, folgte sie ihr.

„Dann schieß mal los. Warum bist du so spät dran?“, Frauke wollte endlich ihre Neugier gestillt haben.

Nun ergriff Lisa das Wort. „Ich mache mir schreckliche Sorgen um Anton. In den letzten Wochen hat er sich verändert. Er schläft sehr unruhig und wacht oft schweißgebadet auf. Anton glaubt, dass ich es nicht mitbekomme, weil ich mich immer schlafend stelle. Doch letzte Nacht bin ich dann auch mal aufgestanden. Ich wollte wissen was ihn bedrückt, aber du kennst ja Anton. Er hat mir beteuert, dass es nur mit einem neuen Fall zu tun hätte. Ich kenne Anton gut genug, um zu wissen, dass es irgendetwas anderes ist.“

„Du glaubst, dass er dich belügt?“, hakte Frauke nach. „Denkst du, er hat eine Affäre?“ Stocherte Frauke weiter.

„Nein, nein“, sagte Lisa erbost, „er hat mit Sicherheit keine Affäre. Er wird seine Gründe haben, warum er mir die Wahrheit verschweigt. Und eine andere Frau ist da mit Sicherheit nicht im Spiel. Dafür sieht er mir viel zu erschöpft aus.“

Frauke konnte sich ein verschmitztes Lächeln nicht verkneifen. Sie drehte sich von Lisa weg, um den Tee aufzugießen.

Lisa bemerkte den Gesichtsausdruck von Frauke, ignorierte ihn aber, da sie nicht zugeben wollte, dass sie auch schon an eine Affäre gedacht hatte. Lisa wischte diesen Gedanken schnell aus ihrem Kopf.

Frauke nahm die Teekanne, goss zwei Becher voll und reichte Lisa Einen. „Was glaubst du dann, was er dir verheimlicht?“, fragte Frauke.

„Ich habe keine Ahnung und ich komme auch einfach nicht an ihn ran“, sagte Lisa.

Die Frauen schwiegen sich eine Weile an.

Frauke nahm die Unterhaltung wieder auf. „Sag´ mal, habt ihr beiden am Wochenende schon etwas vor?“

„Nee“, antwortete Lisa, „wieso?“

„Was hältst du davon, wenn Tony und ich am Samstag zu einem Spieleabend vorbei kommen? Das haben wir schon lange nicht mehr gemacht. Außerdem verstehen sich die beiden Männer doch blendend. Vielleicht bekommt Tony etwas aus Anton heraus.“

Lisa überlegte kurz. Sie fand die Idee eigentlich ganz gut und willigte ein. „Dann seid am Samstag gegen sieben Uhr abends bei uns“, sagte Lisa.

„Ok“, erwiderte Frauke, „und wie immer bringen wir Pizza und Wein mit.“

„Nee, dieses Mal nicht. Ich denke, ich werde uns mal etwas Nettes kochen.“

Frauke glaubt sich verhört zu haben. „Du möchtest uns etwas kochen?“, fragte sie immer noch etwas ungläubig.

„Was?“, klang Lisa jetzt ein wenig gereizt.

„Denkst du etwa, dass ich es nicht hinbekomme?“

„Doch schon, nur es wäre das erste Mal, dass du für uns kochst“. „Außerdem dachte ich nicht, dass du kochen kannst.“

Lisa fühlte sich gekränkt. „Ich kann sehr wohl kochen“, sagte Lisa zornig. Sie wollte gerade den Raum verlassen, als Frauke „Stopp“ rief. Lisa hielt inne.

„Es tut mir leid, ich wollte dich nicht kränken“, sagte Frauke reumütig.

Lisa wandte sich Frauke wieder zu und sagte: „Ich weiß, dass du es nicht so meinst. Doch manchmal könntest du deine Meinung ehrlich für dich behalten.“

Frauke breitete ihre Arme aus und sagte: „Nun komm schon her und lass dich drücken.“

Lisa grinste und schloss Frauke in ihre Arme ein. Nachdem sie sich wieder lieb hatten, hörten sie, dass Kundschaft in den Verkaufsraum eintrat. Lisa verließ den Raum und begrüßte freundlich den Kunden.

4.

Dr. Smith betrat seine Praxis, als seine Sekretärin gerade den Hörer auflegte. „Guten Morgen Frau Boldt“, begrüßte er sie. „Ist Herr Knoll schon da?“, fragte er.

„Auch Ihnen einen schönen Guten Morgen“, erwiderte sie. „Herr Knoll hat sich gerade gemeldet, dass er sich um etwa fünfzehn Minuten verspätet.“

„Dann habe ich noch Zeit für einen Kaffee“, sagte er.

Frau Boldt sprang auf, ging in die Küche und holte ihrem Chef einen Kaffee.

Dr. Smith ging ins Besprechungszimmer, stellte seinen Aktenkoffer ab und ließ sich in seinen Sessel fallen. Frau Boldt brachte den Becher Kaffee. Als sie sich gerade umdrehen wollte um den Raum zu verlassen, fragte Dr. Smith, ob sich noch neue Patienten angemeldet hätten. Frau Boldt verneinte es.

„Kann ich Ihnen sonst noch etwas Gutes tun“, fragte sie.

„Nein, momentan bin ich wunschlos glücklich.“

Er wusste, dass er sich damit selbst belog. Denn als er vor einem halben Jahr seine alte Heimat verlassen musste, hatte er auch sein Glück zurückgelassen. Alles was er sich mühsam aufgebaut hatte, hatte seine Exfrau Selina zerstört. Er verstand es einfach nicht, warum ihn diese Schlampe betrogen hatte. Er war immer aufmerksam zu ihr gewesen, hatte ihr jeden Wunsch von ihren giftgrünen Augen abgelesen. Er hatte ihr mehr Freiraum gelassen, als sonst jeder andere Ehemann seiner Frau gegeben hätte. Trotz alledem warf sie ihm vor, dass ihm seine Patienten immer wichtiger waren als sie.

Als Selina ihm offenbarte, dass ihre Ehe am Ende sei, dass er selbst Schuld an der Situation wäre, dass er sie in die Arme eines anderen Mannes getrieben hätte, war er total ausgeflippt. Gerade er, der als Psychologe jeden Tag mit seinen Patienten über diese Art von Problemen redete – er hatte sich in diesem Moment nicht im Griff. Sie war so ein verlogenes Luder.

