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Eine alte Frau hat sich nach einem entbehrungsreichen Leben im Grasland zwischen Pavianen und Elefanten ins Innere eines Affenbrotbaums zurückgezogen, verbirgt sich. Von den Graslandbewohnern wird sie als göttliches Wesen verehrt und gefürchtet. In spiralförmigen Kreisen beginnt sie ihre Geschichte zu erzählen: Wie sie so früh als Sklavin verkauft wurde, dass sie später ihre Muttersprache vergaß. Wie sie von manchen ihrer Besitzer Grausamkeit erfuhr, zu einem anderen, ihrem "Wohltäter", dagegen eine besondere Nähe aufbaute. Und wie ihr zwei Mal ein Kind weggenommen wurde. Sie berichtet auch von ihren Reisen, besonders von einer langen Expedition von Küste zu Küste mit einem Besitzer, den sie den "Fremden" nennt. Wilma Stockenström, eine satirische, ebenso dickköpfige wie anteilnehmende Schriftstellerin, hat dieses außergewöhnliche Werk 1981 veröffentlicht.
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Seitenzahl: 187
Veröffentlichungsjahr: 2020
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Dieses Buch wurde unter dem Titel The Expedition to the Baobab tree 1983 in der Übersetzung von J. M. Coetzee erstmalig bei Faber & Faber, London, veröffentlicht und 2019 neu herausgegeben. Die Originalausgabe Die Kremetartekspedisie (1981) erschien zuletzt 2008 bei Human & Rousseau, einem Imprint von NB Publishers, in Kapstadt.
E-Book-Ausgabe 2020
© 1981 by W. Kirsipuu
© 2020 für die deutsche Ausgabe: Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin
© für das Nachwort: The André P. Brink Literary TrustAbdruck mit freundlicher Genehmigung der Liepman AG, Literary Agency
Covergestaltung: Julie August
Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.
Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.
ISBN: 9783803142740
Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 3322 9
www.wagenbach.de
Also mit Bitterkeit. Aber die habe ich mir verboten. Dann eben mit Spott, der umgänglicher ist, der sich durchschaubar macht und dem es gleichgültig ist; und wie ein Vogel ins Nest kann ich in meinen Baumstamm zurückschlüpfen und in mich hineinlachen. Und ebenso gut still sein, vielleicht einfach still sein, um mich hinauszuträumen, denn der siebte Sinn ist der Schlaf.
Früher war die Zeit oft ein Problem, als ich immer noch mehr wollte als Tag und Nacht. Als ich vom Zählen besessen und unsicher war, ob die Zeiten meines Dösens bei Tag zur Nacht zu zählen wären. Als die Nacht das Ereignislose und der Tag das Prallvolle war. Schlaf zur Nacht zu zählen. Wie ich meine Nächte manchmal hinauszögerte, mich in das tiefste Dunkel der Höhle zu dem kleinstmöglichen Bündel zusammenkrümmte, die Stirn gegen die Knie gepresst, um das Nagen in mir abzutöten. In wirre Gedanken verstrickt und endlich auf eine Farbe fixiert, an der ich mich festhielt, um später sagen zu können, mein Schlaf war blau oder lebendig rot wie Blut oder ein Übergangston, ein Grau. Ich erwachte zerschlagen, richtete mich benommen auf, schwankte und setzte einen staubigen Fuß unter die mächtige Assagai-Klinge des Sonnenlichts, die sich den Tag lang mit unausgesetzt mörderischem Druck in mein Dasein bohrt.
Das war die Zeit vor den Perlen. Mit der Zeit nach den Perlen ist leichter umzugehen. Wenn ich mir jetzt so häufig Schlaf gönne, ist es kein Zufall und schon lange keine Ausflucht mehr. Nur dann lebe ich, sage ich mir.
Die Perlen brachten mich zu dem Entschluss, mich um eine Zeiteinteilung zu bemühen. Ich las sie vor einigen Tagen auf und kam erst später auf die Idee. Ich legte den neuen Fund zu dem Haufen Tonscherben, die ich aus Neugier auf meinen unterschiedlich langen Ausflügen von dem Baum aus gesammelt hatte, auf zögernden, gelangweilten, unbefriedigenden Ausflügen weg von dem Pfad zum Wasser, den ich mir inzwischen fast sichtbar ausgetreten hatte.