Was hatte er immer seinen Patienten in solchen Situation geraten. Lassen Sie ihre Wut raus. Gehen Sie vor die Tür oder in den Wald. Schreien Sie sich alle schmerzliche Enttäuschung raus. Falls Sie keinen Wald vor der Tür haben, gehen Sie in den Garten und hacken Holz oder lassen Sie ihre Wut an einem Sandsack aus.

Doch erst jetzt begriff er, wie schwer es für seine Patienten gewesen sein musste, dies umzusetzen.

Er hatte seine Wut herausgelassen. Aber er hatte weder Wald noch Holz, geschweige denn einen Sandsack in der Nähe. Er war so wütend gewesen. Wie sie vor ihm stand. Sie hatte nur ein herabwürdigendes, demütigendes Lächeln für ihn übrig. Da übermannte ihn die Wut.

Er ging auf sie los. Seine Fäuste landeten in ihrem Gesicht. Sie brach von der Wucht seiner Schläge zusammen und schrie, er solle aufhören. Was war sie nur für eine Hure. Er trat mit den Füssen auf sie ein. Er konnte gar nicht mehr aufhören ihr wehzutun. Denn schließlich war sie selbst schuld an seinem Wutausbruch. Er war wie von Sinnen.

Wahrscheinlich hätte er sie zu Tode geprügelt, wenn sein Nachbar nicht durch die Schreie von Selina aufmerksam geworden wäre.

Selina hatte seinen Wutausbruch mit drei gebrochen Rippen, einem Kieferbruch und etlichen blauen Flecken überstanden. Sie sah von einer Anzeige ab. Natürlich wollte sie sofort die Scheidung, was er ihr nicht verdenken konnte. Sie bekam das Haus und die Hälfte seines Vermögens. Er musste die Stadt verlassen und durfte nie wieder zurückkehren.

Hier saß er nun mit seinen fast fünfzig Jahren und startete einen Neuanfang. Seine alten Patienten waren sehr traurig, über die Tatsache, dass er seine Praxis aus gesundheitlichen Gründen auflösen musste. Wieder eine Lüge.

Dr. Smith wurde durch das Klopfen an der Tür aus seinen Gedanken gerissen. „Herein“, rief er.

Herr Knoll trat ein. „Guten Tag Dr. Smith“, begrüßte er ihn.

Dr. Smith bot ihm einen Platz an. „Möchten Sie etwas trinken? Kaffee, Tee, Wasser oder Saft?“.

„Ein Wasser wäre gut.“

Dr. Smith rief über die Gegensprechanlage Frau Boldt zu, dass sie Herrn Knoll bitte ein Glas Wasser bringen möge.

Augenblicke später kam Frau Boldt mit einem Glas und einer Flasche Wasser in den Raum und stellte es vor Herrn Knoll ab.

Als sie den Raum wieder verlassen hatte, fragte Dr. Smith: „Wie kann ich Ihnen heute helfen?“

5.

Sally stand gerade in der Küche und bereitete sich ihr Frühstück vor. Sie nahm ihr Frühstücksbrett, den Becher Kaffee und stellte alles ganz ordentlich auf dem Küchentisch ab. Sie ging zur Haustür, um die Tageszeitung hereinzuholen. Jeden Morgen die gleiche Prozedur. Sie ging in die Küche zurück. Ihr Kater Geronimo begrüßte sie mit einem „Miau.“

„Guten Morgen Geronimo, du Streuner.“ Sie nahm eine Schüssel aus dem Schrank und füllte das Futter hinein. Geronimo schlich Sally schnurrend um die Beine. Sie stellte den Napf auf seinem Tablett ab und der Kater machte sich gleich darüber her.

Sally setzte sich an den Tisch, nahm ein Schluck Kaffee aus ihrem Becher und schlug die Tageszeitung auf. Sie dachte gerade noch, mal sehen, wie ich heute den Tag überstehen werde.

Sie litt seit Jahren unter panischen Angstzuständen. Jeden Morgen kostete es sie Überwindung, überhaupt das Haus zu verlassen. Aber was sollte sie machen. Sie musste ja schließlich für ihren Lebensunterhalt sorgen.

Schon oft hatte sie darüber nachgedacht ihrem Leben ein Ende zu setzen. Denn die Erinnerung aus ihrer Kindheit war so traumatisch, dass sie manchmal keine Lust mehr auf das Leben verspürte.

Nur ihr Kater Geronimo hielt sie davon ab, denn er brauchte sie doch. Wer würde sich sonst um ihn kümmern. Schließlich hatte sie keine Freunde und zu ihren Eltern hatte sie vor Jahren schon den Kontakt abgebrochen.

Somit hatte sie die Selbstmordgedanken immer wieder von sich geschoben.

In ihren Träumen hatte sie sich oft ausgemalt, wie ihr Leben wohl aussehen würde, wenn sie eine bessere Ausbildung gehabt hätte und nicht Verkäuferin in einem Supermarkt geworden wäre, oder wenn sie einen Mann mit viel Geld kennengelernt hätte. Doch das war ihr alles nicht vergönnt gewesen.

Selbst in der Firma fand sie einfach keinen Anschluss. Das lag aber auch an ihr selbst, denn überall grenzte sie sich aus.

Schnell hatten die Kollegen sie als graue Maus abgestempelt. Mit ihrem Erscheinungsbild war es auch kein Wunder. Jeden Morgen schlich sie in den Umkleideraum mit dunkler Kleidung, hängenden Schultern, ängstlichem Gesicht und einem schüchternen „Hallo.“

Freddy, ein beliebter, lustiger Kollege, machte sich oft einen Spaß daraus und rief: „Da ist ja wieder unsere graue Maus.“ Er fand es witzig und alle Kollegen lachten dann immer.

Sie hätte ihm am liebsten den Hals umgedreht. Alle mochten Freddy. Nur sie hasste ihn, weil er immer so gemein zu ihr war.

Geronimo holte Sally mit einem „Miau“ aus ihren Gedanken heraus. Sie streichelte ihm über den Kopf und sagte. „Ach, mein kleiner Liebling die Hauptsache, wir haben uns lieb.“ Geronimo sprang Sally mit einem Satz auf den Schoss, um seine morgendlichen Streicheleinheiten abzuholen.

Sally blätterte dabei weiter die Tageszeitung durch, als sie plötzlich auf eine Anzeige von einem Dr. Smith aufmerksam wurde. Sie war wie gefesselt von dieser Werbung. Sie las es laut vor, so als ob Geronimo sie verstehen könnte.

Kommen Sie zu mir, wenn Sie von Albträumen, Angstzuständen, Verfolgungswahn oder Selbstmordgedanken geplagt werden und keinen Ausweg mehr sehen, mit ihren Problemen fertig zu werden. Machen Sie noch heute einen Termin.

„ICH KANN IHNEN HELFEN!“

Darunter stand noch eine Telefonnummer.

Sie war sich nicht sicher, ob der Dr. Smith ihr wirklich helfen könnte. Sie hatte schon so vieles ausprobiert und bis jetzt hatte ihr noch kein Arzt helfen können. Doch irgendwie faszinierte sie diese Anzeige. Sie wusste nur noch nicht, was es war.

„Was meinst du, Geronimo sollte ich diesen Doc mal anrufen?“ Da der Kater ein herzhaftes „Miau“ von sich gab, beschloss Sally, noch heute dort anzurufen. Ihr Blick fiel auf die Küchenuhr und sie fluchte leise. „Mist, es ist ja schon kurz vor halb acht.“

Sie riss noch schnell die Anzeige aus der Zeitung und schubste Geronimo von ihrem Schoss herunter. Sie eilte zur Tür, schnappte im Vorbeilaufen noch schnell ihre Jacke, die Handtasche und den Haustürschlüssel. Sie zog die Haustür auf, rief noch ein eiliges „bis später Geronimo“ und schlug die Tür hinter sich zu.

Sie hatte Glück, denn der Bus schien Verspätung zu haben. Somit erreichte sie ihn gerade noch rechtzeitig. Abgehetzt ließ sie sich auf einen freien Platz fallen. Eine ältere Dame, die neben ihr saß, lächelte sie freundlich an. Sally erwiderte das Lächeln.

Als der Busfahrer die Haltestelle „Königsallee“ ansagte, erhob sich Sally, lächelte die ältere Dame nochmals an und ging zur Tür. Beim Aussteigen wurde sie von einem jungen Mann angerempelt, der Sally auch noch zuraunte, ob sie Tomaten auf den Augen hätte und nicht aufpassen könne. Bevor Sally etwas erwidern konnte, waren die Türen schon zu und der Bus fuhr an. Ohne weiter darüber nachzudenken, schlenderte sie zum Supermarkt.

Als sie gerade den Umkleideraum betrat, kam Freddy ihr grollend entgegen. „Na, auch schon hier graue Maus, hast wohl noch mit dir gerungen, ob du heute zur Arbeit kommst, wie? Oder warum bist du so spät dran heute?“

Sie schaute Freddy schüchtern an und sagte nur leise, sodass Freddy sie gar nicht verstehen konnte: „Der Bus hatte Verspätung.“

Freddy ging an ihr vorbei, ohne sie weiter zu beachten. Sally dachte nur. Am liebsten würde ich dir Deine Arroganz aus dem Leib heraus schneiden und sie dann an die Haie verfüttern.

Sie ging zum Spind, legte ihre Handtasche ab, hängte ihre Jacke auf und zog sich ihren Kittel über. Anschließend ging sie ins Büro rauf, um ihre Kasse zu holen.

Freddy, der ihr schon wieder im Weg war, rief ihr entgegen: „Hast dich ja richtig toll raus geputzt mit deinem grauen Rock, grauer Bluse und grauen Stiefeln. Fehlen nur noch die grauen Haare. Dann ist unsere graue Maus perfekt gekleidet.“

Sam und Momo stimmten in das Lachen von Freddy mit ein.

Sally schnappte sich ihre Kasse und verließ schleunigst das Büro. Sie merkte, wie sich Wut in ihr ausbreitete. Dieser verdammte Widerling, dachte sie. Kann er mich nicht einfach mal in Ruhe lassen? Sie unterdrückte die Tränen, die ihr in die Augen schossen. Sie wollte dem Schwachkopf nicht noch mehr Anlass geben, sie weiter zu demütigen. Sie schaute auf die Uhr. Es war gerade mal neun Uhr. Wie sollte sie diesen Tag nur überstehen.

6.

Anton fuhr in die Tiefgarage und stellte sein Auto ab. Er hielt das Lenkrad noch fest und ließ seinen Kopf darauf sinken.

Er dachte an Lisa. Wie besorgt sie ihn angeschaut hatte. Er liebte sie so sehr. Er spürte seine Verzweiflung und wusste einfach nicht, wie er damit umgehen sollte. Auf der einen Seite würde er sich Lisa gerne anvertrauen, doch er wollte auch nicht seine Ehe aufs Spiel setzen. Wie würde Lisa darauf reagieren, dass er in seinen Albträumen Jagd auf Frauen machte. Am liebsten würde er seinem Leben ein Ende setzen, damit er endlich Ruhe fand. Doch womöglich hätte Lisa dann Schuldgefühle, dass sie ihm nicht hatte helfen können, weil er zu feige war ihr die Wahrheit zu sagen. Es war zum Verzweifeln. Er wusste nicht, wie lange er diesen Druck noch aushalten würde. Er ermahnte sich selbst: „Reiß dich jetzt zusammen.“ Er setzte sich auf und sah in den Rückspiegel seines Autos. Was er sah, war ein erschöpfter Mann, dessen Leben aus dem Ruder lief. Er holte tief Luft und stieg aus dem Auto.

Auf dem Weg zum Fahrstuhl versuchte er sich innerlich zu beruhigen und sich auf die bevorstehende Anhörung zu konzentrieren. Der Aufzug brachte ihn in die dritte Etage, wo sein Büro war. Er dachte an das große Panoramafenster und den schönen Ausblick auf den Stadtpark. Er liebte diese Aussicht, wenn im Winter der Schnee auf den Zweigen lag und der Sonnenuntergang die Bäume in Rot erleuchten ließ. Es sah einfach herrlich aus.

Als er aus den Fahrstuhl trat und den Flur zu seinem Büro entlang ging, erblicke er schon von weitem seine Sekretärin, Frau Holm. Sie wirkte irgendwie nervös. Er begrüßte sie mit einem freundlichen „Guten Morgen“, da fiel sie gleich über ihn her.