Wie die wilden Tiere bahne ich mir meine Pfade. Diese Erkenntnis kam später. Wie die Schopfantilope. Nein, nicht wie die Schopfantilope oder das Zebra, nicht wie der Büffel oder andere Herdentiere, die sich mit ihren Sinnen ergänzen, Gefahren gemeinsam trotzen und überleben, wozu sie allein zu schwach wären, und die dennoch als Einzelwesen zur Beute werden und die dennoch allein sterben, jedes zu seiner Zeit. Ich trete meine eigene Fährte aus, so deutlich zweckgeprägt, dass ich weiß, ich habe schon lange in dieser Gegend verweilt, oder vielmehr ist es nie eine Frage des Verweilens gewesen. Eher sollte ich sagen: Auch ich überlebe hier, aber ich auf mich allein gestellt. Und selbst an Tagen, wenn es sich anfühlt, als lägen überall unter der Erde Schlangeneier, selbst dann muss ich mich allein durchschlagen und zusehen, dass ich nicht auf sie trete.
Mein Pfad zum Fluss, von meinem so leichten Tritt geformt, wie er sich schmal, in leichten Windungen um Busch und Baumstamm und durch Ebenen mit flachen Gräsern schlängelt, wo rot der erste Winter liegt – mein Pfad läuft plötzlich einen letzten Abhang hinunter auf sonnenglitzerndes Wasser zu, so breit wie meine ausgestreckten Arme zwischen den beiden jungen Matumibäumen, die meine Trinkstätte bewachen. Weiter stromabwärts wasche ich mich. Stromaufwärts, wo der Bach in den Fluss mündet, ist die Elefantenfurt.
Damals, als ich fast unter die Füße der Herde geriet, dachte ich gerade an ein Rätsel, das wir jungen Mädchen uns immer stellten: Was trägt sein Leben mit sich im Bauch herum? Vermutlich waren es all die rumpelnden Bäuche, die mich einen Moment lang in ängstliches Kichern versetzten und mir dann in meinem ärmlichen Versteck, nur durch einen Steinwall und Schilfgräser von ihnen getrennt, die Kehle zuschnürten. Die Horde von Füßen trottete federnd an mir vorbei in die Wasserlache, das Wasser spritzte, und sie badeten in aller Ruhe. Ich sank in mich zusammen. Kein Mensch wächst unter so strenger Hut auf wie ein Sklavenmädchen. Ich kann auch hinzufügen, niemand wächst so unwissend auf wie ein Sklavenmädchen, und selbst ich, die leuchtende Ausnahme, habe offensichtlich keine Ahnung von wilden Tieren und ihren Gewohnheiten, sondern mein Wissen beschränkt sich auf ein paar Kenntnisse aus dem Elfenbeinhandel. Elefanten verschlucken jede zweite Jahreszeit einen Stein, und die Steine poltern ihr Leben lang in ihren gewaltigen Bäuchen herum, poltern und poltern. Alles unbegreiflich Große reduzierte ich auf lächerlich Kleines, um es aufnehmen und mir meine Macht darüber beweisen zu können, während ich komisch gekrümmt hinter Stein und Schilf kauerte, eine Schnecke ohne Haus, ein dünn gepanzerter Käfer von der Größe des obersten Glieds meines kleinen Fingers, mich ängstlich tot stellend, darauf wartend, dass das ausgedehnte Geplantsche aufhörte, damit ich wieder aufstehen und umherblicken könnte wie ein Mensch. Ein letztes Trompeten vom Ufer gegenüber, dann richtete ich mich mit steifen Knochen auf, rieb mir den feuchten Sand ab und zitterte in der Brise, die das Schilf beugte.
Jetzt lebe ich in Freundschaft mit der Herde, deren Furt und Badeplatz ich unbefugt betreten hatte. Das Wort Freundschaft ist allerdings eine Übertreibung. Ich lebe. Sie leben. Sei’s. Manchmal sehe ich von meiner Anhöhe, wie sich ihre runden Rücken in dem weit entfernten Glitzern des Wassers im Kreis bewegen, ich höre das Trompeten, sehe, wie sich zwei Stoßzähne für einen Augenblick heben, und bemühe mich immer noch, dieses Schauspiel mit dem glatten Armreif in Zusammenhang zu bringen, den ich früher tragen durfte. Es gibt Zusammenhänge, die sich mir entziehen.