„Gut, dass Sie endlich da sind“, sagte sie. „Das Telefon steht heute Morgen überhaupt nicht still“, fuhr sie fort. „Frau Brandt hat schon dreimal angerufen. Sie möchten sofort zurückrufen, sobald Sie hier sind“, erzählte sie weiter, ohne Luft zu holen. „Frau Brandt hatte mit Nachdruck gesagt, es wäre äußerst wichtig.“

„Immer mit der Ruhe Frau Holm“, sagte Anton. So lieb Frau Holm auch war, aber mit Stresssituationen konnte sie nicht sehr gut umgehen. Sie wurde dann immer ganz hektisch. „Lassen Sie mich erst einmal ablegen“, sagte Anton.

Frau Holm beruhige sich langsam. Erst jetzt schaute sie zu ihrem Chef auf und erschrak bei seinem Anblick. „Sie sehen ja furchtbar aus“, platzte es aus ihr heraus. „Geht es Ihnen nicht gut?“, fragte sie besorgt. „Sie sehen so blass aus, als wenn Sie sich für eine Halloweenparty geschminkt hätten. Sie werden doch hoffentlich nicht krank?“, sagte Frau Holm.

Anton dachte nur, jetzt fängt die auch noch an, sich Sorgen zu machen. „Nein, ich habe nur schlecht geschlafen. Es geht mir gut“, beschwichtigte er sie. Anton ging in sein Büro und Frau Holm folgte ihm. Er stellte seinen Aktenkoffer auf dem Tisch ab und ließ sich in seinen Bürostuhl nieder. Frau Holm blieb mit einem Block in der Hand vor dem Schreibtisch stehen. Anton sah sie an und sagte: „Dann schießen Sie mal los. Wen soll ich denn alles zurückrufen?“

Frau Holm sah ihn immer noch mit einer gewissen Besorgnis an. „Ich habe wie immer alles notiert“, sagte sie. „Wie ich schon erwähnte, möchte Frau Brandt mit Ihnen dringendst sprechen.“

„Gut“, sagte Anton, „lassen Sie den Block einfach hier und ich arbeite ihn ab.“

Frau Holm wollte das Zimmer gerade verlassen, als Anton sie noch bat, ihm die Akte von Herrn Braun zu bringen. Sie ging zum Aktenschrank, zog die Akte von Herrn Lenny Braun heraus und reichte sie ihrem Chef. Er nahm sie dankend an und bat sie noch, alle weiteren Anrufer auf morgen zu vertrösten. Frau Holm verließ das Büro und schloss die Tür hinter sich.

Anton nahm die Thermoskanne, die Frau Holm ihm jeden Morgen bereitstellte und goss sich einen Kaffee ein. Der Kaffeeduft stieg ihm in die Nase. Er dachte an Lisa. Sie machte auch einen hervorragenden Kaffee, doch mit dem Kaffee von Frau Holm konnte der nicht mithalten. Das würde er ihr aber niemals erzählen. Er schmunzelte bei der Vorstellung, wie Lisa wohl darauf reagieren würde. Wenn sie sich über irgendetwas ärgerte, kamen immer ihre kleinen Grübchen zum Vorschein. Er musste dann immer lachen und oft stimmte sie in das Lachen mit ein und ihr Ärger war verflogen.

Er hing dem Gedanken noch einige Sekunden nach, als ihn ein Autohupen aus dem Tagtraum heraus riss. Er öffnete seinen Aktenkoffer, holte eine weitere Akte heraus, schloss den Koffer wieder und stellte ihn neben dem Schreibtisch ab. Anschließend fuhr er seinen Computer hoch, was mal wieder eine gefühlte Ewigkeit dauerte. Während er wartete, nahm er einen kräftigen Schluck Kaffee und schaute auf den Block.

Melanie Brandt, dachte er. Er kannte sie schon seit seiner Studienzeit. Sie hatten beide Jura studiert. Mann! Was war das für eine verrückte Zeit gewesen. Sie waren damals eine eingeschworene Clique gewesen und es wurde nicht nur gebüffelt. Der Spaß kam nie zu kurz. Melanie und er waren oft die Drahtzieher, wenn es um ausgefallene Späße ging. Keiner konnte Ihnen das Wasser reichen. Auf dem Campus nannte man sie die „feared rule breakers.“ Er wusste gar nicht mehr so genau, wie sie zu diesem Namen gekommen waren. Nur eins blieb ihm in Erinnerung. Selbst die Professoren waren verzweifelt, dass sie nicht herausfinden konnten, wer für so viel Chaos verantwortlich war. Tja, Melanie und er waren eben ein eingespieltes Team gewesen. Nach der Studienzeit hatten sich ihre Wege getrennt, da sie sich für Familienrecht und er sich für Strafrecht entschieden hatte. Erst als Melanie Alfons, ihren jetzigen Ehemann, kennengelernt hatte, hörte er wieder von ihr. Sie bat ihn, ihr Trauzeuge zu sein. Er stimmte zu und freute sich für sie, weil Alfons gut zu ihr passte.

Der Computer war nun hochgefahren. Er gab noch sein Passwort ein und öffnete seinen Terminkalender.

Er wandte sich dem Telefon zu und nahm den Hörer ab, um die Nummer von Melanie zu wählen. Es dauerte einen Augenblick, als die Sekretärin von Melanie sich meldete.

„Kanzlei Brandt“, krächzte es am anderen Ende. „Wie kann ich Ihnen helfen.“

Jedes Mal bereitete Anton diese Stimme eine Gänsehaut. Sie hörte sich an, wie aus einem Horrorfilm. „Anton Schreiber“, meldete er sich. „Ich würde gerne mit Frau Brandt sprechen.“

„Ach ja, Herr Schreiber“, erwiderte sie, „ich verbinde. Einen Augenblick bitte.“

Er wurde auf die Warteschleife gelegt und hörte irgendetwas Klassisches, was er keinem bekannten Komponisten zuordnen konnte.

„Hallo Anton“, meldete sich Melanie. „Schön, dass du zurückrufst.“

„Hallo Melanie“, erwiderte er. „Was gibt es denn so Dringendes.“

„Das möchte ich nicht am Telefon besprechen“, sagte sie. „Können wir uns gegen ein Uhr im Stadtcafé treffen?“

Er schaute auf seinen Terminkalender. „Ich habe um zwölf Uhr eine Anhörung und anschließend müsste ich noch ins Untersuchungsgefängnis“, sagte Anton.

„Könntest du den Termin beim Untersuchungsgefängnis verschieben? Ich würde dich nicht bitten, wenn es nicht äußerst wichtig wäre.“

Er hörte die Verzweiflung in ihrer Stimme und konnte ihr die Bitte nicht abschlagen. „Schon gut“, willigte er ein. „Ich kann meinen Mandanten auch später noch aufsuchen.“

„Du bist ein Schatz“, sagte Melanie.

Er spürte die Erleichterung in ihrer Stimme. „Ich weiß“, erwiderte er.

„Vielen Dank“, sagte Melanie. „Bis später“, verabschiedet sie sich und legte auf.

Anton nahm sich die Akte Lenny Braun vor, um sich auf die Anhörung vorzubereiten.

7.

Herrn Knoll fiel es nicht immer leicht, über persönliche Probleme zu sprechen. Es kostete ihn eine große Überwindung. Dr. Smith merkte ihm seine Nervosität an. Wie auch schon in den vorherigen Sitzungen spielte Herr Knoll mit seinen Fingern. Um die Stille zu brechen, ergriff Dr. Smith das Wort: „Wie ist es Ihnen denn nach der letzten Sitzung ergangen?“

„Eigentlich ganz gut“, sagte Herr Knoll.

„Haben Sie etwas von dem umgesetzt, was wir besprochen hatten?“, fragte Dr. Smith.

„Ja, ja“, antwortete Herr Knoll wieder nur knapp.

„Gut!“, lobte ihn Dr. Smith. „Können Sie mir auch genauer erläutern, was Sie umgesetzt haben?“, bohrte Dr. Smith nach.

Nun kam Herr Knoll ins Stocken. „Ich habe mich entschlossen meinem Büroabteilungsleiter mehr Verantwortung zu übertragen.“

„Das ist sehr gut“, lobte Dr. Smith ihn wieder. Er notierte sich den Fortschritt auf seinem Block.

Herr Knoll wurde langsam ruhiger und legte seine Hände entspannt in seinen Schoß. „Ich habe auch mit meinen Vorarbeitern gesprochen, dass ich nicht mehr jeden Tag auf den Baustellen erscheinen werde, sondern nur noch einmal die Woche. Doch falls es Schwierigkeiten geben sollte, müssen sie mich sofort kontaktieren“, erzählte Herr Knoll weiter.

„Wie haben Sie sich danach gefühlt?“, wollte Dr. Smith wissen.

„Es war komisch. Ich hatte das Gefühl, als ob mir etwas Wichtiges weggenommen wird, dass ich die Kontrolle über meine Baufirma verlieren würde“.

„Das ist verständlich“. „Sie dürfen nicht vergessen, Sie hatten über Jahre versucht, alle Arbeiten selbst zu erledigen. Obwohl Sie Angestellte dafür haben, wollten Sie alles unter Kontrolle behalten. Nun verteilen Sie die Arbeiten, was für Sie zu einer Entlastung führt. Außerdem ist es eine neue Erfahrung für Sie, sich nicht mehr alleine um alles kümmern zu müssen. Sie sollten auch nicht außer Acht lassen, dass Sie ihren Angestellten Vertrauen entgegenbringen, was diese vorher noch nicht kannten. Das wiederum stärkt auch das Selbstvertrauen ihrer Mitarbeiter.“

So hatte Herr Knoll das noch gar nicht betrachtet. Die Erkenntnis verlieh ihm ein gutes Gefühl.

„Wie ist es mit ihren Schlafstörungen?“, fragte Dr. Smith weiter, um das Gespräch nicht abreißen zu lassen.

„Ich habe in den letzten Nächten, dank ihrer Wunderpillen, endlich mal wieder durchgeschlafen.“, berichtete Herr Knoll.

Dr. Smith machte einen weiteren Vermerk auf seinen Block. „Gut“, erwiderte Dr. Smith. „Hatten Sie noch Albträume in den letzten Wochen?“, fragte Dr. Smith.

Auch hier kam nur ein knappes, „Ja“ von Herrn Knoll.

„Möchten Sie mir davon erzählen?“.

Plötzlich wurde Herr Knoll wieder ein wenig nervös und seine Beine fingen an zu zappeln. Er griff nach seinem Wasserglas und stürzte es in einem Zug runter. Er stellte das leere Glas wieder vor sich ab.

Dr. Smith schenkte ihm, ohne zu fragen, Wasser nach.

Herr Knoll verfolgte jede seiner Bewegungen und beruhigte sich langsam wieder. Ihm war es, unangenehm über seine Träume zu sprechen. Doch ihm war klar, dass er Dr. Smith davon erzählen musste, damit er ihm helfen konnte.

Dr. Smith spürte, dass es ihm peinlich war darüber zu sprechen. Was immer es auch war. Also ergriff er abermals das Wort und fragte: „Hatte der Traum etwas mit ihrer Vergangenheit zu tun?“

Als wenn der Doktor Gedanken lesen könnte. Herrn Knoll fiel es plötzlich leichter zu antworten, weil das Thema ja jetzt schon fast auf dem Tisch lag.

„Ja! In diesem Traum ging es um meine Frau und mich. Ich habe große Angst sie zu verlieren. Sie müssen wissen, ich bin nun nicht gerade der Typ Mann, der einen Schönheitswettbewerb gewinnt. Sehen Sie mich an. Klein, dick und kaum noch Haare auf dem Kopf. Bei meiner Frau Cindy ist es eher das genaue Gegenteil.“ Er zog sein Portemonnaie aus seiner Gesäßtasche und zeigte ihm ein Bild von Cindy.

Dr. Smith betrachtete das Bild und dachte sofort wieder an Selina. Die Frau hatte viel Ähnlichkeit mit ihr. Die prachtvollen roten Haare, die grünen Augen und das strahlende Lachen. Er konnte Herrn Knoll sehr gut verstehen. Dr. Smith reichte Herrn Knoll das Bild zurück. „Wie haben sie beide sich kennengelernt?“, wollte Dr. Smith wissen.