Wenn ich nicht einmal über die kurze Strecke vom Eingang des Baobabs bis zu dem Haufen Tonscherben und meinen anderen Fundorten Bescheid wissen kann – so viele Schritte hin, so viele zurück –, wie soll ich dann wissen, welcher Teil meiner Reise, die mir manchmal schon wie ein ganzes Leben erscheint, immer noch weitergeht, selbst wenn ich jetzt immer nur um ein und denselben Ort kreise?
So viele Schritte mit Füßen, die schon ermüden. Was glaubte ich eigentlich zu sammeln, als ich das alles hierhertrug …? Was glaubte ich zu erreichen – mit Schutt …? Zeit wird zu Perlen und somit zu Schutt.
Auf den vielen Pfaden meiner Erinnerung tauchen bedrohliche Wesen auf, die jeden Blick zurück verstellen. Ich kenne diese Wesen. Ich kann ihre Namen nicht nennen. Sie nehmen langsam vor mir Gestalt an, in menschlicher Form oder manchmal wie eine behaarte Mauerecke oder die rollende Öffnung einer Hütte, die mich verschlingen und mit sich fortziehen will, ein Loch, das voller Wut heranstürmt, ungeheuer schnell heranstürmt und dann einen Meter vor mir plötzlich mit einem Schlenker ausweicht, stillsteht und mich lockt. Manchmal auch wie eine stille Verfälschung meiner Erwartung, gefolgt von spürbarer Niedergeschlagenheit, wenn sich die vielen scharfen Zangen, die mich umklammern, in die schlaffen Ranken eines Dickichts verwandeln; wenn der ganze Spuk einfach wieder verschwindet und ein unergründliches Grau hinterlässt. In meiner Erinnerung kreuzen und verschlingen sich mehr Pfade, als ich je in meinem Leben gesehen habe. Welcher Fährte hätte ich nicht zu folgen vermocht, wäre es mir vergönnt gewesen, wäre mein Spürsinn nicht so häufig durchkreuzt worden und die Spur in mir im Sande verlaufen?
Alle möglichen Pfade, die nirgendwohin führen, gehen strahlenförmig von meiner Behausung aus. Niemand hat sie angelegt. Sie kamen von selbst. Natürlich benutzte ich die Tierpfade, als ich hier ankam, denn außer ihnen gab es nur noch die Pfade ins Nichts, aber ich kam sehr bald zu dem Schluss, dass meine Art zu denken mit der der anderen Lebewesen nicht übereinstimmte. Also suchte ich und bahnte mir einen Weg und fand.
Fand, sage ich. Grauenhaft.
Das Wichtigste von allem, Wasser, brauchte ich nicht zu suchen. Es ist reichlich vorhanden. Es ist sichtbar und hörbar. Ich schöpfe die dahinplätschernden Wellen des Bachs mit meiner Geschenkschale, einem Straußenei, das ich gegen die Strömung durchs Wasser ziehe. Ich halte die Schale in den klaren Wasserstrahl, der über einen kantigen Stein hüpft, um das Licht und das Geräusch aufzufangen. Immer von neuem schöpfe ich und gieße das Glitzern und Murmeln des Wassergeists in meinen Geschenktopf aus Ton. Dann hebe ich das volle Gefäß langsam mit beiden Händen auf den Kopf, beuge die Knie, um meine Schöpfschale aufzunehmen, und gehe den Wasserpfad zurück zum Baobab.
Fand: alle mögliche Veldnahrung; und ich fand heraus, dass ich sie mit den Tieren um die Wette abriss, ausgrub und pflückte, dass die Bäume nicht zum Stillen meines Hungers Knospen und Blüten treiben und Früchte tragen, dass Knollen und Wurzeln nicht für mich unter der Erde schwellen, dass die schwarze Akazie ihren Nektar nicht zu meiner Freude herabtropfen lässt und die Schirmakazie nicht an lebenswichtigen Punkten mitten in Schattenflecken steht, um mich zu erfrischen, dass die gefleckten Orchideen nicht zu meinem Vergnügen ihre Pracht entfalten und der Kreuzblumenbaum im Frühsommer seine Duftzelte nicht für mich aufschlägt.