„Es war auf einer dieser Ausstellungsmessen für Baumaschinen. Ich hatte gerade mit einem anderen Besucher ein fachbezogenes Thema diskutiert, als meine Augen nach rechts wanderten und ich Cindy zum ersten Mal erblickte. Ich konnte meinen Blick nicht mehr von ihr abwenden. Plötzlich trafen sich unsere Blicke, ich versuchte ihrem auszuweichen. Doch es gelang mir nicht. Sie sah einfach hinreißend aus. Ihr langes rotes Kleid brachte ihre ebenfalls roten, glänzenden Haare noch mehr zu Geltung. Sie schenkte mir ein Lächeln, das ich erwiderte. Der Mann neben mir bemerkte wohl, dass ich ihm nicht mehr zuhörte, und verschwand beleidigt. Ich war wie in Trance. Alles um mich herum war ausgeblendet. Eine Frau, die mit einem Teller O`deuvre herum ging, holte mich in die Wirklichkeit zurück, da sie mir die Sicht versperrte. Verärgert schob ich sie beiseite. Als die Sicht wieder frei war, hatte ich Cindy aus den Augen verloren. Na ja, dachte ich, sie ist wohl auch nicht deine Kragenweite.“

„Und wie ging es mit Ihnen weiter?“, hinterfragte Dr. Smith. Dabei machte er fleißig weiter Notizen auf seinem Block.

„Ich hatte sie schon fast wieder aus meinem Gedächtnis gestrichen, als mich von hinten eine freundliche Stimme ansprach, ob ich vielleicht ein Glas Wein möchte. Ich wollte schon ablehnen und drehte mich um. Da stand sie vor mir, hielt mir das Glas, mit dem schönsten Lächeln, was ich je erblickt hatte, entgegen und sagte: „Ich heiße Cindy.“ Ich bekam fast keinen Ton heraus. Sie nahm mir die Luft zum Atmen.“

Dr. Smith konnte sich in die Situation gut hineinversetzen. Er kannte das Gefühl, welches sein Patient beschrieb nur zu gut. Er dachte wieder an Selina. In seinem Magen breitete sich ein Unwohlsein aus. Was für ein Miststück sie doch war. Herr Knoll unterbrach seine Gedanken:

„Cindy bemerkte meine Unsicherheit. Sie hakte sich bei mir ein und führte mich in den Garten hinaus. Als ich endlich meine Fassung wieder erlangt hatte, stellte ich mich bei ihr vor. Wir redeten den ganzen Abend, über alles Mögliche. Es war so einfach auf einmal. Ich wagte es nicht, dieses Gespräch zu beenden. Doch irgendwann schaute sie auf die Uhr, erhob sich von der Hollywoodschaukel, auf der wir die ganze Zeit gesessen hatten und sagte, dass sie jetzt gehen müsste. Ich war sehr traurig, traute mich aber nicht, sie nach ihrer Nummer zu fragen. Doch das brauchte ich auch gar nicht, denn sie gab mir freiwillig ihre Visitenkarte. Ich schaute zu ihr auf und dankte ihr für den netten Abend. Sie lächelte mich wieder an und bedankte sich ebenfalls. Sie gab mir einen flüchtigen Abschiedskuss auf die Wange und flüsterte mir ins Ohr: „Ruf mich an.“ In dem Moment war ich der glücklichste Mann auf dieser Welt.“

„Wie ich sehe, hat es sich für Sie gelohnt“, sagte Dr. Smith.

„Ja, das schon“, erwiderte Herr Knoll. „Doch wie so oft im Leben, kamen dann die ersten Probleme auf mich zu. Zuerst lief alles perfekt mit Cindy und der Firma. Meine Bekannten bewunderten mich, was für eine heiße Braut ich da aufgerissen hatte. Aber je länger das Glück mit Cindy und mir anhielt, desto mehr spitzfindige Bemerkungen wurden gemacht. Gerade von den Freunden und der Verwandtschaft wird einem das Glück nicht gegönnt. Ich gab zu Anfang nichts auf diese Äußerungen. Doch als es ernster wurde und wir unsere Hochzeit bekannt gaben, wurden die Kommentare nur noch schlimmer. Cindy wäre doch nur scharf auf mein Geld. Schau doch mal in den Spiegel. Glaubst du ernsthaft, dass eine Frau wie Cindy dich wirklich lieben könnte?“

„Hatten Sie mit Ihrer Frau über diese Bemerkung mal gesprochen?“

„Nein! Auf gar keinen Fall. Ich habe Angst davor, dass meine Freunde Recht haben könnten.“

„Und die Albträume, die Sie haben, handeln von ihrer Frau, wie sie Sie verlässt?“

„Nicht ganz“, sagte Herr Knoll. „Es geht darum, dass meine Frau sich in ein Biest verwandelt und mich mit Haut und Haaren verschlingt.“ Auch das notierte sich Dr. Smith. „Was soll ich bloß machen, damit ich diese Ängste loswerde?“, fragte Herr Knoll.

„Wann haben Sie das letzte Mal mit ihrer Frau ein romantisches Wochenende verbracht?“, fragte Dr. Smith.

Herr Knoll überlegte. „Wenn ich es recht bedenke, waren unsere Flitterwochen vor fünf Jahren die letzte Ausfahrt. Da ich selbstständig bin, hatte ich nie viel Zeit für Urlaub“, rechtfertigte sich Herr Knoll.

„Das verstehe ich“, sagte Dr. Smith. „Doch jetzt haben Sie einige Veränderung in ihrer Firma vorgenommen. Glauben Sie nicht, dass es auch Zeit wäre für eine Veränderung in Ihrem Privatleben?“, ermunterte Dr. Smith ihn.

„Ich denke schon“, erwiderte Herr Knoll.

„Und wenn Sie dann mit ihrer Frau alleine sind, sollten Sie sie mal fragen, warum sie sich für Sie entschieden hat“, setzte Dr. Smith noch nach.

„Meinen Sie im Ernst, dass ich das meine Frau fragen sollte?“, erwiderte Herr Knoll.

„Ich denke schon“, ermutigte ihn Dr. Smith. „Sie sollten ihr von ihren Ängsten erzählen und von dem Albtraum. Eine Partnerschaft funktioniert nur tadellos, wenn man seinem Partner gegenüber offen ist.“

Herr Knoll dachte über das alles noch einmal gründlich nach. Er machte sich auf den Heimweg. Er beschloss, den Rat von Dr. Smith zu befolgen.

8.

Der Vormittag verging schneller, als Sally erwartet hatte. Als sie endlich Pause hatte, holte sie aus ihrem Spind die Anzeige von dem Dr. Smith hervor. Sie war ein wenig unschlüssig, ob sie dort wirklich anrufen sollte. Doch als sie Freddy sah, wie er sich schon wieder über die Kunden lustig machte, stand ihr Entschluss fest. Sie brauchte unbedingt Hilfe, um sich endlich einmal gegen solche Typen wie Freddy wehren zu können.

Also ging sie auf die Treppe in den Hinterhof, um ungestört telefonieren zu können. Sie wählte die Nummer auf ihrem Handy. Nach dem zweiten Klingeln meldete sich eine freundliche Stimme.

„Praxis von Dr. Smith, Sie sprechen mit Frau Boldt. Wie kann ich Ihnen helfen?“

Sallys Herz pochte. Sie war ein wenig verwirrt und legte vor Schreck wieder auf. Mit so einer freundlichen Begrüßung hatte sie nicht gerechnet. Andererseits, wie hätte die Begrüßung denn anders ausfallen sollen? Sie ärgerte sich, dass sie nicht die Entschlossenheit aufgebracht hatte etwas zu sagen. Es kostete sie immer wieder Überwindung, irgendwo anzurufen. Sie ging nochmal in sich, nahm ihren ganzen Mut zusammen und wählte erneut die Nummer. Wieder hörte sie die freundliche Stimme von Frau Boldt, die ihren Begrüßungstext wiederholte. Sally flüsterte in den Hörer: „Sally Baumann.“ Sie kam ein wenig ins Stottern. „Ich…, ich hätte gerne einen Termin bei, äh, Dr. Smith.“

Frau Boldt bemerkte ihre Unsicherheit. Aber sie kannte es schon von anderen Patienten, dass der erste Anruf immer der schwierigste war. Da Frau Boldt aber den Namen nicht richtig verstanden hatte, fragte sie nochmal nach. „Entschuldigung, wie war ihr Name, ich habe den eben nicht richtig verstanden.“

Sally wurde langsam etwas sicherer in der Stimme. „Mein Name ist Sally Baumann.“

„Gut Frau Baumann. Sie möchten einen Termin?“

„Ja, möchte ich“.

„Wann passt es Ihnen denn?“.

Sally überlegte einen kurzen Augenblick und sagte dann: „Am Donnerstag habe ich den ganzen Tag frei.“

Frau Boldt schaute kurz auf den Terminkalender. „Also diesen Donnerstag ist schon alles belegt, aber nächste Woche um zwölf Uhr hätte ich noch einen Termin für Sie frei“.

„Gut, den nehme ich“, sagte Sally.

Frau Boldt trug den Termin im Computer ein, bedankte sich für Sallys Anruf und verabschiedete sich mit einem freundlichen, „Tschüss, bis nächsten Donnerstag.“

Sally verabschiedete sich ebenfalls und legte auf. Sie schaute zur Uhr und bemerkte, dass ihre Pause fast um war. Mit ein klein wenig Zuversicht ging sie zurück an ihren Arbeitsplatz.

9.

Anton machte sich auf den Weg zum Gericht. Da sein Büro nur zehn Minuten vom Gerichtsgebäude entfernt lag, freute er sich auf diesen kleinen Spaziergang in der Mittagssonne. Als er auf die Straße trat, drückte ihm ein junger Mann einen Flyer in die Hand, den er eigentlich gleich in die nächste Müllbox schmeißen wollte.

Er hielt inne als ihm das Wort „Albträume“ entgegen sprang. Also knickte er diesen Flyer und steckte ihn sich in die Jackentasche.

Im Gericht angekommen, traf er Staatsanwalt Ruben auf dem Flur. Sie begrüßten sich mit einem Handschlag.

Auf dem Weg zum Anhörungszimmer tauschten sie noch einige Höflichkeitsfloskeln aus. Anton wusste, dass Staatsanwalt Ruben ein ernst zu nehmender Gegner war. In seiner zehnjährigen Amtszeit als Staatsanwalt hatte er eine beeindruckende Bilanz vorzuweisen. Nur drei Fälle hatte er in dieser Zeit verloren. Aber auch Staatsanwalt Ruben war sich bewusst, wie gut Anton war. Denn schließlich war er es gewesen, der ihm die erste Niederlage abgerungen hatte.

Als sie gemeinsam den Raum betraten, war gerade die vorherige Anhörung zu Ende. Richter Silver hatte heute den Vorsitz, worüber Anton sehr erleichtert war. Er war ein sehr fähiger und gerechter Haftrichter.

Richter Silver erhob seine Stimme: „Der nächste Fall, den wir verhandeln, ist der Fall Lenny Braun, Aktenzeichen 4 Js 256/2013.“

Anton und Staatsanwalt Ruben nahmen vor dem Richterpult ihre Plätze ein. Anton wusste, dass es heute nicht um Sieg oder Niederlage ging, sondern nur um die Haftanordnung und die mögliche Aussetzung gegen eine Kaution. Denn dass sein Mandant schuldig war, stand außer Frage. Anton würde auf Unzurechnungsfähigkeit plädieren, was eine Sicherungsverwahrung in einer Psychiatrie bedeuten würde.

Staatsanwalt Ruben würde auf Totschlag plädieren, was eine Freiheitsstrafe von bis zu fünfzehn Jahren bedeuten würde. Aber auch das war heute bei der Anhörung alles noch nicht relevant. Heute ging es erst einmal darum, ob Lenny Braun in Untersuchungshaft bleiben musste oder nicht.

Richter Silver hörte sich in aller Ruhe die Fakten der beiden Kontrahenten an und setzte eine Kaution von zehntausend Euro fest. Damit war für Richter Silver diese Anhörung beendet.

Staatsanwalt Ruben und Anton verließen gemeinsam den Verhandlungsraum.

Anton wusste, dass Lenny Braun sich diese Kaution nicht leisten konnte. Somit stand fest, dass sein Mandant bis zur Verhandlung in Haft bleiben würde.

Als Anton vor dem Gerichtsgebäude stand, nahm er sein Handy aus der Jackentasche und rief Melanie an. Als sie sich meldete, sagte Anton: „Hallo Melanie, ich bin´s, Anton. Ich bin jetzt auf dem Weg ins Stadtcafé.“

„Gut, ich bin auch fast da. Bis gleich“, sagte Melanie und legte wieder auf.