Wenn die Warzenschweine gegrast haben, durchkämmt eine Anfängerin das schon von Experten abgesuchte Veld; sie kniet nieder wie sie, versucht, einen Stock in den harten Boden zu bohren, wo ihr Stoßzähne fehlen, versucht, ihre Augen zu gebrauchen, wo sie keinen auf essbare Knollen und Wurzeln abgestimmten Geruchssinn besitzt, und erntet am Ende nichts als eine Handvoll. Wenn die Paviane gegrast haben, dieselbe Prozedur, nur vergewissert sie sich gründlich, ob sie ihr aus dem Weg sind, bevor sie sich in ihr Revier wagt.
Ich fürchte die Grimasse des Pavians mehr als die Stoßzähne des Warzenschweins und Buschschweins. Er ist zu sehr wie ich. Ich fürchte meine Selbsterkenntnis in seinem hässlichen Gesicht. Es erinnert mich an meine unterlegene Position hier, daran, dass ich weniger weiß als er. Ich fühle mich davon verhöhnt, in seiner Monstrosität meine Launen und Begierden widergespiegelt zu sehen, die Lächerlichkeit meiner Kultiviertheit und die Demonstration ihrer Überflüssigkeit in seiner vulgären Hand-und-Knie-Karikatur. Ich verachte ihn, seine Stärke, seine selbstverständliche Beherrschung dieser Welt. Ich verachte die Paviane ein für allemal. Diese Fresssäcke mit ihren fetten Backen, sie widern mich an. Ihre hässliche Paarung in aller Öffentlichkeit und das erniedrigende Gebettel der Weibchen und wie sie sich unter den harten Händen der Männchen bücken, das heisere Gezeter und die engstehenden Augen, wie man sie bei Wüstlingen findet – und ich halte es auch für ein Zeichen von Gier. Ich weiß für mein Gefühl zu viel von ihnen. Im Käfig würde ich über sie lachen können. Was sie allerdings über mich wissen, verraten ihre langen Seitenblicke nicht. Ich vermute, ich bin nichts weiter als ein Störenfried für sie. Eine Außenseiterin, weit außerhalb ihres Lebensbereichs.
Nur wenn ich schlafe, weiß ich wirklich, wer ich bin, denn ich herrsche über meine Traumzeit und bewohne sie zufrieden. In den Zeiten meines Träumens habe ich mich nötig.
Einmal, in überstürzter Flucht vor dem Leittier eines Schwarms von Sichelstrandläufern, geriet ich auf eine flachgetretene Stelle – sie erschien mir flachgetreten –, stolperte, schlug lang hin und japste nach Atem. Ich sah mich um. Mein Herz schlug mir bis in die Fingerspitzen. Meine Atemstöße bliesen gegen zitternde Halme im trockenen Gras.
So lag ich lange, mit der Ergebenheit eines Aasfressers, für den Hunger etwas Gewohntes ist, etwas, das darauf warten kann, gestillt zu werden. Dann sah ich etwas Glänzendes, kleine Lichtperlen schienen grün und schwarz zwischen meinen Wimpern hindurch, und das Licht wurde zu soliden Perlen, als ich mit der Fingerspitze die Grashalme teilte und sie berührte. Ich setzte mich auf und kratzte die Perlen aus dem Staub und den trockenen Wurzeln. Sie lagen auf meiner Handfläche, zwei schwarze und eine grüne. Ich nahm die unnütze Entdeckung mit zurück zum Baum.
Sie waren so klein wie Blütenstaub. Ich untersuchte sie. Ich reihte sie in der durch ihre Zahl und Farbe begrenzten Anzahl von Mustern auf. Ich lernte sie genau kennen. Am nächsten Tag wollte ich dahin zurückkehren, wo ich sie gefunden hatte, aber die Richtung war mir entfallen, und ziellos suchte ich in der Hoffnung, einen Baum oder Felshang wiederzuerkennen. Denn es war in der Nähe eines kleinen Hügels gewesen, das wusste ich noch, und ich erinnerte mich an die weiße Wurzelleiter, die eine Bergfeige an einer Felsfront hochgewoben hatte; aber ich fand nichts. Ich streifte kreuz und quer durch das Veld, so, als hätte ich ihm noch kein System aufgezwungen, genau wie am Anfang, als ich hier eingetroffen war.
Ganz am Anfang hatte es keine Zeit gegeben, weil für eine Zeiteinteilung keine Zeit war, und es hatte keine Kategorien gegeben, weil das Herumscharren zum Überleben alle Unterscheidungen auslöschte. Jetzt kann ich mir den Luxus zu klassifizieren ebenso erlauben wie eine wohlerwogene Anwendung meines alten und neuen Wissens. Ich kann sogar Betrachtungen über mein Tun anstellen. Ich kann meine Gedanken in eine logische, gleichmäßige Folge bringen, ohne Wellen und Kräusel; ich kann sie rund machen wie ein Tongefäß und kühl und klar wie Wasser; ich kann die Tülle des Tongefäßes herausragen lassen wie eine Abflussrinne für die Ungewissheit blauer und schwarzer Luft, die in mich eindringt und mich bis oben hin füllt, wenn ich mich nicht vorsehe. Und ich fülle meine Gedanken mit allen möglichen Gegenständen, reihenweise, endlos, zahllos, und danke der Vorsehung, dass ich an genügend Dinge zu denken vermag, um alles auszulöschen, und obendrein noch Gegenstände dazuerfinden kann, wenn sich die erinnerten erschöpft haben. Ich besitze gute Mittel gegen das Leersein.
Hier nun die kleinen Perlen, die ich nicht zu erfinden brauche und die denen gleichen, die ich früher oft an Hals und Handgelenken von Männern und Frauen gesehen habe. Einst wurden sie als Tauschobjekte benutzt, genauso wie ich zum Tausch für irgendetwas diente. Natürlich habe ich keine Ahnung, welchen Wert ich damals oder jemals hatte. Ein Stück Ringgeld. Unzählige Stücke. Etwas anderes, worüber ich wenig weiß, ist der Umgang mit Geld. Es war das Privileg des Sklavenmädchens, dass mir alles gegeben wurde. Das Dach über meinem Kopf. Der Stoff um meinen Körper. Zu essen – in meinem Fall reichlich. Wie glücklich ich war.
Die Perlen sind so winzig, dass sie auf dem Astknoten, wo ich sie aufbewahre, kaum zu sehen sind; aber ich könnte sie mit geschlossenen Augen finden. Ich kenne das Innere meines Baums wie eine Blinde ihr Haus, ich kenne seine glatten Flächen, seine Höhlungen, Schwellungen und Kanten, seinen Geruch, seine Dunkelheiten, seine mächtige Lichtspalte, wie ich die Hütten und Räume nie gekannt habe, in denen ich schlafen musste; wie ich nur etwas kennen kann, das mir gehört, mir allein – mein Wohnort, in den niemals jemand anderes eindringt. Ich kann sagen: Das bin ich. Das sind meine Fußabdrücke. Das ist die Asche meiner Feuerstelle. Das sind meine Mahlsteine. Das sind meine Perlen. Meine Scherben.
Ein glorreiches Wesen bin ich in meiner grauen Baumhaut. Wenn ich in der Öffnung erscheine, stehe ich stolz da. Im Nachhinein habe ich allerdings den Verdacht, dass ich in der mühelos erworbenen Haltung scheinbar lässiger Erwartung posiere, wie ich sie vor meinen Eigentümern einzunehmen gelernt hatte – im Bewusstsein, Eindruck zu machen, und gleichzeitig insgeheim von Verachtung erfüllt, weil ich dieses winzige Fetzchen Macht besaß.