Anton wunderte sich darüber, wie hastig sie geklungen hatte. Er war jetzt richtig neugierig geworden, was sie so Wichtiges mit ihm zu besprechen hatte.

Als Anton im Stadtcafé ankam, saß Melanie schon an einem Tisch. Er ging auf sie zu und begrüßte sie mit einem flüchtigen Kuss auf die Wange.

„Schön, dass du es einrichten konntest“, sagte Melanie. Anton setzte sich ihr gegenüber.

„Na klar“, erwiderte Anton. „Du weißt doch, dass ich dir keinen Gefallen abschlagen kann.“

„Ich habe dir schon einen doppelten Espresso bestellt. Ich hoffe, das geht in Ordnung?“

„Klar“, sagte Anton. Melanie sah, dass Anton sehr müde und erschöpft wirkte.

„Geht es dir gut?“, erkundigte sie sich, „Du siehst müde aus“, sagte Melanie weiter.

„Na ja“, erwiderte Anton: „Es wäre gelogen, wenn ich sagen würde, dass es mir gut ginge. Doch unser Beruf ist nun mal stressig.“

Melanie nickte und stimmte Anton zu.

„Aber wir wollen jetzt nicht über mein Wohlbefinden sprechen. Was ist passiert, dass du mich unbedingt sprechen willst? Geht es um Alfons?“, fragte Anton weiter.

„Nein, nein! Mit Alfons und mir ist alles bestens. Es geht um meinen Neffen André.“

„Was ist mit ihm?“, fragte Anton.

„Er wurde gestern wegen Drogenbesitzes verhaftet. Ich hatte gestern noch mit ihm gesprochen und er hat mir erzählt, dass ihm sein Freund das angelastet hätte.“

„Und du glaubst ihm?“, hakte Anton nach.

„Ja klar“, erwiderte Melanie. „Du musst wissen, André ist ein ganz lieber Kerl. Er hat gerade sein Abitur beendet und wird im Sommer mit seinem Medizinstudium beginnen. Wie passt das zusammen. Medizinstudium und Drogen?“, sagte Melanie. Anton lächelte ein wenig verschmitzt.

„Ich glaube, du hast wohl unsere Studienzeit vergessen“, sagte er.

Sie sah ihn an und meinte nur: „Das ist doch etwas ganz anderes in unserer Zeit gewesen. Außerdem ist André ein wohl erzogener junger Mann.“

„Gut“, sagte Anton. „Was ist mit seinem Freund. Gibt es einen Namen?“

„Tja! Das ist ja das Problem. Er will den Namen nicht preisgeben. Deshalb wollte ich dich bitten, mal mit ihm zu sprechen. Zum anderen würde ich mich freuen, wenn du ihn vertreten könntest.“

Anton willigte ein, sich mit ihrem Neffen zu unterhalten. Doch ob er den Fall auch übernehmen würde, ließ er noch offen. Er hatte momentan schon genug Fälle.

Melanie war Anton trotzdem dankbar dafür, dass er wenigstens mit André reden würde. Sie hoffte, dass er ihn überzeugen konnte den Namen seines Freundes preiszugeben.

Nachdem Anton genug Informationen über den Neffen gehört hatte, trank er seinen Espresso aus und winkte den Kellner heran. Der Kellner trat sogleich an ihren Tisch und Anton bat um die Rechnung.

„Anton“, sagte Melanie, „ich übernehme die Rechnung.

„Ok“, sagte Anton und lächelte Melanie an, „Ich will mich da gar nicht vordrängeln.“

Sie lächelte zurück und sagte: „Ich danke dir, dass du dir die Zeit nimmst, mit meinen Neffen zu sprechen.“

„Dafür sind doch Freunde da oder etwa nicht?“, antwortete Anton. Sie nickte.

Der Kellner kam zurück an den Tisch, um Anton die Rechnung zu überreichen. Doch Melanie nahm dem Kellner die Rechnung aus der Hand und bezahlte.

Anton erhob sich vom Tisch, um das Café zu verlassen.

Melanie folgte ihm. Sie verabschieden sich mit einer festen Umarmung.

„Ich werde mich bei dir melden, sobald ich mit deinem Neffen gesprochen habe“, sagte Anton. „Und schöne Grüße an Alfons.“

„Ja, richte ich ihm aus“, sagte Melanie. „Und auch schöne Grüße an Lisa. Außerdem wird es mal Zeit, dass wir wieder etwas Gemeinsames unternehmen. Das haben wir schon lange nicht mehr gemacht.“

„Da hast du Recht“, erwiderte Anton. „Ich werde mit Lisa mal schauen, wann wir Zeit haben.“

„Ok“, sagte Melanie, „aber lass nicht wieder so viel Zeit verstreichen wie beim letzten Mal.“

Anton lächelte und versprach ihr in naher Zukunft ein Treffen zu arrangieren.

10.

Anton schlenderte langsam die Fußgängerzone runter und genoss die frische Luft. Nur selten hatte er Gelegenheit dazu, weil er die meiste Zeit in irgendwelchen Sitzungsräumen, Gerichtssälen oder Untersuchungszimmern verbrachte. Als er an einem Schaufenster mit Schmuckauslage vorbei kam, blieb er abrupt stehen. Ihm fielen ein paar Ohrringe ins Auge, die mit einem kleinen Teddybär verziert waren. Er musste sofort an Lisa denken. Sie liebte Teddybären. Ihn schoss ihr besorgter Ausdruck von heute Morgen ins Gedächtnis. Die Ohrringe würden ihr bestimmt gefallen. Aber, wenn er ihr ohne einen besonderen Anlass solch ein Geschenk machen würde, wäre sie nur noch misstrauischer. Mit Sicherheit würde sie ihn noch mehr löchern und sein Geheimnis ergründen wollen. Doch irgendwie hatte er das Gefühl ihr diese Ohrringe kaufen zu müssen. Also zögerte er nicht mehr und kaufte sie.

Zufrieden verließ er den Juwelier und machte sich auf den Weg zum Untersuchungsgefängnis. Als er das Gebäude betrat, saß am Empfang nicht wie gewohnt der alte Bill, sondern ein neuer Wachmann.