Aber hier stehe ich gebieterisch und blicke über das Veld, und jedes Mal, wenn ich hinaustrete, gehört die Welt mir. Jedes Mal, wenn ich aus dem schützenden Innenraum des Baums trete, bin ich wieder ein Mensch und habe Macht; ich schaue weit über die Landschaft mit all ihren Schnörkeln von Pflanzen und Tierherden und den purpurnen Flecken der Hügel, die sie am Horizont einzugrenzen suchen. Jedes Mal aus dem Bauch des Baobabs wiedergeboren, stehe ich hier im Vollgefühl meiner selbst. Die Sonne zeichnet meinen Schatten. Der Wind kleidet mich. Ich zeige in die Luft und sage: Luft, mach mich leben! Und wenn der Morgenrötel ruft, ruft er in meinem Namen. Ich bin alles, was es gibt, ruft er.
Nicht alles. Nein. Wenn es hier immer noch Menschen gibt. Nicht alles.
Wie lächerlich die Perlen sind, die ich entdeckt habe, verglichen mit denen, die ich früher trug, große, ovale rotgelbe Glasperlen, die mir wie reife Beeren um Hals und Handgelenke hingen und den Elfenbeinarmreif an meinem Oberarm und mein gelbbedrucktes Seidengewand ergänzten. Ich war strahlend schön. Ich lachte ein perlweißes Lachen. Ich war ein Objekt zum Herumzeigen, so blühend jung, wie ich es damals war. Meine Makellosigkeit, meine Glattheit, meine noch ungebrochene Ganzheit. Ich war die beneidete Nicht-Beschnittene. Ich war die Begehrte. Ich war zu jung, als dass ich mir etwas daraus gemacht hätte, geschweige denn, es verstanden hätte. Ich war ein Kind. Solch ein Kind, solch ein Kind. Selbst dann noch ein Kind, als ich mein eigenes Kind trug.
Mit Dankbarkeit erinnere ich mich an die Frauen, die mich mit ihren besänftigenden Gesten einweihten. Nur hier und da erhaschte ich eine Anspielung, einen Tonfall oder eine Betonung, denn sie sprachen eine Sprache, die mich wie ein Wasserfall überströmte, aus ihren Mündern fallend, unaufhörlich fallend. Wer waren diese Frauen, die mich angenommen hatten, mich umhegten und mich das Spiel mit den Männern lehrten? Ich wurde mit Geschenken überhäuft, um mich attraktiv werden zu lassen. Damals hielt ich sie für Geschenke. Ich klammerte mich an diese Frauen und bemühte mich, folgsam zu sein. Manchmal schalten sie mich. Dann öffneten sich ihre Lippen und ein Knurren und Knattern kam heraus. Aber die Tränen wurden mir fortgeküsst, es gab ein freundlich rasselndes Gelächter, sie hoben mich auf ihren Schoß, drückten mich an sich, und ich liebte sie wie ein Kind, das sich wieder sicher fühlt, kletterte von Schoß zu Schoß und klimperte mit ihren Armreifen. Indem sie so mit mir spielten, unterwiesen sie mich, damit ich mich einmal an die Ekstase und die Qual erinnern würde und doch innerlich unberührt bliebe, ganz bliebe – ich selbst. Ich rufe mir euch in die Erinnerung zurück. Ich kann mich an eure Gesichter nicht erinnern, aber das macht nichts. Ich erinnere mich an eure wunderbare Zuneigung. Ich frage mich, ob ihr jetzt alt und traurig seid, ob ihr noch in dem Haus lebt, das euer Schicksal war, und ob ihr euch an mich erinnert, eine der vielen, die eurer besonderen, sanften, spielerischen Obhut anvertraut wurden, und ob ihr jemals versucht habt zu erfahren, was mit uns allen geschah. Ob es euch gleichgültig war.
Ich habe eure Lehren nie vergessen; selbst jetzt könnte ich noch lüstern lachen, wenn ich es müsste, könnte mich selbst jetzt noch geschmeidig wie eine Katze anschmiegen oder mich entwinden oder meine Intensität je nach der Situation mäßigen oder steigern; aber das ist jetzt alles überflüssig.
Jetzt lebe ich in einer Baumhöhle mit dem Schlaf als undurchdringlicher Lösung. Ich lebe in einer Zeit, der ich selbst das Maß gegeben habe, anfangs mit drei, dann mit immer mehr Perlen, bis ich mir die besten der grünen für meine Einteilung aussuchte. Am Anfang also vergingen zyklisch ein grüner und zwei schwarze Tage, später einfach eine Reihe grüner Tage. Dann wurde ich all der grünen Tage müde und variierte sie, je nach Laune und Zufall, mit Schwarz in jeder erdenklichen Reihenfolge und Zahl. Meine Tage wurden zu Gruppen. Es war bereits eine Methode, der Unbestimmtheit der Zeit zu begegnen, die sich im Lauf der Dinge verbirgt. Die Zeit bedrohte mich. Sie wollte mich auslöschen. Ich glaubte, sie hintergehen zu können, indem ich mein System ab und zu änderte. Nie wusste die Zeit, was ich mir als nächstes einfallen lassen würde, da ich am Morgen, wenn mich Licht und Vogelgezwitscher weckten, selbst noch nicht wusste, was ich mir mit der Zeit einfallen lassen würde, da ich nach Feuerholz suchte, wenn es nötig war, Wasser holte, wenn mein Vorrat zur Neige ging, nach Nahrung suchte, wenn es sein musste, aß, wenn ich hungrig war, und schlief, wenn mir vor Müdigkeit die Glieder schwer wurden. Und ich träumte und döste in Rosenquarz.
Ich war nahe daran, mein Spielzeug zum Zählen wieder zu vergessen, das sich zu jener Zeit auf bloße drei beschränkte und mich auf dem Knoten im Innern des Baums zu langweilen begann, als ich eines Tages an verschiedenen Stellen weitere Tonscherben und Perlen sowie Kupferdraht auflas und alles mitnahm. Ich legte den Rest Scherben und Perlen zu dem Haufen – Überbleibsel von Bewohnern, die ich verwünschte, weil sie nicht mehr hinterlassen konnten als dies, Tonscherben, die nicht zusammenpassen und etwas rundes Ganzes ergeben wollten, erbärmlicher Schmuck, den ich gereizt auf Halme aufzog und um den Hals trug, rostige Kupferdrahtringe, dick und schwer wie Halseisen, mit denen ich nichts anzufangen wusste – und weiter nichts in meiner Nachbarschaft. Weiter nichts – oder streifte ich über Gräbern umher? Weiter nichts – oder wanderte ich über im Staub versunkene, von Pflanzen überwucherte Mauern hinweg? Zog ich vielleicht über Höfe und Plätze, Festungswälle, Terrassen, Wasserleitungen, Hallen und Hütten, Siedlungen und Straßen, die, von Wintern und Sommern vereinnahmt, zur Bedeutungslosigkeit verfallen waren? Oder streifte ich über den Ort, nach dem wir blindlings gesucht hatten, dieses längst der gnadenlosen Sonne preisgegebene Ziel? Dieses Gebiet mit seinen Streifen von Gestrüpp und Dornengras, seinem seitlich hinter Ripinien und Ranken verborgenen Bach, seinen Hügeln mit flachen Kämmen, auf denen sich riesige runde Felsen türmten – das Gebiet meines turmhohen Baobabs? Szenerien, durch die wir betäubt, verängstigt geirrt waren? Gebiet von Raubtier und Beute?
Ich sehe blutige Vernichtungskriege vor mir. Dürrekatastrophen. Eine Epidemie. Ich stelle mir unermüdliches Streben vor, gefolgt von Zusammenbruch und Verzweiflung. Und dann nichts, nur ein winziger Rest, der mir nicht weiterhilft, so sehr ich auch glauben möchte, dass ich einen Weg gefunden habe, die Gefahr der Zeitlosigkeit durch eine Ordnung zu bannen. Weil ich mich weigere, ein bloßes Gähnen in dem trägen Vorbeigleiten der Tage zu werden, ein kurzer Luftzug, ein unbedeutender Schlag im Rhythmus, ein Phantom im Riss der Unendlichkeit.
Zu dürftig ausgerüstet, um selbst etwas herzustellen, benutzte ich Erzeugnisse vergessener Menschen, um mir die Zeit zu vertreiben, die Zeit zu verdichten – in der bitteren Erkenntnis, dass sich damit an der Nichtigkeit nichts änderte. Aber es tat mir gut, mit ihnen umzugehen, mir über sie Gedanken zu machen und meiner Phantasie, noch durch Erinnerungen aus einer anderen Art von Zeit gespeist, freien Lauf zu lassen.